Nadler, Josef
- Lebensdaten
- 1884 – 1963
- Geburtsort
- Neudörfl (Nordböhmen)
- Sterbeort
- Wien
- Beruf/Funktion
- Germanist ; Literaturhistoriker ; Literarhistoriker
- Konfession
- katholisch
- Normdaten
- GND: 118737805 | OGND | VIAF: 18017501
- Namensvarianten
-
- Nadler von Dorndorf, Josef
- Nadler, Josef
- Nadler von Dorndorf, Josef
- Nadler, J.
- Nadler, Joseph
- Nadler von Dorndorf, Joseph
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- NDB 23 (2007), S. (Schneider, Hans Ernst)
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- NDB 25 (2013), S. Viktor
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Nadler, Josef
Germanist, Literarhistoriker, * 23.5.1884 Neudörfl (Nordböhmen), † 14.1.1963 Wien. (katholisch)
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Genealogie
V Josef (* 1858), Werkmeister in e. Stahlwarenfabrik in N.;
M Maria Maaz aus Lobendau;
⚭ Pürstein Kr. Kaaden 1916 Irma (* 1897) aus Weipert Kr. Kaaden, T d. Ludwig Breitfeld (* 1868) aus Schmiedeberg Kr. Kaaden u. d. Katharina Schmal (* 1873) aus Tschernowitz b. Komotau;
3 T. -
Biographie
Nach dem Besuch des Jesuitenkonvikts Mariaschein (Erzgebirge) und des Gymnasiums in Böhmisch-Leipa, wo er 1904 die Reifeprüfung ablegte, studierte N. an der Karls-Univ. in Prag Germanistik (Nebenfach klassische Philologie) bei Carl v. Kraus, Adolf Hauffen und August Sauer. Bei diesem wurde er 1908 mit der Dissertation „Eichendorffs Lyrik, Ihre Technik und ihre Geschichte“ promoviert. Nach seinem Einjährig-Freiwilligenjahr erhielt er vom Verlag J. Habbel in Regensburg den Auftrag, eine zwei Bände umfassende populäre Literaturgeschichte zu schreiben. Angeregt von Sauer, der 1907 in seiner Rektoratsrede vorgeschlagen hatte, bei der Darstellung der Literaturgeschichte „von den volkstümlichen Grundlagen nach stammheitlicher und landschaftlicher Gliederung“ auszugehen, um festzustellen, „wie tief sie im deutschen Volkstume wurzeln“, veröffentlichte N., nach umfangreichen Vorarbeiten in München, 1912 einen ersten Band unter dem Titel „Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften“ (II, 1913; III, 1918; IV, 1+21928; I-III, ²1923/24; ³1929-32). Dieser war Grundlage für N.s Berufung als Nachfolger von Wilhelm Kosch nach Fribourg (Schweiz) Anfang desselben Jahres (ao. Prof., o. Prof. 1914). Unterbrochen durch den Kriegsdienst 1914–17, lehrte er dort bis 1925. In diesem Jahr folgte er einem Ruf nach Königsberg als Nachfolger Rudolf Ungers, 1931 einem nach Wien als Nachfolger Paul Kluckhohns. 1932 erschien seine „Literaturgeschichte der deutschen Schweiz“. Neben den Vorbereitungen für die historisch-kritische Hamann-Ausgabe, die er in Königsberg begonnen hatte (seine Photokopien retteten die Überlieferung des 1945 vernichteten Nachlasses), widmete er sich in der Folge vor allem der Arbeit an der 4. Auflage seiner Literaturgeschichte (1938–41 u. d. T. Literaturgeschichte des deutschen Volkes, Dichtung und Schrifttum der deutschen Stämme und Landschaften). Besonders den 4. Band dieses Werks näherte N., seit 1938 Mitglied der NSDAP, den ideologischen Vorstellungen des Regimes an, obwohl er den von Rosenberg formulierten Rassentheorien mit entschiedenen Vorbehalten begegnete. Noch 1935 war er erfolgreich gerichtlich gegen die Unterstellung einer rassentheoretischen Ausrichtung durch Oskar Benda (der 1945 sein Nachfolger werden sollte) mit dem Argument vorgegangen, seine Vorstellungen von „Blut und Boden“ seien von den Nationalsozialisten „sehr verändert“ angeeignet worden. 1945 wurde er außer Dienst gestellt, 1947 pensioniert. In dem folgenden Streit um seine Rehabilitierung wurde N. zu einer Leitfigur des sich neu formierenden deutschnationalen Lagers in Österreich. Als Literarhistoriker trat er nach 1945 vor allem mit der Literaturgeschichte Österreichs (1948), Monographien über Grillparzer (1948), Hamann (1949), Weinheber (1952) sowie Editionen der Werke Hamanns (Sämtl. Werke, 6 Bde., 1949–57) und Weinhebers (Sämtl. Werke, 5 Bde., 1953–56) in Erscheinung. Eine Biographie Henry Benraths blieb unveröffentlicht.
N.s Literaturgeschichte ist als letzte große Gesamtdarstellung nach einem beherrschenden Grundgedanken ein wesentliches Dokument der Germanistik als einer „deutschen Wissenschaft“ wie auch der Zeitgeschichte. Ihr öffentlicher Erfolg war durch den in ihr gefaßten Reichtum an Kenntnissen und die eigentümlich literarische Form der Darstellung mitbestimmt. Das Werk blieb bis 1918 dem kulturell-politischen Rahmen des österr. Vielvölkerstaats verbunden, schwenkte während der 20er Jahre in eine bewußt großdeutsche Zielsetzung um, deren nationalsozialistische Realisierung der Verfasser dann zustimmend begleitete. Sie schloß an die Tradition der regionalen Literaturgeschichten an und suspendierte die Vorstellung einer einheitlichen Nationalliteratur. Wie schon sein Lehrer →Sauer, nahm N. sich vor, die Germanistik im Anschluß an die Brüder Grimm durch Wissenschaften wie Anthropologie, Volkskunde, Familiengeschichte bzw. Genealogie kulturgeschichtlich zu fundieren. Über die Masse neu herangezogener Textzeugnisse wollte er den romantischen Ursprungsmythos von den Stämmen als den eigentlichen Subjekten der Geschichte (E. M. Arndt, J. Görres, W. H. Riehl) empirisch nachweisen, ohne dabei auf spekulative Aussagen über das „Wesen“ der Stämme verzichten zu können. Er ersetzte den individuellen Autor durch den „Stamm“ – für N. eine empirische Größe zwischen dem seiner Meinung nach nicht faßbaren Individuum und dem zu allgemeinen Begriff der Nation. Unabhängig von ihrem künstlerischen Rang erscheinen die Akteure der Literaturgeschichte als Vertreter ihres Herkunftsraums und damit zugleich als Träger einer vorherrschenden Begabung („fränk. Formgenie“, „alemann. Sprachgeist“, „bair. Spieltrieb“, „urgerman. epischer Trieb“ bei den Sachsen). Völkerverschiebung und -vermischung sollten erklären, wie aus „german.-röm. Zweiheit“ seit der Völkerwanderung und „deutsch-slaw. Zweiheit“ seit der mittelalterlichen Ostkolonisation sich unterschiedliche literarische Kulturen entwickelten. Die folgende Aneignung der antiken Bildung führe bei Franken und Alemannen, den „Altstämmen“ des Westens, kontinuierlich zur „Klassik“, im bayr.-österr. Süden durch die Verbindung aller Kunstformen zur Theaterkultur des „Barock“ (2/3I, „Die altdeutschen Stämme“, 800-1740), während die verspätete Übernahme antiker Tradition bei den östlichen „Neustämmen“ nach der „Verdeutschung der Erde und des Blutes“ in die „Romantik“ münde (II, „Sachsen und das Neusiedelland“, 800-1786). Die Annahme homogener, an den Stammesraum gebundener Literaturen wird nach N. seit der Mitte des 18. Jh. abgelöst durch das Bild eines beginnenden kulturellen Ausgleichs zwischen Ost und West, „Klassik“ und „Romantik“ im Zeichen eines neu entstehenden „Geistvolks“ (III, „Der deutsche Geist“). In der Darstellung des bis 1914 reichenden 19. Jh. setzt sich dieser Prozeß der Vereinheitlichung weiter fort (IV, „Der Deutsche Staat“). Trotz der Einwände der Fachkritik gegen N.s zirkuläres, die Literatur in Voraussetzungen auflösendes Verfahren, fand das Werk in der Fassung der 20er Jahre nachdrückliche Zustimmung u. a. von →Ernst Robert Curtius, →Hermann Bahr, →Rudolf Borchardt und →Hugo v. Hofmannsthal, der, angesichts des Zerfalls der Donaumonarchie, in der Erschließung der österr. Literatur und des Barocktheaters durch N. „die authentische Erfahrung des Elements, das mich trägt“, sah. Im Band ⁴IV („Das Reich“) deutete N. die Gegenwartsliteratur bis 1940 als Vollzug einer völkisch-rassischen und geopolitischen „Deutschwerdung“. Die „volkhafte“ Germanistik des Nationalsozialismus konnte so, trotz bleibender Vorbehalte gegen N.s partikularistischen Ansatz, einen entscheidenden Teil ihrer Kategorien von N. beziehen. Das Urteil Walter Muschgs, N. habe die Geschichte der Deutschen Literatur zur „heimlichen Vorgeschichte des 3. Reichs“ erklärt, bestätigt N. selbst indirekt in seiner Autobiographie. Unter Berufung auf ein Diktum Hamanns meint er hier, Geschichte müsse „teleologisch geschrieben werden“, d. h. aus der jeweiligen „Perspektive“, die die Gegenwart der Vergangenheit vorgibt. Einer neuen Perspektive entsprechend hat er nach 1945 in einer einbändigen Fassung (Geschichte der deutschen Literatur, 1950) inkriminierte Stellen der 4. Auflage getilgt. Seit dieser Zeit persona non grata in der offiziellen Germanistik, blieb sein Werk des Materialreichtums und der ansprechenden Darstellungsweise wegen eine verborgene Quelle der Ausschöpfung für die Literaturgeschichtsschreibung. – Mitgl. d. Ges. d. Wiss. u. Künste in Prag (1918); Gottfried-Keller-Preis (1929), Kant-Medaille d. Stadt Königsberg (1931), Kant-Preis d. Stadt Königsberg (1942), Mozart-Preis (1952); Mitgl. d. Österr. Ak. d. Wiss. (1933), d. Wiener kath. Ak. (1949); Dr. phil. h. c. (Sofia 1939).
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Nachlass
Nachlaß: Österr. Nat.bibl., Wien; Dt. Lit.archiv, Marbach.
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Literatur
J. Körner, Metahistorik d. dt. Schrifttums, in: Dt. Rdsch., Sept. 1919, S. 466-68;
E. R. Curtius, in: Dt. Geist in Gefahr, 1932;
W. Muschg, J. N.s Lit.gesch., in: Basler Nachrr. v. 31.12.1937, erweitert in: ders., Die Zerstörung d. dt. Lit., 1961, S. 185-200;
K. Roßmann. Über nat.soz. Lit.gesch.schreibung, in: Die Wandlung 1, 1945/46, S. 870-84;
V. Suchy, J. N. u. d. österr. Lit.wiss., in: Wort in d. Zeit 9, 1963, H. 3, S. 19-30;
M. Enzinger, in: Alm. d. Österr. Ak. d. Wiss. 113, 1963 (1964), S. 385-415 (W-Verz., L, P);
W. Volke, H. v. Hofmannsthal u. J. N. in Briefen, in: Jb. d. Dt. Schillerges. 18, 1974, S. 37-88;
M. Kob, J. N. im Urteil d. Dichter, Diss. Innsbruck 1977;
A. Frisé (Hrsg.), R. Musil, Briefe, 1901–41, 1981;
S. Meissl, Germanistik in Österreich, in: F. Kadrnoska (Hrsg.), Aufbruch u. Untergang, Österr. Kultur zw. 1918 u. 1938, 1981, S. 475-96;
ders., Stamm, Volk. Rasse, Reich, Üb. J. N.s lit.wiss. Position, in: K. Amann u. A. Berger (Hrsg.), Österr. Lit. d. 30er J., 1985, S. 130-46;
ders., Der „Fall N.“ 1945-50, in:|Verdrängte Schuld, verfehlte Sühne, Entnazifizierung in Österreich 1945-55, 1986, S. 281-301;
K. Hopf, Hermann Bahr u. J. N., in: Vj.Schr. d. A.-Stifter-Inst. d. Landes Oberösterreich 33, 1984, S. 19-51;
Gedenkschr. f. J. N., 1984;
H.-Ch. Kraus, in: Jb. d. Albertus-Univ. Königsberg, 1994, S. 1-15;
G. Schuster (Hrsg.), R. Borchardt, Ges. Briefe, IV u. V, 1995;
A. Berger, Der tote Dichter u. sein Prof., Weinheber u. N. in d. Diskussion n. 1945, in: W. Schmidt-Dengler u. a. (Hrsg.), Konflikte – Skandale – Dichterfehden, 1995, S. 191-201;
U. Wyss, Lit.-landschaft u. Lit.gesch., Am Beispiel R. Borchardts u. J. N.s, in: Interregionalität d. dt. Lit. im europ. MA, hrsg. v. H. Kugler, 1995, S. 45-63;
W. Schmidt-Dengler, Nadler u. d. Folgen, Germanistik in Wien 1945 bis 1957, in: Zeitenwechsel, Germanist. Lit.-wiss. vor u. nach 1945, hrsg. v. W. Barner u. Ch. König, 1996, S. 35-46;
Kosch, Lit.-Lex.³;
Teichl;
Killy. -
Autor/in
Sebastian Meissl, Friedrich Nemec -
Zitierweise
Meissl, Sebastian; Nemec, Friedrich, "Nadler, Josef" in: Neue Deutsche Biographie 18 (1997), S. 690-692 [Online-Version]; URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd118737805.html#ndbcontent