Benjamin, Hilde
- Lebensdaten
- 1902 – 1989
- Geburtsort
- Bernburg an der Saale
- Sterbeort
- Berlin-Ost
- Beruf/Funktion
- Juristin ; Justizministerin der DDR ; Hochschullehrerin ; Politikerin
- Konfession
- evangelisch, später konfessionslos
- Normdaten
- GND: 11885058X | OGND | VIAF: 51816250
- Namensvarianten
-
- Lange, Helene Marie Hildegard
- Benjamin, Hilde
- Lange, Helene Marie Hildegard
- Lange, Hildegard
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Benjamin, Hilde (geborene Helene Marie Hildegard Lange)
1902 – 1989
Juristin, Justizministerin der DDR
Hilde Benjamin, in der NS-Diktatur mit ihrer Familie Verfolgung ausgesetzt, wurde die wohl einflussreichste Juristin der DDR. Als Vizepräsidentin des Obersten Gerichts und Justizministerin war sie maßgeblich an der Einbindung der Justiz in den Unterdrückungsapparat der SED beteiligt. Sie leitete mehrere Kommissionen zur Überarbeitung und Neufassung von DDR-Gesetzen und war ab 1967 Inhaberin eines Lehrstuhls für Rechtsgeschichte an der Deutschen Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft „Walter Ulbricht“ (1973 Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft der DDR).
Lebensdaten
Geboren am 5. Februar 1902 in Bernburg an der Saale Gestorben am 18. April 1989 in Berlin-Ost Grabstätte Zentralfriedhof Friedrichsfelde in Berlin Konfession evangelisch, später konfessionslos -
Autor/in
→Moritz Vormbaum (Münster)
-
Zitierweise
Vormbaum, Moritz, „Benjamin, Hilde“ in: NDB-online, veröffentlicht am 01.04.2023, URL: https://www.deutsche-biographie.de/11885058X.html#dbocontent
Frühe politische Arbeit
Benjamin begann nach dem Abitur 1921 ihr rechtswissenschaftliches Studium und war Mitglied des Sozialistischen Studentenbunds. Eine 1924 bei Moritz Liepmann (1869–1928) in Hamburg begonnene Dissertation über den Strafvollzug beendete sie nicht. 1924 trat sie der SPD bei, verließ die Partei im Folgejahr aber wieder. In ihrer politischen Entwicklung beeinflusst durch ihren Ehemann Georg Benjamin (1895–1942), trat sie 1927 der KPD bei. Nach ihrem Studium, das sie 1927 mit dem Zweiten Staatsexamen in Berlin abschloss, ließ sie sich als Rechtsanwältin in Berlin-Wedding nieder. Viele ihrer Mandantinnen und Mandanten stammten aus der Arbeiterschaft und/oder waren KPD-Mitglieder; sie vertrat z. B. eine Mandantin, die in die Ermordung des SA-Sturmführers Horst Wessel (1907–1930) verwickelt war. Zudem engagierte sie sich für die Rote Hilfe Deutschland und unterrichtete an der Marxistischen Arbeiterschule. Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme wurde ihr Ehemann bis Ende 1933 in Schutzhaft genommen, Benjamin verlor ihre Zulassung als Rechtsanwältin. Wegen ihrer Russischkenntnisse fand sie 1934 eine Anstellung als Beraterin der Sowjetischen Handelsgesellschaft, ab 1936 arbeitete sie in der Buchhaltung eines jüdischen Konfektionsbetriebs, nach dessen Liquidation konnte sie ab 1939 nur gelegentliche kaufmännische Arbeiten übernehmen. 1935 wurde ihr Ehemann erneut festgenommen, 1936 wegen Betätigung für die KPD zu sechsjähriger Zuchthaushaft verurteilt und 1942 im Konzentrationslager Mauthausen ermordet.
Karriere in der DDR
Nach Ende des Zweiten Weltkriegs arbeitete Benjamin zunächst als Oberstaatsanwältin in der Sowjetischen Besatzungszone, ab September 1945 als Vortragender Rat für die Deutsche Justizverwaltung. Zu ihren Aufgaben gehörte die Entnazifizierung der Justiz. Seit 1947 war sie Leiterin der Personalabteilung und setzte sich für die Stellenbesetzung mit parteitreuen „Volksrichtern“ und „Volksstaatsanwälten“ ein, juristischen Laien, die eine mehrmonatige juristische Schulung durchlaufen hatten. 1946 trat sie in die SED ein und war von 1946 bis 1967 Mitglied der Volkskammer. 1948 wurde sie Mitglied des Bundesvorstands des Demokratischen Frauenbunds Deutschland und Leiterin der Juristinnenkommission.
1949 wurde Benjamin Vizepräsidentin des Obersten Gerichts der DDR und Vorsitzende des Senats für erstinstanzliche Strafverfahren. In dieser Funktion leitete sie Schauprozesse, z. B. gegen Mitglieder der Zeugen Jehovas. Leitende Angestellte der Solvay-Werke, dem früheren Arbeitgeber ihres Vaters, verurteilte Benjamin wegen Wirtschaftssabotage. Aufgrund ihrer politischen Überzeugung und ihrer Prozessführung nach Vorbild der stalinistischen Schauprozesse erhielt sie im Westen den Beinamen „Rote Guillotine“. Auch der ursprünglich vermutlich anerkennend gemeinte Beiname „Rote Hilde“ erhielt in dieser Zeit eine negative Konnotation. Insgesamt verhängte sie in ihrer vierjährigen Tätigkeit als Vizepräsidentin des Obersten Gerichts viele langjährige Zuchthausstrafen, 15 lebenslange Haftstrafen und zwei Todesstrafen. Die Rechtsprechung des Obersten Gerichts unter ihrer Leitung beeinflusste das scharfe politische Strafrecht der DDR, das zu dieser Zeit mit Tatbeständen wie „Spionage“, „Sabotage“ oder „Boykotthetze“ von Willkür geprägt war.
Beitrag zur Gesetzgebung
Am 15. Juli 1953 wurde Benjamin zur Justizministerin ernannt. Sie war Leiterin von Kommissionen zur Änderung und Neufassung verschiedener Gesetze. Bei der Strafrechtsreform, die am 11. Dezember 1957 zum Inkrafttreten des sog. Strafrechtsänderungsgesetzes führte, wurden unter ihrer Leitung neue Strafarten wie die bedingte Verurteilung ohne Freiheitsentzug und der öffentliche Tadel als gesellschaftliche Missbilligung eingeführt, die bei geringer Gesellschaftsgefährlichkeit des Täters den Erziehungsgedanken stärker betonen sollten. Das Gesetz enthielt auch Spezialtatbestände wie „Staatsverrat“, „Diversion“ und „Sabotage“, die zuvor unter die Generalklausel des Art. 6 der DDR-Verfassung vom 7. Oktober 1949 („Boykotthetze“) gefallen waren. Benjamin setzte sich für die Beibehaltung der Todesstrafe ein. Im DDR-Strafgesetzbuch (StGB) von 1968, dessen Reformkommission sie leitete, wurde bereits in der Präambel die Rolle des Strafrechts als Instrument zum Schutz des sozialistischen Staates und zur Bekämpfung von Überresten der kapitalistischen Zeit festgeschrieben. Weitere zentrale Unterdrückungsinstrumente erhielten mit Tatbeständen wie „Rowdytum“, „asoziales Verhalten“ oder „ungesetzlicher Grenzübertritt“ Einzug in das StGB. Es erhielt durch Benjamins Impuls aber auch liberale Konnotationen, darunter eine partielle Entkriminalisierung von homosexuellen Beziehungen und von Schwangerschaftsabbrüchen aus medizinischen Gründen. Bereits in ihrem 1949 erschienen Werk „Vorschläge zum neuen deutschen Familienrecht“ plädierte Benjamin für die Gleichberechtigung von Mann und Frau in der Ehe und sah das Familienrecht als Fundament für einen sozialistischen Staat. Diese Ansichten konnte sie 1965 im Familiengesetzbuch (FGB) umsetzen, wobei sie sich immer in dem von der SED vorgegebenen ideologischen Rahmen bewegte.
Rücktritt und Lehrtätigkeit
Benjamins Rücktritt als Justizministerin am 13. Juli 1967 erfolgte nach offizieller Begründung aus gesundheitlichen Gründen, tatsächlich wurde er im April 1967 vom Politbüro beschlossen. Gleichzeitig wurde sie für die kommenden Volkskammerwahlen nicht mehr als Kandidatin aufgestellt. Es wird spekuliert, dass ihre stalinistische Einstellung Grund dafür war.
Seit September 1967 arbeitete Benjamin als Professorin am für sie geschaffenen Lehrstuhl für die Geschichte der Rechtspflege an der Deutschen Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft "Walter Ulbricht" (1973 Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft der DDR) in Potsdam-Babelsberg. Dort verfasste sie die Biografie ihres verstorbenen Mannes und arbeitete an einem vierbändigen Werk zur Geschichte der Rechtspflege der DDR, von dem drei Bände fertiggestellt wurden.
1952 | Dr. h. c., Humboldt-Universität zu Berlin |
1955 | Vaterländischer Verdienstorden in Silber |
1955 | Clara-Zetkin-Medaille (für Verdienste am Ausbau des Sozialismus und bei der Verwirklichung der Gleichberechtigung der Frau) |
1959 | Verdienstmedaille der DDR |
1962 | Vaterländischer Verdienstorden in Gold (für Verdienste bei der Entwicklung der Rechtspflege und der Justizorgane zu wirksamen Instrumenten beim Aufbau des Sozialismus in der DDR) |
1965 | Goldene Medaille für Verdienste in der Rechtspflege |
1977 | Karl-Marx-Orden |
1982 | Stern der Völkerfreundschaft in Gold |
1987 | Karl-Marx-Orden |
Nachlass:
nicht bekannt.
Weitere Archivmaterialien:
Bundesarchiv, Potsdam, P1-VA-6 827 Bl. 4. (Lebenslauf v. 15.8.1945)
Monografien:
Vorschläge zum neuen deutschen Familienrecht, 1949.
Grundriß des Strafverfahrensrechts der Deutschen Demokratischen Republik, 1953.
Karl Liebknecht zum Wesen und zu Erscheinungen der Klassenjustiz, 1976.
Georg Benjamin. Eine Biographie, 1977, 31987.
Hilde Benjamin/Michael Benjamin, Aus Reden und Aufsätzen, 1982. (P, W)
Zur Geschichte der Rechtspflege der DDR, 3 Bde., Bd. 1: Hilde Benjamin/Helmut Anders/Kurt Görner, 1945–1949, 1976, Bd. 2: Hilde Benjamin/Hiltrud Kamin/Rita Sokolow/Kurt Görner, 1949–1961, 1980, Bd. 3: Hilde Benjamin/Hiltrud Kamin/Rita Sokolow/Kurt Görner/Frank Heimberger, 1961–1971, 1986. (Bd. 4 war ausgearbeitet und sollte 1990 erscheinen)
Aufsätze:
Aus der Praxis einer Volksrichterin, in: Demokratischer Aufbau, Jg. 1946, S. 53 f.
Frauen in der Justiz, in: Schriften zur ideologischen und kulturellen Arbeit der Frauenausschüsse, 1946, S. 19–24.
Volksrichter. Träger einer demokratischen Justiz, in: Beiträge zur Demokratisierung der Justiz, 1948, S. 168–190.
Das Oberste Gericht der Deutschen Demokratischen Republik im Kampf gegen Spionage und Sabotage, in: Neue Justiz 5 (1952), S. 244 f.
Zur Strafpolitik, in: Neue Justiz 7 (1954), S. 453–456.
Zu einem Entwurf zur Ergänzung des Strafgesetzbuches, in: Neue Justiz 9 (1956), S. 321–324.
Sozialistisches Strafrecht. Aus der Begründung des Gesetzes zur Ergänzung des Strafgesetzbuchs durch den Minister der Justiz, Dr. Hilde Benjamin, vor der Volkskammer der DDR am 11. Dezember 1957, in: Neue Justiz 10 (1957), S. 785–790.
Zum Bild des sozialistischen Richters, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Humboldt-Universität zu Berlin, Festschrift Arthur Baumgarten, 1964, S. 5–12.
Sozialistische Gesetzgebung – eine der wichtigsten Formen staatlicher Leitung, in: Staat und Recht 15 (1967), S. 164–176.
Strafgesetzbuch der Deutschen Demokratischen Republik – Beitrag zu einem einheitlichen Rechtssystem. Begründung der Gesetzentwürfe auf der 5. Tagung der Volkskammer am 15. Dezember 1967, in: Kanzlei des Staatsrates der Deutschen Demokratischen Republik (Hg.), Das neue Strafrecht – bedeutsamer Schritt zur Festigung unseres sozialistischen Rechtsstaates, 1968, S. 12–33.
Monografien:
Andrea Feth, Hilde Benjamin. Eine Biographie, 1997.
Marianne Brentzel, Die Machtfrau. Hilde Benjamin 1902–1989, 1997. (P)
Heike Wagner, Hilde Benjamin und die Stalinisierung der DDR-Justiz, 1999.
Uwe-Karsten Heye, Die Benjamins. Eine deutsche Familie, 2014. (P)
Aufsätze:
Andrea Feth, Hilde Benjamin, in: Deutsche Politiker 1949–1969, hg. v. Torsten Oppelland, Bd. 1, 1999, S. 198–208. (P)
Andrea Feth, Hilde Benjamin (1902-1989), in: Neue Justiz 56 (2002), S. 64–67.
Holger Schlüter, Zwischen Recht und Unrecht. Lebensläufe Deutscher Juristen, 2004, S. 144–146.
Lexikonartikel:
Bernd-Rainer Barth/Helmut Müller-Engbergs, Art. „Benjamin, Hilde“, in: Wer war wer in der DDR?, 52010, S. 55. (Onlineressource)
Mechthild Winkler-Jordan, Art. „Hilde Benjamin“, in: FemBio, Frauen.Biographieforschung. (P) (Onlineressource)
Fotografien, 1950–1967, Bildarchiv des Bundesarchivs. (Onlineressource)