Nitsche, Paul
- Lebensdaten
- 1876 – 1948
- Geburtsort
- Colditz (Sachsen)
- Sterbeort
- Dresden
- Beruf/Funktion
- Psychiater ; Arzt
- Konfession
- evangelisch-lutherisch (bis 1937)
- Normdaten
- GND: 120271710 | OGND | VIAF: 69755744
- Namensvarianten
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- Nitsche, Paul Hermann
- Nitsche, Paul
- Nitsche, Paul Hermann
- Nitsche, Hermann Paul
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Nitsche, Paul Hermann
1876 – 1948
Psychiater
Der Psychiater Paul Nitsche leitete seit 1918 die sächsischen psychiatrischen Landesanstalten Leipzig-Dösen und Pirna-Sonnenstein. Er war einer der führenden Reformpsychiater der Weimarer Republik, aber auch einer der Hauptverantwortlichen für die NS-Krankenmorde im „Dritten Reich“.
Lebensdaten
Geboren am 25. November 1876 in Colditz (Sachsen) Gestorben am 25. März 1948 (hingerichtet) in Dresden Grabstätte Friedhof in Sebnitz bei Dresden Konfession evangelisch-lutherisch (bis 1937) -
Autor/in
→Boris Böhm (Pirna)
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Zitierweise
Böhm, Boris, „Nitsche, Paul“ in: NDB-online, veröffentlicht am 01.10.2022, URL: https://www.deutsche-biographie.de/120271710.html#dbocontent
Nitsche, Sohn eines sächsischen Anstaltspsychiaters, besuchte seit 1887 die Volksschule in Pirna (Sachsen), anschließend Gymnasien in Pirna, Colditz (Sachsen) und Dresden. Nach dem Abitur 1896 studierte er Medizin in Leipzig, Berlin und Göttingen und wurde 1901 bei August Cramer (1860–1912) an der Universität Göttingen zum Dr. med. promoviert. Im Anschluss war Nitsche als Assistenzarzt an der Städtischen Irrenanstalt Frankfurt am Main, 1903 in gleicher Position an der Psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg und 1904 an der Universitätsklinik München tätig. In letzterer wurde er stark von der Arbeitsweise des Direktors Emil Kraepelin (1856–1926) geprägt und lernte den einflussreichen „Rassenhygieniker“ Ernst Rüdin (1874–1952) kennen, mit dem er einen jahrzehntelangen wissenschaftlichen Austausch pflegte. 1907 wechselte Nitsche als Oberarzt an die Städtische Heil- und Pflegeanstalt Dresden. 1913 berief man ihn als stellvertretenden Anstaltsdirektor an die Landesanstalt Pirna-Sonnenstein, die er in den Jahren des Ersten Weltkriegs de facto leitete. 1918 übernahm er für ein Jahrzehnt das Direktorenamt der Landesanstalt Leipzig-Dösen.
In der Weimarer Republik setzte sich Nitsche publizistisch und praktisch vehement für sozial aktivierende Reformen in der psychiatrischen Behandlung ein, wie die „Arbeitstherapie“ nach Hermann Simon (1867–1947) und das Prinzip der ambulanten „offenen Fürsorge“. Dies brachte ihm fachliche und gesellschaftliche Anerkennung ein, die 1928 in seiner Ernennung zum sächsischen Landespsychiater Ausdruck fand. Im selben Jahr als Anstaltsdirektor nach Pirna-Sonnenstein zurückgekehrt, setzte Nitsche nach der nationalsozialistischen Machtübernahme konsequent die NS-Erbgesundheitspolitik wie Zwangssterilisationen und eine sog. Sonderkost für nicht arbeitsfähige Patienten durch (Mitglied der NSDAP seit 1. Mai 1933). Nach der Auflösung der Anstalt Ende 1939 übernahm er erneut die Leitung in Leipzig-Dösen, wo er auf eigene Initiative bereits Anfang 1940 Patienten mit Luminal ermorden ließ.
Im Mai 1940 wurde Nitsche beurlaubt und in die mit den Krankenmorden im „Dritten Reich“ beauftragte Zentraldienststelle der Kanzlei des Führers nach Berlin versetzt. Als stellvertretender Medizinischer Leiter der „Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten“ und seit Dezember 1941 als deren Leiter sowie als Obergutachter wirkte er bei der Selektion der Opfer aus Psychiatrien und Pflegeheimen und der Organisation der Krankenmorde mit. Damit war er ein Hauptverantwortlicher für die Ermordung von über 70 000 Menschen in sechs Tötungsanstalten im Deutschen Reich mit Gas in den Jahren 1940/41. Nach dem von Adolf Hitler (1889–1945) befohlenen Abbruch der Gasmorde im August 1941 setzte er sich für die massenhafte medikamentöse Tötung von „lebensunwerten“ Psychiatriepatienten ein, denen bis Kriegsende mehrere zehntausend Menschen zum Opfer fielen. Zudem beteiligte er sich während des Zweiten Weltkriegs an der Vorbereitung eines staatlichen Euthanasiegesetzes und der propagandistischen Rechtfertigung der Krankenmorde, bspw. bei dem NS-Spielfilm „Ich klage an“ (1941, Regie: Wolfgang Liebeneiner, 1905–1987).
Nach seiner Verhaftung im November 1945 wurde er aufgrund seiner Involvierung in die NS-Krankenmorde als Hauptangeklagter im „Euthanasie“-Prozess am Landgericht Dresden am 7. Juli 1947 wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zum Tode verurteilt und am 25. März 1948 in Dresden hingerichtet.
1916 | Kriegsverdienstkreuz |
1925 | Professorentitel des Landes Sachsen |
1935–1945 (?) | Geschäftsführer der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater |
Nachlass:
nicht bekannt.
Weitere Archivmaterialien:
Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden, 13 859/6 081. (Personalakte Paul Nitsche)
Sächsisches Staatsarchiv Leipzig, 20 051/2543. (Personalakte Paul Nitsche)
National Archive II College Park/Maryland, T 1021/RG 549. (German Documents Among the War Crimes Records of the Judge Advocate Division, Headquarters, U.S. Army Europe)
Bundesarchiv, Berlin-Lichterfelde, ehemals BDC, Reichsärztekartei, Karteikarte Nitsche u. NSDAP-Mitgliedskarteikarte Nitsche.
Gedruckte Quellen:
Joachim Hohmann (Hg.), Der „Euthanasie“-Prozess Dresden 1947. Eine zeitgeschichtliche Dokumentation, 1993.
Über Gedächtnisstörung in zwei Fällen von organischer Gehirnkrankheit, 1902. (Diss. med.)
Paul Nitsche/Karl Wilmans, The History of the Prison Psychoses, 1912.
Städtische Heil- und Pflegeanstalt zu Dresden, in: Johannes Bresler (Hg.), Deutsche Heil- und Pflegeanstalten für Psychischkranke in Wort und Bild, Bd. 1, 1912, S. 248–255.
Allgemeine Therapie und Prophylaxe der Geisteskrankheiten, in: Oswald Bumke (Hg.), Handbuch der Geisteskrankheiten, Bd. 4, 1929, S. 1–113.
Paul Nitsche/Carl Schneider, Einführung in die Abteilung Seelische Hygiene (Gruppe Gesundes Seelenleben), Halle Nr. 51 der Internationalen Hygiene-Ausstellung Dresden 1930, 1930.
Irrenstatistik des Deutschen Vereins für Psychiatrie für das Jahr 1932, in: Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie und psychisch-gerichtliche Medizin 101 (1934), S. 375–387.
Monografien:
Karl Ludwig Rost, Sterilisation und Euthanasie im Film des „Dritten Reiches“, 1987, S. 121–144.
Hans Walter Schmuhl, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie. Von der Verhütung zur Vernichtung „lebensunwerten Lebens“ 1890–1945, 1992.
Katrin Mäckel, Professor Dr. med. Hermann Paul Nitsche. Sein Weg vom Reformpsychiater zum Mittäter an der Ermordung chronisch psychisch Kranker zur Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland, 1993.
Heinz Faulstich, Hungersterben in der Psychiatrie 1914–1949. Mit einer Topographie der NS-Psychiatrie, 1998.
Boris Böhm, Die Sonne der deutschen Psychiatrie ging auf dem Sonnenstein bei Pirna in Sachsen auf. Die Geschichte der Heil- und Pflegeanstalt Sonnenstein, 1811–1939, 2011.
Aufsätze:
Ernst Rüdin/Hans Roemer, Herrn Obermedizinalrat Professor Dr. Paul Nitsche zum 60. Geburtstag, in: Zeitschrift für psychische Hygiene 9 (1936), S. 128–130. (P)
Hans Walter Schmuhl, Sterilisation, „Euthanasie“, „Endlösung“. Erbgesundheitspolitik unter den Bedingungen charismatischer Herrschaft, in: Norbert Frei (Hg.), Medizin und Gesundheitspolitik in der NS-Zeit, 1991, S. 295–308.
Boris Böhm, „Eine Schande für die gesamte medizinische Wissenschaft“. Der Dresdner „Euthanasie“-Prozess im Jahre 1947, in: Norbert Haase/Birgit Sack (Hg.), Münchner Platz, Dresden. Die Strafjustiz der Diktaturen und der historische Ort, 2001, S. 136–152.
Udo Benzenhöfer, Der Briefwechsel zwischen Hans Heinze und Paul Nitsche (1943/44), in: Thomas Beddies/Kristina Hübener (Hg.), Dokumente zur Psychiatrie des Nationalsozialismus, 2003, S. 271–285.
Boris Böhm/Hagen Markwardt, Herrmann Paul Nitsche (1876–1948). Zur Biographie eines Reformpsychiaters und Hauptakteurs der NS-„Euthanasie“, in: hg. v. d. Stiftung Sächsische Gedenkstätten, Nationalsozialistische Euthanasieverbrechen, Beiträge zur Aufarbeitung ihrer Geschichte in Sachsen, 2004, S. 71–104.
Volker Roelcke, Psychiatrische Wissenschaft im Kontext nationalsozialistischer Politik und „Euthanasie“. Zur Rolle von Ernst Rüdin und der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie/Kaiser-Wilhelm-Institut, in: Doris Kaufmann (Hg.), Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus. Bestandsaufnahme und Perspektiven der Forschung, Bd. 1, 2000, S. 112–150.
Hans Walter Schmuhl, Hirnforschung und Krankenmord. Das Kaiser-Wilhelm-Institut für Hirnforschung 1937–1945, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 50 (2002), H. 4, S. 559–609. (Onlineressource)
Gedenk- und Informationsort für die Opfer der nationalsozialistischen »Euthanasie«-Morde an der Berliner Tiergartenstraße 4. (P, Biografie und weiterführende Informationen)
Fotografie, um 1935, Abbildung in: Zeitschrift für psychische Hygiene 9 (1936), S. 128.