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Festkörperphysik (Gross, Marx)

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Rudolf Gross, Achim Marx

Festkörperphysik
De Gruyter Studium
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Rudolf Gross, Achim Marx

Festkörperphysik

|
3. Auflage
Autoren
Prof. Dr. Rudolf Gross
Technische Universität München und
Bayerische Akademie der Wissenschaften
Walther-Meißner-Institut
Walther-Meißner-Straße 8
85748 Garching b. München
rudolf.gross@wmi.badw.de

Dr. Achim Marx


Bayerische Akademie der Wissenschaften
Walther-Meißner-Institut
Walther-Meißner-Straße 8
85748 Garching b. München
achim.marx@wmi.badw.de

ISBN 978-3-11-055822-7
e-ISBN (PDF) 978-3-11-055918-7
e-ISBN (EPUB) 978-3-11-055928-6

Library of Congress Cataloging-in-Publication Data


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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek


Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen
Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2018 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston


Coverabbildung: Prof. Dr. Rudolf Gross – Illustration: Irina Apetrei
Satz: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen
♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier
Printed in Germany

www.degruyter.com
Vorwort
Festkörper spielen in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit eine bedeutende Rolle.
So sind zum Beispiel die elektrischen, magnetischen und optischen Eigenschaften von
Festkörpern für die Entwicklung unserer heutigen Informationsgesellschaft von zentraler
Bedeutung und Anwendungen von Festkörpern sind entscheidend für die wirtschaftliche
Entwicklung der heutigen Industrienationen. Das Gebiet der Festkörperphysik ist mitt-
lerweile so umfangreich geworden, dass es nicht in einem einzelnen Lehrbuch umfassend
dargestellt werden kann. Das vorliegende Buch soll eine ausgewogene Einführung in dieses
wohl breiteste Gebiet der Physik geben und als Basis für weiterführende Fachliteratur zu
verschiedenen Spezialthemen der Festkörperphysik wie z. B. Supraleitung, Halbleiterphysik
und -elektronik, Magnetismus, Spin-Elektronik, Nanosysteme, Kristallographie, Tieftem-
peraturphysik oder Polymerphysik geben. Auf experimentelle Techniken und technische
Anwendungen wird nur am Rande eingegangen, um den Umfang des Buches zu begrenzen.
Nicht verzichtet wurde dagegen auf viele historische Hinweise und die Lebensläufe einiger
bedeutender Wissenschaftler, da diese in vielen anderen Büchern häufig zu kurz kommen,
für das Verständnis von wissenschaftlichen Entwicklungen und die allgemeine Ausbildung
der Studenten aber wichtig sind.
Die Grundlage für das vorliegende Buch bildet ein Skriptum, das den Studenten als Begleit-
material zu unseren Vorlesungen an der Universität zu Köln (1996–2000) und später an der
Technischen Universität München zur Verfügung gestellt wurde. Die erste vollständige Ver-
sion des Skriptums wurde bereits im Wintersemester 1997/1998 fertig gestellt und online
frei verfügbar gemacht. Seither wurde es ständig, auch dank der zahlreichen Rückmeldungen
von engagierten Studentinnen und Studenten, überarbeitet und vervollständigt. Insbesonde-
re wurden viele Vertiefungsthemen auf Anregung der Studenten hinzugefügt. Die nun vor-
liegenden 3. Auflage berücksichtigt zahlreiche Anregungen für Verbesserungen und Ergän-
zungen, welche die Autoren zu den früheren Auflagen erhalten haben. Insbesondere wurden
Fehler im Text und in den Abbildungen beseitigt, die Darstellung weiter optimiert und neue
Abschnitte zu mittlerweile wichtig gewordenen Themengebieten (u.a. Spin-Ströme, anoma-
le Hall- und Nernst-Effekte, mit dem Spin-Freiheitsgrad verbundene Transportphänomene,
Magnetisierungsdynamik) überarbeitet und ergänzt. Das Themengebiet topologische Quan-
tenmaterialien ist in den vergangenen zwei Jahrzehnten so stark gewachsen, dass es jetzt in
einem neuen Kapitel 14 separat vorgestellt wird.
Da die Vertiefung und Erweiterung von Fachwissen anhand von Übungsaufgaben von un-
schätzbarem Wert ist, haben die Autoren als Ergänzung zu diesem Lehrbuch das Buch Fest-
körperphysik. Aufgaben und Lösungen (Rudolf Gross, Achim Marx, Dietrich Einzel) ver-
fasst. Es ermöglicht den Lesern dieses Buches, ihr erlerntes Wissen durch die Lösung von
Übungsaufgaben zu überprüfen. Die zur Verfügung gestellten Musterlösungen sollen dabei
VI Vorwort

helfen, den eigenen Lösungsweg zu überprüfen und Hindernisse bei der Erarbeitung des
eigenen Lösungswegs zu überwinden. Da die Übungsaufgaben und zugehörigen Musterlö-
sungen in einem eigenen Buch enthalten sind, wurde in der jetzigen Auflage des Lehrbuchs
zur Festkörperphysik auf die Auflistung der Übungsaufgaben am Ende jedes Kapitels ver-
zichtet.
Das Buch richtet sich an Studierende der Physik und Materialwissenschaften im Bachelor-
und Master-Studiengang, die als Spezialisierungsrichtung die Physik der kondensierten Ma-
terie gewählt haben. Je nach zeitlichem Umfang der Vorlesungen können einige Themen-
gebiete weggelassen werden. Im Buch sind bereits so genannte Vertiefungsthemen markiert,
die zum weiteren Verständnis des Buches nicht benötigt werden und deshalb auch über-
sprungen werden können. Vorausgesetzt werden Grundkenntnisse zur Mechanik, Atom-
physik, Elektrodynamik, Quantenmechanik und statistischen Physik. In allen Gleichungen
wird grundsätzlich das internationale Maßsystem (SI) verwendet. Allerdings wird an eini-
gen Stellen auf für den atomaren Bereich praktische Einheiten wie z. B. Ångström oder eV
zurückgegriffen.
In das vorliegende Buch sind zahlreiche Anregungen, Hinweise und Illustrationen von un-
seren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie von verschiedenen Kolleginnen und Kolle-
gen eingeflossen. Namentlich erwähnen möchten wir insbesondere M. Althammer, L. Alff,
W. Biberacher, B. Büchner, B. S. Chandrasekhar, F. Deppe, R. Doll, D. Einzel, S. Geprägs,
S. Gönnenwein, R. Hackl, H. Hübl, M. Kartsovnik, D. Koelle, A. Lerf, M. Opel, K. Uhlig und
M. Weiler.
Die Autoren hoffen, dass diese Neuauflage ein ähnlich positives Echo findet wie die vorhe-
rigen Auflagen und weiterhin die Leser zum Dialog mit den Autoren animiert. Die von den
Lesern erhaltenen Verbesserungsvorschläge und Rückmeldungen zu Fehlern sind von un-
schätzbarem Wert. Sie können direkt an unsere elektronischen Adressen (Rudolf.Gross@
wmi.badw.de, Achim.Marx@wmi.badw.de) geschickt werden.

München, September 2017 Rudolf Gross und Achim Marx


Inhaltsverzeichnis

Vorwort V

1 Kristallstruktur 1
1.1 Periodische Strukturen – Grundbegriffe und Definitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3
1.1.1 Das Bravais-Gitter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3
1.1.2 Klassifizierung von Kristallgittern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
1.1.3 Richtungen und Ebenen in Kristallen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20
1.1.4 Quasikristalle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22
1.2 Einfache Kristallstrukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24
1.2.1 Die sc-Struktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25
1.2.2 Die fcc-Struktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25
1.2.3 Die bcc-Struktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26
1.2.4 Die hcp-Struktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27
1.2.5 Die dhcp-Struktur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28
1.2.6 Die Natriumchloridstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28
1.2.7 Die Cäsiumchloridstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29
1.2.8 Die Diamantstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30
1.2.9 Die Zinkblende-und Wurtzit-Struktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31
1.2.10 Die Graphitstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33
1.3 Festkörperoberflächen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35
1.4 Reale Kristalle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37
1.4.1 Strukturelle Fehlordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37
1.4.2 Chemische Fehlordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43
1.5 Nicht-kristalline Festkörper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44
1.5.1 Die radiale Verteilungsfunktion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44
1.5.2 Flüssigkristalle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46
1.6 Vertiefungsthema: Direkte Abbildung von Kristallstrukturen . . . . . . . . . . . . . . . 49
1.6.1 Elektronenmikroskopie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49
1.6.2 Rastersondentechniken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53
VIII Inhaltsverzeichnis

2 Strukturanalyse 55
2.1 Das reziproke Gitter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56
2.1.1 Definition des reziproken Gitters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56
2.1.2 Fourier-Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57
2.1.3 Die reziproken Gittervektoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57
2.1.4 Die erste Brillouin-Zone . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61
2.1.5 Gitterebenen und Millersche Indizes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62
2.1.6 Gegenüberstellung von direktem und reziprokem Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65
2.2 Beugung von Wellen an periodischen Strukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65
2.2.1 Die Bragg-Bedingung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66
2.2.2 Die von Laue Bedingung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67
2.2.3 Zusammenhang zwischen Bragg und von Laue Bedingung . . . . . . . . . . . . . . . . . 70
2.2.4 Allgemeine Beugungstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71
2.2.5 Beispiele für Strukturfaktoren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77
2.2.6 Inelastische Streuung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78
2.2.7 Der Debye-Waller Faktor. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81
2.2.8 Vertiefungsthema: Der Mößbauer-Effekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84
2.3 Experimentelle Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87
2.3.1 Wellentypen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87
2.3.2 Methoden der Röntgendiffraktometrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94

3 Bindungskräfte 95
3.1 Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96
3.1.1 Bindungsenergie und Schmelztemperatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96
3.1.2 Elektronische Struktur der Atome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97
3.2 Die Van der Waals Bindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102
3.2.1 Wechselwirkung zwischen fluktuierenden Dipolen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103
3.2.2 Abstoßende Wechselwirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105
3.2.3 Gleichgewichtsgitterkonstante . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107
3.2.4 Kompressibilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109
3.3 Die ionische Bindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110
3.3.1 Madelungenergie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111
3.3.2 Gleichgewichtsgitterkonstante . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115
3.3.3 Kompressibilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116
3.4 Die kovalente Bindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117
3.4.1 Das H+2 -Molekülion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118
3.4.2 Das H2 -Molekül . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122
3.4.3 Vertiefungsthema: Hybridisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129
3.5 Die metallische Bindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136
3.5.1 Bindungsenergie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137
Inhaltsverzeichnis IX

3.6 Die Wasserstoffbrückenbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140


3.7 Atom- und Ionenradien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141
3.7.1 Atomradien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142
3.7.2 Ionenradien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143

4 Elastische Eigenschaften 145


4.1 Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146
4.2 Spannung und Dehnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146
4.2.1 Der Spannungstensor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146
4.2.2 Die Dehnungskomponenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149
4.3 Der Elastizitätstensor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151
4.3.1 Elastische Energiedichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153
4.3.2 Kristallsymmetrie und Elastizitätsmodul . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154
4.4 Vertiefungsthema: Verspannungseffekte in epitaktischen Schichten . . . . . . . . 157
4.5 Technische Größen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160
4.6 Elastische Wellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163
4.6.1 Elastische Wellen in kubischen Kristallen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164
4.6.2 Experimentelle Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168

5 Gitterdynamik 171
5.1 Grundlegendes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172
5.1.1 Die adiabatische Näherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172
5.1.2 Die harmonische Näherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176
5.2 Klassische Theorie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178
5.2.1 Bewegungsgleichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178
5.2.2 Kristallgitter mit einatomiger Basis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180
5.2.3 Kristallgitter mit zweiatomiger Basis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185
5.2.4 Gitterschwingungen – dreidimensionaler Fall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191
5.3 Zustandsdichte im Phononenspektrum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193
5.3.1 Randbedingungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194
5.3.2 Zustandsdichte im Impulsraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196
5.3.3 Zustandsdichte im Frequenzraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196
5.4 Quantisierung der Gitterschwingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200
5.4.1 Das Quantenkonzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200
5.4.2 Phononen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200
5.4.3 Der Impuls von Phononen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202
X Inhaltsverzeichnis

5.5 Experimentelle Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204


5.5.1 Inelastische Neutronenstreuung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206
5.5.2 Inelastische Lichtstreuung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212

6 Thermische Eigenschaften 213


6.1 Spezifische Wärme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214
6.1.1 Definition der spezifischen Wärme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214
6.1.2 Klassische Betrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215
6.1.3 Quantenmechanische Betrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219
6.1.4 Temperaturverlauf der spezifischen Wärme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222
6.1.5 Debye- und Einstein-Näherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224
6.1.6 Phononenzahl und Nullpunktsenergie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230
6.1.7 Vertiefungsthema: Analogie zwischen Phononen- und Photonengas . . . . . . . 231
6.2 Anharmonische Effekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233
6.2.1 Anharmonisches Potenzial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234
6.3 Thermische Ausdehnung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237
6.3.1 Mittlere Auslenkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237
6.3.2 Vertiefungsthema: Zustandsgleichung und thermische Ausdehnung . . . . . . . 239
6.4 Wärmeleitfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243
6.4.1 Definition der Wärmeleitfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244
6.4.2 Transporttheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244
6.4.3 Temperaturabhängigkeit der Wärmeleitfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247
6.4.4 Spontaner Zerfall von Phononen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252
6.4.5 Vertiefungsthema: Wärmetransport in amorphen Festkörpern . . . . . . . . . . . . . 252
6.4.6 Vertiefungsthema: Wärmetransport in niederdimensionalen Systemen . . . . . 254
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257

7 Das freie Elektronengas 259


7.1 Modell des freien Elektronengases . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261
7.1.1 Grundzustand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261
7.1.2 Fermi-Gas bei endlicher Temperatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270
7.1.3 Das chemische Potenzial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272
7.2 Spezifische Wärme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274
7.2.1 Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274
7.2.2 Experimentelle Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276
7.3 Transporteigenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279
7.3.1 Elektrische Leitfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279
7.3.2 Thermische Leitfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287
7.3.3 Thermokraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290
7.3.4 Bewegung im Magnetfeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292
Inhaltsverzeichnis XI

7.4 Niedrigdimensionale Elektronengassysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302


7.4.1 Zweidimensionales Elektronengas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302
7.4.2 Eindimensionales Elektronengas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305
7.4.3 Nulldimensionales Elektronengas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306
7.5 Transporteigenschaften von niederdimensionalen Elektronengasen . . . . . . . . 306
7.5.1 Eindimensionales Elektronengas: Leitwertquantisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306
7.5.2 Vertiefungsthema: Nulldimensionales Elektronengas: Coulomb-Blockade . 309
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313

8 Energiebänder 315
8.1 Bloch-Elektronen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317
8.1.1 Bloch-Wellen im Ortsraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320
8.1.2 Bloch-Wellen im k-Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321
8.1.3 Der Kristallimpuls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322
8.1.4 Dispersionsrelation und Bandstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323
8.1.5 Reduziertes Zonenschema . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325
8.2 Die Näherung fast freier Elektronen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328
8.2.1 Qualitative Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328
8.2.2 Quantitative Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330
8.3 Die Näherung stark gebundener Elektronen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335
8.3.1 Beispiele: kubische Gitter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339
8.3.2 Weitere Methoden zur Bandstrukturberechnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342
8.3.3 Vertiefungsthema: Spin-Bahn-Kopplung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343
8.4 Metalle, Halbmetalle, Halbleiter, Isolatoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345
8.4.1 Anzahl der Zustände pro Band . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346
8.4.2 Halbmetalle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348
8.4.3 Isolatoren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348
8.5 Zustandsdichte und Bandstrukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350
8.5.1 Zustandsdichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350
8.5.2 Beispiele für Bandstrukturen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352
8.5.3 Experimentelle Bestimmung der Bandstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354
8.6 Fermi-Flächen von Metallen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358
8.6.1 Quadratisches Gitter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358
8.7 Wechselwirkende Elektronensysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363
8.7.1 Hartree-Fock-Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364
8.7.2 Dichtefunktionaltheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365
8.7.3 Hubbard-Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367
XII Inhaltsverzeichnis

9 Dynamik von Kristallelektronen 369


9.1 Semiklassisches Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371
9.1.1 Grundlagen des semiklassischen Modells . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 374
9.1.2 Gültigkeitsbereich des semiklassischen Modells . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377
9.2 Bewegung von Kristallelektronen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 378
9.2.1 Gefüllte Bänder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 378
9.2.2 Teilweise gefüllte Bänder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 380
9.2.3 Elektronen und Löcher. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 382
9.2.4 Semiklassische Bewegung im homogenen Magnetfeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 386
9.2.5 Semiklassische Bewegung in gekreuzten elektrischen und magnetischen
Feldern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 390
9.2.6 Hall-Effekt und Magnetwiderstand im Hochfeldgrenzfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391
9.3 Streuprozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395
9.3.1 Beschreibung von Streuprozessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395
9.3.2 Streuquerschnitte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 398
9.4 Boltzmann-Transportgleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405
9.4.1 Boltzmann-Gleichung und Relaxationszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 406
9.4.2 Linearisierte Boltzmann-Gleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409
9.4.3 Relaxationszeit-Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409
9.5 Thermoelektrische und thermomagnetische Effekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413
9.5.1 Thermoelektrische Effekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414
9.5.2 Thermomagnetische Effekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425
9.6 Spin-Transport . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 428
9.6.1 Allgemeines Klassifizierungsschema . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 428
9.6.2 Spin-Ströme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431
9.7 Vertiefungsthema: Relativistische und topologische Effekte . . . . . . . . . . . . . . . . . 434
9.7.1 Anomaler Hall- Effekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435
9.7.2 Anomaler Nernst-Effekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445
9.7.3 Spin-Hall- und Spin-Nernst-Effekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 446
9.8 Vertiefungsthema: Quanteninterferenzeffekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 448
9.8.1 Mesoskopische Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 450
9.9 Vertiefungsthema: Magnetwiderstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 452
9.9.1 Magnetwiderstand und Hall-Effekt im Einband-Modell. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 453
9.9.2 Magnetwiderstand und Hall-Effekt im Zweiband-Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 455
9.10 Quantisierung der Bahnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459
9.10.1 Freie Ladungsträger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459
9.10.2 Zustandsdichte im Magnetfeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 464
9.10.3 Kristallelektronen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 465
9.10.4 Vertiefungsthema: Magnetischer Durchbruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 468
9.11 Experimentelle Bestimmung der Fermi-Flächen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 470
Inhaltsverzeichnis XIII

9.11.1 De Haas-van Alphen-Effekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 471


9.11.2 Shubnikov-de Haas-Effekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 476
9.11.3 Vertiefungsthema: Zyklotronresonanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 477
9.11.4 Vertiefungsthema: Anomaler Skin-Effekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 479
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 480

10 Halbleiter 483
10.1 Grundlegende Eigenschaften. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 485
10.1.1 Klassifizierung von Halbleitern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 485
10.1.2 Intrinsische Halbleiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 489
10.1.3 Dotierte Halbleiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 501
10.1.4 Elektrische Leitfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 508
10.1.5 Hall-Effekt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 511
10.1.6 Vertiefungsthema: Seebeck- und Peltier-Effekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 513
10.2 Inhomogene Halbleiter. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 514
10.2.1 p-n Übergang im thermischen Gleichgewicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 515
10.2.2 p-n Übergang mit angelegter Spannung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 522
10.2.3 Schottky-Kontakt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 527
10.2.4 Schottky-Kontakt mit angelegter Spannung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 529
10.3 Halbleiter-Bauelemente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 532
10.3.1 Zener-Diode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 532
10.3.2 Esaki- oder Tunneldiode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 534
10.3.3 Solarzelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 536
10.3.4 Bipolarer Transistor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 542
10.4 Realisierung von niedrigdimensionalen Elektronengassystemen . . . . . . . . . . . . 546
10.4.1 Zweidimensionale Elektronengase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 546
10.4.2 Vertiefungsthema: Halbleiter-Laser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 554
10.5 Zweidimensionales Elektronengas: Quanten-Hall-Effekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 555
10.5.1 Zweidimensionales Elektronengas im Magnetfeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 556
10.5.2 Transporteigenschaften des zweidimensionalen Elektronengases . . . . . . . . . . . 558
10.5.3 Ganzzahliger Quanten-Hall-Effekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 560
10.5.4 Vertiefungsthema: Fraktionaler Quanten-Hall-Effekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 569
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 571

11 Dielektrische Eigenschaften 573


11.1 Makroskopische Elektrodynamik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 575
11.1.1 Die dielektrische Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 575
11.1.2 Kramers-Kronig-Relationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 578
11.1.3 Absorption, Transmission und Reflexion von elektromagn. Strahlung . . . . . . 579
11.1.4 Das lokale elektrische Feld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 581
11.2 Mikroskopische Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 584
XIV Inhaltsverzeichnis

11.3 Elektronische Polarisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 586


11.3.1 Lorentzsches Oszillator-Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 587
11.3.2 Vertiefungsthema: Quantenmechanische Beschreibung der
elektronischen Polarisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 590
11.4 Ionische Polarisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 596
11.4.1 Eigenschwingungen von Ionenkristallen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 597
11.4.2 Erzwungene Schwingungen von Ionenkristallen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 600
11.5 Orientierungspolarisation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 606
11.5.1 Statische Polarisation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 606
11.5.2 Frequenzabhängige Polarisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 608
11.6 Dielektrische Eigenschaften von Metallen und Halbleitern . . . . . . . . . . . . . . . . . . 610
11.6.1 Dielektrische Funktion eines freien Elektronengases . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 610
11.6.2 Longitudinale Plasmaschwingungen: Plasmonen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 614
11.6.3 Erzwungene transversale Plasmaschwingungen: Plasmon-Polaritonen . . . . . 617
11.6.4 Interband-Übergänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 618
11.6.5 Exzitonen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 620
11.7 Elektron-Elektron-Wechselwirkung und Abschirmung in Metallen . . . . . . . . . 622
11.7.1 Statische Abschirmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 623
11.7.2 Vertiefungsthema: Lindhard Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 629
11.7.3 Vertiefungsthema: Abschirmung von Phononen in Metallen . . . . . . . . . . . . . . . 633
11.7.4 Polaronen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 637
11.7.5 Vertiefungsthema: Metall-Isolator-Übergang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 640
11.7.6 Elektron-Elektron-Wechselwirkung und Theorie der Fermi-Flüssigkeit . . . . . 641
11.8 Ferroelektrizität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 643
11.8.1 Landau-Theorie der Phasenübergänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 646
11.8.2 Klassifizierung von Ferroelektrika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 649
11.8.3 Ferroelektrische Domänen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 653
11.8.4 Piezoelektrizität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 653
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 656

12 Magnetismus 659
12.1 Makroskopische Größen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 662
12.1.1 Die magnetische Suszeptibilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 662
12.1.2 Magnetische Feldstärke und Flussdichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 664
12.1.3 Entmagnetisierungs- und Streufelder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 665
12.1.4 Lokales magnetisches Feld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 666
12.1.5 Magnetostatische Selbstenergie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 667
12.2 Mikroskopische Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 668
12.2.1 Dia-, Para- und Ferromagnetismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 668
12.3 Atomarer Dia- und Paramagnetismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 671
12.3.1 Atome im homogenen Magnetfeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 671
Inhaltsverzeichnis XV

12.3.2 Statistische Betrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 674


12.3.3 Larmor-Diamagnetismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 676
12.3.4 Magnetische Momente in Festkörpern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 678
12.3.5 Langevin-Paramagnetismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 684
12.3.6 Vertiefungsthema: Van Vleck Paramagnetismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 688
12.3.7 Kühlung durch adiabatische Entmagnetisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 689
12.4 Para- und Diamagnetismus von Metallen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 692
12.4.1 Pauli-Paramagnetismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 693
12.4.2 Landau-Diamagnetismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 696
12.5 Kooperativer Magnetismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 697
12.5.1 Dipol-Dipol-Wechselwirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 698
12.5.2 Austauschwechselwirkung zwischen lokalisierten Elektronen . . . . . . . . . . . . . . . 698
12.5.3 Dzyaloshinskii-Moriya Wechselwirkung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 705
12.5.4 Spin-Bahn-Wechselwirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 707
12.5.5 Zeeman-Wechselwirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 710
12.5.6 Austauschwechselwirkung zwischen itineranten Elektronen . . . . . . . . . . . . . . . . 711
12.6 Magnetische Ordnungsphänomene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 719
12.6.1 Magnetische Ordnungsstrukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 719
12.6.2 Ferromagnetismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 720
12.6.3 Ferrimagnetismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 726
12.6.4 Antiferromagnetismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 730
12.7 Magnetische Anisotropie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 734
12.7.1 Magnetische freie Energiedichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 736
12.7.2 Magnetokristalline Anisotropie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 736
12.7.3 Formanisotropie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 740
12.7.4 Induzierte Anisotropie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 740
12.8 Magnetische Domänen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 742
12.8.1 Ferromagnetische Domänen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 742
12.8.2 Antiferromagnetische Domänen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 744
12.8.3 Domänenwände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 744
12.8.4 Abbildung der Domänenstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 747
12.8.5 Magnetisierungskurve . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 748
12.8.6 Magnetische Speichermedien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 749
12.9 Magnetisierungsdynamik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 751
12.9.1 Ferromagnetische Resonanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 753
12.10 Spin-Wellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 754
12.10.1 Austauschmoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 756
12.10.2 Dipolare Moden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 763
12.10.3 Vertiefungsthema: Antiferromagnetische Spin-Wellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 764
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 766
XVI Inhaltsverzeichnis

13 Supraleitung 769
13.1 Geschichte und grundlegende Eigenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 772
13.1.1 Geschichte der Supraleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 772
13.1.2 Supraleitende Materialien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 780
13.1.3 Sprungtemperaturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 783
13.1.4 Grundlegende Eigenschaften. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 784
13.2 Thermodynamische Eigenschaften von Supraleitern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 792
13.2.1 Typ-I Supraleiter im Magnetfeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 792
13.2.2 Typ-II Supraleiter im Magnetfeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 797
13.3 Phänomenologische Modelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 798
13.3.1 London-Gleichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 798
13.3.2 Verallgemeinerte London Theorie – Supraleitung als makroskopisches
Quantenphänomen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 801
13.3.3 Die Ginzburg-Landau-Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 813
13.4 Typ-I und Typ-II Supraleiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 825
13.4.1 Mischzustand und kritische Felder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 826
13.4.2 Supraleiter-Normalleiter Grenzflächenenergie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 827
13.4.3 Vertiefungsthema: Zwischenzustand und Entmagnetisierungseffekte . . . . . . . 829
13.4.4 Kritische Felder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 830
13.4.5 Vertiefungsthema: Nukleation an Oberflächen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 834
13.4.6 Vertiefungsthema: Shubnikov-Phase und Flussliniengitter . . . . . . . . . . . . . . . . . . 835
13.4.7 Vertiefungsthema: Flusslinien in Typ-II Supraleitern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 838
13.4.8 Kritische Stromdichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 843
13.5 Mikroskopische Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 847
13.5.1 Attraktive Elektron-Elektron-Wechselwirkung und Cooper-Paare . . . . . . . . . . 849
13.5.2 Der BCS-Grundzustand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 858
13.5.3 Energielücke und Anregungsspektrum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 873
13.5.4 Quasiteilchentunneln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 875
13.5.5 Thermodynamische Größen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 879
13.6 Josephson-Effekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 883
13.6.1 Die Josephson-Gleichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 883
13.6.2 Josephson-Kontakt mit Wechselspannung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 888
13.6.3 Josephson-Kontakt im Magnetfeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 889
13.6.4 Supraleitende Quanteninterferometer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 893
13.7 Kritische Ströme in Typ-II Supraleitern. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 895
13.7.1 Stromtransport im Mischzustand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 896
13.7.2 Lorentz-Kraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 898
13.7.3 Reibungskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 900
13.7.4 Haftkraft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 901
13.8 Unkonventionelle Supraleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 903
Inhaltsverzeichnis XVII

13.9 Kuprat-Supraleiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 905


13.9.1 Strukturelle Eigenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 906
13.9.2 Elektronische Eigenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 907
13.9.3 Supraleitende Eigenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 912
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 921

14 Topologische Quantenmaterie 929


14.1 Geschichte und Grundlegende Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 930
14.2 Topologie und Bandstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 932
14.2.1 Klassifizierung von geometrischen Körpern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 933
14.2.2 Elektronische Bandstruktur und topologische Invarianten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 934
14.3 Berry-Phase und Chern-Zahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 935
14.3.1 Berry-Phase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 935
14.3.2 Chern-Zahl. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 937
14.3.3 Beispiel Spin-1/2-System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 940
14.3.4 Beispiel Aharonov-Bohm-Effekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 941
14.4 Topologische Phasen und Phasenübergänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 942
14.4.1 Kosterlitz-Thouless-Übergang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 943
14.4.2 Klassifizierung von topologischen Phasen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 946
14.4.3 Oberflächen und Grenzflächen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 947
14.5 Zweidimensionale Topologische Isolatoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 949
14.5.1 TI mit gebrochener Zeitumkehrsymmetrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 949
14.5.2 TI ohne gebrochene Zeitumkehrsymmetrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 950
14.5.3 Quanten-Hall-Effekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 952
14.6 Dreidimensionale Topologische Isolatoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 953
14.7 Topologische Supraleiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 954
14.8 Zukunftsperspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 955
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 955

A Quantentheorie des Gitters 957


A.1 Der harmonische Oszillator . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 957
A.2 Quantisierung von Gitterschwingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 958
A.2.1 Lineare Kette . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 958
A.2.2 Erzeugungs- und Vernichtungsoperatoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 961

B Quantenstatistik 963
B.1 Identische Teilchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 963
B.1.1 Klassischer Fall: Maxwell-Boltzmann-Statistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 964
XVIII Inhaltsverzeichnis

B.1.2 Quantenmechanischer Fall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 964


B.2 Die quantenmechanischen Verteilungsfunktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 966
B.2.1 Quantenstatistische Beschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 966
B.2.2 Photonen-Statistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 969
B.2.3 Die Fermi-Dirac-Statistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 970
B.2.4 Die Bose-Einstein-Statistik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 972
B.2.5 Quantenstatistik im klassischen Grenzfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 973

C Sommerfeld-Entwicklung 977

D Geladenes Teilchen in elektromagnetischem Feld 979


D.1 Der verallgemeinerte Impuls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 979
D.2 Lagrange-Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 979
D.3 Hamilton-Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 981

E Symmetrietransformationen 983
E.1 Symmetrien in der Physik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 983
E.2 Zeitumkehrtransformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 984
E.3 Parität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 985
E.4 Ladungskonjugation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 987

F Dipolnäherung 989

G Thermodynamische Eigenschaften von Festkörpern 991


G.1 Thermodynamische Potenziale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 991
G.2 Innere Energie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 992
G.2.1 Arbeit an Systemen in elektrischen und magnetischen Feldern . . . . . . . . . . . . . 993
G.2.2 Zusammenhang zwischen innerer Energie und elektromagnetischer Arbeit 1000
G.3 Freie Energie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1001
G.4 Freie Enthalpie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1002
G.5 Verwendung der thermodynamischen Potenziale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1004
G.6 Spezifische Wärme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1005
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1006
Inhaltsverzeichnis XIX

H Herleitungen zur Supraleitung 1007


H.1 Madelung-Transformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1007
H.2 BCS Hamilton-Operator . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1010
H.3 Grundzustandsenergie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1011
H.4 Josephson-Gleichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1012

I SI-Einheiten 1015
I.1 Geschichte des SI-Systems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1015
I.2 Die SI-Basiseinheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1016
I.2.1 Einige von den SI-Einheiten abgeleitete Einheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1017
I.3 Vorsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1018
I.4 Abgeleitete Einheiten und Umrechnungsfaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1018
I.4.1 Länge, Fläche, Volumen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1018
I.4.2 Masse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1019
I.4.3 Zeit, Frequenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1019
I.4.4 Temperatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1019
I.4.5 Winkel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1020
I.4.6 Kraft, Druck, Viskosität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1020
I.4.7 Energie, Leistung, Wärmemenge. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1020
I.4.8 Elektromagnetische Einheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1021

J Physikalische Konstanten 1023

Literatur 1027
Abbildungsnachweis 1031
Index 1033

Erklärung der Icons


Vertiefen Nachlesen
Hier können Sie Ihr Wissen Hier finden Sie weiterführende
vertiefen. Literaturhinweise.

Merken
Achtung, wichtiger Hinweis!
IA VIIIA
Wasserstoff 1,0079 Helium 4,0026
0,089 H 1 Alkalimetalle Erdalkalimetalle Übergangsmetalle 0,179 He 2
1s 1 Seltene Erden andere Metalle Halbmetalle/Halbleiter 1s 2
1 3,75 hex 1,731 3,57 hex 1,633 1
13,598 2,20 Nichtmetalle Halogene Edelgase 24,587 12,3
14,0 110 IIA IIIA IVA VA VIA VIIA ~1,0 (26 Atm) 26LT
Lithium 6,941 Beryllium 9,0122 Symbol
Bor 10,81 Kohlenstoff 12,01 Stickstoff 14,007 Sauerstoff 15,999 Fluor 18,998 Neon 20,18
Elementname Massenzahl
0,53 Li 3 1,85 Be 4 Magnesium 24,305 Ordnungszahl fcc kubisch-flächenzentriert 2,34 B 5 2,26 C 6 1,03 N 7 1,43 O 8 1,97 (α) F 9 1,56 Ne 10
1
2s 2 Dichte [g/cm 3 ] bcc kubisch-raumzentriert
2s 2 2p1 2s 2 2p2 2s 2 2p3 2s 2 2p4 2s 2 2p
5 2 6

2
2s 1,74 Mg 12 Elektronenkonfiguration des Atoms sc einfach kubisch
2s 2p
3,49 bcc 2,29 hex 1,567 (der häufigsten Kristallphase)
3s 2 tet tetragonal
8,73 tet 0,576 3,57 dia 4,039 hex 1,651 6,83 sc mcl 4,43 fcc 2
Verhältnis c/a und Winkel α (für rhomboedrische Struktur)
5,392 0,98 9,322 1,75 Gitterkonstante a [Å] 3,21 hex 1,624 orc orthorombisch 8,298 2,04 11,260 2,55 14,534 3,04 13,618 3,44 17,422 3,98 21,564
oder Verhältnis b/a (für orthorhombische Struktur) LT
453 400 1550 1000 1. Ionisierungsenergie [eV] 7,646 1,31 Elektronegativität (nach Pauling)
hex hexagonal 2600 1250 (4300) 1860 63,3 (ß)79 54,7 (γ)46 LT 53,5 24,5 63
22,9898 Magnesium dia Diamantstruktur
Natrium 24,305 Schmelztemperatur [K] 922 318
mittlere Debye-Temperatur [K], der Index LT kennzeichnet Aluminium 26,982 Silicium 28,086 Phosphor 30,974 Schwefel 32,064 Chlor 35,453 Argon 39,948
rhl rhomboedrisch
0,97 Na 11 1,74 Mg 12 Werte, die bei niedriger Temperatur ermittelt wurden mcl monoklin 2,70 Al 13 2,33 Si 14 1,82 P 15 2,07 S 16 2,09 Cl
17 1,78 Ar 18
3s 1 3s 2 Kristallstruktur (der häufigsten Kristallphase) 3s 2 3p 1 3s 2 3p 2 3s2 3p3 3s 2 3p 4 3s 2 3p5 3s 2 3p 6
2,339 1,324
3 4,23 bcc 3,21 hex 1,624 4,05 fcc 5,43 dia 7,17 orc 10,47 orc 1,229 6,24 orc
0,718
5,26 fcc 3
5,139 0,93 7,646 1,31 5,986 1,61 8,151 1,90 10,486 2,19 10,360 2,58 12,967 3,16 15,759
371,0 150 922 318 IIIB IVB VB VIB VIIB VIIIB VIIIB VIIIB IB IIB 933 394 1683 625 317,3 386 172,2 83,9 85
Kalium 39,09 Calcium 40,08 Scandium 44,956 Titan 47,90 Vanadium 50,942 Chrom 52,00 Mangan 54,938 Eisen 55,85 Cobalt 58,93 Nickel 58,6934 Kupfer 63,546 Zink 65,409 Gallium 69,72 Germanium 72,63 Arsen 74,92159 Selen 78,96 Brom 79,904 Krypton 83,80
0,86 K 19 1,54 Ca 20 2,99 Sc 21 4,51 Ti 22 6,1 V 23 7,19 24 7,43 Cr 25 7,86 Mn26 8,9 27 Fe Co 8,9 Ni 28 8,96 Cu
29 7,14 30 5,91 Zn 31 5,32 Ga
32 5,72 33 4,79 Ge 34 4,10 As
35 3,07 36 Se Br Kr
10
4s 1 4s 2 3d 1 4s2 3d 2 4s 2 3d 3 4s 2
5
3d 4s1
5
3d 4s2
6
3d 4s2
7
3d 4s2
8
3d 4s2
10
3d 4s 1
10
3d 4s 2 10
3d 4s 2 4p1
10
3d 4s 2 4p2
10
3d 4s 2 4p3
10
3d 4s 2 4p4 3d 4s 2 4p5 1,307 10
3d 4s 2 4p6
4 5,23 bcc 5,58 fcc 3,31 hex 1,594 2,95 hex 1,588 3,02 bcc 2,88 bcc 8,89 sc 2,87 bcc 2,51 hex 1,622 3,52 fcc 3,61 fcc 2,66 hex 1,856 4,51 orc 1,695 5,66 dia
1,001
4,13 rhl 54°10‘ 4,36 hex 1,136 6,67 orc 0,672 5,72 fcc 4
4,341 0,82 6,113 1,00 6,54 1,36 6,82 1,54 6,74 1,63 6,766 1,66 7,435 1,55 7,870 1,83 7,86 1,88 7,635 1,91 7,726 1,90 9,394 1,65 5,999 1,81 7,899 2,01 9,81 2,18 9,752 2,55 11,814 2,96 13,999
337 100 1111 230 1812 359 LT 1933 380 2163 390 2130 460 1518 400 1808 420 1768 385 1726 375 1356 315 693 234 303 240 1211 360 1090 285 490 150 LT 266 116,5 73 LT
Rubidium 85,47 Strontium 87,62 Yttrium 88,91 Zirconium 91,22 Niob 92,91 Molybdän 95,94 Technetium 98,91 Ruthenium 101,07 Rhodium 102,90 Palladium 106,40 Silber 107,87 Cadmium 112,40 Indium 114,82 Zinn 118,69 Antimon 121,75 Tellur 127,60 Jod 126,90 Xenon 131,30
1,53 Rb 37 2,60 Sr 38 4,46 Y 39 6,49 Zr
40 8,4 Nb 41 10,2 Mo 42 11,5 Tc 43 12,2 44 12,4Ru 45 Rh 12,0 Pd 46 10,5 Ag
47 8,65 48 7,31 Cd 49 7,30 In50 6,62 51 6,24 Sn 52 4,94 Sb 53 3,77 54 Te I Xe
10 1 10
5s 1 5s 2 4d 1 5s 2 4d 2 5s 2 4d 4 5s1 4d 55s 1 4d 5 5s 2 4d 7 5s 1 4d 8 5s 1 4d105s 0 10
4d 5s 1 4d 10 5s 2 4d 5s 2 5p 4d105s 25p 2 10 2
4d 5s 5p3 4d105s 2 5p4
10 2 5
4d 5s 5p 4d 5s 2 5p 6
1,347
5 5,59 bcc 6,08 fcc 3,65 hex 1,517 3,23 hex 1,593 3,30 bcc 3,15 bcc 2,74 hex 1,604 2,70 hex 1,584 3,80 fcc 3,89 fcc 1,584 4,09 fcc 2,98 hex 1,886 4,59 tet 1,076 5,82 tet 0,546 4,51 rhl 57°6‘ 4,45 hex 1,330 7,27 orc 0,659 6,20 fcc 5
4,177 0,82 5,695 0,95 6,38 1,22 6,84 1,33 6,88 1,6 7,099 2,16 7,28 1,9 7,37 2,2 7,46 2,28 8,34 2,20 7,576 1,93 8,993 1,69 5,786 1,78 7,344 1,96 8,641 2,05 9,009 2,1 10,451 2,66 12,130 2,6
LT LT
312 56 LT 1043 147 LT 1796 256 LT 2125 250 2741 275 2890 380 2445 2583 382 2239 350 1825 275 1234 215 594 120 429,8 129 505 170 904 200 723 139 LT 387 161,3 55 LT
Caesium 85,47 Barium 137,34 Hafnium 178,49 Tantal 180,95 Wolfram 183,85 Rhenium 186,2 Osmium 190,20 Iridium 192,22 Platinum 195,09 Gold 196,97 Quecksilber 200,59 Thallium 204,37 Blei 207,19 Bismut 208,98 Polonium 210 Astat 210 Radon 222
Cs 55 3,5 Ba 56 Hf 16,6 Ta
73 19,3 74 21,0 W 75 22,6 Re 77 Os 76 22,5 Ir Pt Au Hg Tl Pb Bi 83 9,4 Po At Rn
6
1,90

6,05
6s 1
bcc
6s 2 * 13,1
2 2
4f 145d 6s
3,20 hex 1,582 3,31 bcc
72
14 3 2
4f 5d 6s
14 4
4f 5d 6s2
3,16 bcc
4f 14 5d 56s 2 4f 14 5d 66s2
2,76 hex 1,615 2,74 hex 1,579 3,84 fcc
14
4f 5d 76s2
21,4
4f 14 5d 86s2
3,92 fcc
78 19,3
4f 14 5d 106s1
4,08 fcc
79 13,6
4f 14 5d 6s
10 2
10 2 1
4f 14 5d 6s 6p
80 11,85

2,99 rhl 70°45‘ 3,46 hex 1,599 4,95 fcc


4f 5d 6s 6p
81 11,4
4f 5d 6s 6p
14 10 2
4f 5d 6s 6p
4,75 rhl 57°14‘ 3,35 sc
82 9,8
214
4f 5d 6s 6p
14 10 2
4f 5d 6s 6p
(fcc)
3 14 10 2
84
4 10 2
85 (4,4)
5 14 10 2
86
6

6
5,02 bcc
3,894 0,79 5,212 0,89 7,0 1,3 7,89 1,5 7,98 2,36 7,88 1,9 8,7 2,2 9,1 2,20 9,0 2,28 9,225 2,54 10,437 6,108 1,62 7,416 2,33 7,289 2,02 8,42 2,0 9,5 2,2 10,748
302 40 LT 998 110 LT 2495 225 3683 310 3453 416
LT
3318 400 LT 2683 430 2045 230 1337 170 234,3 100 577 96 601 88 544,5 120 527 (575) (202)
Francium 223 Radium 226 Rutherfordium 261 Dubnium 262 Seaborgium 263 Bohrium 262 Hassium 265 Meitnerium 266 Darmstadtium 281 Roentgenium 280 Copernicium 277 Ununtrium Flerovium Ununpentium Livermorium Ununseptium Ununoctium
Fr Ra Rf Db Sg Bh Hs Mt Ds Rg Cn Uut Fl Uup Lv Uus Uuo
7s 1
87 (5,0)
7s 2
88
* * 2
5f 14 6d 7s 2
104
3
5f 14 6d 7s 2
105
4
5f 14 6d 7s 2
106
5
5f 14 6d 7s 2
107
6
5f 14 6d 7s 2
108
7
5f 14 6d 7s 2
109
9
5f 14 6d 7s1
110
10
5f 14 6d 7s 1
111
10
5f 14 6d 7s2
112
10
5f 14 6d 7s2 7p1
113
10
5f 14 6d 7s2 7p2
114
10
5f 14 6d 7s2 7p3
115
10
5f 14 6d 7s2 7p4
116
10
5f 14 6d 7s2 7p5
117
10
5f 14 6d 7s2 7p6
118

7 (bcc) 7
4,0 0,7 5,279 0,89
(300) 973

Seltene Erden
Lanthan 138,91 Cer 140,12 Praseodym 140,91 Neodym 144,24 Promethium 145 Samarium 150,35 Europium Gadolinium 157,25 Terbium 158,92 Dysprosium 162,50 Holmium 164,93 Erbium 167,26 Thulium 168,93 Ytterbium 173,04 Lutetium 174,97
6,17 La 57 6,77 Ce 58 6,77 Pr 59 7,00 Nd 60 Pm 61 7,54 Sm 62 7,90 Eu 63 8,23 Gd 64 8,54 Tb 65 8,78 Dy 66 9,05 Ho 67 9,37 Er 68 9,31 Tm 69 6,97 Yb 70 9,84 Lu 71
1 2 0 2 3 0 2 4 0 2 5 0 2 6 0 2 7 0 2 7 1 2 9 0 2 10 0 2 12 0 2 11 0 2 14 0 2 13 0 2 14 1 2
5d 6s 2 4f 5d 6s 4f 5d 6s 4f 5d 6s 4f 5d 6s 4f 5d 6s 4f 5d 6s 4f 5d 6s 4f 5d 6s 4f 5d 6s 4f 5d 6s 4f 5d 6s 4f 5d 6s 4f 5d 6s 4f 5d 6s

* (Lanthanoide 6) 3,75 hex 1,619 5,61 fcc


5,577 1,10 5,47
3,67 hex 1,614 3,66 hex 1,614
1,12 5,42 1,13 5,49 1,14 5,55
hex 9,00 rhl
5,63
4,61 bcc
1,17 5,67
3,64 hex 1,588 3,60 hex 1,581 3,59 hex 1,573 3,58 hex 1,570 3,56 hex 1,570 3,54 hex 1,570 5,49 fcc
6,14 1,20 5,85 5,93 1,22 6,02 1,23 6,10 1,24 6,18 1,25 6,254
3,51 hex 1,585
5,426 1,27
LT
1193 132 1071 139 LT 1204 152LT 1283 157 LT (1350) 1345 166 1095 107 LT 1585 176 LT 1633 188 LT 1680 186 1743 191 LT 1759 195 LT 1818 200 LT 1097 118 LT 1929 207 LT
Actinium 227 Thorium 232,04 Protactinium 231 Uran 238,03 Neptunium 237,05 Plutonium 244 Americium 243 Curium 247 Berkelium 247 Californium 251 Einsteinium 254 Fermium 257 Mendelevium 256 Nobelium 254 Lawrencium 257
10,1 Ac 89 11,7 Th 90 15,4 Pa 91 19,07 U 92 20,3 Np 93 19,8 Pu 94 11,8 Am 95 13,51 Cm 96 14,78 Bk 97 15,1 Cf 98 8,84 Es 99 Fm 100 Md 101 No 102 Lr 103
1 2
6d 7s 6d 2 7s 2 5f 2 6d 17s 2 5f 3 6d 17s 2 5f 4 6d 17s 2 5f 6 6d 07s 2 5f 7 6d 07s 2 5f 7 6d 17s 2 5f 8 6d 17s 2 5f 106d 0 7s2 5f 116d 0 7s2 5f 126d 0 7s2 5f 136d 0 7s2
14
5f 6d 7s
0 2 14
5f 6d 7s
1 2
2,056 1,411
(Actinoide 7)
** 5,31
6,9
fcc 5,08
1,1 6,95
fcc
1,3
3,92 tet 0,825 2,85 orc 1,736 4,72 orc 1,035
1,5 6,08 1,38 1,36 5,8
mcl
1,28 6,0
hex
1,3
hex
1,3
hex
1,3
hex
1,3 1,3 1,3 1,3 1,3 1,3
LT LT
1323 2020 100 1470 1406 210 LT 913 188 914 150 1267 1600 1259 1173 1133 1125
1 Kristallstruktur
Einen kristallinen Festkörper können wir erhalten, indem wir identische Blöcke (z. B. einzel-
ne Atome oder Gruppen von Atomen) unter Beachtung einer bestimmten Regel aufeinander
stapeln, so dass wir eine dreidimensionale, periodische Anordnung von Atomen erhalten.
Diese Vorstellung wurde bereits im 18. Jahrhundert entwickelt, als Mineralogen entdeckten,
dass die Indexzahlen aller Kristallflächen gerade ganze Zahlen sind.1 Diese Vorstellung wur-
de dann zu Beginn des 20. Jahrhunderts bestätigt. Am 8. Juni 1912 berichtete Max von Laue
(1879–1960) vor der Bayerischen Akademie der Wissenschaften über seine Arbeit zu Inter-
ferenzerscheinungen bei Röntgenstrahlen, in der er die elementare Theorie der Beugung von
Röntgenstrahlen durch eine periodische Anordnung von Atomen diskutierte. Die experi-
mentelle Bestätigung seiner theoretischen Betrachtungen erfolgte durch Walter Friedrich2 , 3
und Paul Knipping4 in ihrer Arbeit Experimentelle Beobachtung der Beugung von Röntgen-
strahlen an Kristallen. Dadurch war der eindeutige experimentelle Nachweis dafür erbracht,
dass Kristalle aus einer periodischen Anordnung von Atomen bestehen.
Wir werden in diesem Kapitel die grundlegenden Begriffe, die wir zur Beschreibung von
Kristallen benötigen, einführen. Außerdem werden wir einige wichtige Kristallstrukturen
besprechen.

1
R. J. Haüy, Essai d’une théorie sur la structure des cristaux, Paris (1784); Traité de minéralogie, Paris
(1801).
2
W. Friedrich, P. Knipping, M. von Laue, Interferenz-Erscheinungen bei Röntgenstrahlen, Bayerische
Akademie der Wissenschaften, Sitzungsberichte, S. 303–322 (1912); Abdruck in Ann. Phys. 39,
97–100 (1912) und Ann. Phys. 41, 971–1002 (1913).
3
Walter Friedrich, geboren am 25. Dezember 1883 in Salbke bei Magdeburg, gestorben am 16. Ok-
tober 1968 in Berlin, deutscher Physiker und Pionier der Strahlenphysik.
4
Paul Knipping, geboren am 20. Mai 1883 in Neuwied am Rhein, gestorben am 26. Oktober 1935,
deutscher Physiker.
2 1 Kristallstruktur

Max von Laue (1879–1960), Nobelpreis für Physik 1914


Max von Laue wurde am 9. Oktober 1879 in Pfaffenhofen bei Ko-
blenz geboren. Er promovierte nach Studium in Straßburg, Göt-
tingen und München an der Universität Berlin bei Max Planck zur
Theorie der Interferenzen an planparallelen Platten. Er wurde an-
schließend im Herbst 1905 Assistent bei Planck und führte den für
Max Planck zentralen Begriff der Entropie in die Optik ein. Er wur-
de 1906 mit einer Arbeit über die Entropie interferierender Strah-
lenbündel habilitiert.
Die Vorliebe für optische Probleme hatte von Laue bereits in Göt-
tingen bei Woldemar Voigt gewonnen und wurde in Berlin durch
den Einfluss Otto Lummers verstärkt. Als Albert Einstein 1905 die
spezielle Relativitätstheorie begründet hatte, war es von Laue, der
mit einem optischen Beweis beitrug. Er zeigte 1907, dass das Ein-
steinsche Additionstheorem die Formel von Fizeau mit dem bisher
unverständlichen Fresnelschen Mitführungskoeffizienten ergibt. Lizenz: Creative Commons by-sa 3.0 de
Von Laue verfasste bereits im Jahre 1910 seine erste Monographie
zu Relativitätstheorie, die er 1921 durch einen zweiten Band über
die Allgemeine Relativitätstheorie erweiterte.
Im Jahr 1909 wechselte von Laue als Privatdozent an das von Arnold Sommerfeld geleitete Institut
für Theoretische Physik der Universität München. Dort hatte er im Frühjahr 1912 die entscheiden-
de Idee, die zur Entdeckung der Röntgenstrahlinterferenzen führte. Noch im gleichen Jahr wurde er
a. o. Professor an der Universität Zürich. Er ging dann 1914 als Ordinarius nach Frankfurt und erhielt
im gleichen Jahr den Nobelpreis für Physik für seine Entdeckung der Beugung von Röntgenstrahlen
beim Durchgang durch Kristalle. 1919 vereinbarte er mit dem in Berlin in einer vergleichbaren Stel-
lung wirkenden Max Born einen Tausch der Lehrstühle: Max Born ging nach Frankfurt, er selbst an
die Universität Berlin.
In dem neuen, von von Laue begründeten Gebiet der Röntgenstrukturanalyse wurden William Hen-
ry Bragg und William Lawrence Bragg die führenden Forscher. Von Laue selbst interessierte sich
mehr für die grundlegenden, allgemeinen Prinzipien und beschäftigte sich nicht mit der Struktur-
untersuchung einzelner Substanzen, wohl aber immer wieder mit der Theorie der Röntgenstrahl-
interferenzen. Nach Vorarbeiten von Charles Galton Darwin und Peter Paul Ewald erweiterte von
Laue seine ursprüngliche „geometrische Theorie“ der Röntgeninterferenz zur so genannten „dyna-
mischen Theorie“. Während die geometrische Theorie nur die Wechselwirkung zwischen den Atomen
des Kristalls und der einfallenden elektromagnetischen Welle kennt, berücksichtigt die dynamische
Theorie auch die Kräfte zwischen den Atomen. Diese Korrektur macht zwar nur wenige Bogense-
kunden aus, sie wurde aber bei den sehr genauen röntgenspektroskopischen Messungen durch kleine
Abweichungen schon frühzeitig festgestellt. Im Jahr 1941 fasste von Laue die Prinzipien der Röntgen-
strahlinterferenzen in einem Buch zusammen.
Von Laue genoss hohes Ansehen bei seinen Fachkollegen und wurde in der neugegründeten Not-
gemeinschaft der Deutschen Wissenschaft (der heutigen Deutschen Forschungsgemeinschaft) im
Fachausschuss zum Vertreter der theoretischen Physik gewählt. Bis 1934 war er dort Vorsitzender
und hatte so einen maßgebenden Einfluss auf die Entwicklung der Physik in Deutschland. Nach En-
de des Zweiten Weltkrieges wurde er erneut zum Mitglied des Fachausschusses Physik der Deutschen
Forschungsgemeinschaft gewählt und bis 1955 in seinem Amt bestätigt. Nachdem von Laue vorüber-
gehend in seiner alten Stellung als stellvertretender Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Physik
in Göttingen tätig war, übernahm er im April 1951 im Alter von 71 Jahren in Berlin-Dahlem die
Leitung des alten Kaiser-Wilhelm-Instituts für Chemie und Elektrochemie.
Max von Laue starb am 24. April 1960 in Berlin.
1.1 Periodische Strukturen – Grundbegriffe und Definitionen 3

1.1 Periodische Strukturen – Grundbegriffe


und Definitionen
Wir wollen zunächst definieren, was wir unter einem idealen Kristall verstehen:5

Ein idealer Kristall ist eine unendliche Wiederholung von identischen Strukturelementen.

Wir können einen idealen Kristall immer beschreiben durch Angabe der

∎ Struktureinheit, die wir als Basis bezeichnen, und der


∎ Vorschrift für die Aneinanderreihung, die in einem Raumgitter resultiert.

Wir können einen Kristall somit definieren als


Kristall = Gitter + Basis (1.1.1)
Die Basis kann hierbei beliebig kompliziert sein. Sie kann aus nur einem Atom bestehen wie
bei Einkristallen aus Cu, Ag oder Au, aus zwei Atomen wie bei NaCl, aus 13 Atomen wie beim
Hochtemperatur-Supraleiter YBa2 Cu3 O7 (siehe Abb. 13.59) oder aus einigen 10 000 Atomen
wie bei Proteinkristallen.

1.1.1 Das Bravais-Gitter


Wir wollen nun eine mathematische Beschreibung eines Kristallgitters geben. Ein funda-
mentales Konzept ist dabei dasjenige des Bravais-Gitters,6 , 7 , 8 welches das Raumgitter spezifi-
ziert, auf dem die Basiseinheiten des Kristalls angeordnet sind. Ein Bravais-Gitter beinhaltet
nur die Geometrie des Raumgitters, unabhängig davon was die genaue Basis ist, die auf dem
Raumgitter angeordnet wird. Es gibt zwei äquivalente Definitionen für ein Bravais-Gitter:

1. Ein Bravais-Gitter ist ein unendliches Gitter von Raumpunkten mit einer Anordnung
und Orientierung, die exakt gleich aussieht, egal von welchem Gitterpunkt wir das Gitter
betrachten.
2. Ein dreidimensionales Bravais-Gitter besteht aus allen Punkten
R = n 1 a1 + n 2 a2 + n 3 a3 , n 1 , n 2 , n 3 ganzzahlig . (1.1.2)
Die Vektoren a1 , a2 und a3 , die nicht in einer Ebene liegen dürfen, bezeichnen wir als
primitive Gittervektoren. Sie spannen das Raumgitter auf. Ihre Längen a 1 , a 2 und a 3
werden als Gitterkonstanten bezeichnet.
5
Es sei hier angemerkt, dass es in realen Kristallen natürlich Baufehler (Defekte) und Ränder gibt.
6
nach Auguste Bravais, geboren am 23. August 1811 in Annonay, gestorben am 30. März 1863 in
Le Chesnay.
7
Auguste Bravais, Études Cristallographiques, Gauthier Villars, Paris (1866).
8
Auguste Bravais, Mémoire sur les systèmes formés par les points distribués régulièrement sur un plan
ou dans l’espace, École Polytech. 19 (1850), S. 1-128.
4 1 Kristallstruktur

a2
T
R R aB
P Q P
a1

(a) (b)

Abb. 1.1: (a) Die Schnittpunkte der Linien eines Bienenwabenmusters bilden kein Bravais-Gitter, da
das Kristallgitter von Punkt P und Q aus betrachtet anders aussieht. (b) Nur die rot oder blau markier-
ten Punkte bilden ein Bravais-Gitter. Auf diese muss man dann eine zweiatomige Basis bestehend aus
jeweils einem roten und blauen Atom setzen. Die Vektoren a 1 und a 2 sind die primitiven Gittervekto-
ren, der Vektor a B gibt die Verschiebung der beiden Untergitter aus roten und blauen Kohlenstoffato-
men an.

Es kann gezeigt werden, dass beide Definitionen äquivalent sind. In Abb. 1.1 ist als Beispiel
ein zweidimensionales Bienenwaben-Gitter gezeigt. Die Schnittpunkte dieses Musters bilden
kein Bravais-Gitter. Die Anordnung der Punkte sieht zwar von Punkt P oder R aus betrachtet
identisch aus. Die Ansicht von Punkt Q aus ist dagegen um 60○ gedreht. Ein Bravais-Gitter
bilden deshalb nur jeweils die rot oder blau markierten Gitterpunkte, auf die man eine zwei-
atomige Basis bestehend aus einem roten und blauen Atom setzen muss. Ein Beispiel hierfür
ist Graphen (vergleiche Abschnitt 1.2.10), bei dem sowohl die rot als auch die blau markier-
ten Atome Kohlenstoffatome sind. Obwohl wir also nur eine Atomsorte vorliegen haben,
besitzt Graphen eine zweiatomige Basis aus zwei Kohlenstoffatomen.
Eine analoge Formulierung von (2) ist, dass ein Bravais-Gitter invariant gegenüber diskreten
Translationen um den Translationsvektor

T = n 1 a1 + n 2 a2 + n 3 a3 n 1 , n 2 , n 3 ganzzahlig (1.1.3)

𝒂′𝟐
𝒂𝟐
𝒂′′′
𝟐
𝒂𝟏 𝒂′𝟏 𝒂′′′
𝟏
𝒂′′
𝟐 𝑻
Abb. 1.2: Gitterpunkte eines zweidi- (a)
mensionalen (a) und eines dreidi- 𝒂′′
𝟏
mensionalen (b) Bravais-Gitters und
einige Möglichkeiten für die Wahl
der primitiven Gittervektoren. Die
Vektoren a ′1,2 und a ′′1,2 sind keine
primitiven Translationsvektoren,
da wir die Gittertranslation T nicht 𝒂𝟑
mit ganzzahligen Kombinationen 𝒂𝟐
von a ′1,2 und a ′′1,2 bilden können. (b) 𝒂𝟏

𝐑 = 𝑛1 𝐚1 + 𝑛2 𝐚2 + 𝑛3 𝐚3 mit 𝑛1 , 𝑛2 , 𝑛3 ganzzahlig
1.1 Periodische Strukturen – Grundbegriffe und Definitionen 5

ist. Zwei Punkte eines Bravais-Gitters sind immer durch einen Vektor T miteinander verbun-
den. Greifen wir einen beliebigen Punkt r eines Kristalls heraus, so gilt für dessen Umgebung
𝒰(r) wegen der Translationsinvarianz des Gitters immer 𝒰(r) = 𝒰(r + T).
Ein Nachteil der Definition (2) ist, dass die Wahl der primitiven Gittervektoren nicht ein-
deutig ist, wie in Abb. 1.2 dargestellt ist.

1.1.1.1 Primitive Gitterzelle


Die primitiven Gittervektoren a1 , a2 und a3 spannen ein Parallelepiped, die so genannte
primitive Gitterzelle oder Elementarzelle auf. Ihr Volumen ist durch das Spatprodukt

Vc = (a1 × a2 ) ⋅ a3 (1.1.4)

gegeben. Verschieben wir das Volumen der primitiven Gitterzelle um den Translationsvek-
tor T, so füllen wir den gesamten Raum aus, ohne dass Überlappungen oder Löcher entste-
hen. Wie Abb. 1.3 zeigt, gibt es wiederum eine Vielzahl von Möglichkeiten für die Wahl der
primitiven Gitterzelle. Diese muss auch nicht die Symmetrie des Gitters haben. Eine primi-
tive Gitterzelle enthält aber immer genau einen Gitterpunkt und alle primitiven Gitterzellen
besitzen das gleiche Volumen. Ist die Gitterzelle ein Paralellogramm mit Gitterpunkten an
allen Ecken, so ist die Anzahl der Gitterpunkte pro primitiver Gitterzelle auch nur 14 ⋅ 4 = 1,
da jeder Gitterpunkt mit vier benachbarten Zellen geteilt wird.

(a) (b)

Abb. 1.3: Einige mögliche primitive Gitterzellen


(c) (d) (e)
für ein zweidimensionales Bravais-Gitter.

1.1.1.2 Konventionelle Gitterzelle


Wir können den Raum auch mit nicht-primitiven Gitterzellen füllen, die wir einfach als
Einheitszelle oder konventionelle Zelle bezeichnen. Eine Einheitzelle ist ebenfalls ein Raum-
element, das den ganzen Raum ohne jegliche Löcher und Überlapp ausfüllt, wenn es durch
eine Untergruppe der möglichen Translationsvektoren verschoben wird. Die konventionelle
Zelle ist üblicherweise größer als die primitive Zelle und wird entsprechend der Symmetrie
des Gitters gewählt. Zum Beispiel beschreibt man das raumzentrierte kubische Gitter (bcc:
body centered cubic) mit einer kubischen Einheitszelle, die zweimal so groß ist wie die pri-
mitive bcc-Zelle. Das flächenzentrierte kubische Gitter (fcc: face centered cubic) beschreibt
6 1 Kristallstruktur

109°28´

60°

(a) (b)
Abb. 1.4: Primitive (Blautöne) und konventionelle Zelle (Würfel) für ein kubisch raumzentriertes (a)
und ein kubisch flächenzentriertes (b) Bravais-Gitter.

man meist mit einer kubischen Einheitszelle, die viermal so groß ist wie die primitive Zelle
(siehe Abb. 1.4). Die Längen, die die Größe der Einheitszelle beschreiben, so wie die Länge
a bei einem kubischen Kristall, werden Gitterkonstanten genannt.

1.1.1.3 Wigner-Seitz-Zelle
Wir können immer eine primitive Gitterzelle mit der vollen Symmetrie des Bravais-Gitters
auswählen. Die am häufigsten verwendete Wahl ist die Wigner-Seitz-Zelle.9 Die Wigner-
Seitz-Zelle um einen Gitterpunkt ist derjenige Bereich, der diesem Gitterpunkt näher ist als
irgendeinem anderen Gitterpunkt. Aufgrund der Translationssymmetrie des Bravais-Gitters
muss die Wigner-Seitz-Zelle um irgendeinen Gitterpunkt in eine um einen anderen Gitter-
punkt überführt werden, wenn sie um den Translationsvektor T verschoben wird.

Abb. 1.5: Die Wigner-Seitz-Zelle.

9
Eugene Paul Wigner, geboren am 17. November 1902 in Budapest,
Konstruktion der Wigner-Seitz
gestorben am 1. JanuarZelle
1995
in Princeton, ungarisch-amerikanischer Physiker. Er erhielt 1963 zusammen mit J. Hans D. Jensen
und Maria Goeppert-Mayer der Nobelpreis für Physik „für seine Beiträge zur Theorie des Atom-
kerns und der Elementarteilchen, besonders durch die Entdeckung und Anwendung fundamentaler
Symmetrie-Prinzipien“.
Frederik Seitz, geboren am 4. Juli 1911 in San Francisco, gestorben am 2. März 2008 in New York.
US-amerikanischer Physiker, er war von 1962 bis 1969 Präsident der National Academy of Sciences
und von 1968 bis 1978 Präsident der Rockefeller University in New York.
1.1 Periodische Strukturen – Grundbegriffe und Definitionen 7

Abb. 1.5 zeigt die Wigner-Seitz-Zelle eines zweidimensionalen Bravais-Gitters. Sie wird
erhalten, indem wir Verbindungslinien von dem betreffenden Gitterpunkt zu den Nach-
barpunkten ziehen und auf den Mittelpunkten der Verbindungslinien Geraden (bei dreidi-
mensionalen Gittern Flächen) senkrecht zu den Verbindungslinien zeichnen. Die kleinste
umschlossenen Fläche (Volumen) ist die Wigner-Seitz-Zelle.

1.1.2 Klassifizierung von Kristallgittern


In unserer bisherigen Betrachtung haben wir nur die Translationssymmetrie eines Kristall-
gitters betrachtet. Wir haben gesehen, dass die Translation des Gitters um den Translations-
vektor T das Gitter in sich selbst überführt. Die Translationssymmetrie des Kristallgitters
ist essentiell für die theoretische Beschreibung von Festkörpern. Es ist aber einsichtig, dass
wir auch andere Symmetrieoperationen durchführen können, die den Kristall in sich selbst
überführen. Solche Symmetrieoperationen sind z. B. Drehungen um 2π, 2π⇑2, 2π⇑3, 2π⇑4
und 2π⇑6 sowie um ganzzahlige Vielfache dieser Drehungen. Wir kennzeichnen diese Dre-
hungen durch die Symbole 1, 2, 3, 4 und 6. Wir werden sehen, dass wir verschiedene Kris-
tallgitter entsprechend ihrer Symmetrieeigenschaften in Kategorien aufteilen können. Es ist
Gegenstand der Kristallographie, diese Aufteilung systematisch und präzise zu machen.10
Wir werden hier nur die Grundlagen für die ziemlich aufwändige kristallographische Klas-
sifizierung geben.
Interessant ist, dass wir kein Gitter finden können, das durch eine Drehung um 2π⇑5 oder
2π⇑7 in sich selbst überführt werden kann. Wir können zwar auf jeden Gitterpunkt eines
Bravais-Gitters ein Molekül mit einer fünfzähligen Rotationsachse setzen, das Gitter dagegen
kann keine fünfzählige Achse besitzen. Wir werden diesen Sachverhalt in Abschnitt 1.1.4 im
Zusammenhang mit der Diskussion von Quasikristallen nochmals aufgreifen.

1.1.2.1 Symmetrieoperationen
Das Problem der Klassifizierung von Kristallstrukturen ist sehr komplex und wir wollen hier
nur die Grundzüge erläutern. Vom Standpunkt der Symmetrie aus betrachtet ist ein Kristall-
gitter durch alle geometrischen Operationen charakterisiert, die es in sich selbst überführen.
Solche Operationen nennen wir Symmetrieoperationen. Das zu einer Symmetrieoperati-
on gehörende geometrische Objekt bezeichnen wir als Symmetrieelement. Das Symmetrie-
element bilden alle Punkte, die bei dieser Bewegung unverändert bleiben. Zum Beispiel ge-
hört zur Operation der Spiegelung an einer Ebene als Symmetrieelement die Spiegelebene,
zur Drehung um eine Achse als Symmetrieelement die Drehachse.

Translation Spiegelung Drehung


Abb. 1.6: Symmetrie-
a operationen in einem eindi-
mensionalen Gitter.

10
siehe zum Beispiel M. J. Buerger, Elementary Crystallography, John Wiley & Sons, New York (1963).
8 1 Kristallstruktur

Als einfaches Beispiel betrachten wir die in Abb. 1.6 gezeigte eindimensionale Kette von
Atomen mit Abstand a. Symmetrieoperationen sind (i) Translationen um na, wobei n eine
ganze Zahl ist, (ii) die Drehung um 180○ und (iii) die Spiegelung an der Mittelsenkrechten
zwischen zwei Gitterpunkten.
Im Allgemeinen beinhalten die Symmetrieoperationen eines Kristallgitters Translationen,
Rotationen, Spiegelungen und die Inversion. Diese Symmetrieoperationen werden in

1. die Translationsgruppe, die alle Symmetrieoperationen beinhaltet, bei denen kein orts-
fester Punkt existiert, und
2. die Punktgruppe, die alle Symmetrieoperationen beinhaltet, bei denen mindestens ein
Punkt ortsfest bleibt,

unterteilt. Dies ist deshalb möglich, da wir alle Symmetrieoperationen eines Bravais-Gitters
durch eine Translation und eine Operation, bei der mindestens ein Gitterpunkt fest bleibt,
zusammensetzen können. Symmetrieoperationen, die durch die sukzessive Anwendung von
Operationen aus der Translationsgruppe und der Punktgruppe erhalten werden, führen zu
den Raumgruppen oder Gitterpunktgruppen.

1.1.2.2 Symmetrieoperationen der Punktgruppe


Wir veranschaulichen uns zunächst die Symmetrieoperationen der Punktgruppe und stel-
len die zugehörige Notation vor. Für dreidimensionale Gitter gibt es genau die in Abb. 1.7
dargestellten 10 Operationen der Punktsymmetriegruppe, und zwar die 1-, 2-, 3-, 4- und
6-zähligen Drehachsen und ihre so genannten Drehinversionsachsen, die als Kombination
einer Drehachse mit einem Inversionszentrum definiert sind. Für die Darstellung benutzen
wir die stereographische Projektion.11 Wir werden im Folgenden einige Symmetrieoperatio-
nen näher erläutern:

1. Drehung um eine Achse:


Rotationssymmetrie ist vorhanden, wenn Drehungen um eine bestimmte Achse die Kris-
tallstruktur in sich überführen. Der triviale Fall ist eine Rotation um 2π, er wird als Iden-
tität bezeichnet und mit dem Symbol 1 charakterisiert. Wir haben aber bereits diskutiert,
dass Drehungen um 2π⇑2, 2π⇑3, 2π⇑4 und 2π⇑6 möglich sind. Wir sprechen dann von

11
Die geeignetste Art der graphischen Darstellung einer Kristallform oder auch ihrer Symmetrie-
gruppe, ist die stereographische Projektion. Wir erhalten sie nach folgendem Konstruktionsprin-
zip:
∎ Wir legen eine Kugel konzentrisch um den Kristall.
∎ In den Durchstosspunkten der Flächennormalen mit der Kugeloberfläche erhalten wir die Flä-
chenpole.
∎ Wir verbinden die Flächenpole der Nordhemisphäre mit dem Südpol und die der Südhemi-
sphäre mit dem Nordpol. Die Projektion der Flächenpole längs der Verbindungslinien auf die
Äquatorialebene nennen wir stereographische Projektion.
∎ Ebenso können wir mit den Durchstosspunkten von Drehachsen oder den Schnittkreisen
von Spiegelebenen verfahren und erhalten dann die stereographische Projektion der zu einer
Punktsymmetriegruppe gehörenden Symmetrieelemente.
1.1 Periodische Strukturen – Grundbegriffe und Definitionen 9

1 2 3 4 6
2 2 3 2
2 3 4
1 1 3 1 1 1
4 5 6

1̅ (i) 2̅ (m) 3̅ 4̅ 3

5 3
1 1 3 1 1
1 5

6
2 4 6 4
2 4
2 2 2
Abb. 1.7: Zur Veranschaulichung der zehn Symmetrieoperationen der Punktgruppe für ein drei-
dimensionales System. Es wird die in der Kristallographie übliche Symbolik verwendet.

2-, 3-, 4- und 6-zähligen Drehachsen, die wir mit den Symbolen 2, 3, 4 und 6 bezeich-
nen. Es kann streng bewiesen werden, dass für einen periodischen Kristall nur 2-, 3-,
4- und 6-zähligen Drehachsen möglich sind. Alle anderen Ordnungen von Drehachsen
sind inkompatibel mit der Translationssymmetrie.
2. Inversion:
Die Inversionssymmetrie wird durch die Koordinatentransformation x ′ = −x, y ′ = −y,
z ′ = −z beschrieben. Dies kann als eine Punktspiegelung an einem Inversions- oder Sym-
metriezentrum verstanden werden. Das Vorhandensein eines Inversionszentrums wird
mit dem Symbol 1 oder i charakterisiert.
3. Spiegelung an einer Ebene:
Bei der Spiegelung werden im Gegensatz zu einer Drehung nicht nur die Punkte auf einer
Achse, sondern die Punkte auf einer ganzen Ebene festgehalten. Diese Symmetrieoperati-
on kann mathematisch durch eine Koordinatentransformation ausgedrückt werden. Für
die Spiegelung an der yz-Ebene gilt zum Beispiel die Transformation: x ′ = −x, y′ = y,
z ′ = z. Das Vorhandensein einer Spiegelebene in einer Kristallstruktur wird durch das
Symbol 2 oder m charakterisiert.

Außer Drehachsen, der Spiegelebene und dem Inversionszentrum gibt es noch weitere Arten
von Symmetrieoperationen mit konstantem Punkt, die sich aber aus den genannten durch
sukzessives Ausführen zusammensetzen lassen. Dabei ist extrem wichtig, dass die einzel-
nen Symmetrieoperationen nicht notwendigerweise möglich sind. Die Definitionen dieser
Symmetrieelemente sind bei der Hermann-Mauguin- und bei der Schönflies-Nomenklatur
leider grundsätzlich unterschiedlich: (i) In der Schönflies-Nomenklatur werden n-zählige
Drehspiegelachsen definiert. Einer Drehung um 2π⇑n folgt eine Spiegelung an der Ebene
senkrecht zur Drehachse. Die Bezeichnung ist Sn . (ii) In der Hermann-Mauguin-Nomen-
klatur werden dagegen n-zählige Drehinversionsachsen eingeführt. Der Drehung um 2π⇑n
folgt hier eine Punktspiegelung, die Bezeichnung ist n.
10 1 Kristallstruktur

4. Drehinversion:
Wir können die Inversion mit einer Drehung um eine Achse durch das Inversionszen-
trum verknüpfen, um die neue Symmetrieoperation der Drehinversion zu erhalten. Sie
wird charakterisiert durch die Symbole 1, 2, 3, 4 und 6. Da das Vorhandensein eines In-
versionszentrums immer mit einer einzähligen Drehinversionsachse zusammenfällt, das
heißt i = 1 gilt, wird das Symbol i meist nicht verwendet. Ferner kann die Spiegelung an
einer Ebene durch eine Drehinversion um 180○ , d. h. durch eine Drehung um 2π⇑2 und
anschließende Inversion, realisiert werden. Da also m = 2 gilt, wird auch das Symbol m
oft nicht verwendet.
5. Drehspiegelung:
Wir können eine Drehung mit anschließender Spiegelung an einer Ebene senkrecht zur
Drehachse verknüpfen. S1 , d. h. n = 1, entspricht einer Drehung um 2π, die von einer
Spiegelung gefolgt wird. Dies ist natürlich identisch ist mit eine einfachen Spiegelung,
wobei die Spiegelebene senkrecht zur Drehspiegelachse erläuft. S1 ist also kein neues
Symmetrieelement sondern die altbekannte Spiegelung. Bei S2 , d. h. n = 2, folgt die Spie-
gelung auf eine Drehung um π, woraus wiederum ein schon bekanntes Symmetrieele-
ment, nämlich die Inversion resultiert. S3 bedeutet eine Drehung um 2π⇑3, die von einer
Spiegelung gefolgt wird. Das Ergebnis entspricht einer 3-zähligen Achse, auf der eine
Spiegelebene senkrecht steht. Bei S4 erfolgt die Drehung um 2π⇑4 gefolgt von einer Spie-
gelung. Hieraus ergibt sich ein neues Symmetrieelement, das z. B. bei einem Tetraeder
vorliegt. S6 (Drehung um 2π⇑6 und Spiegelung) entspricht zwar dem Vorliegen einer
dreizähligen Drehachse mit zusätzlichem Inversionszentrum, wird aber trotzdem als ei-
genes Symbol eingeführt und verwendet. Es ist ein sehr wichtiges Symmetrieelement der
anorganischen Chemie, das bei Oktaedern vorliegt.

Die 32 Kristallklassen Üblicherweise liegen in einem Kristall mehrere Symmetrieopera-


tionen gleichzeitig vor. Mit gruppentheoretischen Methoden, auf die wir hier nicht näher
eingehen können, kann allgemein gezeigt werden, dass die Menge aller Symmetrieoperatio-
nen die Eigenschaften einer mathematischen Gruppe, der so genannten Symmetriegruppe
besitzt. Für dreidimensionale Gitter ist die Bildung von Symmetriegruppen aus den zehn
Symmetrieoperationen der Punktgruppe genau auf 32 Möglichkeiten beschränkt.12 Wir un-
terscheiden deshalb 32 Kristallklassen, die in Tabelle 1.1 aufgelistet sind. Jeder Kristall kann
aufgrund seiner Symmetrieeigenschaften eindeutig einer dieser 32 Kristallklassen zugeord-
net werden.

Bezeichnungssysteme für Kristallklassen Für die Bezeichnung der Kristallklassen wer-


den zur Zeit zwei äquivalente Bezeichnungssysteme, die Schoenflies Notation und die inter-
nationale Notation oder Hermann-Mauguin-Symbolik 13 verwendet. Bei der internationa-

12
Zwei Symmetriegruppen sind identisch, wenn sie genau die gleichen Operationen enthalten. Zum
Beispiel ist der Satz von Symmetrieoperationen eines Würfels identisch zu dem eines Oktaeders.
13
Benannt ist diese Symbolik nach den beiden Kristallographen Carl Hermann (Professor für Kris-
tallographie, geboren am 17. Juni 1898 in Wesermünde bei Bremerhaven, gestorben am 12. Sep-
tember 1961) und Charles-Victor Mauguin (Professor für Mineralogie, geboren am 19. Juli 1878
in Provins, Frankreich, gestorben am 25. April in 1958 in Villejuif, Frankreich).
1.1 Periodische Strukturen – Grundbegriffe und Definitionen 11

Tabelle 1.1: Zusammenstellung der 32 Kristallklassen. Für die Symbolik wird sowohl die Nomenklatur
nach Hermann und Mauguin sowie nach Schoenflies verwendet.

♯ Kristallsystem Hermann und Mauguin Schoenflies


Kurzsymbol Langsymbol
1 triklin 1 1 C1
2 1 1 Ci
3 monoklin 2 121 C2
4 m 1m1 Cs
5 2/m 1 2/m 1 C2h
6 orthorhombisch 222 222 D2
7 mm2 mm2 C2v
8 mmm 2/m 2/m 2/m D2h
9 tetragonal 4 411 C4
10 4 4 S4
11 4/m 4/m C4h
12 422 422 D4
13 4mm 4mm C4v
14 42m 42m D2d
15 4/mmm 4/m 2/m 2/m D4h
16 trigonal 3 3 C3
17 3 3 C3i
18 32 32 D3
19 3m 3m C3v
20 3m 3 2/m D3d
21 hexagonal 6 6 C6
22 6 6 C3h
23 6/m 6/m C6h
24 622 622 D6
25 6mm 6mm C6v
26 62m 62m D3h
27 6/mmm 6/m 2/m 2/m D6h
28 kubisch 23 23 T
29 m3 m3 Th
30 432 432 O
31 43m 43m Td
32 m3m 4/m 3 2/m Oh

len Bezeichnung werden Drehachsen bzw. Drehinversionsachsen sowie Spiegelebenen zur


Kennzeichnung benutzt, wie wir bereits oben diskutiert haben. Die Schoenflies Notation,
die häufig in der Gruppentheorie und der Spektroskopie verwendet wird, ist in Tabelle 1.2
zusammengefasst. Die Kennzeichnung erfolgt mit Hilfe von Hauptsymbolen, die die Zählig-
keit der Drehachsen beinhalten. Zum Beispiel wird eine Kristallstruktur mit einer 6-zähligen
Drehachse und zwei Spiegelebenen parallel zur Drehachse mit C 6v bezeichnet.
Bei der internationalen Nomenklatur sind drei Kategorien identisch zur Schönflies Notation:

1. n entspricht C n , z. B. 6 ≡ C 6 .
2. nmm entspricht C nv , z. B. 6mm ≡ C 6v .
3. n22 entspricht D n .
12 1 Kristallstruktur

Tabelle 1.2: Die Schoenflies Notation für die Punktgruppen (C steht für „cyclic“, D für „dihedral“ und
S für „Spiegel“).

Symbol Bedeutung
Klassifizierung nach Hauptdrehachsen und Spiegelebenen
Cn (n = 2, 3, 4, 6), n-zählige Drehachse
Sn n-zählige Drehinversionsachse
Dn n-zählige Drehachse senkrecht zu einer Hauptdrehachse
T 4 drei- und 3 zweizählige Drehachsen wie beim Tetraeder
O 3 vier- und 4 dreizählige Drehachsen wie beim Oktaeder
Ci Inversionszentrum
Cs Spiegelebene
zusätzliche Symbole für Spiegelebenen
h horizontal = senkrecht zur Drehachse
v vertikal = parallel zur Drehachse
d diagonal = parallel zur Hauptdrehachse in der Ebene, die die zweifachen Drehachsen halbiert

Bezüglich der anderen Kategorien existieren einige subtile Unterschiede, die wir hier nicht
diskutieren wollen.14 Im Allgemeinen bezeichnet bei der internationalen Notation das Sym-
bol n eine Gruppe mit einer n-zähligen Drehinversionsachse, n⇑m eine Gruppe mit einer
n-zähligen Drehachse und einer Spiegelebene parallel zur Hauptdrehachse, was bis auf ei-
nige Ausnahmen C nh entspricht. Zur Veranschaulichung der Notationen sind in Abb. 1.8
einige Beispiele gezeigt.

𝐎𝐡 𝐎

𝒎𝟑𝒎 𝟒𝟑𝟐
𝐓𝐡 𝐓𝐝 𝐓

Abb. 1.8: Objekte mit der Symme-


trie der fünf kubischen Punktgrup-
pen. Oben neben dem Objekt steht
die Schönflies-, unten die inter-
nationale Notation (Kurzsymbol). 𝒎𝟑 𝟒𝟑𝒎 𝟐𝟑

kubisches Kristallsystem kann in 5 Kristallklassen unterteilt werden

Die 7 Kristallsysteme Sinnvollerweise wird für die Beschreibung von Kristallen und Kris-
tallstrukturen kein kartesisches Koordinatensystem, sondern ein an das Kristallsystem an-
gepasstes Koordinatensystem verwendet, mit dem die Beschreibung der Kristallsymmetrie
besonders einfach wird.15 Es kann gezeigt werden, dass es sinnvoll ist, genau sieben unter-

14
W. Kleber, H.-J. Bautsch, J. Bohm, D. Klimm, Einführung in die Kristallographie, Oldenbourg Ver-
lag, München (2010).
15
J. J. Burckhardt, Die Symmetrie der Kristalle, Birkhäuser Verlag, Basel (1988).
1.1 Periodische Strukturen – Grundbegriffe und Definitionen 13

schiedliche Koordinatensysteme zu verwenden, die in der Kristallographie als Kristallsys-


teme bezeichnet werden. Die sieben Kristallsysteme – triklin, monoklin, orthorhombisch,
tetragonal, trigonal, hexagonal und kubisch – gehen auf Christian Samuel Weiss16 , 17 zu-
rück, der diese auf Grund der bei natürlichen Mineralkristallen beobachteten Lage der Sym-
metrieelemente zueinander erstmals abgeleitet hat. Jede Kristallklasse wird einem Kristall-
system zugeordnet (siehe hierzu Tabelle 1.1). Diejenige Punktgruppe (Kristallklasse) eines
Kristallsystems mit der höchstmöglichen Symmetrie wird als so genannte Holoedrie und
der entsprechende Kristallkörper als Holoeder bezeichnet. Entsprechend weist seine Form
die höchstmögliche Anzahl an Kristallflächen auf und alle in seinem Kristallsystem mög-
lichen Symmetrieelemente sind vorhanden. Ein Beispiel ist in Abb. 1.8 gezeigt. Von den 5
Kristallklassen des kubischen Kristallsystems besitzt dasjenige mit dem Kurzsymbol m3m
die höchste Symmetrie.
Die Wahl von an das Kristallsystem angepassten Koordinatensystemen erfordert Einschrän-
kungen für die primitiven Gittervektoren, die in Tabelle 1.3 zusammengefasst sind. Ein we-
sentlicher Vorteil der Einführung der Kristallsysteme ist, dass dadurch alle Rotationsmatri-
zen der Symmetrieoperationen durch einfache 3 × 3-Matrizen beschrieben werden können.
Als Beispiel betrachten wir das monokline Kristallsystem, zu dem die Kristallklassen 2, m
und 2/m gehören. Für diese Kristallklassen ist eine Vorzugsrichtung die Richtung der zwei-
zähligen Drehachse oder die Normale auf der Spiegelebene. Da im monoklinen Kristallsys-
tem einer der Winkel (β in unserer Konvention) von 90○ abweicht, gibt es in diesem System
eine ausgezeichnete Richtung senkrecht zur Ebene, die von den Gittervektoren a und c auf-
gespannt wird, welche β einschließen. Diese Richtung, die parallel zum Gittervektor b ist,
bezeichnet man als monokline Achse. Wir legen nun diese monokline Achse in die Vor-
zugsrichtung des monoklinen Kristallsystems. In diesem Fall können wir die symmetriever-
wandten Positionen eines Atoms mit dem Ortsvektor r in einfacher Weise angeben:

⎛ −1 0 0 ⎞
r′ = ⎜ 0 1 0 ⎟ r (zweizählige Achse) (1.1.5)
⎝ 0 0 −1 ⎠

⎛1 0 0⎞
r′ = ⎜ 0 −1 0 ⎟ r (Spiegelebene) (1.1.6)
⎝0 0 1⎠

⎛ −1 0 0 ⎞
r′ = ⎜ 0 −1 0 ⎟ r (Inversionszentrum) (1.1.7)
⎝ 0 0 −1 ⎠

Hätten wir ein anderes Koordinatensystem gewählt, so hätten wir zwar auch 3 × 3-Matrizen
für die Symmetrieoperationen erhalten, sie wären aber nicht so einfach gewesen. Wir sehen
also, dass die mit dem monoklinen Kristallsystem verbundene Wahl des Koordinatensystems
besonders für die betrachteten Kristallklassen 2, m und 2⇑m geeignet ist.
16
Christian Samuel Weiss, geboren am 26. Februar 1780 in Leipzig; gestorben am 1. Oktober 1856
bei Eger in Böhmen, deutscher Mineraloge und Kristallograph.
17
C. S. Weiss, Über die natürlichen Abtheilungen der Crystallisationssysteme, Abhandl. k. Akad. Wiss.,
Berlin 1814-1815, S. 290-336.
14 1 Kristallstruktur

Tabelle 1.3: Die sieben Kristallsystem Anzahl der Achsen und Winkel Achsen-
Kristallsysteme im dreidi- Gitter zähligkeit
mensionalen Raum. Die kubisch 3 a=b=c 3 (vier)
Anzahl der Gitter gibt α = β = γ = 90○
a=b≠c
die Anzahl der mögli-
tetragonal 2 4
α = β = γ = 90○
chen zentrierten Gitter an.
rhombisch 4 a≠b≠c 2 (zwei)
α = β = γ = 90○
hexagonal 1 a=b≠c 6
α = β = 90○ , γ = 120○
trigonal 1 a=b=c 3
(rhomboedrische α = β = γ < 120○ , ≠ 90○
Aufstellung)
monoklin 2 a≠b≠c 2
α = γ = 90○ ≠ β
triklin 1 a≠b≠c 1
α≠β≠γ

1.1.2.3 Symmetrieoperationen der Raumgruppe


Wir haben bisher nur die Symmetrieoperationen der Punktgruppe betrachtet, die mindes-
tens einen ortsfesten Punkt besitzen. Lassen wir diese Einschränkung fallen, können wir
Symmetrieoperationen der Translationsgruppe hinzufügen. Durch das Zulassen translati-
ver Symmetrieoperationen – daraus ergeben sich z. B. Gleitspiegelebenen und Schrauben-
achsen – und den Gittertranslationen ergibt sich eine Vielzahl neuer Symmetriegruppen, die
wir als Raumgruppen bezeichnen. Wir erhalten insgesamt 230 unterschiedliche Raumgrup-
pen. Die Bestimmung der 230 möglichen Raumgruppen (bzw. Raumgruppentypen) erfolgte
1891 unabhängig voneinander durch Arthur Moritz Schoenflies18 , 19 und Jewgraf Stepano-
witsch Fjodorow.20 , 21
Bei der Betrachtung von Symmetrieoperationen ist es wichtig sich klar zu machen, dass die
Basis nicht unbedingt die volle Symmetrie des Gitters haben muss. Würden wir für die Basis
eine Kugelsymmetrie (höchste Symmetrie) annehmen, so würden wir gerade 14 Raumgrup-
pen erhalten. Die entsprechenden 14 Gittertypen nennen wir Bravais-Gitter. Die zu den sie-
ben fundamentalen, oben genannten Gittern aus Symmetrieüberlegungen hinzukommen-
den weiteren sieben Gitter sind zentrierte Gitter. Im Gegensatz zu den primitiven Gittern
enthalten sie im Inneren der Einheitszellen einen oder mehrere zusätzliche Gitterpunkte.
Hat die Basis nicht die volle Symmetrie des Gitters, so wird die Anzahl der möglichen Raum-
gruppen stark vergrößert bis maximal auf 230.
Um uns den Einfluss der Basis klar zu machen, betrachten wir ein kubisches Gitter. In
Abb. 1.9(a) ist die verwendete Basis mit der kubischen Symmetrie verträglich, während dies
18
Arthur Moritz Schoenflies, Mathematiker, geboren am 17. April 1853 in Landsberg an der Warthe
(heute Gorzów Polen), gestorben am 27. Mai 1928 in Frankfurt am Main.
19
Arthur Schoenflies, Synthetisch-geometrische Untersuchungen über Flächen zweiten Grades und eine
aus ihnen abgeleitete Regelfläche, Dissertation, Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin (1877).
20
Jewgraf Stepanowitsch Fjodorow, russischer Kristallograph und Mineraloge, geboren am 22. De-
zember 1853 in Orenburg, gestorben am 21. Mai 1919 in Petrograd.
21
J. S. Fedorov, Symmetry of crystals, übersetzt aus dem Russischen von David und Katherine Harker,
New York, American Crystallographic Association, Monograph 7, (1971).
1.1 Periodische Strukturen – Grundbegriffe und Definitionen 15

(a) (b)

Abb. 1.9: Kubische Elementarzellen


mit Basen unterschiedlicher Sym-
metrie: (a) mit der kubischen Sym-
metrie verträgliche Basiskonfigurati-
on, (b) mit der kubischen Symmetrie
nicht verträgliche Basiskonfiguration.

in Abb. 1.9(b) nicht der Fall ist. In Abb. 1.9(a) finden wir zusätzlich zu den vier dreizäh-
ligen Drehachsen, die wir für das kubische System gefordert haben, noch drei vierzählige
Drehachsen und Spiegelebenen. Wir können uns auch noch andere Basiskonfigurationen
überlegen, die neben den vier dreizähligen Achsen noch weitere Symmetrieelemente auf-
weisen. In Abb. 1.9(b) finden wir nur noch zwei zweizählige Drehachsen und eine geringere
Zahl von Spiegelebenen. Eine systematische Analyse ergibt gerade, dass es insgesamt fünf
verschiedene Anordnungen gibt, so dass wir das kubische Kristallsystem in fünf Kris-
tallklassen unterteilen können (siehe hierzu Tabelle 1.1). Entsprechende Überlegungen
können wir für die anderen Kristallsysteme durchführen. Zählen wir dann die möglichen
Punktgruppen bzw. Kristallklassen ab, deren Symmetrieoperationen eine allgemeine Kris-
tallstruktur in sich selbst überführen, wobei ein Punkt festgehalten wird, so erhalten wir die
Zahl 32. Diese Zahl muss mit den 7 kristallographischen Punktgruppen (Kristallsystemen)
verglichen werden, die wir erhalten, wenn wir für die Basis die volle Symmetrie des Gitters
annehmen. Die möglichen Zahlen für die Punkt- und Raumgruppen sind in Tabelle 1.4
zusammengefasst.

Bravais-Gitter Kristallstrukturen Tabelle 1.4: Die kristallo-


(kugelsymmetrische Basis) (Basis mit beliebiger Symmetrie) graphischen Punkt- und
Raumgruppen.
Punktgruppen 7 Kristallsysteme 32 Kristallklassen
Raumgruppen 14 Bravais-Gitter 230 Raumgruppen

Natürlich muss ein Festkörperphysiker nicht alle 32 Kristallklassen und 230 Raumgruppen
parat haben, er muss nur von ihrer Existenz wissen. In der Praxis beschäftigt man sich meist
nur mit wenigen konkreten Fällen und man braucht nicht alle möglichen Situationen auf
Vorrat lernen. In zwei Dimensionen gibt es nur 10 Kristallklassen und 17 Raumgruppen.

Die vierzehn Bravais-Gitter Wir betrachten nun genauer den Fall, dass wir zu allen Sym-
metrieoperationen der Punktgruppe (mindestens) einen universellen Translationsvektor des
Gitters hinzufügen. Zu beachten ist dabei, dass wir dadurch unter Umständen keine pri-
mitive Basis mehr erhalten. Es ist dann nötig zusätzlich zum Kristallsystem noch die Zen-
trierung anzugeben. Gitter mit dieser Eigenschaft heißen zentrierte Gitter, nicht-zentrierte
Gitter nennen wir primitiv und bezeichnen sie mit dem Gittersymbol P. Es wurde von Au-
guste Bravais gezeigt, dass man bei der Anwendung aller möglichen Zentrierungen zu insge-
samt 14 Gittertypen kommt, die nach ihm als Bravais-Gitter bezeichnet werden.22 Auguste
22
Diese Zählung wurde zwar zuerst von M. L. Frankheim im Jahr 1842 durchgeführt. Allerdings
erhielt Frankheim mit 15 verschiedenen Gittern ein falsches Ergebnis.
16 1 Kristallstruktur

Bravais23 war schließlich im Jahr 1845 der erste, der die Anzahl der verschiedenen Bravais-
Gittern mit 14 richtig bestimmte. Das heißt, vom Standpunkt der Symmetrie aus betrachtet
müssen wir nur 14 Bravais-Gitter unterscheiden. Unter den zentrierten Gittern unterschei-
den wir zwischen einseitig flächen- oder basiszentrierten Gittern, die wir mit den Symbo-
len A, B, C bezeichnen, je nachdem welche Fläche der Elementarzelle betroffen ist. Allseitig
flächenzentrierte Gitter bezeichnen wir mit dem Symbol F und innenzentrierte Gitter mit
dem Symbol I (vergleiche Abb. 1.11). Ein zentriertes Gitter können wir uns aus mehreren
primitiven Gittern entstanden denken, die gegeneinander durch einen universellen Trans-
lationsvektor verschoben sind. Beim innenzentrierten Gitter ist der universelle Translati-
onsvektor eine halbe Raumdiagonale und das zentrierte Gitter ist zweifach primitiv. Beim
allseitig flächenzentrierten Gitter sind alle halben Flächendiagonalen universelle Translati-
onsvektoren und das resultierende zentrierte Gitter ist dann vierfach primitiv.24
Die Verwendung von zentrierten Gittern ist sinnvoll, weil in vielen Fällen die primitiven
Elementarzellen die Symmetrie der Punktgitter nicht zum Ausdruck bringen. Ein Beispiel
dafür ist in Abb. 1.10 gezeigt. Würden wir die durch die primitiven Gittervektoren a′ und
b′ aufgespannte primitive Gitterzelle zugrundelegen, so würden wir ein schiefwinkliges Git-
ter vermuten. Die vorliegende Symmetrie wird viel besser durch das mit den Gittervektoren
a und b aufgespannte innenzentrierte Rechteckgitter beschrieben. Der von a und b einge-
schlossene Winkel beträgt 90○ und es treten zusätzlich noch zwei Spiegelebenen auf.

𝒃′ 𝒃
Abb. 1.10: Zur Verwendung von zentrier-
ten Gittern: Die von a′ und b′ aufgespann-
𝒂′
te primitive Gitterzelle spiegelt im Ge-
gensatz zur der von a und b aufgespann-
ten, nicht-primitiven rechteckigen Zelle
𝒂
nicht die volle Symmetrie des Gitters wider.

zentrierte Gitter:

Wir haben bei der Diskussion der 7 Kristallsysteme und 𝑏 ′ aufgespannte
Die von 𝑎bereits daraufprimitive
hingewiesen, dass
Gitterzelle spiegelt es sinn-
im Gegensatz zur der von 𝑎 und 𝑏
aufgespannten, nicht-primitiven rechteckigen Zelle nicht die volle Symmetrie des Gitters wider.
voll ist, für jedes Kristallsystem ein an die Symmetrie angepasstes Koordinatensystem zu
verwenden. Wir führen also für jedes Kristallsystem ein ganz bestimmtes Bezugssystem ein,
welches durch die drei Kristallachsen mit den Längeneinheiten a, b und c und den Achsen-
winkeln α, β und γ gegeben ist. Eine Zusammenstellung der Kristallachsen und der Ach-
senwinkel ist in Tabelle 1.3 gegeben. Durch die Kristallachsen wird ein Parallelepiped, die
so genannte Einheitszelle aufgespannt. Die Länge a, b und c der Kristallachsen bezeichnen
wir als Gitterkonstanten. Wir wollen im Folgenden die sieben Kristallsysteme und die ihnen
zugeordneten Bravais-Gitter anhand von Abb. 1.11 kurz diskutieren.

23
Auguste Bravais, geboren am 23. August 1811 in Annonay, gestorben am 30. März 1863 in Ver-
sailles.
24
Ein Sonderfall liegt beim hexagonalen System vor. Dort ist ein dreifach primitives zentriertes Gitter
möglich, das aber durch Transformation der hexagonalen Elementarzelle in eine rhomboedrische
Elementarzelle in ein primitives Gitter übergeht. Ein solches Gitter nennen wir rhomboedrisch
und kennzeichnen es mit dem Symbol R.
1.1 Periodische Strukturen – Grundbegriffe und Definitionen 17

Kristallsystem zugehörige Bravais-Gitter


1 kubisch c
b
P I F a
b
g
2 tetragonal
P I a

3 rhombisch
P I C F

4 hexagonal 5 trigonal 4 Arten von Einheitszellen:


P = primitiv
P I = raumzentriert
F = flächenzentriert
C = basiszentriert

6 monoklin 7 triklin

P C P

Abb. 1.11: Die 14 Bravais-Gitter. Die Elementarzelle des hexagonalen Gitters ist primitiv und umfasst
nur das blau schattierte reguläre Prisma.

1. kubisches Kristallsystem (3) — a = b = c, α = β = γ = 90○ :


Das kubische Kristallsystem oder auch kubisches Gitter weist unter den sieben Kristall-
systemen die höchste Symmetrie auf. Das Koordinatensystem ist rechtwinklig, die Ach-
sen sind alle gleich lang, d. h. vertauschbar. Die Symmetrieelemente, welche das Kristall-
system definieren, sind vier dreizählige Achsen durch die Raumdiagonalen. Das kubische
Kristallsystem besitzt ferner drei aufeinander senkrecht stehende vierzählige Drehach-
sen durch die Würfelflächen und sechs zweizählige Drehachsen durch die Mittelpunkte
gegenüberliegender Würfelkanten. Diese Symmetrieelemente treten aber auch in Kris-
tallsystemen mit niedriger Symmetrie auf, z.B. im tetragonalen System. Das kubische
Kristallsystem enthält diejenigen Bravais-Gitter, deren Punktgruppe genau derjenigen
eines Würfels entspricht. Drei Bravais-Gitter mit nichtäquivalenten Raumgruppen ha-
ben die gleiche kubische Punktgruppe: (i) einfach kubisch, (ii) kubisch raumzentriert
(bcc: body-centered cubic) und (iii) kubisch flächenzentriert (fcc: face-centered cubic).
2. Tetragonales Kristallsystem (2) — a = b ≠ c, α = β = γ = 90○ :
Wir können die kubische Symmetrie reduzieren, indem wir zwei entgegengesetzte Flä-
chen auseinanderziehen, so dass z. B. a = b ≠ c. Die erhaltene Symmetriegruppe ist die
18 1 Kristallstruktur

(a) (b)

(c) (d)

Abb. 1.12: Zwei Arten, das gleiche pri-


mitive tetragonale Gitter zu verformen
(die c-Achse zeigt aus der Papierebene).

tetragonale Gruppe. Beim tetragonalen Kristallsystem ist das Koordinatensystem wie


auch bei dem kubischen und dem rhombischen Kristallsystem rechtwinklig, jedoch sind
hier genau zwei Achsen des Achsenkreuzes gleich lang. Das definierende Symmetrieele-
ment ist eine vierzählige Achse parallel zu c. Durch Dehnen des primitiven kubischen
Bravais-Gitters erhalten wir das primitive tetragonale Gitter. Dehnen wir das kubisch
raumzentrierte oder flächenzentrierte Gitter, so erhalten wir das raumzentrierte tetrago-
nale Gitter. Es stellt sich natürlich die Frage, warum es kein basiszentriertes tetragonales
Gitter gibt. Wir können uns aber leicht überzeugen, dass bei einer anderen Wahl der
Kristallachsen ein basiszentriertes tetragonales Gitter in ein primitives tetragonales Git-
ter übergeht. Dies erkennen wir zum Beispiel aus Abb. 1.12a und c. Durch eine andere
Wahl der Kristallachsen geht das basiszentrierte Gitter in (c) in ein primitives Gitter in (a)
über.
3. Rhombisches Kristallsystem (4) — a ≠ b ≠ c, α = β = γ = 90○ :
Das orthorhombische Kristallsystem ist ein rechtwinkliges Kristallsystem mit drei
90○ -Winkeln, jedoch ohne gleichlange Achsen (a ≠ b ≠ c). Die definierenden Sym-
metrieelemente sind drei aufeinander senkrecht stehende zweizählige Achsen oder
Spiegelebenen. Wir unterscheiden bei diesem Kristallsystem entsprechend dem Bravais-
Gitter zwischen dem rhombisch-primitiven, dem rhombisch-basiszentrierten, dem
rhombisch-raumzentrierten und dem rhombisch-flächenzentrierten Gitter.
Das primitive rhombische Gitter erhalten wir, indem wir das primitive tetragonale Gitter
entlang einer der a-Achsen dehnen. Dehnen wir es dagegen entlang der Raumdiagona-
len in der Basisebene, so erhalten wir das basiszentrierte rhombische Gitter. Dies ist in
Abb. 1.12 gezeigt. In (a) sind die Verbindungslinien so gezeichnet, um hervorzuheben,
dass die Punkte in der Basisebene als einfaches quadratisches Gitter aufgefasst werden
können. Dehnt man entlang einer Kante, erhält man ein Rechteckgitter in der Basisebene.
Ihre Stapelung in c-Achsenrichtung führt zu einem primitiven rhombischen Gitter. In (c)
sind die Linien so gezeichnet, um deutlich zu machen, dass dasselbe Punktgitter als zen-
triertes quadratisches Gitter aufgefasst werden kann. Dehnen wir entlang einer der Li-
nien, so erhalten wir ein zentriertes Rechteckgitter in der Basisebene (d). Die Stapelung
in c-Achsenrichtung führt zu einem basiszentrierten rhombischen Gitter. Das raumzen-
trierte und das flächenzentrierte rhombische Gitter erhalten wir in gleicher Weise durch
Dehnung des zentrierten tetragonalen Gitters entlang einer der a-Achsen bzw. entlang
einer Raumdiagonalen in der Basisebene.
1.1 Periodische Strukturen – Grundbegriffe und Definitionen 19

120°

b Abb. 1.13: Das hexagonale Kristallgitter: Die Verbindungslinien


benachbarter Gitterpunkte bilden einen Körper mit sechseckiger
Grundfläche und Deckfläche. Die primitive Gitterzelle ist farbig
a markiert.

4. Hexagonales Kristallsystem (1) — a = b ≠ c, α = β = 90○ , γ = 120○ :


Beim hexagonalen Gitter bilden die Verbindungslinien benachbarter Gitterpunkte einen
Körper mit sechseckiger Grundfläche und Deckfläche. Das einzige Gitter dieses Systems
ist das primitive hexagonale Gitter. Es hat als Einheitszelle ein rechtwinkliges Prisma mit
einer Raute als Grundfläche (siehe Abb. 1.13). Es sei hier darauf hingewiesen, dass ein
Kristall mit einer 6-Achse auch als hexagonal bezeichnet wird, obwohl er nur eine drei-
zählige Drehachse besitzt. Dies ist dann von Bedeutung, wenn der betrachtete Kristall
keine einfache Basis besitzt.
5. Rhomboedrisches oder trigonales Kristallsystem (1) — a = b = c, α = β = γ ≠ 90○ :
Die trigonale Punktgruppe beschreibt die Symmetrie eines Objekts, das wir durch Deh-
nung eines Würfels entlang einer Raumdiagonalen erhalten. Das Raumgitter, das wir
auf diese Weise durch Dehnung jedes der drei kubischen Bravais-Gitter erhalten, ist das
primitive trigonale Raumgitter. Im Gegensatz zum kubischen Kristallsystem besitzt das
trigonale Kristallsystem nicht vier sondern nur noch eine dreizählige Drehachse. Das
trigonale Kristallsystem ist eng verwandt mit dem hexagonalen Kristallsystem. Die Un-
terscheidung zwischen trigonalem und hexagonalem Kristallsystem erfolgt nur durch
die auftretenden Symmetrieelemente der Kristallklasse beziehungsweise Raumgruppe
der Kristallstruktur. Treten nur dreizählige Symmetrieachsen (Hermann-Mauguin-Sym-
bol 3) beziehungsweise dreizählige Drehinversionsachsen (Symbol 3) parallel zur kris-
tallographischen c-Achse auf, spricht man von der Zugehörigkeit zum trigonalen Kris-
tallsystem. Im hexagonalen Kristallsystem treten dagegen sechszählige Symmetrieachsen
(Symbol 6) bzw. sechszählige Drehinversionsachsen (Symbol 6) auf.
Für das trigonale Kristallsystem sind zwei Koordinatenaufstellungen gebräuch-
lich: entweder drei gleich lange Basisvektoren und drei gleiche Winkel (a = b = c,
α = β = γ ≠ 90○ : rhomboedrische Aufstellung) oder eine Aufstellung wie im hexago-
nalen Kristallsystem (a = b ≠ c, α = β = 90○ , γ = 120○ : hexagonale Aufstellung), aber
mit rhomboedrischer Zentrierung. Während im hexagonalen Kristallsystem nur eine
primitive Zentrierung des Bravais-Gitters auftreten kann, kann bei trigonaler Symmetrie
das Bravais-Gitter also auch rhomboedrisch zentriert sein (R-zentriert oder rhombo-
edrische Aufstellung). Im Fall einer rhomboedrischen Zentrierung des Bravais-Gitters,
sprechen wir dann von einem rhomboedrischen Kristallsystem.
20 1 Kristallstruktur

6. Monoklines Kristallsystem (2) — a ≠ b ≠ c, α = γ = 90○ ≠ β:


Wir können die rhombische Symmetrie erniedrigen, indem wir den Winkel β zwischen
a- und c-Achse von 90○ abweichen lassen. Die erhaltene Symmetriegruppe ist die mono-
kline Gruppe, die ihren Namen von dieser Neigung erhalten hat. Es gibt zwei monokline
Bravais-Gitter, das monoklin primitive Gitter und das monoklin basiszentrierte Gitter.
Das primitive monokline Gitter erhält man aus der Verzerrung des primitiven rhombi-
schen Gitters. Durch Verzerrung des basiszentrierten rhombischen Gitters erhalten wir
ebenfalls ein primitives monoklines Gitter. Verzerren wir das flächen- oder raumzen-
trierte rhombische Gitter, so erhalten wir in beiden Fällen ein basiszentriertes monokli-
nes Bravais-Gitter. Die Einheitszellen des basiszentrierten Gitters besitzen Gitterpunkte
in den Mittelpunkten der ab-Ebene.
7. Triklines Kristallsystem (1) — a ≠ b ≠ c, α ≠ β ≠ γ:
Es gibt nur ein triklines Raumgitter, das primitive trikline Gitter.

Die sieben Kristallsysteme und vierzehn Bravais-Gitter erschöpfen die Möglichkeiten. Dies
ist natürlich nicht evident und schwierig zu beweisen. Für die Praxis ist es aber nicht relevant
zu verstehen, warum dies die einzigen unterscheidbaren Gittertypen sind. Es soll uns hier
genügen zu wissen, warum diese Kategorien existieren und was sie sind.25

1.1.3 Richtungen und Ebenen in Kristallen


Eine Ebene in einem Kristall, die mit Gitterpunkten besetzt ist, bezeichnen wir als Netzebene.
Wir könnten die Orientientierung dieser Ebene durch die Schnittpunkte der Ebene mit den
drei Kristallachsen klassifizieren. Geben wir diese Schnittpunkte in Einheiten der Gitterkon-
stanten an, so wäre jede Ebene eindeutig durch ein Zahlentripel festgelegt. Dieses Verfah-
ren hat den Nachteil, dass kristallographisch äquivalente Ebenen, deren Achsenabschnitte
sich nur um einen ganzzahligen Faktor unterscheiden, unterschiedliche Zahlentripel besit-
zen würden. In der Kristallographie wählt man deshalb ein anderes Bezeichnugsverfahren,
bei dem parallele Ebenen alle die gleichen Zahlentripel besitzen. Man geht dabei wie folgt
vor:
∎ Bestimme die Schnittpunkte der Ebene mit den Kristallachsen in Einheiten der Gitter-
konstanten a, b und c.
∎ Bilde den Kehrwert dieser Zahlen und reduziere diese Brüche zu drei ganzen Zahlen
(und zwar den kleinstmöglichen) mit dem gleichen Verhältnis. Der Sinn und Zweck der
Kehrwertbildung wird uns erst klar, wenn wir das reziproke Gitter diskutieren.

Sind die Schnittpunkte einer Ebene zum Beispiel 4a, b und 2c, so sind die entsprechenden
Kehrwerte 14 , 11 und 12 und somit die kleinsten ganzen Zahlen mit dem gleichen Verhält-
nis 1, 4 und 2. Die Ebene ist dann durch das Zahlentripel (142) charakterisiert. Die Zah-
lentripel (hkℓ) werden als Millersche Indizes26 bezeichnet. Für einen Schnittpunkt, der im
Unendlichen liegt, wird der entsprechende Index 0. Liegt der Schnittpunkt einer Ebene bei
25
W. Kleber, H.-J. Bautsch, J. Bohm, D. Klimm, Einführung in die Kristallographie, Oldenbourg Ver-
lag, München (2010).
26
nach William Hallowes Miller, geboren am 6. April 1801 in Llandovery, Carmarthenshire, gestor-
ben am 20. Mai 1880 in Cambridge, England, britischer Mineraloge und Kristallograph.
1.1 Periodische Strukturen – Grundbegriffe und Definitionen 21

𝒄 (𝟏𝟎𝟎) 𝒄 (𝟏𝟏𝟎) 𝒄 (𝟏𝟏𝟏)

𝒃 𝒃 𝒃

𝒂 𝒂 𝒂
𝒄 (𝟐𝟎𝟎) (𝟎𝟏𝟎) 𝒄 𝒄 (𝟐𝟐𝟏)
Abb. 1.14: Millersche In-
dizes für einige Ebenen in
einem kubischen Kristall.
Die (200)-Ebene ist zwar
𝒃 𝒃 𝒃 parallel zur (100)-Ebene,
ist aber nicht äquivalent zu
dieser.
𝒂 𝒂 𝒂

einem negativen Wert, so wird dies durch einen Querstrich über dem betreffenden Index an-
gezeigt, z. B. (142). Einige Beispiele sind in Abb. 1.14 gezeigt. Wichtig ist, dass ein einziges
Zahlentripel nicht nur eine bestimmte Ebene, sondern einen ganzen Satz von (unendlich
vielen) parallelen Ebenen bezeichnet. Erscheinen die Millerschen Indizes in geschweiften
Klammern, dann beziehen sie sich auf äquivalente Ebenen in einem Kristall. Zum Beispiel
werden sämtliche Oberflächen eines Würfels mit dem Symbol {100} charakterisiert, obwohl
ihre Millerschen Indizes unterschiedlich sind.
In gleicher Weise wie Kristallebenen können wir auch Richtungen klassifizieren. Die Indi-
zes (︀uvw⌋︀ einer Kristallrichtung sind durch den Satz kleinster ganzer Zahlen gegeben, die
das gleiche Verhältnis haben wie die Komponenten eines Vektors R = uâ + v b̂ + wĉ in die-
se Richtung bezüglich der Kristallachsen. Wird eine Richtung zum Beispiel durch die Vek-
torkomponenten 8a, 4b und 2c charakterisiert, so bezeichnen wir dies Richtung mit den
Indizes (︀421⌋︀.
Für Kristalle mit einem hexagonalen Kristallgit- 𝒄
(𝟎𝟎𝟎𝟏)
ter liefern die Millerschen Indizes, wenn wir sie Indizierung der Netze
nach dem obigen Verfahren bestimmen, unter einem hexagonalen G

Umständen unterschiedliche Werte. So sind z. B. (ℎ𝑘𝑖ℓ) mit 𝑖 = −(ℎ +


(𝟏𝟏𝟎𝟎) (𝟏𝟏𝟐𝟎)
die in Abb. 1.15 gezeigten Ebenen (110) und
oder
(100) völlig äquivalente Prismenflächen. Man (𝟏𝟏𝟎)
geht deshalb bei der Beschreibung von Kristall-
flächen in solchen Systemen von 4 Achsen aus.
In Abb. 1.15 sind sie durch a 1 , a 2 , a 3 und c ge- (𝟏𝟎𝟏𝟎)
kennzeichnet. Die Indizes hkiℓ erhalten wir wie oder
(𝟏𝟎𝟎)
oben bereits geschrieben. Es gilt dabei
𝒂𝟑 −𝒂𝟏
i = −(h + k). (1.1.8) −𝒂𝟐 𝒂𝟐
Bei der Kennzeichnung von Kristallrichtungen 𝒂𝟏 −𝒂𝟑
verfahren wir in analoger Weise, wobei wir bei Abb. 1.15: Indizierung der Netzebenen in
der Wahl der Indizes darauf achten müssen, dass einem hexagonalen Gitter.
(1.1.8) erfüllt ist.
22 1 Kristallstruktur

1.1.4 Quasikristalle
Wir haben in Abschnitt 1.1.2 bereits darauf hingewiesen, dass wir zwar auf jeden Gitterpunkt
eines Bravais-Gitters ein Molekül mit einer fünfzähligen Rotationsachse setzen können, das
Gitter dagegen keine fünfzählige Achse besitzen kann. Abb. 1.16 zeigt, was passiert, wenn
wir versuchen ein periodisches Gitter mit Strukturelementen zu konstruieren, die eine fünf-
zählige Symmetrie aufweisen. Wir sehen sofort, dass die Fünfecke nicht zusammenpassen
und wir deshalb den Raum nicht vollständig mit diesen Elementen ausfüllen können.27 Wir
erhalten ein geordnetes Gebilde, das einer quasiperiodischen Anordnung von zwei verschie-
denen Strukturelementen entspricht. Wir nennen ein solches Gebilde einen Quasikristall.
In Quasikristallen sind die Atome bzw. Moleküle zwar scheinbar regelmäßig angeordnet,
eine nähere Betrachtung zeigt aber, dass in Wahrheit eine aperiodische Struktur vorliegt.
Experimentell entdeckt wurden die Quasikristalle im Jahr 1984 von Daniel Shechtman,28
dem dafür 2011 der Nobelpreis für Chemie verliehen wurde. Er fand bei der Kristallstruk-
turanalyse einer schnell abgekühlten Aluminium-Mangan-Legierung (14% Mangan) eine
ungewöhnliche Struktur, welche bei Elektronenbeugungsaufnahmen scharfe Bragg-Reflexe
zeigte und die Symmetrie eines Ikosaeders besaß. Dies ist für kristalline Substanzen sehr un-
gewöhnlich, da bei dieser Symmetrie keine Gitterverschiebungen möglich sind und damit
keine periodische Struktur, wie sie für die Definition eines Kristalls nötig ist, vorliegt. We-
sentlich zum Verständnis diesen Befunds trugen Paul Steinhardt und Dov Levine bei, die
für diesen neuen Phasentyp den Begriff Quasikristall prägten.29
Wir wollen uns zunächst die wesentlichen Unterschiede zwischen einem Kristall und einem
Quasikristall klar machen. Wir wissen, dass in einem normalen Kristall die Atome bzw. Ba-
siseinheiten in einer periodischen Struktur angeordnet sind. Diese wiederholt sich in jeder
der drei Raumrichtungen. Jede Gitterzelle ist von Zellen umgeben, die ein identisches Muster

Abb. 1.16: Ein Quasikristall ist eine quasiperiodische


Anordnung von zwei verschiedenen Strukturelemen-
ten. Mit Fünfecken alleine kann die Fläche nicht voll-
kommen ausgefüllt werden. Gezeigt ist eine so genann-
te Penrose-Parkettierung, die von Roger Penrose und
Robert Ammann im Jahr 1973 entdeckt wurde. Mit ihr
kann eine Ebene lückenlos parkettiert werden, ohne
dass sich dabei ein Grundschema periodisch wiederholt.
27
siehe zum Beispiel Johannes Kepler in Harmonice Mundi (1619).
28
D. Shechtman, I. Blech, D. Gratias, J. Cahn, Metallic Phase with Long-Range Orientational Order
and No Translational Symmetry, Phys. Rev. Lett. 53, 1951–1953 (1984).
29
D. Levine, P. Steinhardt, Quasicrystals: A New Class of Ordered Structures, Phys. Rev. Lett. 53, 2477–
2480 (1984).
1.1 Periodische Strukturen – Grundbegriffe und Definitionen 23

Daniel Shechtman, Nobelpreis für Chemie 2011


Daniel Shechtman wurde am 24. Januar 1941 in Tel Aviv ge-
boren. Seine Großeltern waren Anfang des 20. Jahrhunderts
von Russland nach Israel emigriert. Er studierte am Israel
Institute of Technology (Technion) in Haifa, wo er nach ei-
nem Bachelor- (1966) und einem Master-Abschluss (1968)
im Jahr 1972 im Bereich Materialwissenschaften promo-
vierte.
Nach seiner Promotion arbeitete Shechtman als Stipen-
diat des National Research Council im Forschungslabor
des Luftwaffenstützpunkts Wright Patterson im US-Bun- Bild: Technion, Israel.
desstaat Ohio. Drei Jahre beschäftigte er sich dort mit der
Mikrostruktur und der Metallkunde von intermetallischen
Verbindungen aus Titan und Aluminium. Im Jahr 1975 kehrte er nach Israel zurück und
wurde in der Abteilung für Materialwissenschaft des Technions tätig, wo er über die Jahre
vom Dozenten zum leitenden Professor (Distinguished Professor, ab 1998) aufstieg. Wäh-
rend eines Sabbaticals arbeitete er 1981–1983 an der Johns Hopkins University, wo er sich
mit schnell abgekühlten Übergangsmetalllegierungen auf Al-Basis beschäftigte. Dabei ent-
deckte er die icosaedrische Phase und eröffnete dadurch das neue Forschungsfeld der Qua-
sikristalle. Seit 2004 arbeitet Shechtman teilweise an der Iowa State University in Ames. Im
Jahr 2011 erhielt er den Nobelpreis für Chemie für die Entdeckung der Quasikristalle.

bilden. In einem Quasikristall sind dagegen die Atome bzw. Basisteinheiten nur quasiperi-
odisch angeordnet. Lokal finden wir zwar eine regelmäßige Struktur, auf globalem Maßstab
ist die Struktur aber aperiodisch, das heißt, jede Zelle ist von einem jeweils anderen Muster
umgeben. Ein besonders bemerkenswerter Unterschied zwischen Kristallen und Quasikris-
tallen ist, dass Letztere eine fünf-, acht-, zehn- oder zwölfzählige Symmetrie aufweisen. In
normalen Kristallen sind dagegen nur ein-, zwei-, drei-, vier-, und sechszählige Symmetrien
möglich. Das ergibt sich daraus, dass der Raum nur auf diese Art mit kongruenten Teilen ge-
füllt werden kann. Wir weisen auch darauf hin, dass Quasikristalle zwar keine periodischen
Strukturen besitzen, aber scharfe Beugungsreflexe zeigen. Es existiert ferner eine wichtige
Beziehung zwischen den Quasikristallen und der in Abb. 1.16 gezeigten Penrose-Parkettie-
rung, die Roger Penrose bereits vor der Entdeckung der Quasikristalle gefunden hatte. Wenn
wir einen Quasikristall geeignet durchschneiden, zeigt die Schnittfläche gerade das Muster
der Penrose-Parkettierung.
Um uns den Begriff quasiperiodisch verständlich zu machen, verwenden wir eine geome-
trische Betrachtung. Es ist evident, dass wir ein periodisches Muster von Atomen komplett
um einen bestimmten Abstand so verschieben können, dass jedes verschobene Atom wieder
genau die Stelle eines entsprechenden Atoms im Originalmuster einnimmt. In einem quasi-
periodischen Muster ist eine solche Parallelverschiebung des gesamten Musters nicht mög-
lich. Allerdings können wir jeden beliebigen Ausschnitt so verschieben, dass er deckungs-
gleich mit einem entsprechenden Ausschnitt ist (ggf. nach einer Rotation). Interessant ist,
dass wir jedes quasiperiodische Punktmuster aus einem periodischen Muster in einer höhe-
ren Raumdimension konstruieren können. Dies ist in Abb. 1.17 für einen eindimensionalen
24 1 Kristallstruktur

Abb. 1.17: Zur geometrischen Kon-


struktion eines quasiperiodischen
Punktmusters (rot) durch Projekti-
on eines periodischen zweidimen-
sionalen Punktmusters (schwarz)
auf einen eindimensionalen Unter-
raum. Die Größe A bezeichnet den
Akzeptanzbereich für die Projek-
tion. Der eindimensionale Unter-
raum weist in dem gezeigten Bei-
−1 31.717°
spiel eine
⌋︂ Steigung g auf, wobei g = A
(1 + 5)⇑2 der Goldene Schnitt ist.

𝟏+ 𝟓
Steigung 𝒈−𝟏 mit 𝒈 = (goldener Schnitt)
𝟐
Quasikristall veranschaulicht. Um ihn zu erzeugen, können wir mit einer periodischen An-
ordnung von Punkten in einem zweidimensionalen Raum beginnen. Der eindimensionale
Raum sei ein linearer Unterraum, der den zweidimensionalen Raum in einem bestimmten
Winkel durchdringt. Wenn wir jeden Punkt des zweidimensionalen Raumes, der sich in-
nerhalb eines bestimmten Abstandes zum eindimensionalen Unterraum befindet, auf den
Unterraum projizieren und der Winkel eine irrationale Zahl darstellt (zum Beispiel der Gol-
dene Schnitt), dann erhalten wir ein quasiperiodisches Muster.
Quasikristalle kommen vor allem in ternären Legierungssystemen vor, also solchen mit drei
Legierungselementen (meist mit Aluminium, Zink, Cadmium oder Titan als Hauptbestand-
teil). Zu den seltenen Zwei-Element-Systemen mit quasikristalliner Struktur zählen Cd5.7 Yb
und Cd5.7 Ca in ikosaedrischer Struktur und Ta1.6 Te in einer dodekaedrischen Struktur. Bis
heute ist nur ein natürlich vorkommendes quasikristallines Mineral, der Icosahedrit, be-
kannt. Es handelt sich um eine Aluminium-Kupfer-Eisen-Legierung mit der Zusammenset-
zung Al63 Cu24 Fe13 , die auf der Kamtschatka-Halbinsel in Russland gefunden wurde.

1.2 Einfache Kristallstrukturen


Wir wollen im Folgenden einige einfache Kristallstrukturen näher betrachten. Die einfachs-
ten Strukturen wie die sc-, fcc- und die bcc-Struktur sind solche mit einatomiger Basis, die
natürlich nur für chemische Elemente vorkommen können. Es zeigt sich, dass die Mehrzahl
der Elemente in wenigen einfachen Strukturen kristallisiert, wie aus Abb. 1.18 ersichtlich ist.
Neben diesen einfachen Strukturen werden wir die Natriumchloridstruktur, die Cäsium-
chloridstruktur, die hexagonal dichteste Kugelpackung (hcp), die Diamantstruktur und die
Zinkblendestruktur vorstellen. Um die Lage der Atome innerhalb der Basis zu beschreiben,
legen wir den Bezugspunkt in den Mittelpunkt eines Atoms und geben die Position der ande-
ren Atome in den Koordinaten der Einheitszelle an. Dabei verwenden wir als Einheiten die
Gitterkonstanten a, b und c. Alle Edelmetalle, aber auch Edelgase im festen Zustand besitzen
ein kubisch flächenzentriertes Gitter mit einer aus einem Atom bestehenden Basis. Alkali-
metalle und verschiedene andere Metalle wie Wolfram, Molybdän oder Tantal besitzen ein
kubisch raumzentriertes Gitter ebenfalls mit einer einatomigen Basis.
1.2 Einfache Kristallstrukturen 25

bcc fcc

hcp dhcp Diamant

Abb. 1.18: Die Gitterstruk-


turen der chemischen Ele-
mente.

1.2.1 Die sc-Struktur


Bei einer kubisch primitiven Struktur (sc: simple cubic) befindet sich jeweils an den Ecken
der würfelförmigen Elementarzelle ein Atom. Der Abstand der Atome beträgt a, die Pa-
ckungsdichte 52.360%. Jedes Atom besitzt 6 nächste Nachbarn. Die Koordinationszahl be-
trägt somit sechs.30 Hierbei verstehen wir unter der Packungsdichte den Bruchteil des Rau-
mes, der von identischen, sich berührenden Kugeln auf den Gitterpunkten ausgefüllt wird.
Beispiele für eine kubisch primitive Kristallstruktur sind unter anderem α-Polonium sowie
die Hochdruckmodifikationen von Phosphor und Antimon.

1.2.2 Die fcc-Struktur


Bei der fcc- (face centered cubic) Struktur (Raumgruppe O h5 bzw. Fm3m) bilden die Atome
ein kubisches Bravais-Gitter (siehe Abb. 1.19, links). Die Packungsdichte der fcc-Struktur
beträgt 74.048%. Sie ist also wesentlich größer als diejenige der sc-Struktur. Die dichte Ku-
gelpackung ist besser zu erkennen, wenn wir die würfelförmige konventionelle Elementar-
zelle um eine halbe Kantenlänge verschieben, so dass die Atome im Zentrum der Zelle und
auf den 12 Kantenmitten liegen (siehe Abb. 1.19, rechts). Wir erkennen jetzt leicht,⌋︂ dass je-
des Atom in der fcc-Struktur 12 nächste Nachbarn besitzt, die sich im Abstand a⇑ 2 befin-
den. Die Koordinationszahl beträgt also 12. Außerdem sehen wir, dass die Atome in Ebenen
senkrecht zu den Würfeldiagonalen in Form eines Dreiecksgitters dicht gepackt sind. Die-
se Dreiecksgitterebenen sind dann so aufeinandergelegt, dass ein Atom der nächsten Ebene
jeweils über dem Zentrum eines Dreiecks von Atomen liegt und mit diesem ein reguläres
Tetraeder bildet. Wir werden weiter unten bei der Diskussion der hcp-Struktur sehen, dass
es zwei Möglichkeiten gibt, die Ebenen aufeinanderzulegen.

⌋︂
Die primitive Gitterzelle der fcc-Struktur ist rhomboedrisch. Sie besitzt eine Kantenlänge
ã = a⇑ 2 und der Winkel an den spitzen Ecken beträgt 60○ . Eine kubisch flächenzentrierte

30
Die Koordinationszahl gibt allgemein die Zahl der nächsten Nachbarn eines Atoms an, die alle den
gleichen Abstand haben.
26 1 Kristallstruktur

60°

Abb. 1.19: Die fcc-Struktur: (a) Konven- (a) (b)


tionelle Zelle, (b) Konventionelle und pri-
mitive Zelle (blau eingefärbt). In (c) ist
die würfelförmige konventionelle Ele-
mentarzelle um eine halbe Kantenlänge C
verschoben. Das Atom im Zentrum des
Würfels ist mit einer anderen Farbe mar- B
kiert. In (d) ist die Stapelung der Atome
in Ebenen senkrecht zur Würfeldiagonale A
gezeigt (vergleiche hierzu auch Abb. 1.21). (c) (d)

Kristallstruktur haben viele Metalle wie z. B. Aluminium, Blei, γ-Eisen, Gold, Silber, Kalzi-
um, Strontium, Cer, Iridium, Kupfer, Nickel, Palladium, Platin und Rhodium. Nach Kupfer
wird dieser Strukturtyp auch Kupferstruktur genannt.

1.2.3 Die bcc-Struktur


Bei der bcc- (body centered cubic) Struktur (Raumgruppe O h9 bzw. Im3m) bilden die Atome
⌋︂
ein kubisch raumzentriertes Bravais-Gitter (siehe Abb. 1.20). Jedes Atom hat 8 nächste Nach-
barn im Abstand a 3⇑2, die Koordinationszahl beträgt also 8. Die bcc-Struktur ist weniger
dicht gepackt als die fcc-Struktur. Mit 68.017% liegt die Packungsdichte zwischen derjeni-
gen des sc- und⌋︂des fcc-Gitters. Die primitive Zelle des bcc-Gitters ist ein Rhomboeder mit
Kantenlänge a 3⇑2 und dem Winkel 109○ 28′ . Eine kubisch raumzentrierte Kristallstruktur
haben unter anderem α-Eisen, Cäsium, Chrom, Kalium, Molybdän, Niob, Natrium, Rubi-
dium, Tantal, Vanadium und Wolfram. Nach Wolfram wird dieser Strukturtyp auch Wolf-
ramstruktur genannt.

109°28´

Abb. 1.20: Die bcc-Struktur: (a) kon-


ventionelle und (b) konventionel-
le Zelle zusammen mit der primi-
tiven Gitterzelle (blau eingefärbt). (a) (b)
1.2 Einfache Kristallstrukturen 27

1.2.4 Die hcp-Struktur


Die hcp- (hexagonal closed packed) Struktur (Raumgruppe D 6h 4
bzw. P63 ⇑mmc, nichtsym-
morph) ist eine hexagonal dicht gepackte Struktur (hexagonal dichte Kugelpackung), in der
die Atome in Dreiecksgitterebenen in der Stapelfolge ABABAB. . . gepackt sind. Es handelt
sich hier um eine Struktur mit zwei Atomen pro Elementarzelle. Das erste Atom der Basis
hat die Koordinaten (0, 0, 0), das zweite Atom, wie in Abb. 1.21 gezeigt ist, die Koordina-
ten (2⇑3, 1⇑3, 1⇑2).
Die Bezeichnung „dichte Kugelpackung“ rührt daher, dass bei einer Anordnung von Kugeln
gemäß dieser Struktur der unausgefüllte Zwischenraum minimal ist. Die maximal möglich
Packungsdichte beträgt 74.048%. Es gibt aber noch eine zweite Möglichkeit, gleich große Ku-
geln bei maximaler Packungsdichte zu stapeln. Die daraus resultierende Struktur ist die oben
diskutierte kubisch flächenzentrierte Struktur (fcc: face centered cubic). Der Unterschied
zwischen diesen beiden Strukturen ist in Abb. 1.21 verdeutlicht. Bei der hexagonal dichten
Packung haben wir eine Stapelfolge ABAB. . ., während wir bei der kubisch flächenzentrier-
ten Struktur die Schichtfolge ABCABC. . . haben. Die dichtest gepackten Ebenen liegen bei
der fcc-Struktur senkrecht zu den 4 Raumdiagonalen des Würfels, während es bei der hcp-
Struktur nur eine Stapelrichtung für die Schichten gibt, nämlich entlang der hexagonalen
c-Achse.
Die Raumgruppe dieser Struktur legt das Verhältnis zwischen der Seitenlänge a des Basis-
sechsecks und der Prismenhöhe c nicht fest. Falls die Struktur jedoch eine dichte Kugelpa-
hcp-Struktur
ckung sein soll, muss c gleich der doppelten Höhe des regulären Tetraeders mit der Kanten-

A
A B
A
(b)
C
B B
A
(c) A
𝒂𝟑

A 𝒂𝟐 C
B
𝒂𝟏
(a) (d) A
Abb. 1.21: (a) Die hexagonal dichteste Kugelpackung: die primitive Zelle hat a 1 = a 2 mit einem einge-
schlossenen Winkel von 120○ . Die mittlere Ebene ist verschoben, so dass das zentrale Atom im Hexa-
gon die Position (2⇑3, 1⇑3, 1⇑2) besitzt. (b) und (c) zeigen die Stapelfolge ABAB. . . für die hexagonal
dichteste Kugelpackung und die Stapelfolge ABCABC. . ., die in einer kubisch flächenzentrierten Struk-
tur resultiert (links: Seitenansicht, rechts: Draufsicht). In (d) sind die Stapelebenen für die fcc-Struktur
veranschaulicht, sie verlaufen senkrecht zu den Flächendiagonalen.
28 1 Kristallstruktur

Tabelle 1.5: Werte für das Element c⇑a Element c⇑a Element c⇑a
c⇑a-Verhältnis von Materia-
He 1.633 Zn 1.861 Zr 1.594
lien mit der hcp-Struktur.
Be 1.581 Cd 1.886 Gd 1.592
Mg 1.623 Co 1.622 Lu 1.596
Ti 1.586 Y 1.570 Tl 1.60

⌈︂ zeigen, dass bei ei-


länge a sein. Durch eine einfache geometrische Betrachtung lässt sich
ner idealen hexagonalen dichten Kugelpackung das c⇑a-Verhältnis 2 2⇑3 = 1.633 sein soll-
te. Bei Kristallen mit hcp-Struktur weicht der Wert des c⇑a-Verhältnisses im Allgemeinen
nur wenig von diesem idealen Wert ab. Man spricht aber auch von einer hexagonal dichtes-
ten Packung, wenn Abweichungen von diesem idealen Wert auftreten. Einige Werte für das
c⇑a-Verhältnis von Materialien mit der hcp-Struktur sind in Tabelle 1.5 aufgelistet.
Die Zahl der nächsten Nachbaratome bei der hexagonal dichtesten Kugelpackung ist 12,
genauso wie für die kubisch flächenzentrierte Struktur. Falls die Bindungsenergie nur von
der Zahl der nächsten Nachbarn abhängen würde, wären die beiden Strukturen energetisch
gleichwertig. Dichteste Kugelpackungen treten bei der Kristallisation von vielen Metallen
wie Be, Mg, Zr, Cd, Ti oder Co auf. Auch Elemente mit f -Elektronen, z. B. La, Pr, Nd und
Pm, kristallisieren in der hcp-Struktur.

1.2.5 Die dhcp-Struktur


Die dhcp- (double hexagonal close packed) Struktur (Raumgruppe D 6h 4
bzw. P63 ⇑mmc) hat
dieselbe Raumgruppe wie die hcp-Struktur und ist durch die Stapelfolge ABACABAC. . . ge-
kennzeichnet. Gegenüber der hcp-Struktur ist die Elementarzelle in c-Richtung verdoppelt
und enthält hier vier Atome. Bei idealem c⇑a-Verhältnis ist auch diese Struktur dicht gepackt.

1.2.6 Die Natriumchloridstruktur


Gehen wir zu Strukturtypen, bei denen zwei verschiedene Elemente beteiligt sind, so kom-
men wir zunächst zu den so genannten AB-Strukturen. Als erstes diskutieren wir die NaCl-
Struktur (Raumgruppe O h5 bzw. Fm3m), die in Abb. 1.22 gezeigt ist. Sie besitzt ein kubisch
flächenzentriertes Gitter. Diese Struktur besitzen verschiedene Alkalihalogenide, aber auch
das Bleisulfid und das Manganoxid. Die Basis besteht aus einem Na- und einem Cl-Atom,
die den Abstand einer halben Raumdiagonalen der kubischen Einheitszelle besitzen. Die Na-
triumpositionen in der Einheitszelle [siehe hierzu Abb. 1.22(a)] sind ( 12 12 12 ), (00 12 ), (0 12 0)
und ( 12 00), die Chlorpositionen sind (000), ( 12 12 0), ( 12 0 12 ) und (0 12 12 ). Die Anionen und die
Kationen liegen also auf fcc-Gittern, die um den Basisvektor (a⇑2, a⇑2, a⇑2) gegeneinander
verschoben sind.
In Abb. 1.22 ist eine konventionelle Einheitszelle gezeigt. Jedes Atom hat als nächste Nach-
barn 6 Atome der anderen Sorte. Die Gesamtzahl der nächsten Nachbarn beider Atomsorten
ist 18. Die nächsten Nachbarn bilden einen regelmäßigen Oktaeder, den man als oktaedri-
schen Koordinationspolyeder bezeichnet. Die konventionelle Zelle enthält 4 Na- (12 Atome
NaCl-Struktur
1.2 Einfache Kristallstrukturen 29

(a) (b) Abb. 1.22: (a) die Natriumchlorid-


𝐂𝐥− struktur, jedes Na-Atom ist von
𝐍𝐚+ 6 Cl-Atomen umgeben und umge-
kehrt. In (b) ist ein Modell der NaCl-
𝐂𝐥− Struktur mit realistischen Ionengrö-
ßen gezeigt. Das Cl− -Ion ist wesentlich
(c) größer als das Na+ -Ion (r Na+ = 0.95 Å,
r Cl− = 1.81 Å). (c) zeigt einen natür-
𝐍𝐚+ lichen NaCl-Kristall (Foto: Wlodi,
Polen). Man erkennt die kubische
𝐂𝐥−
𝒂 Form.

auf den Kanten, die von 4 benachbarten Zellen geteilt werden und ein Atom im Zentrum)
und 4 Cl-Ionen (8 Atome auf den Ecken, die mit 8 benachbarten Zellen geteilt werden, und
6 Atome auf den Seitenflächen, die mit 2 benachbarten Zellen geteilt werden). Tabelle 1.6
enthält die Gitterkonstanten einiger Materialien mit NaCl-Struktur.

Kristall a (Å) Kristall a (Å) Tabelle 1.6: Gitterkonstanten einiger Materialien


mit NaCl-Struktur.
LiH 4.08 AgBr 5.77
MgO 4.20 PbS 5.92
MnO 4.43 KCl 6.29
NaCl 5.63 KBr 6.59
CaS 5.69 KI 7.07

1.2.7 Die Cäsiumchloridstruktur


Eine weitere AB-Struktur ist die Cäsiumchloridstruktur (Raumgruppe O h1 bzw. Pm3m), die
in Abb. 1.23 gezeigt ist. Das Raumgitter ist hier kubisch primitiv. Die primitive Zelle enthält
ein Molekül mit den Atompositionen (000) und ( 12 12 12 ). Jedes Atom kann als Zentrum eines
Würfels von Atomen der anderen Sorte betrachtet werden. Die Zahl der nächsten Nachbarn
oder die Koordinationszahl ist 8. Die Gesamtzahl der nächsten Nachbarn beider Atomsorten
ist 14. Die konventionelle Zelle enthält 1 Cs-Ion (8 Atome auf den Ecken, die von 8 benach-
barten Zellen geteilt CsCl-Struktur
werden) und 1 Cl-Atom. Tabelle 1.7 enthält die Gitterkonstanten einiger
Materialien mit CsCl-Struktur.

Abb. 1.23: (a) Die Cäsiumchlorid-


(a) (b) struktur: das Raumgitter ist kubisch
primitiv und die Basis besitzt ein Cs+ -
Ion bei (000) und ein Cl− -Ion bei
( 12 12 12 ). (b) zeigt die CsCl-Struktur mit
realistischen Ionengrößen. Wichtig
𝐂𝐥− ist, dass im Gegensatz zu NaCl, wo das
Na+ -Ion wesentlich kleiner ist als das
Cl− -Ion, das Cs+ -Ion fast gleich groß
ist wie das Cl− -Ion (r Cs+ = 1.69 Å,
𝒂 𝐂𝐬 + r Cl− = 1.81 Å).
30 1 Kristallstruktur

Tabelle 1.7: Gitterkonstanten eini- Kristall a (Å) Kristall a (Å)


ger Materialien mit CsCl-Struktur.
BeCu 2.70 TlCl 3.83
AlNi 2.88 NH4 Cl 3.87
CuZn (β-Messing) 2.94 TlBr 3.97
CuPd 2.99 CsCl 4.11
AgMg 3.28 TlI 4.20
LiHg 3.29 CsBr 4.29

Obwohl in der CsCl-Struktur das positive Ion von 8, in der NaCl-Struktur dagegen nur von
6 negativen Ionen umgeben ist, wird für die meisten ionischen Bindungen die NaCl-Struktur
beobachtet. Dies ist erstaunlich, da für die CsCl-Struktur, wie wir in Abschnitt 3.3 sehen
werden, die Coulomb-Bindungsenergie größer sein sollte. Die Ursache liegt darin begrün-
det, dass in den meisten Fällen der Radius des Kations wesentlich kleiner ist als derjenige
des Anions (z. B. r Na+ = 0.95 Å, r Cl− = 1.81 Å). Beim Cs-Ion ist das anders (r Cs+ = 1.69 Å).
Wenn das Kation kleiner wird, stoßen die Anionen in der CsCl-Struktur bei einem Verhält-
nis r + ⇑r − = 0.732 der Ionenradien aneinander. Für noch kleinere Kationen kann die Git-
terkonstante nicht mehr kleiner werden und die Coulomb-Energie bliebe konstant. In die-
sem Fall wird dann die NaCl-Struktur günstiger, da hier ein Kontakt der Anionen erst bei
r + ⇑r − = 0.414 auftritt (siehe hierzu auch Abb. 3.9 in Abschnitt 3.3).
Wir wollen an dieser Stelle auch darauf hinweisen, dass für ein kubisch raumzentriertes Git-
ter (bcc: body centered cubic) die Zahl der nächsten Nachbarn nur 8 beträgt (im Gegensatz
zu 12 für das hcp- und fcc-Gitter, siehe Abb. 1.21) und damit für eine ungerichtete Bindung
diese Struktur eigentlich ungünstig sein sollte. Nichtsdestotrotz kristallisieren alle Alkali-
metalle sowie Ba, V, Nb, Ta, Ta, W und Mo in dieser Struktur. Die Ursache dafür ist, dass in
der bcc-Struktur die 6 übernächsten Nachbarn nur geringfügig weiter entfernt sind als die
8 nächsten Nachbarn. Es hängt dann von der Ausdehnung und Natur der Elektronenwellen-
funktion ab, ob die bcc- oder die fcc- bzw. die hcp-Struktur stabiler ist.

1.2.8 Die Diamantstruktur


Die Diamantstruktur (Raumgruppe O h7 bzw. Fd3m) besteht aus einem kubischen Gitter mit
zweiatomiger Basis. Der Name rührt daher, dass das erste entdeckte Beispiel der Diamant
war, eine Modifikation des Kohlenstoffs mit kubischer Kristallstruktur. Andere Elemente
der 4. Hauptgruppe können ebenfalls in dieser Struktur kristallisieren. Dazu gehören die
Halbleiter α-Zinn, Silizium und Germanium sowie Silizium-Germanium-Legierungen.
Das Bravais-Gitter von Diamant ist kubisch flächenzentriert. Die primitive Zelle besitzt zwei
identische (z. B. Kohlenstoff-) Atome an den Positionen (0, 0, 0) und ( 14 , 14 , 14 ). Diese beiden
Atome bilden die Basis des fcc-Gitters (siehe Abb. 1.24a). Anstelle dieser kristallographisch
korrekten Beschreibung wird es oft anschaulich als Kombination zweier ineinander gestell-
ter kubisch-flächenzentrierter Gitter mit einatomiger Basis beschrieben, wobei eines davon
um 1/4 der Raumdiagonale verschoben wurde (per Definition hat jede Kristallstruktur na-
türlich aber nur ein Gitter). Die Diamantstruktur ist das Ergebnis der gerichteten kovalen-
ten Bindung (sp3 Hybridisierung), die in 4 vollständig äquivalenten Bindungen resultiert
(jedes Kohlenstoffatom ist gleichwertig mit vier Nachbaratomen kovalent gebunden, siehe
1.2 Einfache Kristallstrukturen 31

(a) (b) 0 ½ 0

¾ ¼
½ ½
¼ ¾
0 ½ 0

(c)

Abb. 1.24: (a) Die Kristallstruktur von Diamant mit der tetraedrischen Anordnung der Bindungen. Die
beiden Kohlenstoffatome der Basis sind durch unterschiedliche Farben gekennzeichnet. Senkrecht zur
Raumdiagonalen liegen wellenförmige Schichten vor, wobei jede Schicht aus sesselförmigen Sechs-
ringen besteht. (b) zeigt die Atompositionen in der Einheitszelle projiziert auf die Grundfläche des
Würfels. (c) zeigt das Bild eines Rohdiamanten (Foto: Katharina Surhoff).

Abb. 1.24b). Das Diamantgitter hat eine Raumausfüllung von nur etwa 34%, die wesentlich
kleiner ist als die einer dicht gepackten Struktur (fcc oder hcp). In Tabelle 1.8 sind die Git-
terkonstanten einiger Materialien mit Diamantstruktur angegeben.
Die konventionelle Zelle der Diamantstruktur besitzt 8 Kohlenstoffatome. Jedes Kohlenstoff-
atom hat 4 Kohlenstoffatome als nächste (Koordinationszahl 4) und 12 Atome als übernächs-
te Nachbarn.

Kristall a (Å) Tabelle 1.8: Gitterkonstanten einiger Materialien mit Diamant-Struktur.


C (Diamant) 3.57
Si 5.43
Ge 5.66
α-Sn 6.49

1.2.9 Die Zinkblende-und Wurtzit-Struktur


Die Diamantstruktur kann auch als zwei fcc-Strukturen betrachtet werden, die gegeneinan-
der um ein Viertel einer Raumdiagonale verschoben sind. Die kubische Zinkblende-Struktur
(Raumgruppe Td2 , bzw. F43m) erhalten wir, wenn wir die beiden Kohlenstoffatome der Ba-
sis der Diamantstruktur durch zwei unterschiedliche Atome (z. B. Zn und S) ersetzen. Die
konventionelle Zelle ist ein Würfel (siehe Abb. 1.25a), das Gitter besitzt fcc-Struktur. Jede
konventionelle Zelle besitzt 4 Zn- und 4 S-Atome. Jedes Atom ist von gleich weit entfern-
ten Atomen der anderen Sorte umgeben, die auf den Ecken eines Tetraeders angeordnet
sind. Der Name Zinkblendestruktur geht auf das Sulfid-Mineral Sphalerit zurück, das auch
als Zinkblende oder unter seiner chemischen Bezeichnung Zinksulfid (α-ZnS) bekannt ist.
Sphalerit ist die Tieftemperaturmodifikation des Zinksulfids. Die Hochtemperaturmodifika-
tion heißt Wurtzit oder β-ZnS (siehe unten). Die Gitterkonstanten einiger Materialien mit
Zinkblende-Struktur sind in Tabelle 1.9 aufgelistet.
32 1 Kristallstruktur

(a) (b)

Abb. 1.25: (a) Die Zinkblendestruktur


mit der tetraedrischen Anordnung der
Bindungen. Die Basis wird durch ein
Zn und ein Schwefelatom gebildet. S
In (b) ist ein Bild eines Sphalerit-Kris-
talls (α-ZnS) gezeigt (Quelle: Rob La- Zn
vinsky, iRocks.com – CC-BY-SA-3.0). a

Tabelle 1.9: Gitterkon- Kristall a (Å) Kristall a (Å) Kristall a (Å)


stanten einiger Materialien
CuF 4.26 ZnS 5.41 AlSb 6.13
mit Zinkblende-Struktur.
CuFl 5.41 ZnSe 5.67 GaP 5.45
CuBr 5.69 ZnTe 6.09 GaAs 5.65
CuI 6.04 CdS 5.82 GaSb 6.12
BeS 4.85 HgS 5.85 InAs 6.04
BeSe 5.07 HdSe 6.08 InSb 6.48
BeTe 5.60 HgTe 6.42 SiC 4.35

Ein wichtiger Unterschied zwischen der Diamant- und der Zinkblendestruktur ist die Tatsa-
che, dass erstere eine Inversionssymmetrie bezüglich des Würfelmittelpunkts besitzt, wäh-
rend letztere dies aufgrund der unterschiedlichen Atome der Basis nicht tut. Wie bei der
Diamantstruktur liegen bei der Zinkblende-Struktur senkrecht zur Raumdiagonalen wel-
lenförmige Schichten vor, wobei jede Schicht aus sesselförmigen Sechserringen besteht, die
abwechselnd drei Zn und drei S Atome enthalten (vergleiche hierzu Abb. 1.24).
Während bei der Zinkblende-Struktur die Schichten einer Atomsorte entlang der [111]-
Richtung eine ABCABC . . . Stapelung besitzen, hat die sehr ähnliche Wurtzit-Struktur eine
ABAB . . . Stapelfolge. Wurtzit kristallisiert im hexagonalen Kristallsystem in der Raumgrup-
pe P63 mc und hat zwei Formeleinheiten pro Elementarzelle (siehe Abb. 1.26). Der Aufbau
der Kristallstruktur lässt sich von der des Lonsdaleit, dem hexagonalen Diamant, ableiten.
Dies steht in Analogie zur Struktur des Sphalerit, die sich vom normalen kubischen Dia-
mant ableiten lässt. Wurzit, auch als β-Zinksulfid (β-ZnS) bezeichnet, besteht aus einer he-
xagonal dichtesten Kugelpackung aus Schwefelatomen, deren Tetraederlücken zur Hälfte mit
Zinkatomen besetzt sind. Da es in einer dichtesten Kugelpackung doppelt so viele Tetraeder-

(a) (b)

Abb. 1.26: Gegenüber-


stellung der Zinkblen-
destruktur (a) und der
Wurzitstruktur (b).
1.2 Einfache Kristallstrukturen 33

lücken wie Packungsteilchen (in diesem Fall Schwefel) gibt und nur jede zweite Lücke mit
Zink besetzt ist, ergibt sich ein Schwefel-Zink-Verhältnis von 1:1 und damit die chemische
Formel ZnS. Beide Atomsorten haben jeweils eine Koordinationszahl von 4, als Koordinati-
onspolyeder ergibt sich in beiden Fällen ein unverzerrtes Tetraeder.
Die Wurtzitstruktur zählt zu den wichtigsten Kristallstrukturtypen. Zahlreiche, auch tech-
nisch wichtige Verbindungen, kristallisieren isotyp zu Wurtzit, darunter Zinkoxid (ZnO),
Cadmiumsulfid (CdS), Cadmiumselenid (CdSe), Galliumnitrid (GaN) und Silberiodid
(AgI).

1.2.10 Die Graphitstruktur


Graphit ist ein sehr häufig vorkommendes Mineral. Es ist eine der natürlichen Erscheinungs-
formen des chemischen Elements Kohlenstoff in Reinform. Es kristallisiert meist im hexa-
gonalen, sehr selten auch im trigonalen Kristallsystem (Raumgruppe m6 m2 m2 ).
Im kristallinen Graphit liegen parallel verlaufende ebene Schichten, die so genannten Ba-
salebenen, vor (siehe Abb. 1.27). Eine Schicht besteht aus kovalent verknüpften Sechsecken,
deren Kohlenstoff-Atome sp2 -hybridisiert sind (vergleiche hierzu Abschnitt 3.4.3.2). Inner-
halb der Ebenen beträgt die Bindungsenergie zwischen den Kohlenstoff-Atomen 4.3 eV. Die
Ebenen untereinander sind nur locker über Van-der-Waals-Kräfte gebunden, die Bindungs-
energie beträgt hier lediglich 0.07 eV. Senkrecht zu den Basalebenen liegt deshalb eine leichte
Spaltbarkeit des reinen Graphits vor. Die sp2 -kovalent hexagonal gebundenen Kohlenstoff-
Atome formen dagegen hochfeste Ebenen. Der Elastizitätsmodul entspricht mit ca. 1020 GPa
dem von normalem Graphit entlang der Basalebenen und ist fast so groß wie der des Dia-
mants. Seine Zugfestigkeit von 42 N/m2 oder 1.25 × 1011 Pa ist die höchste, die je ermittelt
wurde, und rund 125 mal höher als die von Stahl. Aus der extremen Richtungsabhängig-
keit der Bindungskräfte resultiert eine starke Anisotropie der elektrischen und thermischen
Eigenschaften von Graphit. Die thermische und elektrische Leitfähigkeit senkrecht zu den

(a) (b)

Abb. 1.27: Hexagonale Kristallstruktur des Graphit in Seitenansicht (a) und Draufsicht (b). Die
rot markierten Kohlenstoffatome haben kein Nachbaratom in der darunter- und darüberliegenden
Schicht. Der Atomabstand innerhalb der Ebenen beträgt 1.42 Å, der Abstand der Ebenen aufgrund
der wesentlich schwächeren Bindung dagegen 3.35 Å.
34 1 Kristallstruktur

Basalebenen ist sehr gering, während sie einer fast metallischen Leitfähigkeit entlang der
Ebenen entspricht.
Sehr interessante Eigenschaften zeigen isolierte, zweidimensionale Kohlenstoffschichten, die
als Graphen bezeichnet werden. Alle Kohlenstoffatome sind hier sp2 -hybridisiert (verglei-
che Abschnitt 3.4.3), so dass jedes Kohlenstoffatom drei gleichwertige σ-Bindungen zu be-
nachbarten C-Atomen ausbilden kann. In Graphen ist deshalb jedes Kohlenstoffatom von
drei weiteren umgeben, woraus die auch aus den Schichten des Graphits bekannte Waben-
Struktur resultiert. Die Kohlenstoff-Kohlenstoff-Bindungslängen sind alle gleich und betra-
gen 1.42 Å. Die dritten, nicht hybridisierten 2p-Orbitale stehen wie auch im Graphit senk-
recht zur Graphenebene und bilden ein delokalisiertes π-Bindungssystem aus. Am Rand des
Wabengitters müssen andere Atomgruppen angedockt sein, die aber – je nach dessen Größe
– die Eigenschaften des Graphens kaum beeinträchtigen.
Wie oben bereits diskutiert besteht Graphen aus zwei äquivalenten Untergittern A und B, die
um die Bindungslänge a B gegeneinander verschoben sind (vergleiche Abb. 1.1). Die zwei-
atomige Einheitszelle wird durch zwei primitive Gittervektoren a 1 und a 2 aufgespannt, die
jeweils auf den übernächsten Nachbarn zeigen. Die Länge der Vektoren und damit die Git-
terkonstante a lässt sich berechnen zu
⌋︂
a = 3 a B = 2.46 Å . (1.2.1)

In der Theorie wurden einlagige Kohlenstoffschichten zum ersten Mal verwendet, um den
Aufbau und die elektronischen Eigenschaften komplexer aus Kohlenstoff bestehender Mate-
rialien beschreiben zu können. In der Praxis wurden solche strikt zweidimensionalen Struk-
turen allerdings nicht für möglich gehalten, da sie als thermodynamisch instabil galten.31 , 32
Um so erstaunlicher war, dass Konstantin Novoselov und Andre Geim im Jahr 2004 die Prä-
paration von freien Graphenschichten bekannt gaben.33 Deren unerwartete Stabilität könn-
te durch die Existenz metastabiler Zustände oder durch Faltenbildung des Graphens erklärt
werden. Im Jahr 2010 wurden Geim und Novoselov „für ihre grundlegenden Experimente mit
dem zweidimensionalen Material Graphen“ mit dem Nobelpreis für Physik ausgezeichnet.
Wir können uns leicht vorstellen, dass sich durch Stapeln solcher einlagigen Graphen-
Schichten die dreidimensionale Struktur des Graphits erzeugen lässt. Stellen wir uns
dagegen die einlagigen Schichten aufgerollt vor, so erhalten wir gestreckte Kohlenstoffnano-
röhren. Wir können in Gedanken auch einige der Sechserringe durch Fünferringe ersetzen,
wodurch sich die ebene Fläche zu einer Kugelfläche wölbt und sich bei bestimmten Zahlen-
verhältnissen Fullerene ergeben: Ersetzen wir zum Beispiel 12 von 32 Ringen, entsteht das
kleinste Fulleren C60 .

31
L. D. Landau, Zur Theorie der Phasenumwandlungen II, Phys. Z. Sowjetunion 11, 11 (1937).
32
R. E. Peierls, Quelques propriétés typiques des corpses solides, Ann. I. H. Poincaré 5, 177–222 (1935).
33
K. S. Novoselov, A. K. Geim, S. V. Morozov, D. Jiang, Y. Zhang, S. V. Dubonos, I. V. Grigorieva,
A. A. Firsov, Electric Field Effect in Atomically Thin Carbon Films, Science 306, 666–669 (2004).
1.3 Festkörperoberflächen 35

Andre Geim und Konstantin Novoselov, Nobelpreis für Physik 2010


Die Physiker Andre Geim und Konstan-
tin Novoselov erhielten den Nobelpreis
für Physik 2010 für ihre grundlegenden
Experimente zum zweidimensionalen Ma-
terial Graphen. Die beiden in Russland
geborenen Wissenschaftler haben unter-
sucht, wie sich eine nur eine Atomlage di-
cke Membran aus Kohlenstoff verhält und
welche Eigenschaften ein solches Material
hat. Graphen gilt heute als dünnstes und Andre Geim Konstantin Novoselov
gleichzeitig mechanisch stärkstes Materi-
© The Nobel Foundation. Photo: Ulla Montan.
al, viele sprechen deshalb von der ultima-
tiven Membran.
Andre Geim wurde am 1. Oktober 1958 in Sochi, Rußland, geboren und ist heute nieder-
ländischer Staatsbürger. Er studierte Physik am Institut für Festkörperphysik der Russi-
schen Akademie der Wissenschaften (RAS). Nach Abschluss seiner Doktorarbeit (1987)
arbeitete er zunächst bis 1990 am Moskauer Institut für Physik und Technologie der RAS
und anschließend als Postdoktorand an den Universitäten Nottingham, Bath und Kopen-
hagen. Im Jahr 1994 wurde er Associate Professor an der Radboud University Nijmegen,
wo er sich mit mesoskopischen Supraleiterstrukturen beschäftigte. Einer seiner Doktoran-
den in Nijmegen war Konstantin Novoselov, mit dem er später eng zusammenarbeitete. Im
Jahr 2001 wurde er Full Professor an der University of Manchester, wo er 2002 zum Direktor
des Manchester Centre for Mesoscience and Nanotechnology und 2007 zum Langworthy
Professor ernannt wurde. Im Jahr 2010 ernannte ihn die Radboud University Nijmegen
zum Professor für Innovative Materials and Nanoscience.
Konstantin Novoselov ist britischer und russischer Staatsbürger, er wurde am 23. August
1974 in Nizhny Tagil, Rußland, geboren. Er studierte Physik am Moskauer Institut für Phy-
sik und Technologie (Abschluss 1997). Von 1997 bis 1999 forschte er am Institut für Mi-
kroelektronische Technologie in Tschernogolowka. Er wechselte dann in die Arbeitsgrup-
pe von Andre Geim an die University of Nijmegen, Niederlande, die ihn 2004 zum Doktor
promovierte. Im Jahr 2001 wechselte er mit Andre Geim an die University of Manchester.

1.3 Festkörperoberflächen
An Oberflächen von Kristallen kann die Anordnung der Atome und der Abstand der Ato-
me von den Werten innerhalb des Kristalls abweichen. Dies ist evident, da die anziehen-
den Wechselwirkungskräfte, die an der Oberfläche nur ins Innere des Festkörpers gerichtet
sind, nicht von entgegengesetzt gerichteten Kräften kompensiert werden. Wir erwarten des-
halb einen geringeren Abstand der obersten Atomlage. Bei Metallen kann es aber auch zu
einer Vergrößerung des Netzebenenabstands kommen. Man spricht von einer Oberflächen-
relaxation.
36 1 Kristallstruktur

Neben einer Variation des Netzebenenabstands kann auch eine Oberflächenrekonstruktion


auftreten. Da an der Oberfläche von Kristallen ungesättigte Bindungen (z. B. kovalente und
ionische Bindungen, siehe Kapitel 3) existieren, ordnen sich die Oberflächenatome anders
an, um die Bindungsenergie zu minimieren. Die entstehenden Strukturen nennt man Über-
strukturen. Zum Beispiel ordnen sich Atome an Oberflächen in Reihen mit abwechselnd
größerem und kleinerem Abstand an, um so durch die Annäherung von zwei benachbarten
Oberflächenatomen Bindungen zu ermöglichen, die sonst im Inneren des Festkörpers so
nicht möglich wären. Im Allgemeinen können Festkörperoberflächen als zweidimensionale
Kristallsysteme betrachtet werden. Wie bereits diskutiert, gibt es im Zweidimensionalen nur
5 Bravais-Gitter, 10 Kristallklassen und 17 Raumgruppen, während wir es bei dreidimensio-
nalen Kristallsystemen mit 14 Bravais-Gittern, 32 Kristallklassen und 230 Raumgruppen zu
tun haben.
Bei der Festlegung der Oberflächenstruktur wird das zweidimensionale Kristallgitter des un-
gestörten Kristalls, das parallel zur Oberfläche liegt, herangezogen. Sind a1 und a2 die ele-
mentaren Gittervektoren dieses Gitters und c1 und c2 die elementaren Gittervektoren des
zweidimensionalen Oberflächengitters, das durch die auf dieses Gitter aufgebrachten Ober-
flächenatome gebildet wird, so können wir die Elementarzelle (auch Masche genannt) des
zweidimensionalen Oberflächengitters durch
c1 c2
( × ) Rα (1.3.1)
a1 a2
klassifizieren. In dieser nach E. A. Wood benannten Notation werden die Basisvektoren der
Überstrukturzelle als Vielfaches der Basisvektoren des Grundgitters angegeben.34 Zusätzlich
kann noch der Buchstabe R (engl. rotated) und ein Winkel für die Drehung der Zelle als
Ganzes gegenüber dem Grundgitter angegeben werden. Ein vorgestellter Buchstabe p oder
Oberflächenrekonstruktion
c steht für primitiv beziehungsweise zentriert. Zentriert bedeutet hierbei, dass das Zentrum

𝒂𝟏
𝑝 1×1
𝒄′𝟏
𝒂𝟐
𝑐 2×2
𝒄′𝟐

𝑝 2 × 2 𝑅45° 𝒄𝟏 𝒄𝟐

Abb. 1.28: Zur Oberflächenrekonstruktion: Die roten Atome bilden das zweidimensionale Kristallgit-
ter des ungestörten Kristalls mit Gittervektoren a1 und a2 . Dieses kann als „Substrat“ für die blauen
Atome betrachtet werden, die auf ⌋︂dieses
⌋︂ Gitter aufgebracht werden. Letztere bilden das Oberflächen-
gitter. Das Oberflächengitter p ( rot:
2 × 2) R45Kristallgitter
○ des ungestörten
mit Gittervektoren c1 und cKristalls ○
2 ist um 45 gedreht, das
blau: Oberflächengitter
Oberflächengitter c (2 × 2) ist ein zentriertes Gitter.
34
E. A. Wood, Vocabulary of surface crystallography, J. Appl. Phys. 35, 1306–1312 (1964).
1.4 Reale Kristalle 37

der Zelle zu den Eckpunkten äquivalent ist. Der Buchstabe p für eine primitive Elementarzel-
le kann auch weggelassen werden und wird normalerweise nur dann verwendet, wenn es ei-
ne zentrierte Zelle gleicher Größe gäbe. Beispiele sind in Abb. 1.28 gezeigt. Mit der Notation
nach Wood können nicht alle Überstrukturzellen dargestellt werden. Wenn die Überstruk-
turzelle nicht so gewählt werden kann, dass der Winkel zwischen ihren Basisvektoren und
denen des Grundgitters gleich ist, muss eine Matrixschreibweise verwendet werden (nach
P. L. Parks und H. H. Madden).
Um die Klassifizierung des Oberflächengitters noch präziser zu machen, gibt man noch die
Zusammensetzung und die Millerschen Indizes der Kristalloberfläche an, die als Substrat
dient, sowie die Art der Oberflächenatome, die⌋︂auf ⌋︂
diese Oberfläche aufgebracht werden.
Zum Beispiel besagt die Bezeichnung Si(100) ( 2 × 2) R45○ -Ag, dass bei der Adsorption
⌋︂
von Ag-Atomen auf einer Si(100)-Oberfläche das Oberflächengitter der Ag-Atome um 45○
gedreht ist und die Gitterkonstante um den Faktor 2 vergrößert ist.

1.4 Reale Kristalle


In realen Kristallen treten immer eine Reihe von Störungen in ihrem regelmäßigen Aufbau
auf, die wir als Fehlordnung, Fehlstellen oder Gitterfehler bezeichnen. Falls die Dichte dieser
Baufehler gering ist, könnte man annehmen, dass sie keine große Bedeutung haben. Dies ist
in vielen Fällen allerdings nicht richtig. Es ist vielmehr so, dass häufig Kristalldefekte einige
Festkörpereigenschaften maßgeblich beeinflussen. Deshalb wollen wir im Folgenden kurz
eine Übersicht über mögliche Kristalldefekte geben.

1.4.1 Strukturelle Fehlordnung


Wir können prinzipiell zwischen intrinsischen und extrinsischen Fehlstellen unterscheiden.
Erstere resultieren im thermodynamischen Gleichgewicht aus der Minimierung der freien
Enthalpie. Zu ihnen gehören Leerstellen und Zwischengitteratome, deren Gleichgewichts-
konzentrationen sich als thermische Fehlordnung als Funktion der Temperatur einstellen.
Letztere bezeichnet man dagegen als Nichtgleichgewichtsfehlstellen, da ihre Bildungsener-
gie im Allgemeinen so hoch ist, dass sie im thermischen Gleichgewicht nur in metastabiler
Form vorliegen können. Zu ihnen gehören Versetzungen, Korngrenzen und Ausscheidungs-
partikel.
Hinsichtlich der Dimensionalität von Fehlstellen können wir grob zwischen Punktdefekten,
Liniendefekten und Flächendefekten unterscheiden. Bei Punktdefekten sprechen wir auch
von einer atomaren Fehlordnung, da sich der gestörte Bereich auf eine atomare Größenord-
nung beschränkt. Bei Linien- oder Flächendefekten sprechen wir dagegen von makroskopi-
schen Defekten.
38 1 Kristallstruktur

1.4.1.1 Erzeugung und Ausheilen von Kristalldefekten


Kristalldefekte können auf verschiedene Arten entstehen:

∎ durch schnelles Abkühlen einer Schmelze (eingefrorene Unordnung der Flüssigkeit),


∎ durch Temperaturerhöhung,
∎ durch Beschuss mit energiereichen Teilchen,
∎ durch plastische Verformung.

Defekte können natürlich auch wieder ausgeheilt werden. Dies kann zum Beispiel durch
einen Temperprozess der Probe bei hoher Temperatur knapp unterhalb der Schmelztempe-
ratur geschehen. Manche Defekte können auch durch Druck oder Zug ausgeheilt werden.
Mit zunehmender Anzahl der strukturellen Defekte erhalten wir einen fließenden Übergang
zwischen einem perfekten Einkristall und einem amorphen Festkörper. Bei einem perfek-
ten Einkristall ist der mittlere Abstand L zwischen zwei Defekten unendlich groß. Bei einem
realen Kristall ist der Abstand endlich aber immer noch groß gegen die Gitterkonstante a.
Zum Beispiel ist bei einem Polykristall L durch die Kristallitgröße gegeben. Wird die De-
fektdichte so groß, dass der mittlere Abstand der Defekte in den Bereich der Gitterkonstante
kommt, so erhalten wir einen amorphen Festkörper.

1.4.1.2 Punktdefekte
Bei Punktdefekten unterscheiden wir zwischen Leerstellen (fehlende Atome auf regulären
Gitterplätzen) und Zwischengitteratomen (zusätzliche Atome auf Zwischengitterplätzen).
Bei mehratomigen Substanzen müssen wir dabei noch zwischen den einzelnen Untergit-
tern unterscheiden (siehe Abb. 1.29). Bei AB-Verbindungen, z. B. NaCl, KCl, AgCl, MnO
oder GaAs treten häufig Kombinationen von Punktdefekten auf. Die Kombination von zwei
Leerstellen auf dem A- und B-Platz bezeichnet man als Schottky-Defekt,35 die Kombination
einer Leerstelle auf dem A-Platz mit einem A-Atom auf einem Zwischengitterplatz bezeich-
net man als Frenkel-Defekt.36 Diese Kombinationen treten insbesondere bei Ionenkristallen
wie NaCl auf, um die Ladungsneutralität zu gewährleisten.
Leerstellen sind bei einer endlichen Temperatur immer in bestimmter Dichte in einem Kris-
tall vorhanden. Ihre Konzentration lässt sich mit Hilfe einer thermodynamischen Betrach-
tung ermitteln, wenn wir davon ausgehen, dass im thermodynamischen Gleichgewicht bei

(a) (b) (c)

Abb. 1.29: Beispiele für


Punktdefekte: (a) Leer-
stelle, (b) Zwischengitter-
atom und (c) Fremdatom. Leerstelle Zwischengitteratom Fremdatom

35
Walter Schottky, geboren am 23. Juli 1886 in Zürich, gestorben am 14. März 1976 in Pretzfeld.
36
Jakow Iljitsch Frenkel, geboren am 10. Februar 1894 in Rostow, gestorben am 23. Januar 1952 in
St. Petersburg.
1.4 Reale Kristalle 39

vorgegebener Temperatur T und Kristallvolumen V die freie Energie


F = U − TS (1.4.1)
des Systems ein Minimum besitzt. Entfernen wir Atome von Gitterplätzen, so nimmt zwar
die innere Energie U um
∆U = n є (1.4.2)
zu, gleichzeitig wächst aber aufgrund der erhöhten Unordnung die Entropie S. Hierbei ist n
die Zahl der Fehlstellen und є die Energie, die zu ihrer Erzeugung aufgebracht werden muss.
Da der Entropieterm mit negativem Vorzeichen in den Ausdruck für F eingeht, erhalten wir
ein Minimum bei einer bestimmten Dichte der Fehlstellen.
Bei der Berechnung der Entropie müssen wir berücksichtigen, dass bei einem Kristall mit
Fehlstellen zusätzlich zur thermischen Entropie S th noch die so genannte Konfigurationsen-
tropie S kf hinzu kommt:
S = S th + S kf . (1.4.3)
Die thermische Entropie hängt davon ab, wie viele Möglichkeiten es gibt, die thermische
Energie auf mögliche Schwingungszustände des Kristalls zu verteilen. Es lässt sich zeigen,
dass die Zahl Wth der Verteilungsmöglichkeiten durch das Vorhandensein von Fehlstellen
erhöht wird. Dies bedeutet, dass gemäß der Boltzmann-Beziehung 37
S th = k B ln Wth (1.4.4)
auch die thermische Entropie erhöht ist. Hierbei ist k B die Boltzmann-Konstante. Ist σth die
Entropieerhöhung pro Fehlstelle, so kann die Entropieerhöhung als
∆S th = nσ th (1.4.5)
geschrieben werden. Die Konfigurationsentropie wird durch die Zahl der Möglichkeiten be-
stimmt, einen Zustand mit n Leerstellen durch verschiedene Anordnungen der Leerstellen
im Kristall zu realisieren. Ist N die Zahl der Gitterplätze im Kristall, so gilt
N!
Wkf = (1.4.6)
(N − n)! n!
und damit
N!
S kf = k B ln ( ). (1.4.7)
(N − n)! n!
Ist F(T) die freie Energie des idealen Kristalls, so können wir schreiben:
F(n, T) = F(T) + ∆U − T(∆S th + S kf )
N!
= F(T) + n(є − Tσth ) − T k B ln ( ). (1.4.8)
(N − n)! n!
37
Ludwig Eduard Boltzmann, geboren am 20. Februar 1844 in Wien, gestorben am 5. September
1906 in Duino bei Triest, Italien.
40 1 Kristallstruktur

Im thermischen Gleichgewicht gilt (∂F⇑∂n)T=const = 0. Unter Benutzung der Stirlingschen


Formel ln x! = x ln x − x für x ≫ 1 erhalten wir daraus

n = (N − n) eσth ⇑k B e−є⇑k B T . (1.4.9)

Für n ≪ N erhalten wir schließlich die Leerstellenkonzentration


n
= eσth ⇑k B e−є⇑k B T . (1.4.10)
N
Bei Edelmetallen beträgt є etwa 1 eV und der Entropiefaktor eσth ⇑k B liegt bei etwa 10. Damit
ergibt sich für eine Temperatur von 1000 K eine Leerstellenkonzentration von etwa 10−4 . Bei
Materialien mit höherem Schmelzpunkt ist die Bindungsenergie und damit є größer. Nach
Gleichung (1.4.10) ist deshalb die Leerstellenkonzentration wesentlich kleiner.
Bei Ionenkristallen müssen wir berücksichtigen, dass wir bei der Erzeugung von Leerstellen
die Ladungsneutralität bewahren müssen, um die hohe Coumlomb-Energie zu vermeiden.
Eine ähnliche Betrachtung wie oben liefert für diesen Fall für die Anzahl der Leerstellen am
Ort des positiven und negativen Ions
n+ n−
= = eσ̃th ⇑k B e−є̃⇑k B T . (1.4.11)
N N
+ −
Hierbei sind σ̃th = σth + σth die Entropie und є̃ = є+ + є− die Bildungsenergie pro Ionenpaar.
Die Wahrscheinlichkeit für die Defektbildung wird also durch die jeweiligen Parameter für
Ionenpaare bestimmt. Die Forderung nach Ladungsneutralität spielt auch beim Einbau von
Fremdatomen ins Wirtsgitter eine Rolle. Bringen wir zum Beispiel Ca2+ -Ionen auf Na+ -
Plätze in einem NaCl-Kristall, so ist jedes eingebaute Ca2+ -Ion mit einer Na+ -Leerstelle
verbunden. Die Leerstellendichte wird dann durch die Anzahl der Fremdatome bestimmt.
Die Tatsache, dass jedes eingebaute Ca2+ -Ion mit einer Na+ -Leerstelle verbunden ist, führt
insgesamt zu einer Verkleinerung der Kristalldichte, obwohl das Ca2+ -Ion ja eine größere
Atommasse besitzt.
Bei einem Frenkel-Defekt wird ein Atom von einem regulären Gitterplatz auf einen Zwi-
schengitterplatz geschoben. Das heißt, es treten neben Leerstellen gleichzeitig Zwischengit-
teratome auf. Bei Kristallen mit dicht gepackter Struktur (z. B. bei Metallen) ist der Ener-
giebedarf für die Ansiedlung eines Atoms auf einem Zwischengitterplatz hoch, sie liegt bei
einigen eV. In Metallen lassen sich deshalb allein durch Temperaturerhöhung kaum Frenkel-
Defekte erzeugen. Ihre Erzeugung kann aber durch den Beschuss mit energiereichen Teil-
chen geschehen. In offenen Gitterstrukturen (z. B. beim Diamantgitter) ist die Erzeugung
von Frenkel-Defekten dagegen mit weniger Energieaufwand verbunden und deshalb we-
sentlich einfacher.
In Ionenkristallen wie den Alkalihalogeniden tritt eine weitere Art von Fehlstelle auf, das
so genannte Farbzentrum. Der Name rührt daher, dass dieser Defekt zu einer charakteristi-
schen Absorption von sichtbarem Licht führt. Die am besten untersuchten Farbzentren sind
die F-Zentren, bei denen ein einzelnes Elektron in einer Halogenlücke eingefangen wird, wie
dies in Abb. 1.30 gezeigt ist. Das Elektron hat allerdings seine maximale Aufenthaltswahr-
scheinlichkeit nicht im Mittelpunkt der Lücke, sondern in der Nähe der die Lücke umgeben-
den positiven Metallionen. Es gibt auch eine Reihe weiterer, komplizierterer Farbzentren, an
1.4 Reale Kristalle 41

- + - + -

+ - + - +

- + - + -

+ - + - +

- + - + -
Abb. 1.30: Struktur eines F-Zentrums.

denen mehrere Leerstellen oder Ionen beteiligt sind. Auf diese wollen wir hier aber nicht
eingehen.
Der in Abb. 1.31 gezeigte Zusammenhang zwischen der Photonenenergie E max bzw. der Wel-
lenlänge λ max des Maximums der Absorptionsbande und dem Abstand R NN zwischen den
nächsten Nachbarn macht klar, dass die Größe der beteiligten Ionen und damit die Gitter-
konstante des Ionenkristalls eine wichtige Rolle spielt. Man beobachtet λ max = αR NN2
mit
12 −1
α = 6 × 10 m für Alkalihalogenide mit NaCl-Struktur. Diesen Zusammenhang erhalten
wir, wenn wir annehmen, dass sich das Elektron des Farbzentrums in einem Kastenpotenzial
mit Abmessung R NN bewegt. Aus der Quantenmechanik folgt nämlich, dass der Abstand der
2
Energieniveaus proportional zu 1⇑R NN und somit λ max ∝ R NN
2
ist. Kristalle mit Farbzentren
haben eine wichtige technische Bedeutung als aktive Medien in Infrarot-Lasern. In diesen
Farbzentrenlasern werden allerdings etwas komplizierter aufgebaute Farbzentren benutzt.

max (nm)
619 412 309
KI

RbBr RbCl
KBr KCl

3
NaBr
RNN (Å)

NaCl

KF LiCl

Abb. 1.31: Photonenenergie bzw.


NaF
Wellenlänge am Maximum der op-
tische Absorption durch Farbzentren
2 LiF
in Alkalihalogenidkristallen als Funk-
tion des Abstands R NN der nächsten
2 3 4 5 Nachbarn (nach G. Miessner, H. Pick,
Emax (eV) Z. Physik 134, 604 (1953)).
42 1 Kristallstruktur

1.4.1.3 Linien- und Flächendefekte


Typische Liniendefekte sind Versetzungen, bei denen eine Gitterstörung längs einer Linie
auftritt. Als Beispiel sind in Abb. 1.32 eine Stufenversetzung (a) und eine Schraubenverset-
zung (b) gezeigt. Wir können uns die Entstehung der Stufenversetzung so vorstellen, dass
wir den Kristall entlang der Ebene ABCD in horizontaler Richtung bis zur Linie CD auf-
schneiden und dann das obere Teilstück um eine Gitterkonstante a nach rechts schieben,
während das untere Teilstück unverändert bleibt. Anschließend führen wir das obere und
untere Teilstück wieder zusammen und lassen einen Spannungsausgleich zu. Die obere Seite
wird dabei komprimiert, die untere Seite wird gedehnt. Die Versetzungslinie verläuft entlang
der Linie CD. Den Vektor b, um den wir das herausgeschnittene Kristallstück verschoben
haben, nennt man den Burgers-Vektor. Er steht bei der Stufenversetzung senkrecht auf der
Versetzungslinie. Die Versetzung können wir dadurch charakterisieren, dass wir einmal um
den Versetzungskern herumlaufen und zwar so, dass wir immer gleich viele Schritte nach
links und rechts bzw. nach oben und unten ausführen (siehe grüne Linien in Abb. 1.32). Bei
einem Kristall ohne Versetzung würden wir genau wieder am Ausgangspunkt ankommen,
bei einem Kristall mit Versetzung brauchen wir dagegen noch einen zusätzlichen Schritt,
der genau durch den Burgers-Vektor b gegeben ist. Legen wir den Umlaufsinn der Bewe-
gung fest, so ist unabhängig von der Größe des Umlaufwegs neben der Länge des Burgers-
Vektors auch seine Richtung festgelegt.

(a) (c)

b
A D
B C

(b)
D A
b
C
B

Abb. 1.32: (a) Stufenversetzung und (b) Schraubenversetzung. Der Burgers-Vektor b verläuft bei der
Stufenversetzung senkrecht und bei der Schraubenversetzung parallel zur Versetzungslinie CD. Die
grünen Linien geben einen mögliche Wege für einen Umlauf um den Versetzungskern mit gleich vielen
Schritte nach links und rechts bzw. oben und unten an. In (c) ist eine Korngrenze (45○ Korngrenze in
SiC projiziert in [110]-Richtung) gezeigt.
1.4 Reale Kristalle 43

Neben Stufenversetzungen treten auch Schraubenversetzungen auf. Die Entstehung einer


Schraubenversetzung können wir uns so verstellen, dass wir das heraussgeschnittene Kris-
tallstück nicht um eine Gitterkonstante nach rechts, sondern nach hinten, also parallel zur
Versetzungslinie CD verschieben. Der Burgers-Vektor b verläuft bei der Schraubenverset-
zung parallel zur Versetzungslinie.
Im einfachsten Fall läuft eine Versetzungslinie durch den ganzen Kristall hindurch, d. h. von
einer Oberfläche zur anderen. Aus topologischen Gründen kann eine Versetzungslinie nicht
im Kristall enden. Es kann aber passieren, dass sie ihre Richtung ändert, wobei die relative
Orientierung von Versetzungslinie und Burgers-Vektor (z. B. 90○ bei einer Stufenversetzung)
gleich bleibt. Es können dann in sich geschlossene Versetzungslinien, so genannte Verset-
zungsringe auftreten, die vollständig im Kristallinneren verlaufen. Das einfachste Beispiel
dafür ist eine eingeschobene Gitterebene, deren Ausdehnung so klein ist, dass sie nirgends
an den Rand des Kristalls reicht. Der Rand dieser eingeschobenen Gitterebene bildet dann
eine geschlossene Versetzungslinie.
Die Konfigurationsentropie von Versetzungen ist sehr klein. Dies liegt daran, dass eine Ver-
setzung als eine lineare Anordnung von Punktdefekten betrachtet werden kann. Dies be-
deutet aber eine starke Korrelation der Punktdefekte, wodurch die Zahl der Realisierungs-
möglichkeiten einer bestimmten Konfiguration der Punktdefekte stark herabgesetzt wird.
Der Beitrag der Entropie zur freien Energie wird dadurch verschwindend klein und damit
nimmt die freie Energie ein Minimum ein, wenn auch die innere Energie ein Minimum hat.
Die innere Energie ist aber minimal, wenn im Kristall keine Versetzungen vorhanden sind.
Trotzdem haben reale Kristalle immer eine bestimmte Versetzungsdichte (Versetzungslinien
pro Flächeneinheit). Sie ist etwa 102 ⇑cm2 für sehr gute Siliziumkristalle und bis zu 1012 ⇑cm2
in stark deformierten Metallen.
Typische Flächendefekte sind Korngrenzen (siehe Abb. 1.32c) und Stapelfehler. Korngren-
zen treten an den Nahtstellen von einkristallinen Bereichen unterschiedlicher Orientierung
auf. Korngrenzen spielen in polykristallinen Materialien oft eine bedeutende Rolle. Ver-
tauscht man in einer kubisch flächenzentrierten Struktur die Stapelfolge ABCABC. . . zu
ACABCA. . ., so entspricht die Struktur im Bereich ACA jetzt der hexagonal dichtesten Ku-
gelpackung. Solche zweidimensionalen Fehlordnungen heißen Stapelfehler.

1.4.2 Chemische Fehlordnung


Unter chemischer Fehlordnung verstehen wir Fehler in der chemischen Zusammensetzung
eines Kristalls. Dies kann z. B. durch Verunreinigungen verursacht werden, wobei ein Atom
des Kristalls durch ein falsches Atom ersetzt wird. Solche Atome nennen wir substitutionel-
le Fremdatome. Von interstitiellen Fremdatomen sprechen wir, wenn das Fremdatom auf
einem Zwischengitterplatz eingebaut wird. Interstitielle Fremdatome sind bevorzugt sehr
kleine Atome wie Wasserstoff, Bor, Kohlenstoff, Stickstoff oder Sauerstoff.
Ferner tritt chemische Fehlordnung durch Abweichungen von der idealen Stöchiometrie bei
mehrkomponentigen Systemen auf. Hat ein Kristall zum Beispiel die Zusammensetzung AB3
und stimmt das Verhältnis von A⇑B = 1⇑3 nicht exakt, so besetzen die A-Atome teilweise die
B-Plätze oder umgekehrt. Chemische Fehlordnung kann auch bei perfekter Stöchiometrie
44 1 Kristallstruktur

durch Platztausch von Atomen geschehen. Solche Defekte nennen wir Antistrukturatome
oder Anti-site Defekte (Atome der Sorte A auf dem Gitterplatz der Sorte B und umgekehrt
in einer zweiatomigen Verbindung AB, z. B. GaAs).
Substitionelle und interstitielle Fremdatome sowie Antistrukturatome können wir zu den
atomaren Defekten zählen. Ausgedehnte Defekte aufgrund chemischer Fehlordnung sind
z. B. Ausscheidungen und Fremdphasen.
Chemische Fehlordnung spielt in einigen Materialsystemen eine bedeutende Rolle. So wird
zum Beispiel die elektrische Leitfähigkeit von Halbleitermaterialien durch die Dotierung
mit einer geringen Konzentration von Fremdatomen um Größenordnungen geändert. Die
Dotieratome ersetzen dabei im Kristallgitter teilweise die Atome des Halbleitermaterials.

1.5 Nicht-kristalline Festkörper


Es besteht allgemeine Übereinkunft darüber, dass die Bezeichnungen amorphe, nicht-kris-
talline und ungeordnete Festkörper sowie Gläser und Flüssigkeiten keine Bedeutung hin-
sichtlich der Struktur des Festkörpers haben. Sie sagen nur aus, dass die Struktur nicht kris-
tallin ist auf irgendeiner signifikanten Längenskala. Die einzige strukturelle Ordnung die
in solchen Festkörpern vorhanden ist, wird durch den in etwa konstanten Abstand zwi-
schen benachbarten Atomen auferlegt. Wir wollen im Folgenden einiges Wissenswertes über
nicht-kristalline Festkörper zusammenfassen.

1.5.1 Die radiale Verteilungsfunktion


Die lokale Anordnung von Atomen in Festkörpern lässt sich ganz allgemein durch die Paar-
korrelationsfunktion

1
g (r1 , r2 ) = ∐︁n(r1 ) n(r2 )̃︁ (1.5.1)
n 02

charakterisieren. Nehmen wir der Einfachheit halber an, dass unser Festkörper nur aus ei-
ner Atomsorte aufgebaut ist, so gibt g(r1 , r2 ) die Wahrscheinlichkeit dafür an, dass sich am
Ort r2 ein Teilchen befindet, wenn am Ort r1 bereits ein Teilchen vorhanden ist. Die Wahr-
scheinlichkeit wird mit Hilfe der mittleren Teilchendichte n 0 für große Abstände auf den
Wert eins normiert.
Amorphe Festkörper sind vom makroskopischen Standpunkt aus gesehen im Allgemeinen
homogen und isotrop. Wir können deshalb annehmen, dass die Paarkorrelationsfunktion
nur vom Abstand r = ⋃︀r2 − r1 ⋃︀ abhängt. Sie gibt dann die mittlere Teilchendichte n(r) an, die
wir im Mittel im Abstand r von einem gewählten Bezugsatom anfinden, d. h.

n(r)
g(r) = . (1.5.2)
n0
1.5 Nicht-kristalline Festkörper 45

𝑽𝜟𝒓
Volumen der
Kugelschale

𝑵𝜟𝒓
Anzahl der Abb. 1.33: Zur Ableitung der radialen Vertei-
Atome lungsfunktion.

Häufig wird zur Beschreibung der Verteilung von Atomen in einem amorphen Festkörper
auch die radiale Verteilungsfunktion ρ(r) verwendet. Hierzu betrachten wir eine Kugelscha-
le der Dicke ∆r um ein beliebiges Atom (siehe Abb. 1.33). Das Volumen der Kugelschale ist
für ∆r ≪ r
4
V∆r = π ((r + ∆r)3 − r 3 ) ≃ 4πr 2 ∆r . (1.5.3)
3
Die Zahl der Atome, die in dieser Kugelschale liegen, sei N ∆r . Wir können damit die mittlere
Dichte der Atome im Abstand r angeben als
N ∆r
n(r) = ̂︁ lim [︁ . (1.5.4)
∆r→0 V∆r
Hierbei deutet ∐︀̃︀ den Mittelwert über alle Atome an. Mit dieser mittleren Dichte können wir
die radiale Verteilungsfunktion als

N ∆r
ρ(r) = 4πr 2 n(r) = 4πr 2 ̂︁ lim [︁ = 4πr 2 n 0 g(r) . (1.5.5)
∆r→0 V∆r
definieren. Die radiale Verteilungsfunktion gibt die mittlere Zahl der Atome pro Längen-
einheit an. Um die Bedeutung dieser Verteilungsfunktion zu verstehen, betrachten wir zwei
Grenzfälle:

1. Kristalliner Festkörper:
Die Kugelschale enthält nur bei ganz bestimmten Abständen r = r j , die durch die Kris-
tallstruktur und die Gitterkonstanten vorgegeben sind, Atome. Die Größe n(r) bzw. g(r)
und damit ρ(r) wird bei diesen Werten unendlich groß, da die Zahl N ∆r auch für V∆r → 0
endlich bleibt. Wir erhalten also eine δ-Funktion
)︀
⌉︀
⌉︀0 für r ≠ r j
ρ(r) = N(r)δ(r − r j ) = ⌋︀ . (1.5.6)
⌉︀
⌉︀∞ für r = r j
]︀
Integrieren wir die δ-Funktion, so erhalten wir gerade die Zahl N(r j ) der Atome im
Abstand r j . Haben wir keinen perfekten Kristall, so werden die Atompositionen etwas
schwanken, was zu einer Verbreiterung der Peaks in ρ(r) bei r = r j führt.
46 1 Kristallstruktur

(a) 600 (b) 600

400 400
𝝆 𝒓
 (1/nm)

 (1/nm)
𝝆𝐙𝐮𝐟𝐚𝐥𝐥 𝒓
200 200

0 0
0.0 0.5 1.0 1.5 2.0 2.5 3.0 0.0 0.4 0.8 rc 1.2
r/a r (nm)

Abb. 1.34: Radiale Verteilungsfunktion bei einem einkristallinen (a) und einem amorphen Festkör-
per (b).

2. Amorpher Festkörper:
Für einen amorphen Festkörper ist n(r) = n 0 = const bzw. g(r) = 1. Damit erhalten wir
für die radiale Verteilungsfunktion
ρ(r) = 4πr 2 n 0 ≡ ρZufall . (1.5.7)
Dieses Ergebnis ist einsichtig, da wir in einem amorphen Körper eine völlig zufällige
Abstandsverteilung erwarten.
Experimentell wird dieses Verhalten aber nicht beobachtet. Man findet vielmehr, dass
die radiale Verteilungsfunktion für sehr kleine r < r c eher wie diejenige eines kristallinen
Festkörpers aussieht und erst bei größeren r in ρZufall übergeht:
)︀
⌉︀
⌉︀ρ Kristall für r < r c
ρ(r) = ⌋︀ . (1.5.8)
⌉︀
⌉︀ ρ für r > r c
]︀ Zufall
Dies ist einsichtig, da wir auch für einen amorphen Festkörper erwarten, dass um jedes
Atom herum eine gewisse Nahordnung mit einem gut definierten mittleren Atomab-
stand existiert. Es existiert allerdings keine Fernordnung, weshalb die Verteilungsfunk-
tion für große r > r c dann in ρZufall übergeht. Der charakteristische Radius r c liegt in der
Größenordnung des Atomabstandes (siehe hierzu Abb. 1.34).

1.5.2 Flüssigkristalle
Bisher haben wir nur Systeme betrachtet, die entweder kristallin oder amorph waren. Es gibt
aber auch Mischformen, also Strukturen, die hinsichtlich mancher Eigenschaften kristallin,
hinsichtlich anderer jedoch amorph sind. Beispiele sind Flüssigkristalle,38 die wir hier näher
diskutieren wollen, aber auch Flusslinien in Supraleitern.
38
Der österreichische Botaniker und Chemiker Friedrich Reinitzer (1857–1927) hat im Jahr 1888
an der Substanz Cholesterinbenzoat festgestellt, dass diese bei 145.5 ○ C schmilzt aber milchig trüb
1.5 Nicht-kristalline Festkörper 47

(a) (b) (c)

Abb. 1.35: Flüssig-


kristalle: (a) flüssige,
(b) nematische und
flüssig nematisch smektisch A smektisch C (c) smektische Phase.

Flüssigkristalle sind aus plättchen- oder stäbchenförmigen Molekülen aufgebaut. Es kann


deshalb eine kristalline Ordnung getrennt hinsichtlich Position und Orientierung dieser Mo-
leküle auftreten. Außerdem können diese Systeme in einer Raumrichtung amorph, in den
beiden anderen dagegen kristallin sein.
In Abb. 1.35b ist die nematische Phase eines Flüssigkristalls gezeigt. Hier liegt im Gegen-
satz zu einer Flüssigkeit, die völlig ungeordnet ist, eine Ordnung bezüglich der Orientierung
der einzelnen Moleküle vor. Die Molekülpositionen sind dagegen nach wie vor ungeordnet,
wir können bezüglich der Position der Moleküle von einem amorphen Zustand sprechen.
Abb. 1.35c zeigt eine smektische Phase.39 Hier liegt zusätzlich zur Ordnung bezüglich der
Orientierung der Moleküle auch eine Ordnung bezüglich ihrer Position in einzelnen Ebenen
vor. Allerdings haben die Positionen der Moleküle in verschiedenen Ebenen keinen Bezug
zueinander.
Heute sind etwa 50.000 organische Verbindungen bekannt, die beim Schmelzen nicht direkt
in den isotropen, flüssigen Zustand übergehen, sondern eine oder mehrere flüssigkristalline
Phasen durchlaufen. Das Bauprinzip dieser Verbindungsklasse ist im Prinzip einfach. Das
Molekül muss eine ausgeprägte Formanisotropie aufweisen. Es muss etwa vier- bis sechsmal
so lang sein, wie es dick ist, muss einen formstabilen starren Grundkörper besitzen, etwa wie
das Benzylidenanilin oder das Biphenyl, und muss in der Längsachse mit zumindest einer
flexiblen Alkylkette versehen sein, um den Schmelzpunkt herabzusetzen. Typische Vertreter
der Substanzklasse der Flüssigkristalle sind das Methyloxybenzylidenbutylanilin (MBBA)
und das Pentylcyanobiphenyl (5CB). Beide Verbindungen weisen bei Raumtemperatur eine
flüssigkristalline Phase auf.
Sicherlich wäre die Beschäftigung mit Flüssigkristallen ein exotischer Forschungszweig ge-
blieben, wenn nicht im Jahr 1971 die beiden Physiker M. Schadt und W. Helfrich bei Grund-

bleibt. Erst bei einer Temperatur von 178.5 ○ C wurde die Probe klar. Beim Abkühlen wiederholte
sich der Vorgang in umgekehrter Reihenfolge. Zwischen 145.5 ○ C und 178.5 ○ C besaß die Probe
die viskosen Eigenschaften von Flüssigkeiten und zusätzlich die optischen bzw. lichtbrechenden
Eigenschaften von Kristallen. Aus diesem Grund musste die Verbindung im flüssigen Zustand ei-
ne gewisse Ordnung ausbilden. Da sie sowohl die Eigenschaften von Flüssigkeiten und Kristallen
besitzt, bezeichnete man sie als Flüssigkristall.
39
In smektischen Phasen liegen sowohl Richtungs- als auch Schwerpunktskorrelationen vor. Insge-
samt sind 12 smektische Phasen bekannt. In der smektischen A-Phase (SmA), sind die Moleküle
im Mittel senkrecht zur Schichtebene orientiert. In der smektischen C-Phase (SmC) dagegen bil-
den sie im Mittel einen von 90○ verschiedenen Winkel zur Schichtebene aus, man spricht von einer
verkippten Phase. Es existieren auch höher geordnete Phasen, in denen die Moleküle innerhalb der
Schicht eine Positionsfernordnung besitzen, z. B. SmI und SmF.
48 1 Kristallstruktur

unpolarisiertes
Licht
Polarisator
Glasplatte
und Elektrode
polarisiertes
Licht
Flüssig-
Kristall

Glasplatte
und Elektrode
Polarisator

Spiegel
Spannung aus Spannung an

Elektrode Polarisator
Flüssigkristall Glasplatte
Abb. 1.36: Zur prinzi-
piellen Funktionsweise Spiegel
von LCD-Anzeigen.

lagenuntersuchungen über Flüssigkristalle in elektrischen Feldern eine Anordnung gefun-


den hätten, die die Funktion eines spannungsgesteuerten Lichtventils hatte. Nach ihren Er-
findern benannt, hat die Schadt-Helfrich-Zelle, als Flüssigkristalldisplay (LCD: Liquid Cry-
stal Display) ihren Siegeszug als Anzeigeelement weltweit angetreten. Heute begegnen uns
Flüssigkristallanzeigen in nahezu allen technischen Geräten, in einfachster Form als 7-Seg-
mentanzeige in Uhren und Taschenrechnern, aber auch in komplexer Form als Farbbild-
schirm des Laptops oder Taschenfernsehers.
Eine Flüssigkristallanzeige besteht, wie in Abb. 1.36 gezeigt ist, aus zwei Glasplatten, die
durch Abstandshalter in einem Abstand von typischerweise 10 µm zueinander gehalten wer-
den. Auf den sich gegenüberliegenden Glasflächen sind transparente leitfähige Schichten
aus Indium-Zinn-Oxid aufgebracht, die später die beliebig strukturierbaren Ziffern, Zeichen
oder Segmente darstellen sollen. Die Glasplatten sind auf den Innenseiten so präpariert, dass
die Flüssigkristallmoleküle an jeder Glasoberfläche mit ihren Längsachsen in einer bestimm-
ten Richtung parallel zur Oberfläche ausgerichtet sind, und zwar so, dass die Orientierungs-
richtungen an den beiden sich gegenüberstehenden Oberflächen senkrecht zueinander lie-
gen. Wird nun ein nematischer Flüssigkristall zwischen diese Glasplatten gebracht, so muss
er aufgrund der festgelegten Randbedingungen eine 90○ -Schraube beschreiben. Strahlt man
durch den ersten Polarisator erzeugtes polarisiertes Licht, dessen Polarisationsebene paral-
lel oder senkrecht zur Randorientierung liegt (Hauptschwingungsrichtungen), durch diese
Anordnung, so folgt die Polarisationsebene des Lichtes der Schraubenstruktur und erfährt
beim Durchgang durch die Flüssigkristallzelle eine Drehung um 90○ . Es kann dann den zwei-
ten, zum ersten senkrecht orientierten Polarisator durchdringen, auf den Spiegel treffen und
reflektiert werden. Liegt eine Spannung an, so wird die Orientierung der Flüssigkristalle ge-
1.6 Vertiefungsthema: Direkte Abbildung von Kristallstrukturen 49

ändert. Die Polarisationsebene des Lichts wird dann nicht gedreht, es kann den zweiten Po-
larisator nicht durchdringen und somit nicht reflektiert werden. In das Display zum Beispiel
eines Taschenrechners fällt das Tageslicht ein und wird je nach Stellung der Flüssigkristalle
entweder ungehindert durchgelassen oder eben nicht. Damit kann man einzelne Stellen auf
dem Display verdunkeln und so ein Bild vortäuschen.

1.6 Vertiefungsthema: Direkte Abbildung von


Kristallstrukturen
Heute stehen uns mehrere Verfahren zur Verfügung, mit denen wir atomare Strukturen di-
rekt abbilden können. Die wichtigsten Verfahren sind die

∎ Transmissions-Elektronenmikroskopie (TEM) und die


∎ Rastersondenmikroskopie (RSM).

Wir wollen diese Verfahren kurz vorstellen, bevor wir in Kapitel 2 auf die Strukturanalyse mit
Beugungsmethoden eingehen. Der Vorteil der direkten Abbildungsverfahren ist ohne Zwei-
fel die Tatsache, dass eine unmittelbare Strukturanalyse vorgenommen werden kann, ohne
dass erst über Rechenverfahren aus den Messergebnissen auf die Struktur zurückgerech-
net werden muss. Die direkten Messverfahren eignen sich auch sehr gut für die Abbildung
von Gitterdefekten (Realstruktur), während Beugungsmethoden hauptsächlich zur detail-
lierten Bestimmung der Gitterstruktur (Idealstrukltur) und der Gitterkonstanten geeignet
sind. Der Nachteil der direkten Verfahren ist deren Oberflächensensitivität (RSM) und das
geringe Probenvolumen (TEM), das bei der Messung erfasst wird.

1.6.1 Elektronenmikroskopie
Der typische Aufbau eines Transmissions-Elektronenmikroskops (TEM) ist in Abb. 1.37 ge-
zeigt. Mit einer Elektronenquelle (Kathode, z. B. Wolfram-Haarnadelquelle, LaB6 -Kathode
oder Feldemissionsquelle) werden freie Elektronen erzeugt, die auf eine Energie von typi-
scherweise einigen 100 keV beschleunigt werden. Mit Hilfe von Kondensorlinsen wird ei-
ne optimale „Elektronenbeleuchtung“ des zu untersuchenden Objekts realisiert. Im Objekt
werden die Elektronen von den Atomen des Kristallgitters gestreut. Atome mit hoher Kern-
ladungszahl streuen dabei die Elektronen stärker als solche mit niedriger Kernladungszahl.
In der Brennebene der Objektivlinse hinter dem Objekt werden die stark gestreuten Elek-
tronen durch Blenden absorbiert, so dass Atome mit hoher bzw. niedriger Kernladungszahl
dunkel bzw. hell erscheinen. Das zu untersuchende Objekt muss sehr dünn sein (typischer-
weise dünner als 100 nm), da die Elektronen sonst das Objekt nicht durchdringen können.
Das von weiteren Linsen vergrößerte Bild kann auf einem Leuchtschirm beobachtet werden
oder mit Hilfe einer CCD-Kamera oder Photoplatte registriert werden. Als Linsen werden
heute überwiegend Magnetlinsen verwendet. Die Brennweite dieser Linsen kann über den
Spulenstrom geregelt werden.
50 1 Kristallstruktur

Isolator
Elektronenquelle

Kondensor

Objektivlinse
Probenebene
Probe
Projektions-
linsen Beobachter

Abb. 1.37: Schematische Darstellung zur Funktions- Leuchtschirm oder


CCD Kamera
weise eines Transmissions-Elektronenmikroskops.

Das Auflösungsvermögen von auf Beugung basierenden Mikroskopen ist durch


λ
d= (1.6.1)
n sin α
gegeben, wobei λ die Wellenlänge des verwendeten „Lichts“ und n sin α die numerische
Apertur ist (n: Brechungsindex, α: Aperturwinkel). Für ein optisches Mikroskop ist die Wel-
lenlänge im Bereich um 500 nm und die numerische Apertur ist in der Größenordnung eins.
Die Auflösung liegt deshalb bei etwa 1 µm.
In der Elektronenmikroskopie werden hochenergetische Elektronen zur Abbildung verwen-
det. Ihre de Broglie-Wellenlänge beträgt
h h
λ el = = ⌋︂ . (1.6.2)
p 2mE
Hierbei ist p der Impuls der Elektronen, h das Plancksche Wirkungsquantum und m die
Elektronenmasse. Bei einer Elektronenenergie von E = 300 keV erhalten wir damit eine
Wellenlänge von λ el ≃ 2 pm. Allerdings können die Linsenfehler von magnetischen Linsen
schlecht korrigiert werden und die numerische Apertur der magnetischen Linsen ist wesent-
lich kleiner als eins, so dass die erreichte praktische Auflösung von Elektronenmikroskopen
heute im Bereich von 1 Å liegt.
Abb. 1.38 zeigt als Beispiel ein TEM-Bild einer mehrlagigen epitaktischen Schichtstruktur
aus zwei magnetischen La2⇑3 Ba1⇑3 MnO3 -Schichten, die durch eine nur wenige Atomlagen
dicke SrTiO3 Tunnelbarriere getrennt sind (magnetischer Tunnelkontakt). Im TEM-Bild
können deutlich die verschiedenen Atomreihen erkannt werden. Mit Hilfe der TEM-Analyse
kann z. B. festgestellt werden, ob in der dünnen Tunnelbarriere Löcher vorhanden sind und
ob an den Grenzflächen Defekte (z. B. Versetzungen) auftreten.
In modernen Elektronenmikroskopen können nicht nur die elastisch gestreuten Elektro-
nen zur Abbildung verwendet werden, sondern auch diejenigen Elektronen, die einen für
jedes Element charakteristischen Energieverlust bei der Streuung erfahren haben. Auf diese
1.6 Vertiefungsthema: Direkte Abbildung von Kristallstrukturen 51

La2/3Ba1/3MnO3

SrTiO3

Abb. 1.38: TEM-Bild einer heteroepitaktischen La2⇑3 Ba1⇑3 -


MnO3 ⇑SrTiO3 -Schichtstruktur (Schicht: WMI-Garching,
La2/3Ba1/3MnO3 TEM-Analyse: Universität Bonn).

Weise kann eine lokale Elementanalyse durchgeführt werden (EELS: Electron Energy Loss
Spectroscopy).

1.6.2 Rastersondentechniken
Die Rastersondentechniken haben seit ihrer Einführung in den 1980er Jahren eine stürmi-
sche Entwicklung erfahren. Die beiden wichtigsten Verfahren sind die
∎ Rastertunnelmikroskopie (STM: Scanning Tunneling Microscopy) und die
∎ Rasterkraftmikroskopie (AFM: Atomic Force Microscopy).
Die für beugungsbasierte Methoden bestehende Auflösungsgrenze d ≈ λ wird bei diesen
Verfahren dadurch umgangen, dass man zu einer Nahfeldtechnik übergeht. Diese basiert
auf einer Abrasterung der Oberfläche mit einer sehr feinen Spitze in sehr kleinem Abstand.
Die Ortsauflösung wird dabei durch den Durchmesser ∆x ≪ λ der Spitze bestimmt. Diese
Technik wird auch beim wohl bekannten Stethoskop verwendet. Der Sondendurchmesser
ist hier etwa 1 cm, wodurch man eine Auflösung erhält, die weit unterhalb der Wellenlänge
von akustischen Wellen (einige Meter) liegt. Bei den Rastersondentechniken liegt der Son-
dendurchmesser im atomaren Bereich, weshalb bei der Abbildung eine atomare Auflösung
erzielt werden kann.
Abb. 1.39 zeigt schematisch die Funktionsweise eines Rastertunnelmikroskops. Die Mess-
größe M(z) ist hierbei der zwischen Messspitze und Probe fließende Tunnelstrom. Die-
ser hängt exponentiell vom Abstand ∆z zwischen Spitze und Probenoberfläche ab (M(z) =
I(z) ∝ e−κ ∆z , die charakteristische Abklinglänge 1⇑κ liegt typischerweise im Ångström-Be-
reich). Üblicherweise wird die Spitze über die Probe gerastert und dabei mit Hilfe eines
Rückkoppelkreises der Abstand mit Hilfe eines piezoelektrischen Stellelements so geregelt,
dass der Tunnelstrom zwischen Spitze und Probe konstant bleibt. Die an das Piezostellele-
ment gegebene Steuerspannung enthält dann die Information über das Höhenprofil der Pro-
be.40 Die Rastertunnelmikroskopie wurde 1981 von Binnig und Rohrer entwickelt, die da-
40
Es soll hier darauf hingewiesen werden, dass man mit dem STM nicht die Atome, sondern die für
den Tunnelstrom verantwortliche elektronische Struktur an der Oberfläche sieht. Bei einer Gra-
phit-Oberfläche sieht man deshalb z. B. nur jedes zweite Atom.
52 1 Kristallstruktur
Rastertunnelmikroskopie
(a) (b)

𝑰
Rück- STM
kopplung

𝑽
piezo-
elektrisches
Stellelement (c)

𝜟𝒙 𝒛
𝜟𝒛 AFM
𝒙

Si(111) 7 x 7 Oberfläche

Abb. 1.39: (a) Zur prinzipiellen Funktionsweise von Rastersondenmikroskopen. Rechts ist jeweils ein
STM- (b) und ein AFM-Bild (c) einer Si-Oberfläche im Ultrahochvakuum gezeigt. Einige ins Auge fal-
lende Besonderheiten sind: (i) die Atome sind deutlich als rotumrandete (künstlich eingefärbte) Krei-
se sichtbar und (ii) die Oberfläche hat keine Ähnlichkeit mit einer (111) Ebene des Diamantgitters.
Die Atome der Oberfläche (und die Lage darunter) haben sich rearrangiert, um ihre freien Bindun-
gen gegenseitig bestmöglichst abzusättigen. Die zweidimensionale Elementarzelle des Oberflächengit-
ters ist ziemlich kompliziert mit einer Gitterkonstante die 7 mal größer ist als die Gitterkonstante des
Si-Volumengitters. Man spricht deshalb auch von der 7 × 7 Struktur der (111) Oberfläche. Der 7 × 7
Oberflächenkristall enthält auch Defekte, insbesondere sind Leerstellen gut zu erkennen (Bilder: Omi-
cron GmbH).

für im Jahr 1986 den Nobelpreis für Physik erhielten.41 Beim Rasterkraftmikroskop ist die
Messgröße die zwischen Spitze und Probe wirkende Kraft. Verwendet man eine magnetische
Spitze, kann die magnetische Kraft zwischen Spitze und einer magnetischen Oberfläche ver-
wendet werden (MFM: Magnetic Force Microscopy).

41
Gerd Karl Binnig (geboren am 20. Juli 1947 in Frankfurt am Main) und Heinrich Rohrer (geboren
am 6. Juni 1933 in Buchs, Kanton Sankt Gallen, gestorben am 16. Mai 2013 in Wollerau, Schweiz),
erhielten im Jahr 1986 zusammen mit Ernst August Friedrich Ruska (geboren am 25. Dezember
1906 in Heidelberg, gestorben am 27. Mai 1988 in Berlin) den Nobelpreis für Physik. Ruska wurde
für seine fundamentalen Beiträge zur Entwicklung der Elektronenoptik ausgezeichnet, Binnig und
Rohrer für die Konstruktion des Rastertunnelmikroskops.
Literatur 53

Literatur
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E. A. Wood, Vocabulary of surface crystallography, J. Appl. Phys. 35, 1306–1312 (1964).
2 Strukturanalyse mit
Beugungsmethoden
Durch die grundlegenden Arbeiten von Max
von Laue, Walter Friedrich und Paul Knip-
ping im Jahr 1912 wurde eindeutig nach-
gewiesen, dass es sich bei kristallinen Fest-
körpern um eine regelmäßige Anordnung
von Atomen handelt. Der Nachweis wurde
über die Beugung von Röntgenstrahlen an
Kristallen geführt. Heute wissen wir, dass
elektromagnetische Wellen und Materiewel-
len (Neutronen, Elektronen) an Kristallgit-
tern gebeugt werden, wenn ihre Wellenlänge Beugungsbild eines Quasikristalls (Dirk Frettlöh, FU Berlin)
von der gleichen Größenordnung wie die Git-
terkonstante der Kristallstrukturen ist. Beu-
gungsmethoden sind heute bei der Aufklärung des atomaren Aufbaus von Kristallen unver-
zichtbar. Sie geben insbesondere Aufschluss über (i) die Größe der Elementarzelle, (ii) die
Zahl und Anordnung der Atome in der Elementarzelle und (iii) die Verteilung der Elektro-
nendichte in der Elementarzelle. Im Gegensatz zu den in Abschnitt 1.6 diskutierten direkten
Abbildungsmethoden, die Aufschluss über die lokale Realstruktur eines Festkörpers geben,
mitteln die Beugungsmethoden über ein sehr großes Volumen des Festkörpers und geben
sehr genaue Daten über die Idealstruktur von Festkörpern. Die direkten Abbildungsverfah-
ren eignen sich also besonders gut für die Untersuchung von Abweichungen von der pe-
riodischen Struktur (Defekte, Oberflächen, Grenzflächen) und geben nur relativ ungenaue
Informationen über den periodischen Aufbau von Festkörpern. Im Gegensatz dazu eignen
sich die Beugungsmethoden besonders gut für die Analyse der periodischen Struktur von
Festkörpern und nur wenig für die Untersuchungen von lokalen Abweichungen von dieser
Periodizität.
Die in diesem Kapitel diskutierte Beugung von Wellen an periodischen Strukturen ist von
fundamentaler Bedeutung für die Festkörperphysik. Wir werden am Beispiel der Beugung
wichtige Grundbegriffe wie das reziproke Gitter und die Brillouin-Zonen einführen. Diese
Begriffe werden uns an verschiedenen Stellen (z. B. bei der Diskussion der elektronischen
Struktur von Festkörpern) wieder begegnen. Einige Konzepte bezüglich der Streutheorie
sind auch wichtig für andere Gebiete der Physik wie die Kern- und Teilchenphysik, wo In-
formationen über die Struktur von Kernen und Teilchen aus Streuexperimenten gewonnen
werden.
56 2 Strukturanalyse

2.1 Das reziproke Gitter


Für die Diskussion der Beugung von Wellen an periodischen Strukturen ist es zweckmä-
ßig, zusätzlich zum eigentlichen Kristallgitter das zugehörige reziproke Gitter einzuführen.
Das reziproke Gitter ist ferner von großem Nutzen für die Diskussion der Fourier-Analyse
von periodischen Funktionen oder der Impulserhaltung in Kristallen. Wir werden hier das
reziproke Gitter einführen, ohne dass wir sofort den konkreten Nutzen erkennen werden.

2.1.1 Definition des reziproken Gitters


Wir gehen aus von einem Bravais-Gitter (vergleiche (1.1.2))

R = n 1 a1 + n 2 a2 + n 3 a3 (2.1.1)

und einer ebenen Welle

Ψk (r) = Ψ0 e ık⋅r , (2.1.2)

die im Allgemeinen nicht die Periodizität des Bravais-Gitters hat. Wir können dann folgende
Definition für das reziproke Gitter geben:

Der Satz aller Wellenvektoren G, die ebene Wellen mit der Periodizität des Bravais-Gitters
ergeben, bildet das zum Bravais-Gitter reziproke Gitter.

Für Wellen mit der Periodizität der Bravais-Gitters muss

ΨG (r) = ΨG (r + R) (2.1.3)

oder

Ψ0 e ıG⋅r = Ψ0 e ıG⋅(r+R) = Ψ0 (e ıG⋅r ⋅ e ıG⋅R ) (2.1.4)

gelten. Daraus folgt sofort, dass

e ıG⋅R = 1 (2.1.5)

für alle R gelten muss. Dies führt uns zu einer äquivalenten Definition des reziproken Gitters:

Sei R = n 1 a1 + n 2 a2 + n 3 a3 ein Bravais-Gitter. Das hierzu reziproke Gitter besteht aus allen
Vektoren G, für die gilt:

e iG⋅R = 1 . (2.1.6)
2.1 Das reziproke Gitter 57

2.1.2 Fourier-Analyse
Aus der Fourier-Analyse ist uns bekannt, dass wir eine periodische Funktion in eine Fourier-
Reihe entwickeln können.1 , 2 , 3 Falls die Funktion f (r) die Periodizität des Bravais-Gitters
besitzt, muss gelten:

f (r) = f (r + R) . (2.1.7)

Wir entwickeln nun diese periodische Funktion in eine Fourier-Reihe:

f (r) = ∑ f k e ık⋅r . (2.1.8)


k

Für die Fourier-Koeffizienten f k gilt:

1 −ık⋅r 3
fk = ∫ f (r) e d r. (2.1.9)
Vc
Zelle

Hierbei wird über eine primitive Gitterzelle mit dem Volumen Vc integriert.
Falls f (r) zum Beispiel die Elektronendichte in einem Kristall ist und damit die Periodizität
des Bravais-Gitters besitzt, so finden wir
f (r) = f (r + R)
(2.1.10)
∑ fk e
ık⋅r
= ∑ f k e ık⋅(r+R) = ∑ f k (e ık⋅r ⋅ e ık⋅R ) .
k k k

Hieraus folgt sofort, dass e ık⋅R = 1 erfüllt sein muss. Da R ein Vektor des Bravais-Gitters ist,
muss deshalb k = G gelten, d. h. die erlaubten Wellenvektoren sind nur reziproke Gittervek-
toren. Wir können also folgende Schlussfolgerung ziehen:

In der Fourier-Zerlegung einer Funktion mit der Periodizität des Bravais-Gitters können
nur Wellenvektoren auftauchen, die zum reziproken Gitter dieses Bravais-Gitters gehören.

2.1.3 Die reziproken Gittervektoren


Wir gehen wiederum von einem Bravais-Gitter

R = n 1 a1 + n 2 a2 + n 3 a3 (2.1.11)
1
Otto Föllinger, Laplace-, Fourier- und z-Transformation, bearbeitet von Mathias Kluw, 8. überar-
beitete Auflage, Hüthig, Heidelberg (2003).
2
Burkhard Lenze, Einführung in die Fourier-Analysis, 2. durchgesehene Auflage, Logos Verlag, Ber-
lin (2000).
3
M. J. Lighthill, Introduction to Fourier Analysis and Generalised Functions, Cambridge University
Press, Cambridge (2003).
58 2 Strukturanalyse

aus, wobei n 1 , n 2 und n 3 ganze Zahlen und a1 , a2 und a3 die primitiven Gittervektoren sind.
Die Vektoren aus dem hierzu reziproken Gitter schreiben wir als

G = hb1 + kb2 + ℓb3 . (2.1.12)

Nach (2.1.6) muss e iG⋅R = 1 sein, so dass wir schreiben können:

G ⋅ R = 2πn n = ganzzahlig . (2.1.13)

Diese Bedingung wird durch folgende Vektoren erfüllt:

2π 2π 2π
b1 = a2 × a3 b2 = a3 × a1 b3 = a1 × a2 . (2.1.14)
Vc Vc Vc

Dies ist leicht einzusehen, da4


)︀
⌉︀
⌉︀2π für i = j
b i ⋅ a j = 2πδ i j = ⌋︀ . (2.1.15)
⌉︀
⌉︀ 0 für i ≠ j
]︀
Eine Veranschaulichung ist in Abb. 2.1 für ein zweidimensionales Gitter gezeigt. Die rezi-
proken Gittervektoren b1 und b2 sind leicht zu identifizieren. Ist der Winkel zwischen a1
und a2 gleich γ, dann definieren die Beziehungen b1 ⋅ a1 = 2π und b1 ⋅ a2 = 0 den Vektor b1
als den Vektor, der senkrecht auf a2 steht und eine Länge 2π⇑a 1 sin γ hat. Analog dazu ist b2
senkrecht zu a1 und hat die Länge 2π⇑a 2 sin γ. Der Name reziprokes Gitter kommt daher,
dass die Dimensionen des reziproken Gitters in einem reziproken Verhältnis zu denen des
normalen Raumgitters stehen. Reduzieren wir z. B. a1 und a2 um einen konstanten Faktor,
dehnt sich das reziproke Gitter um diesen Faktor aus.
Mit (2.1.15) finden wir
G ⋅ R = (hb1 + kb2 + ℓb3 ) (n 1 a1 + n 2 a2 + n 3 a3 )
= 2π (hn 1 + kn 2 + ℓn 3 ) . (2.1.16)

(a) 𝒚 (b) 𝒗
[11]
𝒃𝟐

𝒂𝟐 𝟗𝟎° − 𝜸 𝒂𝟐
(11)
𝜸 𝜸
𝜸 𝒂𝟏 𝒂𝟏
𝟗𝟎° − 𝜸
𝒙 𝒖
𝒃𝟏

Abb. 2.1: Zum Zusammenhang zwischen Raumgittervektoren (a) und Vektoren des reziproken Git-
ters (b) für ein zweidimensionales Gitter. Die kartesischen Koordinaten im direkten Raum sind (x, y),
im reziproken Raum (u, v). Es ist jeweils die zweidimensionale Einheitszelle dargestellt. In (a) ist auch
die (11) Linie und der auf ihr senkrecht stehende reziproke Gittervektor [11] eingezeichnet.
4
Hierbei benutzen wir, dass a ⋅ (a × b) = b ⋅ (a × a) = 0.
2.1 Das reziproke Gitter 59

Da G ⋅ R = 2πn mit ganzzahligem n gelten muss, müssen offenbar h, k und ℓ auch ganzzahlig
sein. Wir können also für die reziproken Gittervektoren folgende Definition angeben:

Das zum Bravais-Gitter R = n 1 a1 + n 2 a2 + n 3 a3 reziproke Gitter wird durch

G = hb1 + kb2 + ℓb3 (2.1.17)

aufgespannt. Dabei sind die reziproken Gittervektoren durch (2.1.14) bestimmt und die
Koeffizienten h, k und ℓ müssen ganzzahlig sein.

Ohne Beweis (siehe hierzu Übungsaufgaben) wollen wir folgende Tatsachen festhalten:

1. Gleichung (2.1.17) definiert, da h, k und ℓ ganzzahlig sind, wiederum ein Bravais-Gitter.


Das heißt, das reziproke Gitter eines Bravais-Gitters ist selbst ein Bravais-Gitter.
2. Das reziproke Gitter des reziproken Gitters ist das direkte Gitter.
3. Ist Vc = a1 ⋅ (a2 × a3 ) das Volumen der von den primitiven Gittervektoren aufgespannten
Einheitszelle im direkten Gitter, so ist (2π)3 ⇑Vc das Volumen der durch b1 , b2 und b3
aufgespannten Zelle im reziproken Raum.
4. Die Länge der reziproken Gittervektoren ist proportional zum Kehrwert der Länge der
Gittervektoren. Dies erklärt die Nomenklatur „reziprokes“ Gitter.

2.1.3.1 Beispiele
Den Gittervektoren a1 , a2 und a3 bzw. den reziproken Gittervektoren b1 , b2 und b3 können
wir Matrizen
⎛ a 1x a 2x a 3x ⎞ ⎛b 1x b 2x b 3x ⎞
A = ⎜a1 y a2 y a3 y ⎟ und B = ⎜b 1 y b 2 y b 3 y ⎟ (2.1.18)
⎝ a 1z a 2z a 3z ⎠ ⎝ b 1z b 2z b 3z ⎠

zuordnen, die die kartesischen Komponenten der Vektoren enthalten. Zwischen den Matri-
zen besteht der Zusammenhang

⎛1 0 0⎞ −1
AT B = 2π ⎜0 1 0⎟ oder B = 2π (AT ) , (2.1.19)
⎝0 0 1⎠

wobei AT die transponierte Matrix von A ist.5

1. Kubisch primitives Gitter:


Für das kubisch primitive Gitter mit der Gitterkonstanten a erhalten wir

⎛1 0 0⎞ 2π ⎛
1 0 0⎞
A = a ⎜0 1 0⎟ und B= ⎜0 1 0⎟ . (2.1.20)
⎝0 0 1⎠ a ⎝0 0 1⎠

5
Die Zeilenvektoren der zu A transponierten Matrix AT sind die Spaltenvektoren von A.
60 2 Strukturanalyse

Das reziproke Gitter des kubisch primitiven Gitters ist also wiederum ein kubisch primi-
tives Gitter.
2. Kubisch flächenzentriertes Gitter:
Für das kubisch flächenzentrierte Gitter erhalten wir (siehe hierzu Abb. 2.2a)
−1 1 1 ⎞
a⎛
0 1 1⎞
2π ⎛
A= ⎜1 0 1⎟ und B= ⎜ 1 −1 1 ⎟ . (2.1.21)
2 ⎝1 1 0⎠ a ⎝ 1 1 −1⎠

Vergleichen wir diese Matrix mit derjenigen eines kubisch raumzentrierten Gitters (sie-
he (2.1.22)), so sehen wir, dass das reziproke Gitter der kubisch flächenzentrierten Struk-
tur dem kubisch raumzentrierten Kristallgitter entspricht.
Die drei primitiven Gittervektoren schließen beim kubisch flächenzentrierten Gitter
einen Winkel von 60○ ein und spannen eine primitive Zelle auf, deren Volumen nur ein
Viertel des Volumens der konventionellen Zelle beträgt.
3. Kubisch raumzentriertes Gitter:
Für das kubisch raumzentrierte Gitter erhalten wir (siehe hierzu Abb. 2.2b)
−1 1 1 ⎞
a⎛ 2π ⎛
0 1 1⎞
A= ⎜ 1 −1 1 ⎟ und B= ⎜1 0 1⎟ . (2.1.22)
2 ⎝ 1 1 −1⎠ a ⎝1 1 0⎠

Vergleichen wir diese Matrix wiederum mit der eines kubisch flächenzentrierten Git-
ters (siehe (2.1.21)), so sehen wir, dass das reziproke Gitter der kubisch raumzentrier-
ten Struktur dem kubisch flächenzentrierten Kristallgitter entspricht. Die drei primitiven

𝒛 𝒂𝟏
𝒚
𝒙
𝒂𝟐

𝒂𝟏
𝒂𝟑
𝒂𝟐

𝒛
𝒂𝟑 𝒚
(a) (b) 𝒙

kubisch flächenzentriert kubisch raumzentriert


Abb. 2.2: Primitive Gittervektoren a1 , a2 und a3 des kubisch flächenzentrierten (a) und
10
des kubisch
raumzentrierten Gitters (b). Eingezeichnet ist ebenfalls die konventionelle Zelle und das zugrundelie-
gende kartesische Koordinatensystem. In (b) sind zur Veranschaulichung die drei benachbarten Ein-
heitszellen gezeichnet. Die primitiven Gittervektoren enden auf den gelb markierten Gitterpunkten im
Zentrum der benachbarten Zellen.
2.1 Das reziproke Gitter 61

Gittervektoren schließen beim kubisch raumzentrierten Gitter einen Winkel von 109○ 28′
ein und spannen eine primitive Zelle auf, deren Volumen nur halb so groß ist wie das der
konventionellen Zelle.

2.1.4 Die erste Brillouin-Zone


Analog zur Wigner-Seitz Zelle im direkten Gitter können wir für das reziproke Gitter eine
primitive Zelle definieren, die die volle Symmetrie des Gitters besitzt. Diese Zelle nennen
wir die erste Brillouin-Zone:6

Die Wigner-Seitz Zelle des reziproken Gitters heißt erste Brillouin-Zone.

Die Konstruktion der ersten Brillouin-Zone des reziproken Gitters erfolgt völlig analog zur
Konstruktion der Wigner-Seitz Zelle des direkten Gitters (siehe hierzu Abb. 2.3 und Ab-
schnitt 1.1.1). Wir legen den Ursprung in einen Gitterpunkt des reziproken Gitters, verbin-
den diesen Punkt mit den Nachbarpunkten und zeichnen durch die Mittelpunkte der Ver-
bindungslinien Flächen (Linien in 2D), die auf den Verbindungslinien senkrecht stehen. Wir
nennen diese Flächen Bragg-Flächen, da wir später sehen werden, dass alle k-Vektoren, die
auf diesen Flächen enden, die Bragg-Bedingung erfüllen. Die erste Brillouin-Zone ist nun
genau der Bereich im reziproken Raum, der vom Ursprung aus erreicht werden kann, ohne
irgendeine Bragg-Ebene zu überschreiten. In analoger Weise können wir eine Brillouin-Zo-
ne n-ter Ordnung als den Bereich im reziproken Raum definieren, der durch Überschreiten
von genau (n − 1) Bragg-Flächen (aber nicht weniger) erreicht werden kann (siehe hierzu
Abb. 2.3). Wie wir später sehen werden sind die Brillouin-Zonen von großer Bedeutung für
die Beschreibung der Beugung sowie der elektronischen Struktur von Festkörpern.
Da das reziproke Gitter des bcc-Gitters ein fcc-Gitter ist, ist die 1. Brillouin-Zone des bcc-
Gitters die Wigner-Seitz Zelle des fcc-Gitters. Die erste Brillouin-Zone hat die Gestalt eines
Rhombendodekaeders (siehe Abb. 2.4a). Andererseits ist das reziproke Gitter des fcc-Gitters

Abb. 2.3: Zur Konstruktion der ersten


Brillouin-Zone sowie Brillouin-Zonen
höherer Ordnung für ein zweidimen-
sionales Gitter. Gezeigt sind die erste
bis vierte Brillouin-Zone (siehe Text
zur Konstruktionsvorschrift).

6
Léon Nicolas Brillouin, siehe Kasten auf Seite 63.
1. Brillouin-Zone und Brillouin-Zonen höherer Ordnung
15
62 2 Strukturanalyse

(a) (b)

Abb. 2.4: (a)1. Brillouin-Zone


Die erste Brillouin-Zone
des bcc-Gitters ist eindes kubisch raumzentrierten
rhombisches (bcc) Gitters
1. Brillouin-Zone des fcc-Gitters ist ein rhombisches
ist ein abgestumpfter
Dodekaeder.Dodekaeder
Die Zelle ist im reziproken Raum gezeichnet Oktaeder und das reziproke
mit 8 Sechsecken Gitter ist ein fcc-Gitter.
und 6 Quadraten
(Wigner-Seitz-Zelle
(b) Die erste Brillouin-Zone einesdeskubisch
fcc-Gitters)
flächenzentrierten (Wigner-Seitz-Zelle
(fcc) Gittersdesistbcc-Gitters)
ein abgestumpfter Ok-
18
taeder mit 8 Sechsecken und 6 Quadraten. Die Gitterzellen sind im reziproken Raum gezeichnet und
das reziproke Gitter ist ein bcc-Gitter.

ein bcc-Gitter. Deshalb ist die 1. Brillouin-Zone des fcc-Gitters die Wigner-Seitz Zelle des
bcc-Gitters. Wir erhalten ein Polyeder (siehe Abb. 2.4b).

2.1.5 Gitterebenen und Millersche Indizes


Es besteht ein enger Zusammenhang zwischen den Vektoren des reziproken Gitters und den
Gitterebenen des direkten Gitters. Dieser Zusammenhang spielt bei der Beugung von Wellen
eine große Rolle.
Wir betrachten wiederum ein Bravais-Gitter R = n 1 a1 + n 2 a2 + n 3 a3 . Eine beliebige Ebene
in diesem Gitter ist eindeutig durch drei Punkte des Bravais-Gitters festgelegt. Sie lässt sich,
wie wir in Abschnitt 1.1.3 gezeigt haben, durch die Millerschen Indizes charakterisieren. Wir
betrachten nun einen ganzen Satz paralleler Ebenen mit gleichem Abstand d, die zusammen
alle Punkte des Bravais-Gitters enthalten und fragen uns, wie wir diese Ebenenschar klassi-
fizieren können. Wir stellen hierzu die Behauptung auf:

Zu jeder Ebenenschar gibt es reziproke Gittervektoren G und umgekehrt gibt es zu jedem


reziproken Gittervektor eine Ebenenschar, so dass G senkrecht auf den Ebenen steht und
für den kürzesten reziproken Gittervektor Gmin gilt:

⋃︀Gmin ⋃︀ = , (2.1.23)
d
wobei d der Abstand der Ebenen in der zu G senkrechten Ebenenschar ist.
2.1 Das reziproke Gitter 63

Léon Brillouin (1889–1969)


Léon Nicolas Brillouin, französisch-amerikanischer Phy-
siker, Sohn von Marcel Brillouin und Charlotte Mascart,
der Tochter von E. Mascart (1837–1908), einem bekann-
ten französischen Physiker des 19. Jahrhunderts, wurde am
7. August 1889 in Sèvres bei Paris geboren. Er studierte
Physik an der École Normale Supérieure (1908–1912). Ab
1911 arbeitete er mit Jean Perrin, bevor er 1912 an die
Ludwig-Maximilians-Universität nach München wechselte.
Dort studierte er theoretische Physik bei Arnold Sommer-
feld. Gerade ein paar Monate vor Brillouin’s Ankunft an der
LMU wurden dort von Max von Laue und Mitarbeitern die
ersten Experimente zur Röntgenbeugung an Kristallgittern Photo: AIP Emilio Segre Visual Archives,
durchgeführt. Im Jahr 1913 ging er zurück nach Frankreich, Léon Brillouin Collection
wo er 1928 Professor an der Sorbonne und später am Colle-
ge de France (1932–1949) wurde.
Während des 2. Weltkrieges emigrierte Léon Brillouin in die USA, wo er Professor an der
University of Wisconsin (1941) und später an der Harvard University (1946) wurde. Im
Jahr 1949 wurde er amerikanischer Staatsbürger und wurde zum Director of Electronic
Education bei IBM (1948–53) ernannt. Im Jahr 1953 wurde er Mitglied der amerikanischen
National Academy of Sciences. Von 1953 bis zu seinem Tode im Jahr 1969 war er Professor
an der Columbia University in New York City.
Léon Brillouin spezialisierte sich in Quantenmechanik und entwickelte die WKB Methode
zur näherungsweisen Lösung der Schrödinger Gleichung (1926). Er entdeckte die nach
ihm benannten „Brillouin Zonen“. Er publizierte mehr als 200 Veröffentlichungen und etwa
15 Bücher. Er starb am 4. Oktober 1969 in New York.

Schreiben wir

Gmin = hb1 + kb2 + ℓb3 , (2.1.24)

so sind die ganzen Zahlen h, k und ℓ die Millerschen Indizes der Ebenen.
Statt dieses Theorem zu beweisen,7 wollen wir uns seine Bedeutung veranschaulichen. Wir
benutzen dazu folgende Sachverhalte:

1. Für alle Punkte R des Bravais-Gitters gilt e ıG⋅R = 1, wenn G ein reziproker Gittervektor
ist.
2. Ebene Wellen haben in Ebenen senkrecht zum Wellenvektor den gleichen Wert.

Wir betrachten nun das in Abb. 2.5 gezeigte zweidimensionale Bravais-Gitter. Wir können
die Ebenenschar als Wellenfronten von ebenen Wellen mit Wellenvektor k auffassen und

7
Der Beweis dieses Theorems kann in Festkörperphysik, N. W. Ashcroft, N. D. Mermin, Oldenbourg
Verlag, München (2012) gefunden werden.
64 2 Strukturanalyse

𝑮
Abb. 2.5: Zum Zusammenhang zwischen
Gitterebenen und Millerschen Indizes in 𝟏𝟐
einem zweidimensionalen Bravais-Gitter
mit den primitiven Gittervektoren a1
und a2 . Gezeigt sind die (12) Ebenen. 𝒂𝟐
Der zugehörige reziproke Gittervektor
steht senkrecht auf dieser Ebenenschar. 𝒂𝟏

zwar so, dass auf jeder Ebene die ebene Welle den gleichen Wert hat (o. B. d. A. den Wert 1).
Daraus folgt

Ψ(r) ∝ e ık⋅R = const = 1 (2.1.25) 26

für alle Gitterpunkte R auf der Ebenenschar. Da die Punkte R aber die Punkte eines Bravais-
Gitters sind, muss k = G ein reziproker Gittervektor sein. Da k senkrecht auf den Ebenen
(Wellenfronten) steht, muss dies also auch für G gelten.
Wir müssen jetzt noch zeigen, dass es einen kleinsten reziproken Gittervektor Gmin gibt.
Dies sehen wir leicht anhand von Abb. 2.6 ein. Wegen k = 2π⇑λ entspricht ein minimaler
Gittervektor einer größtmöglichen Wellenlänge λmax der ebenen Welle. Offenbar muss aber
λ ≤ d gelten, damit die ebene Welle auf allen Punkten des Bravais-Gitters den gleichen Wert
hat. Daraus folgt

2π 2π
⋃︀Gmin ⋃︀ = = . (2.1.26)
λmax d

(a)

≈ 𝟒𝝅/𝒅
(b)
Abb. 2.6: Zur Verdeutlichung der Existenz
eines minimalen reziproken Gittervektors
Gmin = 2π⇑d. In (a) ist λ = d⇑2 und die
≈ 𝟐𝝅/𝒅
ebene Welle hat den gleichen Wert auf allen (c)
Gitterpunkten. Dies trifft auch für (b) zu,
wo λ = λmax = d. In (c) ist λ = 2d. Hier 𝒂𝟐
kann die ebene Welle nicht mehr auf allen
𝒂𝟏 ≈ 𝝅/𝒅 (𝟏𝟎) 𝒅
Gitterpunkten den gleichen Wert haben.

28
2.2 Beugung von Wellen an periodischen Strukturen 65

2.1.6 Gegenüberstellung von direktem und reziprokem Raum


Wir wollen diesen Abschnitt mit einer Gegenüberstellung des direkten und reziproken Git-
ters abschließen. Das direkte Gitter existiert im Ortsraum, das reziproke Gitter im k-Raum.
direkter Raum reziproker Raum
primitive Gittervektoren des Bravais-Gitters: primitive Gittervektoren des reziproken Gitters:
a1 , a2 , a3 b1 , b2 , b3
Ebenenschar: (hkℓ) Punkt im reziproken Gitter:
G = hb1 + kb2 + ℓb3
Normale auf Ebenenschar Richtung von G
Abstand der Netzebenen: d = 2π⇑⋃︀Gmin ⋃︀ Länge von Gmin ∶ ⋃︀Gmin ⋃︀ = 2π⇑d
äquivalente Bezeichnung: Ortsraum äquivalente Bezeichnung: k-Raum
(︀R⌋︀ = cm (︀k⌋︀ = 1⇑cm

Zusammenfassend können wir Folgendes festhalten: Jede Kristallstruktur hat zwei Gitter,
nämlich das direkte, auch Raum- oder Kristallgitter bezeichnete, und das reziproke Gitter.
Die beiden Gitter sind über (2.1.14) miteinander verknüpft. Wir werden im Folgenden se-
hen, dass das reziproke Gitter mit dem Beugungsmuster bei der Beugung von Wellen an
einem Kristallgitter verbunden ist.

2.2 Beugung von Wellen


an periodischen Strukturen
Bestrahlen wir einen Kristall mit Röntgenlicht, so finden wir ein charakteristisches Mus-
ter von reflektierten Strahlen. Diese Tatsache wurde zuerst von von Laue, Friedrich, und
Knipping im Jahr 1912 und kurz darauf von Bragg im Jahr 1913 entdeckt. Für bestimmte
Streuwinkel finden wir intensitätsstarke Reflexe, zwischen diesen Reflexen ist die Intensi-
tät des gebeugten Röntgenstrahls praktisch gleich null. Beachten wir, dass die Wellenlänge
von Röntgenlicht in der Größenordnung der Gitterkonstanten des Kristalls ist, so vermuten
wir, dass Kristalle ein dreidimensionales Beugungsgitter für Röntgenlicht bilden und wir die
Beugung von Röntgenlicht ganz analog zur Beugung von Licht am optischen Gitter behan-
deln können.
Wir wollen im Folgenden die Beugung am Kristall näher diskutieren. Dazu machen wir fol-
gende Grundannahmen:

1. Die Wellenlänge der benutzten Wellen liegt im Bereich der Gitterkonstante des Kristalls.
2. Die Wellen werden elastisch gestreut, d. h. ohne Energieverlust.

Spezielle, für Beugungsexperimente an Kristallen geeignete Wellensorten und gebräuchliche


experimentelle Techniken diskutieren wir in Abschnitt 2.3.
66 2 Strukturanalyse

2.2.1 Die Bragg-Bedingung


William Lawrence Bragg8 präsentierte eine sehr einfache Erklärung für die Beobachtung
von Beugungsreflexen bei der Beugung von Röntgenlicht an Kristallen. Die Braggsche Er-
klärung ist sehr vereinfachend und überzeugt nur deshalb, weil sie das richtige Ergebnis
liefert. Bragg nahm an, dass (i) der Kristall in Ebenen mit Abstand d zerlegt werden kann
und dass (ii) die einfallende Welle an jeder Ebene wie an einem teilweise durchlässigen Spie-
gel zu einem kleinen Anteil spiegelnd reflektiert wird. Die Beugungsreflexe werden genau
für die Richtungen gefunden, für die die von den einzelnen Ebenen reflektierten Strahlen
konstruktiv interferieren.
Nehmen wir an, dass die Ebenen den Abstand d haben und die Röntgenstrahlen unter einem
Winkel θ auf die Kristallebenen treffen, so können wir aus Abb. 2.7 sofort den Gangunter-
schied zwischen Wellen, die an benachbarten Gitterebenen reflektiert werden, zu 2d sin θ
berechnen. Da wir konstruktive Interferenz nur dann erhalten, wenn der Gangunterschied
ein ganzzahliges Vielfaches der Wellenlänge λ der Röntgenstrahlung ist, erhalten wir die
Bragg-Bedingung zu

2d sin θ = nλ n = 1, 2, 3, . . . . (2.2.1)

Die ganze Zahl n gibt hierbei die Ordnung des Reflexes an. Wir sehen, dass die Bragg-Be-
dingung nur für λ ≤ 2d erfüllt werden kann. Deshalb können wir nicht sichtbares Licht mit
einer Wellenlänge (etwa 400 bis 800 nm) verwenden, die groß gegen den Abstand d der Kris-
tallebenen (im Ångström-Bereich) ist.
Die Bragg-Bedingung ist eine direkte Konsequenz der Periodizität des Kristallgitters, die es
uns erlaubt, alle Gitterpunkte des Kristallgitters auf parallelen Ebenen unterzubringen. Es ist
allerdings zu beachten, dass die sehr vereinfachende Betrachtung von Bragg die Zusammen-
setzung der Basis völlig außer Acht lässt. Wir werden später sehen, dass die Zusammenset-
zung der Basis für die relative Intensität der verschiedenen Beugungsreflexe entscheidend
ist.

𝛉 𝛉
𝛉𝛉

𝒅
Abb. 2.7: Zur Ableitung
der Bragg-Bedingung.

8
siehe Kasten auf Seite 68.
2.2 Beugung von Wellen an periodischen Strukturen 67

Wir wollen auch auf folgende Sachverhalte hinweisen:

∎ Für Röntgenlicht reflektiert jede Ebene nur etwa 10−3 bis 10−5 der einfallenden Intensität.
Es tragen deshalb 103 bis 105 Gitterebenen zur Interferenz bei. Diese Vielstrahlinterfe-
renz einer großen Anzahl von interferierenden Wellen führt zu einer außerordentlichen
Schärfe der Reflexe.
∎ Für eine einfallende Welle mit vielen Wellenlängen sind natürlich viele Reflexe möglich.
∎ Es gibt viele verschiedene Möglichkeiten, ein Bravais-Gitter in Ebenenscharen zu unter-
teilen. Es gibt deshalb viele verschiedene Netzebenenabstände d und deshalb selbst bei
Bestrahlung mit monochromatischem Röntgenlicht viele verschiedene Streuwinkel θ,
für die konstruktive Interferenz beobachtet wird.
∎ θ ist der halbe Streuwinkel.

2.2.2 Die von Laue Bedingung


Wir wollen nun die Beugung von Wellen an einem Kristallgitter, d. h. an einer dreidimen-
sionalen Anordnung von punktförmigen Streuern näher betrachten. Hierzu betrachten wir
den Fall, dass eine ebene Welle Ψ(r) = Ψ0 e ık⋅r auf ein Bravais-Gitter trifft. Von jedem Punkt
des Gitters gehen (z. B. durch erzwungene Schwingungen der Elektronendichte) Kugelwellen
aus. Da der Abstand der Gitterpunkte in der Größenordnung der Wellenlänge liegt, weisen
die sekundären Wellen am Beobachtungsort im Allgemeinen einen nicht vernachlässigbaren
Gangunterschied auf. Wir wollen jetzt überlegen, in welchen Raumrichtungen diese Kugel-
wellen konstruktiv interferieren.
Zur Herleitung der Interferenzbedingung betrachten wir den in Abb. 2.8 gezeigten Streupro-
zess, bei dem wir der Einfachheit halber nur die von zwei Gitterpunkten 0 und r auslaufenden
Kugelwellen berücksichtigen wollen. Wir wollen ferner nur elastische Streuung betrachten,
d. h. ⋃︀k⋃︀ = ⋃︀k′ ⋃︀. Für konstruktive Interferenz muss der Gangunterschied ein ganzzahliges Viel-
faches der Wellenlänge λ sein. Es muss also gelten:

⋃︀r⋃︀ cos φ′ − ⋃︀r⋃︀ cos φ = nλ n = 1, 2, 3, . . . . (2.2.2)

𝒌′

𝜑′ 𝒓
0
𝜑

Abb. 2.8: Zur Ableitung der von Laue Bedingung für kon-
𝒌 𝒌 = 𝒌′ struktive Interferenz bei der Streuung am dreidimensiona-
len Punktgitter.

33
68 2 Strukturanalyse

William Henry Bragg (1862–1942) und William Lawrence Bragg (1890–1971),


Nobelpreis für Physik (1915)
Sir William Henry Bragg wurde am 2. Juli 1862
in Wigton, Cumberland, England geboren. Er stu-
dierte Mathematik an der University of Cam-
bridge. Seine erste akademische Anstellung an der
University of Adelaide in Australien (1886) erfolg-
te in Mathematik und Physik und erforderte des-
halb, dass er sich mehr mit Physik beschäftigte. Erst
ab 1903–1904, im Alter von 41, begann William
William Henry Bragg William Lawrence Bragg
Henry Bragg sich mit dem Studium ionisierender
Strahlung zu befassen. Im Jahr 1909 wurde er zum Bilder: Wikimedia Commons.
Cavendish Professor an der University of Leeds er-
nannt. Sein ältester Sohn, William Lawrence, der ein Mathematikstudium in Australien
begonnen hatte, wechselte nach Cambridge, wo er seine Interessen auf die Physik ausrich-
tete. Im Jahr 1915 erhielt William Henry Bragg einen Ruf als Professor für Physik an das
University College in London. 1923 wurde er dann zum Direktor der Royal Institution er-
nannt. Von 1935–1940 war er Präsident der Royal Society. Er verstarb am 12. März 1942
in London, England.
William Lawrence Bragg, der Sohn von Sir William Henry Bragg wurde in Adelaide, Aus-
tralien, geboren. Ab 1914 war er Dozent am Trinity College in Cambridge, von 1917 an
lehrte er als Professor in Manchester, bevor er dann 1938 Direktor der National Physi-
cal Laboratories wurde. Im Jahr 1939 erhielt er eine Professur für Experimentalphysik in
Cambridge. William Lawrence Bragg war von 1942 bis 1947 Mitglied des Privy-Council
Committee for Scientific and Industrial Research. 1954 erhielt er eine Professur für Natur-
philosophie an der Royal Institution in London und wurde Direktor des dortigen Instituts-
labors. Er war der erste australische Patient, dessen Fraktur geröntgt wurde. Er verstarb am
1. Juli 1971 in Ipswich, England.
Sir William Henry Bragg und sein Sohn, Sir William Lawrence Bragg, erhielten zusam-
men 1915 den Nobelpreis für Physik für ihre Arbeiten zur Erforschung der Kristallstruktur
mittels Röntgenspektroskopie und waren damit das einzige Vater-Sohn-Team, das je den
Nobelpreis errang. Sie entwickelten ein vereinfachtes Verfahren zur Bestimmung der Wel-
lenlänge von Röntgenstrahlen auf kristallographischer Grundlage (Drehkristallmethode).
Damit wurde es zugleich möglich, die bis dahin unbekannte Kristallstruktur von zahlrei-
chen anorganischen Substanzen wie beispielsweise Steinsalz oder Diamant, darzustellen.
Die beiden Wissenschaftler teilten sich auch andere Auszeichnungen, die sie für ihre Un-
tersuchungen der Kristallstruktur durch Messung der Röntgenbeugung erhielten.

Wir führen die Einheitsvektoren in Richtung der einlaufenden und der gestreuten Welle
⧹︂ k k λ
k= = = k (2.2.3)
⋃︀k⋃︀ 2π⇑λ 2π

⧹︂ k′ k′ λ ′
k′ = ′ = = k (2.2.4)
⋃︀k ⋃︀ 2π⇑λ 2π
2.2 Beugung von Wellen an periodischen Strukturen 69

ein und erhalten damit

⋃︀r⋃︀ cos φ = r ⋅ ⧹︂
k (2.2.5)

⋃︀r⋃︀ cos φ′ = r ⋅ k⧹︂′ . (2.2.6)

Benutzen wir dies in (2.2.2), so können wir die Bedingung für konstruktive Interferenz
schreiben als

(k⧹︂′ − ⧹︂
k) ⋅ r = nλ n = 1, 2, 3, . . . (2.2.7)

(k′ − k) ⋅ r = 2πn . (2.2.8)

Dies ist äquivalent zu



e ı(k −k)⋅r = 1 . (2.2.9)

Da die Ausgangspunkte der Kugelwellen Punkte des Bravais-Gitters sind, d. h. r = R, folgt


aus dieser Bedingung durch Vergleich mit der Definition e ıG⋅R = 1 des reziproken Gitters
die von Laue Bedingung:

k′ − k = ∆k = G . (2.2.10)

Wir erhalten also folgenden wichtigen Sachverhalt:

Der Satz G der reziproken Gittervektoren bestimmt die möglichen Beugungsreflexe.

2.2.2.1 Die Ewald-Konstruktion


Da wir nur elastische Streuung betrachten, gilt ⋃︀k⋃︀ = ⋃︀k′ ⋃︀. Gleichung (2.2.10) können wir als
Auswahlregel für die Wellenzahländerung im reziproken Raum auffassen. Diese Auswahlre-
gel lässt sich grafisch sehr anschaulich mit Hilfe der Ewald-Konstruktion9 darstellen (siehe
Abb. 2.9). Von einem beliebigen Punkt des reziproken Gitters, den wir als Koordinatenur-
sprung wählen, tragen wir den Vektor −k ab. Den Endpunkt dieses Vektors (bzw. den An-
fangspunkt von +k) nehmen wir dann als Mittelpunkt für eine Kugel (Kreis im Zweidimen-
sionalen), deren Radius k = 2π⇑λ beträgt. Diese Kugel ist die so genannte Ewald-Kugel. Ein

9
Paul Peter Ewald, geboren am 23. Januar 1888 in Berlin, gestorben am 22. August 1985 in Ithaca,
New York. Ewald promovierte an der Ludwig-Maximilians-Universität München bei Arnold Som-
merfeld. 1921 wurde er a.o. Professor an der TH Stuttgart, 1928 erhielt er dort ein eigenes kleines
Institut, das mit dem Röntgeninstitut von Richard Glocker eng kooperierte. Von 1932 bis 1933 war
er Rektor der Technischen Hochschule Stuttgart. Ewald war der erste, der die Röntgeninterferenzen
der Kristalle mit einer theoretischen Grundlage versah und die Einzelheiten der Röntgenstreu-
ungsversuche von Max von Laue (1911/12) verständlich machen konnte. Ewald begründete die
dynamische Theorie der Röntgeninterferenzen, die auch auf andere Strahlungsarten (Elektronen,
Neutronen, Licht) angewendet werden kann. Er erhielt dafür unter anderem die höchste Auszeich-
nung der Deutschen Physikalischen Gesellschaft, die Max-Planck-Medaille.
70 2 Strukturanalyse

𝒌′
𝑮

Abb. 2.9: Darstellung der elastischen Streuung am


Punktgitter anhand der Ewald-Kugel (Kreis im zwei- 𝒌
dimensionalen reziproken Raum). k und k′ sind die
Wellenvektoren der einlaufenden und der gestreuten
Welle, G = k′ − k ist ein Vektor des reziproken Gitters.
34

Beugungsreflex tritt nun immer nur genau dann auf, wenn auf der Ewald-Kugel ein Gitter-
punkt des reziproken Gitters zu liegen kommt. In diesem Fall weist die gebeugte Röntgen-
strahlung in die Richtung von k′ = k + G. Wir sehen, dass wir durch Änderung des Betra-
ges von k oder seiner Richtung immer erreichen können, dass Gitterpunkte des reziproken
Gitters auf der Ewald-Kugel zu liegen kommen und wir dadurch die Beugungsbedingung
erfüllen.

2.2.3 Zusammenhang zwischen Bragg und von Laue Bedingung


Den Zusammenhang zwischen der von Laue- und Bragg-Bedingung können wir uns anhand
von Abb. 2.10 veranschaulichen. Für elastische Beugung (⋃︀k⋃︀ = ⋃︀k′ ⋃︀) erhalten wir sofort

⋃︀G⋃︀ = 2k sin θ . (2.2.11)

Andererseits wissen wir aus Abschnitt 2.1.5, dass für jede Ebenenschar ein reziproker Git-
tervektor Gmin ∥ G existiert, so dass

⋃︀G⋃︀ = n⋃︀Gmin ⋃︀ = n , (2.2.12)
d
wobei d der Abstand der Ebenen in der betrachteten Ebenenschar ist. Einsetzen in (2.2.11)
ergibt

n = 2k sin θ , (2.2.13)
d
woraus sich mit k = 2π⇑λ sofort die Bragg-Bedingung ergibt. Wir sehen also, dass die von
Laue- und Bragg-Bedingung äquivalent sind.

𝒌′
𝑮 𝑘 ′ sin 𝜃 = 𝑘 sin 𝜃
𝛉 𝛉
Netzebene 𝛉
Abb. 2.10: Zur Ableitung der Bragg- ℎ𝑘ℓ ⊥ 𝑮 𝑘 sin 𝜃
Bedingung aus den Laueschen Gleichungen. 𝒌
2.2 Beugung von Wellen an periodischen Strukturen 71

2.2.3.1 Geometrische Veranschaulichung der von Laue Bedingung


Schreiben wir die von Laue Bedingung als k′ = k + G und quadrieren, so erhalten wir

(k′ )2 = k 2 + 2k ⋅ G + G2 , (2.2.14)

woraus für elastische Streuung wegen ⋃︀k⋃︀ = ⋃︀k′ ⋃︀

2k ⋅ G + G2 = 0 (2.2.15)

folgt. Mit dem Einheitsvektor G ⧹︂ = G⇑⋃︀G⋃︀ und der Tatsache, dass auch −G ein reziproker Git-
tervektor ist, falls dies für G zutrifft, erhalten wir

⧹︂ =
k⋅G
G
. (2.2.16)
2

Dies ist eine äquivalente Form der von Laue Bedingung (2.2.10). Wir sehen, dass die Pro-
⧹︂ genau G⇑2 sein muss. Dies ist aber, wie Abb. 2.11 zeigt,
jektion des Wellenvektors k auf G
gerade für alle Punkte auf der Mittelebene zwischen 0 und G erfüllt. Vergleichen wir dies
mit der Konstruktionsvorschrift der Brillouin-Zonen, so erhalten wir folgenden wichtigen
Sachverhalt:

Jeder Wellenvektor vom Zentrum zum Rand einer Brillouin-Zone erfüllt die von Laue Be-
dingung.

(a) (b)
𝑮 𝒌′

0 𝒌 1. BZ Abb. 2.11: (a) Zur Veranschaulichung der


𝒌 0 äquivalenten Formulierung der von Laue
Bedingung. (b) Jeder Wellenvektor vom
𝒌′ 𝑮 Zentrum zum Rand der 1. Brillouin-Zone
erfüllt die von Laue Bedingung.

von Laue Bedingung: 𝒌′ − 𝒌 = 𝑮

 jeder Wellenvektor vom Zentrum zum Rand einer Brillouin-Zone erfüllt die von
2.2.4 Allgemeine Beugungstheorie
Laue Bedingung

37

In einer etwas allgemeineren Formulierung der Beugung wollen wir annehmen, dass wir
keine Mehrfachstreuprozesse in der Probe haben, d. h. ein einmal gebeugter Strahl soll
kein zweites Mal gebeugt werden. Ferner nehmen wir an, dass eine feste Phasenbeziehung
zwischen der einlaufenden Welle und jeder der von einem Streuzentrum auslaufenden
Kugelwellen (kohärente Streuung) besteht. Diese kinematische Näherung ist äquivalent
zur Bornschen Näherung in der quantenmechanischen Streutheorie. Für Neutronen und
Röntgenstrahlung ist diese Näherung meistens adäquat, für Elektronen müssen allerdings
häufig Mehrfachstreuprozesse berücksichtigt werden.
Bei unserer Diskussion der Streuamplituden gehen wir von Abb. 2.12 aus. Die von einer
Punktquelle Q auslaufenden Kugelwellen können in genügend großem Abstand von der
72 2 Strukturanalyse

B
P

𝒌 = 𝒌′
Abb. 2.12: Schematische Darstellung der Streu-
ung: Die Quelle Q ist genügend weit von der L
zu untersuchenden Probe entfernt, so dass die
bei der Probe ankommenden Kugelwellen als
ebene Wellen approximiert werden können.
Das gleiche gilt für den Beobachtungspunkt B. Q

Quelle gut durch ebene Wellen approximiert werden. Die Amplitude am Ort P des Streu-
zentrums zur Zeit t kann deshalb als

ΨP (t) = Ψ0 e ık⋅(L+r)−ı ω 0 t (2.2.17)

geschrieben werden.10
Die relativen Phasen der einlaufenden Welle an verschiedenen Punkten P sind durch den
positionsabhängigen Phasenfaktor in (2.2.17) gegeben. Erlauben wir nun die Streuung der
einlaufenden Welle in der betrachteten Probe, so wird jeder Probenpunkt P Kugelwellen
emittieren, deren Amplitude und relative Phase zur einlaufenden Welle durch eine komplexe
Streudichte ρ(r) beschrieben werden kann. Die Zeitabhängigkeit dieser Kugelwellen soll in
unserer Betrachtung durch die Zeitabhängigkeit der einlaufenden Welle bestimmt werden
(erzwungene Schwingung). Die am Beobachtungspunkt B ankommenden Wellen können
deshalb durch
′ ′
e ık ⋅(L −r)
ΨB (t) = ΨP (r, t)ρ(r) (2.2.18)
⋃︀L′ − r⋃︀

beschrieben werden. Für große Abstände des Beobachters B können wir ⋃︀L′ − r⋃︀ ≃ L′ setzen
und erhalten durch Einsetzen von (2.2.17) in (2.2.18)
Ψ0 ık⋅L ık′ ⋅L′ −ı ω 0 t ′
ΨB (t) = ′
e e e ρ(r)e ık⋅r e−ık ⋅r . (2.2.19)
L
Wir nutzen nun noch aus, dass wir für große Abstände von Q und B (L, L′ ≫ r) in guter
Näherung annehmen können, dass für alle Positionen P in der Probe die Wellenvektoren k

10
Es soll hier darauf hingewiesen werden, dass die wohldefinierte Phase der einlaufenden Welle na-
türlich nur für eine ideale kohärente Lichtquelle gilt. Bei realen Lichtquellen werden Photonen
mehr oder weniger unkorreliert emittiert. Bei der Bestimmung der Intensität müssen wir dann
über eine große Zahl von individuellen Streuprozessen mitteln.
2.2 Beugung von Wellen an periodischen Strukturen 73

und k′ etwa gleich sind und wir k ∥ L und k′ ∥ L′ setzen können. Wir können dann nähe-
rungsweise schreiben:
Ψ0 ı(k L+k ′ L′ ) −ı ω 0 t ′
ΨB (t) = e e ρ(r)e ı(k−k )⋅r . (2.2.20)
L′
Die gesamte Streuamplitude am Beobachtungspunkt erhalten wir, indem wir über alle Posi-
tionen P im Probenvolumen aufintegrieren:

ΨB (t) ∝ e−ı ω 0 t ∫ ρ(r)e ı(k−k )⋅r d 3 r . (2.2.21)

Für Streuprozesse an einem starren Gitter ist ρ(r) zeitunabhängig und die Zeitabhängig-
keit von ΨB enthält nur die Frequenz ω 0 . Dies entspricht elastischer Streuung. Erlauben wir
dagegen Schwingungen des Gitters, so erhalten wir auch gestreute Wellen mit ω ≠ ω 0 . Dies
entspricht inelastischer Streuung.
In Beugungsexperimenten wird nicht die Amplitude sondern die Intensität
2
I(∆k) ∝ ⋃︀ΨB ⋃︀2 ∝ ⋀︀∫ ρ(r)e−ı ∆k⋅r d 3 r⋀︀ (2.2.22)

gemessen, wobei wir den Streuvektor ∆k = k′ − k eingeführt haben. Wir erkennen, dass die
Streuintensität dem Absolutquadrat der Fourier-Transformierten der Streudichte ρ(r) ent-
spricht. Wir können daraus ableiten, dass wir umso größere ∆k und damit Wellenvektoren k
der einlaufenden Welle benötigen, je kleiner die Strukturen sind, die wir auflösen wollen.
Die Tatsache, dass wir in Beugungsexperimenten nur die Intensität messen können, führt
zu einigen Schwierigkeiten. Könnten wir nämlich die komplexe Streuamplitude messen, so
könnten wir einfach eine inverse Fourier-Transformation vornehmen und hätten die gesuch-
te Streudichte bestimmt. Dies ist leider nicht möglich, da wir beim Experiment die Phasenin-
formation verlieren. Um aus I(∆k) auf die gesuchte Streudichte und damit die Kristallstruk-
tur zu schließen, müssen wir deshalb umgekehrt vorgehen. Wir wählen eine wahrscheinliche
Modellstruktur aus, berechnen I(∆k) und vergleichen die berechnete Intensität mit der ge-
messenen. Wir variieren dann die strukturellen Parameter so lange, bis wir eine genügend
gute Übereinstimmung zwischen Rechnung und Experiment erhalten haben.
Wir können nun einige Eigenschaften der Fourier-Transformation benutzen, um das obige
Ergebnis weiter zu diskutieren. Zunächst nutzen wir aus, dass für eine reelle Funktion das
Betragsquadrat seiner Fourier-Transformierten der Fourier-Transformierten seiner Auto-
korrelationsfunktion entspricht. Wir können also schreiben:11 , 12 , 13

I(∆k) ∝ ∫ AC(r)e−ı ∆k⋅r d 3 r (2.2.23)

11
Otto Föllinger, Laplace-, Fourier- und z-Transformation, bearbeitet von Mathias Kluw, 8. überar-
beitete Auflage, Hüthig, Heidelberg (2003).
12
Burkhard Lenze, Einführung in die Fourier-Analysis, 2. durchgesehene Auflage, Logos Verlag, Ber-
lin (2000).
13
M. J. Lighthill, Introduction to Fourier Analysis and Generalised Functions, Cambridge University
Press, Cambridge (2003).
74 2 Strukturanalyse

mit der Autokorrelationsfunktion


AC(r) = ∫ ρ(r′ )ρ(r′ + r)d 3 r ′ . (2.2.24)

Die Autokorrelationsfunktion der Streudichte besitzt Maxima, immer wenn r einem Vektor
zwischen zwei Atomen in der Kristallstruktur entspricht.
Wir können weiter den Faltungssatz benutzen, der besagt, dass die Fourier-Transformierte
der Faltung zweier Funktionen gleich dem Produkt der Fourier-Transformierten der beiden
Originalfunktionen ist. Die Faltung zweier reeller Funktionen f und g ist dabei durch

h(r) = f ⊗ g ≡ ∫ f (r′ )g(r − r′ )d 3 r ′ (2.2.25)
−∞

gegeben. Es ist leicht einzusehen, dass wir die Streudichte ρ(r) der gesamten Kristallstruk-
tur, die ja aus Gitter und Basis besteht, als Faltung einer Gitterfunktion g(r) und einer Streu-
funktion ρ B (r) der Basis schreiben können. Die Gitterfunktion g besteht dabei nur aus einer
Summe von δ-Funktionen, g(r) = ∑R δ(r − R), wobei wir über alle N Gitterpunkte R des
Bravais-Gitters in der betrachteten Probe aufsummieren müssen. Durch Anwendung des
Faltungssatzes können wir dann für die Streuamplitude schreiben:
ΨB ∝ FT(g ⊗ ρ B ) = FT(g) ⋅ FT(ρ B ) . (2.2.26)
Für die Fourier-Transformierte der Gitterfunktion, die häufig auch als Interferenzfunktion
bezeichnet wird, erhalten wir14
)︀
⌉︀
⌉︀N für ∆k = G
FT(g) = ∫ ∑ δ(r − R)e−ı ∆k⋅r d 3 r = ∑ e−ı ∆k⋅R = ⌋︀ . (2.2.27)
⌉︀
⌉︀0 für ∆k ≠ G
R R ]︀
Wir erhalten das bekannte Ergebnis, dass konstruktive Interferenz nur dann auftritt, wenn
∆k = G (von Laue Bedingung). Das Gitter wählt uns also die möglichen Streuvektoren
∆k = G aus.
Um die Streuamplitude von Gitter und Basis zu erhalten, müssen wir jetzt noch mit der
Fourier-Transformierten der Streudichte der Basis multiplizieren. Diese wird als Struktur-
faktor S G bezeichnet und ist gegeben durch:

S G = FT(ρ B (r)) = ∫ ρ B (r)e−ıG⋅r d 3 r (2.2.28)


Zelle

Der Strukturfaktor wird häufig auch mit den Millerschen Indizes (hkℓ) versehen, da diese
den reziproken Gittervektor G festlegen.15 Die gesamte Streuamplitude am Beobachtungsort
14
Zur Herleitung der Fourier-Transformierten der δ-Funktion sowie einer Summe von δ-Funktio-
nen siehe M. J. Lighthill, Introduction to Fourier Analysis and Generalised Functions, Cambridge
University Press, Cambridge (2003).
15
Falls keine Absorption der Strahlung im untersuchten Festkörper erfolgt, ist ρ B (r) eine reelle Funk-
tion, d. h. es gilt ρ hkℓ = ρ ∗h k ℓ und damit S hkℓ = S h k ℓ . Diesen Sachverhalt bezeichnet man als Friedel-
Regel.
2.2 Beugung von Wellen an periodischen Strukturen 75

ist dann durch N ⋅ S G gegeben:16

ΨB ∝ N ∫ ρ B (r)e−ıG⋅r d 3 r = N ⋅ S G (2.2.29)
Zelle

Wir können nun den Faltungssatz nochmals anwenden, um Gleichung (2.2.28) noch weiter
zu zerlegen. Wir können nämlich die Funktion ρ B wiederum als Faltung einer Basisfunktion
b(r) = ∑ j δ(r − r j ) und einer Atomfunktion ρ A schreiben. Erstere besteht aus einer Summe
j

von δ-Funktionen, die uns die Positionen r j der Atome in der Basis angeben. Die Atom-
j
funktion ρ A beschreibt die Streudichte des Atoms an der Position r j . Die Anwendung des
Faltungssatzes ergibt

S G = FT [︀b ⊗ ρ A ⌉︀ = FT(b) ⋅ FT(ρ A )


j j
(2.2.30)

und damit

ΨB ∝ FT (︀g ⊗ b ⊗ ρ A ⌋︀ = FT(g) ⋅ FT(b) ⋅ FT(ρ A ) . (2.2.31)

Für die Fourier-Transformierte der Basisfunktion b erhalten wir

FT(b) = ∫ ∑ δ(r − r j )e−ıG⋅r d 3 r = ∑ e−ıG⋅r j . (2.2.32)


j j

Die Fourier-Transformierte der Streudichte ρ A (r̃) um das j-te Basisatom können wir schrei-
j

ben als

FT(ρ A ) = ∫ ρ A (r̃)e−ıG⋅r̃ d 3 r̃ .
j j
(2.2.33)
Atom

Hierbei gibt r̃ den Ortsvektor vom Zentrum des betrachteten j-ten Atoms zu einem Volu-
menelement seiner Elektronenhülle an (siehe Abb. 2.13). Damit erhalten wir insgesamt

⎨ ⎬
⎝ ⎠
SG = ∑ e −ıG⋅r j ⎝
⋅ ⎝ ∫ ρ A (r̃)e
j −ıG⋅r̃ 3 ⎠
d r̃ ⎠ = ∑ f j e−ıG⋅r j . (2.2.34)
⎝ ⎠
j ⎪ Atom ⎮ j

16
Anmerkung: Wir könnten die von Laue Bedingung auch aus (2.2.29) ableiten, indem wir ρ(r), d. h.
die Streudichteverteilung des gesamten Kristalls, Fourier-zerlegen. Da ρ(r) gitterperiodisch sein
sollte, gilt

ρ(r) = ∑ ρ G e ıG⋅r .
G

Wir finden dann



ΨB ∝ ∑ ρ G ∫ e ı(G−(k −k))⋅r d 3 r .
G
Kristall

Für genügend große Kristalle findet man, dass das Integral nur Beiträge liefert, falls G = k′ − k =
∆k.
76 2 Strukturanalyse

𝒓෤
Gitterpunkt 𝑹
Abb. 2.13: Zu den Bezeichnungen bei 𝒓𝒋
der Ableitung des Atomformfaktors. Basisatom 𝒋

Den Ausdruck in den rechteckigen Klammern nennt man den Atomformfaktor oder ato-
maren Streufaktor:
42

f j = FT(ρ A ) = ∫ ρ A (r̃)e−ıG⋅r̃ d 3 r̃ .
j j
(2.2.35)
Atom

Wir sehen, dass der Strukturfaktor durch die Summe der Fourier-Transformierten der La-
dungsverteilung der einzelnen Basisatome gegeben ist, wobei jeder Term noch mit einem
geeigneten Phasenfaktor multipliziert werden muss, der von der Position r j des Atoms in
der Basis abhängt. Für eine Basis mit nur einem Atom erhalten wir S G = f .
Für Atome mit einer kugelförmigen Ladungsverteilung vereinfacht sich die Integration
in (2.2.35), da die atomare Ladungsverteilung ρ A nur von ⋃︀r̃⋃︀ abhängt. Wir erhalten (wir
j

ersetzen r̃ durch r)
RA π 2π
f (G) = ∫ ρ A (r)e−ıG⋅r d 3 r = ∫ dr ∫ d ϑ ∫ dφρ A (r)r 2 sin ϑe−ıGr cos ϑ . (2.2.36)
Atom 0 0 0

Die Integration über r erfolgt dabei bis zum Rand R A des Atoms. Führen wir die Integration
über die Polarwinkel aus, so erhalten wir
RA
sin Gr
f (G) = ∫ 4πr 2 ρ A (r) dr . (2.2.37)
Gr
0

Für das Wasserstoffatom ist


1 −2r⇑a B
ρ A (r) = ⋃︀Ψ(r)⋃︀2 = e , (2.2.38)
πa B3

wobei a B der Bohrsche Radius ist. Setzen wir diese Ladungsverteilung in (2.2.37) ein und
lassen die Integrationsgrenze R A → ∞ gehen, so erhalten wir den Atomformfaktor zu
1
f (G) = . (2.2.39)
2 2
[︀1 + ( 12 a B G) ⌉︀

Für kleine Streuvektoren G → 0 (Streuung in Vorwärtsrichtung) ist der Atomformfaktor ma-


ximal und nimmt dann zu größeren Streuvektoren hin stark ab. Interessant ist es noch, den
2.2 Beugung von Wellen an periodischen Strukturen 77

Grenzfall G → 0 näher zu betrachten. Da hier sin Gr⇑Gr → 1, vereinfacht sich die Integrati-
on in (2.2.37) zu
RA
f (G → 0) = ∫ 4πr 2 ρ A (r)dr = Z . (2.2.40)
0

Dieser Grenzfall ist für sehr kleine Streuvektoren, also in Vorwärtsrichtung realisiert. Da die
Streuintensität proportional zu f 2 ist, ist sie bei kleinen Streuwinkeln also proportional zu Z 2
und wird damit ausschließlich durch die Elektronenzahl des Atoms bestimmt. Für Röntgen-
j
streuung ist die Streuamplitude ρ A durch die Elektronendichte des j-ten Atoms bestimmt.
Wir erwarten deshalb, dass die Streuintensität etwa proportional zu Z 2 ist. Wir sehen also,
dass leichte Elemente neben schweren Elementen durch Röntgenbeugung nur schwer nach-
gewiesen werden können.
Zusammenfassend wollen wir folgenden wichtigen Sachverhalt festhalten:

Bei der Strukturanalyse mittels Beugungsmethoden kann die Form und die Abmessungen
der Einheitszelle aus der Lage der Röntgenreflexe bestimmt werden. Der Inhalt der Ein-
heitszelle, also die Basis, muss dagegen aus den Intensitäten der Reflexe bestimmt werden.

2.2.5 Beispiele für Strukturfaktoren


Berechnen wir den Strukturfaktor nach (2.2.34), so ist es zweckmäßig, stets primitive Raum-
gitter zu verwenden, da in diesem Fall die Elementarzelle mit der Einheitszelle identisch ist.
Nichtprimitive Gitter können wir dadurch behandeln, indem wir dem zugehörigen primiti-
ven Gitter eine mehratomige Basis zuordnen.
Um den Strukturfaktor für einige Beispiele zu berechnen, geben wir die Atompositionen r j in
der Basis im Bezugssystem an, das durch die primitiven Gittervektoren a1 , a2 und a3 gebildet
wird. Wir können dann schreiben
r j = u j a1 + v j a2 + w j a3 . (2.2.41)
Da r j innerhalb der Zelle liegt, muss u j , v j , w j < 1 gelten. Mit G ⋅ r j = (hb1 + kb2 + ℓb3 )
(u j a1 + v j a2 + w j a3 ) = 2π(hu j + kv j + ℓw j ) (vergleiche (2.1.16)) erhalten wir aus (2.2.34)

S G = S hkℓ = ∑ f j e−ı2π(hu j +kv j +ℓw j ) . (2.2.42)


j

2.2.5.1 Kubisch primitives Gitter


Als Beispiel betrachten wir die Cäsiumchloridstruktur (siehe Abschnitt 1.2.7). Die primitive
Zelle enthält eine Formeleinheit CsCl mit den Atompositionen (000) und ( 12 12 12 ), d. h. u 1 =
v 1 = w 1 = 0 und u 2 = v 2 = w 2 = 12 . Wir erhalten dann den Strukturfaktor
)︀
⌉︀
⌉︀ f 1 + f 2 für h + k + ℓ = gerade
S hk ℓ = f 1 + f 2 e−ı π(h+k+ℓ) = ⌋︀ . (2.2.43)
⌉︀
⌉︀
]︀ f 1 − f 2 für h + k + ℓ = ungerade
78 2 Strukturanalyse

Wir sehen, dass wir eine starke Abschwächung der Intensität verschiedener Beugungsreflexe
erhalten können.

2.2.5.2 Kubisch raumzentriertes Gitter


Der Fall des kubisch raumzentrierten Gitters ist dem der Cäsiumchloridstruktur äquivalent
mit dem Unterschied, dass die Atome an den Positionen (000) und ( 12 12 12 ) jetzt identisch
sind, d. h. f 1 = f 2 = f . Dies führt zu einer völligen Auslöschung der Röntgenpeaks mit h +
k + ℓ = ungerade.
Anschaulich können wir das Verschwinden von Röntgenreflexen beim Übergang von einem
kubisch primitiven zu einem kubisch raumzentrierten Gitter mit Hilfe von Abb. 2.14 ver-
stehen. Durch das zusätzliche Vorhandensein der raumzentrierten Gitteratome können wir
uns eine weitere Netzebene genau in der Mitte zwischen den (001) Ebenen eingeschoben
denken. Ist die Bragg-Bedingung für die (001)-Ebene erfüllt, so ist der Gangunterschied
zwischen einem an einer (001)-Ebene und einem an der zusätzlichen Ebene reflektierten
Strahl gerade λ⇑2, so dass eine Auslöschung auftritt.

Abb. 2.14: Zum Strukturfaktor ei-


nes kubisch raumzentrierten Gitters.

2.2.5.3 Kubisch flächenzentriertes Gitter


Die Basis der kubisch flächenzentrierten Struktur bezogen auf die konventionelle kubische
Zelle hat identische Atome bei den Positionen (000), (0 12 12 ), ( 12 0 12 ) und ( 12 12 0). Aus (2.2.42) 45

folgt dann:
S hk ℓ = f )︀1 + e−ı π(k+ℓ) + e−ı π(h+ℓ) + e−ı π(h+k) ⌈︀
)︀
⌉︀
⌉︀
⌉︀
⌉︀
4f falls alle h, k, ℓ gerade oder ungerade
= ⌋︀0 falls ein Index gerade und die anderen . (2.2.44)
⌉︀
⌉︀
⌉︀
⌉︀
]︀ beiden ungerade oder umgekehrt
Wir sehen, dass für das fcc-Gitter keine Reflexe auftreten können, für die die Indizes teilweise
gerade und ungerade sind.

2.2.6 Inelastische Streuung


In unserer bisherigen Diskussion haben wir angenommen, dass sich die Atome des Kris-
tallgitters völlig in Ruhe befinden. Wir konnten deshalb annehmen, dass die Streudichte ρ
2.2 Beugung von Wellen an periodischen Strukturen 79

zeitunabhängig ist, d. h. ρ ≠ ρ(t). Die resultierende Streuamplitude ΨB enthält in diesem


Fall nur die Frequenz ω 0 der einlaufenden Welle. Dies entspricht elastischer Streuung. Die
Annahme völlig ruhender Atome ist allerdings aus zwei Gründen nicht gerechtfertigt:

1. Für T > 0 erhalten wir thermisch angeregte Schwingungen des Kristallgitters (siehe Ka-
pitel 5).
2. Selbst für T = 0 erhalten wir so genannte Nullpunktsschwingungen, deren Existenz wir
mit einer quantenmechanischen Betrachtung verstehen können.

Wir wollen im Folgenden auf den Einfluss der Gitterschwingungen auf die beobachteten
Beugungsreflexe eingehen. Bei einer naiven Betrachtung könnten wir vermuten, dass durch
die Bewegung der Atome die elastischen Beugungsreflexe stark verbreitert würden. Wir wer-
den allerdings sehen, dass dies nicht der Fall ist. Die Beugungsreflexe bleiben scharf, aller-
dings nimmt ihre Intensität ab.
Bei Raumtemperatur sind die typischen Schwingungsamplituden der Atome in der Größen-
ordnung von bis zu 10 % des Atomabstandes. Die Abweichungen von der strengen Periodi-
zität des Gitters, die durch diese Schwingungen erzeugt werden, sind also signifikant. Auf-
grund der Schwingungen des Gitters erhalten wir auch gestreute Wellen mit ω ≠ ω 0 . Dies
entspricht inelastischer Streuung. Bei der inelastischen Streuung wird beim Streuprozess
Energie von der einlaufenden Welle auf das Gitter übertragen und umgekehrt.
Aus der kohärenten elastischen Streuung am starren Kristallgitter erhalten wir Informatio-
nen über die Anordnung der Atome im Kristallgitter. Diese steckt in den erlaubten Streuvek-
toren ∆k = G (von Laue Bedingung) und der für diese Streuvektoren gemessenen Streuin-
tensität, die durch den Strukturfaktor S G gegeben ist. Um Auskunft über die Dynamik des
Gitters zu bekommen (diese werden wir im Detail erst in Kapitel 5 diskutieren), müssen
wir die in Abschnitt 2.2.4 gemachten Überlegungen vertiefen und in der Streutheorie die
zeitliche Veränderung der Position der Gitteratome berücksichtigen.
Wir schreiben die momentane Position r eines Atoms als

r(t) = R + r j + u(t) , (2.2.45)

wobei R ein Gittervektor, r j die Ruheposition des Atoms in der Gitterzelle und u(t) die
momentane Auslenkung des Atoms aus seiner Ruhelage r j ist. Wir benutzen ferner den all-
gemeinen Ausdruck (2.2.21) für die gesamte am Beobachtungspunkt B erhaltene Streuam-
plitude

ΨB (t) ∝ e−ı ω 0 t ∫ ρ(r)e−ı ∆k⋅r d 3 r . (2.2.46)

Setzen wir r(t) = R + r j + u(t) ein, so erhalten wir

ΨB (t) ∝ e−ı ω 0 t ∫ ρ(r)e−ı ∆k⋅R e−ı ∆k⋅r j e−ı ∆k⋅u(t) d 3 r . (2.2.47)

Wir nutzen nun aus, dass die Auslenkung u(t) der Atome klein gegenüber dem Gitterab-
stand a ist. Da 1⇑∆k ∼ 1⇑Gmin = a⇑2π und u ≪ a folgt ∆k ⋅ u(t) ≪ 1. Wir können deshalb
80 2 Strukturanalyse

die Exponentialfunktion entwickeln17 und erhalten

e−ı ∆k⋅u(t) ≃ 1 − ı∆k ⋅ u(t) − 12 (︀∆k ⋅ u(t)⌋︀ + . . . .


2
(2.2.48)

Wir werden zunächst nur den konstanten und linearen Entwicklungsterm berücksichtigen.
Die Diskussion des quadratischen Terms folgt im nächsten Abschnitt. Er führt zu einer Re-
duzierung der elastischen Streuintensität, die durch den Debye-Waller-Faktor angegeben
wird.
Setzen wir (2.2.48) in (2.2.47) ein, so erhalten wir

ΨB (t) ∝ e−ı ω 0 t ∫ ρ(r)e−ı ∆k⋅R e−ı ∆k⋅r j d 3 r


)︁⌊︂⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ]︂⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ )︂
elastisch
−ı ω 0 t −ı ∆k⋅R −ı ∆k⋅r j 3
−e ∫ ı∆k ⋅ u(t)ρ(r)e e d r . (2.2.49)
)︁⌊︂⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ]︂⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ )︂
inelastisch

Den elastischen Beitrag haben wir bereits in Abschnitt 2.2.4 diskutiert. Wir haben dort gese-
hen, dass wir eine endliche Streuintensität nur dann bekommen, wenn die von Laue Bedin-
gung ∆k = G erfüllt ist. Der genaue Wert der Streuintensität war durch den Strukturfaktor
S G gegeben.
Wir wollen nun den zweiten Term auf der rechten Seite von (2.2.49) diskutieren, den wir
inelastischen Streuprozessen zuordnen können. Hierzu müssen wir einen vernünftigen An-
satz für die Auslenkung u(t) der Atome machen. Wie wir in Kapitel 5 sehen werden, ist ein
geeigneter Ansatz eine Überlagerung von ebenen Wellen

u(t) = ∑ uq e±ı)︀q⋅(R+r j )−ω q t⌈︀ (2.2.50)


q

mit Amplituden uq , die vom Wellenvektor und der Temperatur abhängen. Setzen wir diesen
Ansatz in (2.2.49) ein, so erhalten wir für die inelastische Streuamplitude

ΨBinel (t) ∝ − ∑ ∫ ı∆k ⋅ uq ρ(r)e−ı(∆k±q)⋅R e−ı(∆k±q)⋅r j e−ı(ω 0 ±ω q )t d 3 r . (2.2.51)


q

Wir sehen sofort, dass wir eine endliche Streuintensität nur für die modifizierte Streubedin-
gung

∆k ± q = G (2.2.52)

erhalten. Bilden wir das Zeitmittel, so sehen wir, dass sich eine endliche Streuintensität nur
unter der Bedingung

ω0 ± ωq = ω (2.2.53)

17
Wir benutzen: ex = 1 + x + 12 x 2 + . . .
2.2 Beugung von Wellen an periodischen Strukturen 81

ergibt. Wir können (2.2.52) und (2.2.53) mit dem Planckschen Wirkungsquantum multipli-
zieren und erhalten

ħ∆k = ħk′ − ħk = ħG ± ħq (2.2.54)


ħω = ħω 0 ± ħω q . (2.2.55)

Diese Ausdrücke können wir als Impuls- und Energieerhaltung bei einem inelastischen
Streuprozess interpretieren. Wir werden in der Tat in Kapitel 5 sehen, dass wir die Quanten
der Gitterschwingungen – wir werden diese als Phononen bezeichnen – als Teilchen mit
Energie ħω q und Quasiimpuls ħq auffassen können. Der Impuls ħG wird an den Kristall als
Ganzes übertragen.

2.2.7 Der Debye-Waller Faktor


In der Entwicklung (2.2.48) der Exponentialfuntion haben wir im vorangegangenen Ab-
schnitt die Auswirkung des quadratischen Terms 12 (︀∆k ⋅ u(t)⌋︀ nicht diskutiert. Wir werden
2

im Folgenden zeigen, dass dieser Term in einer Abnahme der elastischen Beugungsintensität
resultiert.
Wir schreiben die Position des j-ten Atoms in einer Einheitszelle als r(t) = R + r j + u(t),
wobei R ein Gittervektor, r j die Ruheposition des j-ten Atoms in der Basis und u(t) die
momentane Auslenkung des j-ten Atoms aus seiner Ruhelage sind. Wir betrachten nun die
Streuamplitude in Richtung k′ = k + G:

ΨB ∝ N S G = N ∑ f j e−ıG⋅r j . (2.2.56)
j

Wir ersetzen nun r j durch r j + u(t) und bilden den zeitlichen Mittelwert ∐︀. . .̃︀ t .18 Dabei
nehmen wir vereinfachend ferner an, dass die Basis aus gleichen Atomen besteht, d. h. u(t)
ist für alle Atome der Basis gleich. Wir erhalten dann

∐︀S G ̃︀ t = ̂︂∑ f j e−ıG⋅(r j +u(t)) ]︁ = ∑ f j e−ıG⋅r j ∐︁e−ıG⋅u(t) ̃︁ t


j t j

= S Gstat ∐︁e−ıG⋅u(t) ̃︁ t . (2.2.57)

Dabei ist S Gstat der so genannte statische Strukturfaktor.19 Da G ⋅ u ≪ 1, können wir die Ex-
ponentialfunktion entwickeln und erhalten

∐︀S G ̃︀ t = S Gstat ∐︁1 − ıu(t) ⋅ G − 12 (u(t) ⋅ G)2 + . . .̃︁ t

= S Gstat )︀1 − ∐︀ıu(t) ⋅ G̃︀ t − 12 ∐︁(u(t) ⋅ G)2 ̃︁ t + . . .⌈︀ . (2.2.58)

T
18 1
Zeitlicher Mittelwert einer Funktion f (t): ∐︀ f (t)̃︀ t = lim T ∫ f (t)dt.
T→∞ 0
19
Man beachte: S Gstat ≠ S G (T = 0) aufgrund von Nullpunktsschwingungen.
82 2 Strukturanalyse

Da bei einer zufälligen thermischen Bewegung der Atome die Richtung von u und G völlig
unkorreliert ist, gilt
∐︀ıu(t) ⋅ G̃︀ t = 0 . (2.2.59)
Führen wir den Winkel ϑ = ∢(u, G) ein, so können wir den quadratischen Term schreiben
als
1
2
∐︀(u(t) ⋅ G)2 ̃︀ = 21 ∐︁u 2 (t)G 2 cos2 ϑ̃︁ t = 16 G 2 ∐︁u 2 (t)̃︁ t . (2.2.60)

Hierbei ist ∐︀u 2 (t)̃︀ das mittlere thermische Auslenkungsquadrat. Der Faktor 1⇑3 entsteht
dabei durch die Mittelung von cos2 ϑ über eine Kugel.20
Setzen wir das Ergebnis (2.2.60) in (2.2.58) ein, so erhalten wir
∐︁u 2 (t)̃︁
∐︀S G ̃︀ t = S Gstat )︀1 − 16 G 2 ∐︁u 2 (t)̃︁ t + . . .⌈︀ ≃ S Gstat e− 6 G
1 2
, (2.2.61)
wobei wir für die Näherung im letzten Term wiederum die Entwicklung der Exponential-
funktion zugrunde gelegt haben. Für die im Experiment beobachtete elastische Streuinten-
sität I ∝ S G2 erhalten wir

∐︁u 2 (t)̃︁
I = I 0 e− 3 G
1 2
. (2.2.62)
Der Exponentialfaktor wird als Debye-Waller-Faktor bezeichnet21 , 22 .
Um die Temperaturabhängigkeit des Debye-Waller-Faktors zu analysieren, müssen wir be-
achten, dass die mittlere potenzielle Energie ∐︀Ũ︀ t eines harmonischen Oszillators in 3 Di-
mensionen gerade 32 k B T beträgt (dies folgt aus dem Gleichverteilungssatz). Wir können also
schreiben
∐︀Ũ︀ t = 12 k∐︀u 2 (t)̃︀ t = 12 Mω 2 ∐︀u 2 (t)̃︀ t = 32 k B T . (2.2.63)

⌈︂ ist k die Kraftkonstante, M die Atommasse und für die Schwingungsfrequenz gilt
Hierbei
ω = k⇑M. Einsetzen in (2.2.62) ergibt:
k T
− MBω 2 G 2
I hkℓ = I 0 e . (2.2.64)

Dabei sind (hkℓ) die Millerschen Indizes, bzw. die Indizes des reziproken Gittervektors G =
hb1 + kb2 + ℓb3 . Das Resultat (2.2.64) ist in Abb. 2.15a dargestellt.
Wir können aus (2.2.64) folgende Schlüsse ziehen:

1. Die Intensität der elastischen Beugungsreflexe nimmt mit zunehmender Temperatur ab,
verschwindet aber nicht.
2. Bei fester Temperatur nimmt die Intensität mit wachsendem h + k + ℓ ab.

20 ∫0 dφ ∫0π dϑ sin ϑ cos 2 ϑ
Es gilt: cos2 ϑ = 2π dφ ∫0π dϑ sin ϑ
= 13 .
∫0
21
P. Debye, Interferenz von Röntgenstrahlen und Wärmebewegung, Ann. d. Phys. 348, 49–92 (1913).
22
I. Waller, Zur Frage der Einwirkung der Wärmebewegung auf die Interferenz von Röntgenstrahlen,
Zeitschrift für Physik A 17, 398–408 (1923).
2.2 Beugung von Wellen an periodischen Strukturen 83

(a)
10
0 (b) 10
(200) Bragg T=0
(400) 8 Reflex

I (bel. Einh.)
(600) 6
Ihkl / I0

(800) 4

2 diffuser T>0
(10,00)
10
-1 Untergrund
0
0 100 200 300 400 40 45 50 55 60
T (K) (°)

Abb. 2.15: (a) Abnahme der elastischen Streuintensität mit zunehmender Temperatur und zunehmen-
dem h + k + ℓ. Die Kurven wurden nach (2.2.64) für Mω 2 ⇑G 2 = 2 × 10−19 J berechnet. In (b) ist die
Umverteilung der elastischen Streuintensität aus dem Bragg-Reflex in einen inelastischen Untergrund
bei Erhöhung der Temperatur veranschaulicht.

Die für einen elastischen Beugungsreflex beobachtete Intensität I hkℓ ist nur durch die kohä-
rente, elastische Streuung gegeben. Diese resultiert in einem scharfen Beugungsreflex, dessen
Intensität mit wachsender Temperatur abnimmt. Die inelastisch gebeugten Strahlen resul-
tieren in einem diffusen Untergrund, dessen Intensität mit zunehmender Temperatur wächst
(siehe Abb. 2.15b).
Wir wollen abschließend noch anmerken, dass nicht nur die elastische Streuintensität son-
dern auch die inelastische Streuintensität um den Debye-Waller-Faktor reduziert wird. Dies
wollen wir hier nicht explizit zeigen. Allgemein kann gezeigt werden, dass die Potenz, mit
der die Auslenkung u in der Entwicklung (2.2.48) vorkommt, der Zahl der am Streuprozess
teilnehmenden Gitterschwingungen (Phononen) entspricht. Der konstante Term entspricht
also (elastischen) Null-Phononen-Prozessen, der lineare Term Ein- und der quadratische
Zwei-Phononen-Prozessen. Prozesse noch höherer Ordnung können wegen ∆k ⋅ u ≪ 1 in
sehr guter Näherung vernachlässigt werden.

2.2.7.1 Zahlenbeispiele
Abnahme von I bei Raumtemperatur: Mit einer Gitterkonstanten a von einigen
Ångström folgt G = n 2π a
∼ 1011 m−1 . Mit einer typischen Schwingungsfrequenz von
ω ∼ 10 s und typischen Atommasse M ∼ 10−25 kg erhalten wir Mω 2 ⇑G 2 ≃ 10−19 J. Bei
14 −1

Raumtemperatur (k B T ≃ 4 × 10−21 J) ergibt sich daraus Mk BωT2 G 2 ∼ 0.04 und damit für I⇑I 0
ein Wert von ≃ 0.96. Wir sehen, dass die Abnahme der Intensität der Beugungsreflexe nicht
dramatisch ist.

Nullpunktsschwingungen: Für einen harmonischen Oszillator in 3D haben wir eine Null-


punktsenergie von 32 ħω und damit eine mittlere potenzielle Energie von 34 ħω. Mit ∐︀Ũ︀ t =
1
2
Mω 2 ∐︀u 2 ̃︀ t = 34 ħω erhalten wir ∐︀u 2 ̃︀ t = 3ħ⇑2Mω. Damit ergibt sich für die Abnahme der
84 2 Strukturanalyse

Intensität aufgrund von Nullpunktsschwingungen

− 2Mħ ω G 2
I hkℓ = I 0 e . (2.2.65)

Mit den obigen Zahlen erhalten wir ħG 2 ⇑2Mω ∼ 0.05 und damit I⇑I 0 ∼ 0.95. Wir sehen,
dass selbst bei T = 0 aufgrund der quantenmechanischen Nullpunktsschwingungen nur et-
wa 95 % der gestreuten Intensität aus elastischen Streuprozessen resultiert.

2.2.8 Vertiefungsthema: Der Mößbauer-Effekt


Die in den letzten Abschnitten erarbeiteten Grundlagen zur Beugung von Wellen an einer
periodischen Kristallstruktur gelten auch für den Mößbauer-Effekt, für dessen Entdeckung
Rudolf Mößbauer im Jahr 1961 den Nobelpreis für Physik erhielt.
Beim Mößbauer-Effekt handelt es sich um die rückstoßfreie Emission von γ-Strahlung. Zur
Diskussion des Mößbauer-Effekts betrachten wir zunächst die Emission eines einzelnen
γ-Quants von einem freien Atom mit Masse M und Geschwindigkeit v = 0. Die Energie des
γ-Quants sei
E γ = ħω = ħkc . (2.2.66)
Hierbei ist c die Lichtgeschwindigkeit. Aus der Impulserhaltung folgt
ħω ⧹︂
Mv = ħk = k (2.2.67)
c
und damit für die Rückstoßenergie R

p2 ħ2 k 2 E γ2
R= = = . (2.2.68)
2M 2M 2Mc 2
Für E γ = 100 keV und M = M n = 1.67 × 10−27 kg (Neutronenmasse) folgt R = 8.5 ×
10−19 J = 5.3 eV. Diese Rückstoßenergie ist wesentlich größer als die natürliche Linien-
breite des Strahlungsübergangs, der im Bereich von 10−7 eV liegt.
Die thermische Verbreiterung der Spektrallinie eines Atoms aufgrund seiner thermischen
Bewegung ist ∆ν ≃ ν(v th ⇑c), da die mittlere thermische Geschwindigkeit v th ≪ c. Den dar-
aus resultierenden Dopplereffekt
∐︀∆ω 2 ̃︀ ∐︀∆v 2 ̃︀
= (2.2.69)
ω2 c2
können wir unter Benutzung von 12 M∐︀v 2 ̃︀ ≃ k B T zu

ω2 ω 2 2k B T
∐︀∆ω 2 ̃︀ = ∐︀∆v 2
̃︀ = (2.2.70)
c2 c2 M
abschätzen. Wir erhalten daraus
E 02
∐︀∆E 2 ̃︀ = ħ 2 ∐︀∆ω 2 ̃︀ = 4k B T = R ⋅ 4k B T . (2.2.71)
2Mc 2
2.2 Beugung von Wellen an periodischen Strukturen 85

Rudolf Mößbauer (1929–2011) – Nobelpreis für Physik 1961


Rudolf Mößbauer, wurde am 31.01.1929 in München ge-
boren. Er hat in München ab 1935 die Grundschule und
anschließend das Gymnasium besucht. Er legte 1948 das
Abitur ab und studierte danach an der Technischen Hoch-
schule München (heute Technische Universität München)
Physik. Sein Studium bei Prof. Heinz Maier-Leibnitz hat
er 1955 mit dem Diplom in Physik abgeschlossen. An-
schließend arbeitete er am Max-Planck-Institut in Heidel-
berg an seiner Dissertation zur Kernresonanz-Fluoreszenz
von Gammastrahlen in Iridium 191. Dabei entdeckte er 1957
den nach ihm benannten Mößbauer-Effekt. Nach seiner
Promotion (1958) folgten Forschungsarbeiten an der TH
München. Im Jahr 1960 nahm er ein attraktives Angebot
des California Institute of Technology an, wo er seine in © The Nobel Foundation.
Rudolf Mößbauer
Deutschland begonnenen Versuche fortsetzte. Kurzgeborenbevor
am 31.01.1929 in München, gestorben am 14. September 2011 in München
ihn die Nachricht aus Stockholm über die Verleihung des Nobelpreises für Physik des
Jahres 1961 erreichte, wurde er am Caltech vom wissenschaftlichen Mitarbeiter zum or-
dentlichen Professor ernannt. Den Nobelpreis erhielt er zusammen mit dem Amerikaner
Robert Hofstadter für den experimentellen Nachweis der rückstoßfreien Kernresonanzab-
sorption. Im Jahr 1962 habilitierte er sich und blieb noch zwei Jahre in Kalifornien. 1964
kam er dann als Ordinarius für Experimentalphysik und Direktor des Physik-Departments
an die TU-München zurück, nachdem die Bayerische Staatsregierung seine Forderung,
an der Technischen Universität ein Physik-Department aufzubauen, akzeptiert hatte. Im
Jahr 1972 übernahm er für fünf Jahre die Leitung des deutsch-französischen Forschungs-
instituts Laue-Langevin in Grenoble. Trotz zahlreicher attraktiver Angebote anderer Uni-
versitäten und Forschungsorganisationen des In- und Auslands ist Professor Rudolf Möß-
bauer seiner Heimatuniversität treu geblieben. Ab 1997 war er Professor Emeritus an der
Fakultät für Physik der Technischen Universität München.
Rudolf Mößbauer starb am 14. September 2011 in München.

Für E 0 = 100 keV und M = M n erhalten wir für T = 300 K für die Energieverschmierung
∐︀∆E 2 ̃︀1⇑2 ≃ 0.7 eV ≃ 0.1R. Wir sehen also, dass sowohl die Rückstoßenergie und die Dopp-
lerverbreiterung wesentlich größer sind als die natürliche Linienbreite und deshalb keine
Resonanzabsorption, d. h. die Absorption eines emittierten γ-Quants durch ein gleicharti-
ges Atom, auftreten kann (siehe hierzu Abb. 2.16).
Die Situation ändert sich völlig, wenn wir ein in ein Kristallgitter eingebautes Atom betrach-
ten. Dem Rückstoß des freien Atoms entspricht hier die Emission oder Absorption eines
Quants der Gitterschwingung, d. h. eines Phonons (siehe hierzu Kapitel 5). Wir können auch
rückstoßfreie γ-Emission oder Absorption erhalten, wenn kein Phonon emittiert oder ab-
sorbiert wird. Die dadurch erhaltene Linie nennen wir Null-Phononenlinie oder Mößbauer-
Linie.
86 2 Strukturanalyse

10
Emission Absorption
8

I (bel. Einh.)
6
natürliche
Abb. 2.16: Bei der Emission eines 4 Linienbreite
γ-Quants von einem freien Atom ist
die natürliche Linienbreite wesentlich 2 -R +R
kleiner als die Rückstoßenergie R. Die
entsprechenden Linien für Emission
bei E 0 − R und Absorption bei E 0 + R 0
-2 -1 0 1 2
haben keinen Überlapp, so dass keine
Resonanzabsorption stattfinden kann. (E-E0) / R

In Analogie zu (2.2.64) in Abschnitt 2.2.7 können wir die Intensität der Mößbauer-Linie
relativ zur Gesamtintensität durch
k T
I − B2 k 2
D(T) = = e MωPh (2.2.72)
I0

ausdrücken. Hierbei ist k der Wellenvektor des γ-Quants und ω Ph die Phononenfrequenz.
Für T = 0 erhalten wir aufgrund der Nullpunktsschwingungen
2
I − ħ k2
D(0) = = e 2M ħωPh . (2.2.73)
I0

Die rückstoßfreie Emission und Absorption von Kern-Gammastrahlung, wird heute inten-
siv für die so genannte Mößbauer-Spektroskopie verwendet. Die Mößbauer-Spektroskopie
ist eine Kernspektroskopiemethode. Etwa 40 Elemente besitzen die für die Beobachtung des
Mößbauer-Effektes nötigen niederenergetischen Gammaübergänge. Die Mößbauer-Spek-
troskopie an Eisen hat aufgrund des häufigen Vorkommens dieses Elementes in der Erd-
kruste Bedeutung für viele Forschungsgebiete, so etwa für die Festkörperchemie, die Metall-
urgie, die Geologie, die Biologie, die Medizin, oder die Entwicklung von Magnetspeichern.
Die Energie des Kernübergangs des Isotops 57 Fe vom Grundzustand mit Kernspin I = 1⇑2
zum ersten angeregten Zustand mit I = 3⇑2 beträgt 14.4 keV. Wegen der äußerst geringen
energetischen Breite der Emissionslinie führen geringfügige Energieverschiebungen des Zu-
standes des Atomkerns in einem typischen Energiebereich von 10−4 eV zu einer Zerstörung
der Resonanzbedingung und es findet keine Absorption mehr statt. Solche Energieverschie-
bungen und quantenmechanische Aufspaltungen werden über elektrische und magnetische
Felder von der chemischen und kristallographischen Umgebung des Eisenatomkerns verur-
sacht und diese sind charakteristisch für jede Eisenverbindung, also quasi der Mößbauer-
Fingerabdruck jedes eisenhaltigen Minerals. Das Problem lautet also: Wie kann man einen
so geringen Energieunterschied bei einem Energieübergang von 14.4 keV messen? Dies ge-
lingt nur mit Hilfe des Mößbauer-Effekts, also der rückstoßfreien Resonanzabsorption. Man
kann die Energieverschiebungen vermessen, indem die Energie des von der radioaktiven
2.3 Experimentelle Methoden 87

Quelle emittierten γ-Quants mittels des Dopplereffekts, d. h. durch Bewegen der Quelle mit
einer bekannten Geschwindigkeit, so weit geändert wird, bis wieder Resonanzabsorption
stattfindet.

2.3 Experimentelle Methoden


der Strukturbestimmung
Wir wollen hier einige experimentelle Methoden diskutieren, die zur Strukturanalyse von
Festkörpern mittels Beugungsmethoden verwendet werden. Wir wollen damit beginnen,
die verschiedenen Wellentypen vorzustellen, die sich für Beugungsexperimente eignen. Wir
werden sehen, dass die verschiedenen Wellentypen spezifische Vor- und Nachteile besitzen.

2.3.1 Wellentypen
Beugungsexperimente können nicht nur mit elektromagnetischen Wellen (Röntgen-Strah-
lung), sondern auch mit Materiewellen (z. B. Elektronen, Neutronen, Helium-Atomen)
durchgeführt werden. Letzteren können wir über die de Broglie23 Beziehung eine Wellen-
länge

h
λ= (2.3.1)
p

zuordnen. Für nicht-relativistische Teilchen besteht zwischen der kinetischen Energie E und
dem Impuls eines Teilchens mit der Masse M der Zusammenhang
⌋︂
p = 2ME . (2.3.2)

Für die de Broglie Wellenlänge erhalten wir damit

h
λ = ⌋︂ . (2.3.3)
2ME

Die Abhängigkeit der Wellenlänge von der Energie ist für einige Wellentypen in Abb. 2.17
dargestellt. Wir sehen, dass für Neutronen eine Energie von 0.08 eV einer Wellenlänge von
1 Å entspricht. Diese Energie ist nahe bei der thermischen Energie k B T ≃ 0.025 eV für T =
300 K. Wir sprechen deshalb bei den für Beugungsexperimente verwendeten Neutronen von
thermischen Neutronen.

23
Louis Victor de Broglie, geboren am 15. August 1892 in Dieppe, Frankreich, gestorben am 19. März
1987 in Louveciennes, Frankreich, Nobelpreis für Physik 1929 für die Entdeckung der Wellennatur
der Elektronen.
88 2 Strukturanalyse

1
10

 (Å)
0
10
Abb. 2.17: Die de Broglie Wellen-

𝑬 ≃ 𝒌𝐁 ⋅ 𝟑𝟎𝟎 𝐊
länge von Photonen, Elektronen,
Neutronen und Heliumatomen als
Funktion der Teilchenenergie ange-
geben in Einheiten von 100 keV für
Photonen, 1 keV für Elektronen und -1
1 eV für Neutronen und Heliumato- 10 -2 -1 0
10 10 10
me. Der hinterlegte Bereich markiert Photonen: 100 keV
den thermischen Energiebereich für Energie Elektronen: 1 keV
Neutronen zwischen 20 und 30 meV. Neutronen, Helium: 1 eV
51

Bei der Auswahl der Wellenart für Beugungsexperimente müssen wir Folgendes beachten:

1. Die Wellenlänge muss in der Größenordnung der Gitterkonstante des Kristallgitters lie-
gen, d. h. λ ∼ 1 Å, um die Bragg-Bedingung erfüllen zu können.
2. Die Dämpfung der Wellen im Festkörper sollte nicht zu groß sein. Die Intensität der Wel-
le nach Durchdringen der Dicke d ist durch I = I 0 e−µd gegeben, wobei µ die Absorpti-
onskonstante bzw. 1⇑µ die Absorptionsdicke ist. Für Untersuchungen der Kristallstruk-
tur sollte diese mindestens so groß sein wie die Kristallabmessungen, also typischerweise
1–10 mm.

In Tabelle 2.1 fassen wir einige wichtige Größen von Röntgenstrahlung und einigen Mate-
riewellen zusammen. Es werden allerdings keine Angaben zur Absorptionsdicke gemacht,
da diese stark von der Energie der Strahlung sowie der Dichte und Massenzahl des bestrahl-
ten Materials abhängt. Die typischen Werte für die Absorptionsdicke liegen für Elektronen
im nm- bis µm-Bereich. Deshalb müssen für die Elektronenbeugung die zu untersuchen-

Tabelle 2.1: Charakteristische Kenndaten von Röntgenstrahlung und einigen Materiewellen.

Größe Photonen Elektronen Neutronen


Masse 0 m e = 9.109 × 10−31 kg M n = 1.675 × 10−27 kg
Wellenlänge λ= hc
E
λ= ⌋︂ h
2m e E
λ= ⌋︂ h
2M n E
λ [Å] ≃ 12.4
E(︀keV⌋︀
λ [Å] ≃ ⌈︂ 12 λ [Å] ≃ ⌈︂0.28
E(︀eV⌋︀ E(︀eV⌋︀

Flussdichte Röntgenröhre: > 1024 /cm2 s ∼ 1015 /cm2 s


< 108 /mm2 s mrad2 0.1 %BW
Synchrotron (3. Gen.):
∼ 1020 /mm2 s mrad2 0.1 %BW
Streuquerschnitt ∝ Z2 ∝ Z2 stark vom jeweiligen Kern
abhängig
2.3 Experimentelle Methoden 89

den Proben auf kleine Dicken abgedünnt werden, was in vielen Fällen einen erheblichen
Aufwand bedeutet. Für Röntgenstrahlung und Neutronen liegen die Absorptionsdicken da-
gegen typischerweise im mm- bis cm-Bereich.

2.3.1.1 Röntgenstrahlung
Röntgenstrahlung kann durch Beschuss eines Metalltargets (z. B. Cu, Mo) mit hochenergeti-
schen Elektronen erzeugt werden.24 Bei der Abbremsung der schnellen Elektronen entsteht
Röntgenstrahlung, die aus einem kontinuierlichen Bremsspektrum besteht, dem charakte-
ristische Röntgenlinien überlagert sind. Das Bremsspektrum entsteht durch die Abbremsung
der Strahlelektronen im Target. Die charakteristischen Röntgen-Linien entstehen durch das
Herausschlagen von Elektronen aus den inneren Schalen der Targetatome und anschlie-
ßendes Wiederauffüllen mit Elektronen aus höheren Schalen. Die so genannte K-, L- oder
M-Strahlung entsteht dabei durch den Übergang von Elektronen aus den äußeren Schalen
in die K-, L- oder M-Schale.
Für Cu- und Mo-Anoden erhalten wir für die Wellenlänge der charakteristischen K α 1 -Linie:

Cu-Anode: K α 1 = 1.541 Å (2.3.4)


Mo-Anode: K α 1 = 0.709 Å . (2.3.5)

Die obige Tabelle zeigt, dass man mit den üblichen Röntgenröhren keine hohe Brilli-
anz25 erzeugen kann. Die heute erreichten Werte liegen üblicherweise unterhalb von 108
Photonen/mm2 s mrad2 0.1 %BW (BW = Bandbreite). Wesentlich höhere Werte im Bereich
von 1020 Photonen/mm2 s mrad2 0.1 %BW erreicht man heute mit Synchrotron-Strahlungs-
quellen der dritten Generation. Die Röntgenstrahlung wird hier durch die Ablenkung der
hochenergetischen Elektronen eines Beschleunigerrings durch Magnetfelder erzeugt. Rönt-
genstrahlung ist heute mit einer sehr hohen Intensität und guter Monochromasie verfügbar.
Sie eignet sich aufgrund ihrer großen Absorptionsdicke sehr gut für Strukturuntersuchun-
gen. Allerdings werden leichte Elemente mit Röntgenstrahlung schlecht gesehen, da der
Streuquerschnitt mit Z 2 geht.

2.3.1.2 Elektronen
Die in einen Kristall eingeschossenen Strahlelektronen werden an den Gitterbausteinen
durch Coulomb-Wechselwirkung mit den Hüllenelektronen sowie den Kernen der Gitter-
atome gestreut. Die im Unterschied zur Röntgenstrahlung zusätzliche Wechselwirkung mit
den Atomkernen ist bei der Berechnung des atomaren Streufaktors zu berücksichtigen. Aus
Abb. 2.17 entnehmen wir, dass Elektronen mit einer Wellenlänge von etwa 1 Å eine Energie
von nur etwa 150 eV besitzen. Die Reichweite von solchen niederenergetischen Elektronen
in Festkörpern ist sehr klein (1–5 nm für E = 10–1000 eV), weshalb sich die Elektronen-
beugung hauptsächlich für die Untersuchung von Kristalloberflächen eignet (z. B. LEED:

24
W. C. Röntgen, Über eine neue Art von Strahlen, vorläufige Mitteilung, in Aus den Sitzungsberichten
der Würzburger Physik, medic. Gesellschaft, Würzburg (1895).
25
Die Brillianz einer Lichtquelle ist durch die Zahl der Photonen pro Flächeneinheit, Zeiteinheit,
Winkelelement und Frequenzband gegeben.
90 2 Strukturanalyse

Low Energy Electron Diffraction; RHEED: Reflection High Energy Electron Diffraction).
Mit der Elektronenbeugung können insbesondere sehr dünne Oberflächenschichten (z. B.
Oxidschichten auf Metallen) untersucht werden. Diese lassen sich mit Röntgenbeugung nur
schlecht erfassen.
In Elektronenmikroskopen (siehe Abschnitt 1.6.1) werden typischerweise Elektronenener-
gien von einigen 100 keV verwendet. Die de Broglie Wellenlänge beträgt dann nur einige
pm. In diesem Fall lässt sich die Braggsche Beugungsbedingung nur dann erfüllen, wenn
der Winkel zwischen Strahlrichtung und Gitterebene nicht größer als etwa 2○ ist. Der Vor-
teil der Elektronenbeugung ist, dass der Elektronenstrahl sehr gut fokussiert werden kann
und deshalb Beugungsexperimente an sehr kleinen Probenausschnitten (z. B. an einzelnen
Kristalliten in polykristallinen Proben) gemacht werden können. In Elektronenmikrosko-
pen arbeitet man in Transmission. Die starke Streuung der Strahlelektronen erfordert, um
Mehrfachstreuungen klein zu halten, eine sehr aufwändige Dünnschliffpräparation der zu
untersuchenden Proben (typische Probendicken: < 100 nm).

2.3.1.3 Neutronen
Die Masse des Neutrons ist 1836 mal größer als die des Elektrons. Deshalb ist bei gleicher
de Broglie Wellenlänge die Energie des Neutrons um den gleichen Faktor geringer. Aus
Abb. 2.17 entnehmen wir, dass zu einer Wellenlänge von 1 Å Neutronen mit Energien ge-
hören, die etwa der thermischen Energie k B T ≃ 25 meV bei Raumtemperatur entsprechen.
Die verwendeten Neutronenquellen müssen also für die Strukturuntersuchung so genann-
te thermische Neutronen in genügend hoher Intensität liefern. Kernreaktoren liefern heu-
te einen Fluss von etwa 1015 Neutronen/cm2 s (Hochflussreaktor in Grenoble, Garchinger
Forschungsreaktor FRM II). Mit so genannten Spallationsquellen, bei denen Protonen auf
ein Target (z. B. Pb) geschossen werden und dadurch Neutronen erzeugt werden, können
Flüsse von mehr als 1016 Neutronen/cm2 s erzielt werden, allerdings bei gepulstem Betrieb.
In Abb. 2.18 ist das Dreiachsen-Spektrometer PUMA am Garchinger Forschungsreaktor
FRM II gezeigt. Zur Monochromatisierung von Neutronen werden üblicherweise Einkris-
tallspektrometer, bei denen die Beugungsbedingung zur Wellenlängenselektion verwendet
wird, oder Flugzeitspektrometer, bei denen Neutronen mit bestimmter Energie über ihre
Flugzeit zwischen zwei rotierenden Blenden ausgewählt werden, eingesetzt.
Neutronen sind ungeladene Teilchen, so dass die Coulomb-Wechselwirkung, die bei Elek-
tronen dominiert, hier keine Rolle spielt. Neutronen wechselwirken mit den Kernen der
Gitteratome. Während allerdings der atomare Streufaktor bei der Röntgenstrahlung einer
systematischen Abhängigkeit (proportional zur Ordnungszahl) folgt, hängt er für Neutro-
nen stark vom jeweiligen Kern ab. So kann der atomare Streufaktor für zwei benachbarte
Elemente des Periodensystems (tatsächlich sogar für zwei Isotope des gleichen Elements)
sehr unterschiedlich sein. Ein typisches Beispiel ist die Untersuchung der Ordnung in einer
FeCo-Legierung. Kühlt man eine FeCo-Legierung genügend langsam ab, so können sich die
Fe und Co Atome in einer geordneten Struktur anordnen, die einer CsCl-Struktur (siehe Ab-
schnitt 1.2.7) entspricht. Untersucht man diese Struktur mit Röntgenbeugung, so kann man
wegen des fast identischen Streufaktors von Fe und Co (Nachbarn im Periodensystem) kaum
zwischen einer geordneten und einer ungeordneten Struktur unterscheiden. Für Neutronen
2.3 Experimentelle Methoden 91

Reaktor
FRM II

Geschwindigkeitsselektor

Monochromator mit Abschirmung


Probentisch mit Goniometer

Analysator-
Detektor-Einheit
mit Probentisch

Abb. 2.18: Das Dreiachsen-Spektrometer PUMA für thermische Neutronen am Garchinger For-
schungsreaktor FRM II (Quelle: FRM II).

unterscheidet sich dagegen der atomare Streufaktor von Fe und Co um den Faktor 2.5, so
dass Neutronenbeugungsexperimente eine genaue Analyse der Ordnung erlauben.
Ein spezifischer Vorteil von Neutronen ist die Tatsache, dass leichte Elemente, insbesonde-
re Wasserstoff, ein großes Streuvermögen haben. Man benutzt Neutronenbeugung deshalb
mit Vorliebe für die Lokalisierung von Wasserstoffatomen in Kristallgittern (insbesondere in
organischen Systemen). Insgesamt sind aber die Absorptionsdicken von Neutronen relativ
groß, so dass sie sich in idealer Weise für die Strukturanalyse von Kristallen eignen. Neutro-
nen besitzen außerdem ein magnetisches Moment. Die magnetische Wechselwirkung dieses
Moments mit den Gitteratomen erlaubt die Untersuchung von magnetischen Strukturen in
Festkörpern. Die Untersuchung von magnetischen Strukturen in Festkörpern ist eine Do-
mäne der Neutronenbeugung.

2.3.2 Methoden der Röntgendiffraktometrie


Aus der Bragg-Bedingung 2d sin θ = nλ folgt, dass wir im Experiment die Wellenlänge λ
und den Winkel θ aufeinander abstimmen müssen, um die Beugungsbedingung zu erfüllen.
Wir können deshalb prinzipiell drei unterschiedliche Methoden unterscheiden:

(i) Laue-Verfahren: Beim Laue-Verfahren wird ein kontinuierliches Röntgenspektrum


(variables λ) verwendet. Die Orientierung zwischen Röntgenstrahl und den Gitterebenen
des untersuchten Einkristalls ist dagegen fest. Wie Abb. 2.19 zeigt, erhalten wir in der
Detektorebene ein Punktmuster, wobei jeder Punkt zu einer bestimmten Ebenenschar mit
92 2 Strukturanalyse

(a) Detektor-
(c)
6H-SiC in
ebene (0001)-Orientierung
Kristall
6-zählige Symmetrie
der hexagonalen
Struktur
kontinuierliches
Röntgenlicht

Goniometer
(d)
(b)
Si

4-zählige Symmetrie
der Diamant-
Struktur

Abb. 2.19: (a) Schematische Darstellung des Laue-Verfahrens. (b) Zur Veranschaulichung der Entste-
hung des Punktgitters bei Laue-Verfahren. (c) Laue-Aufnahme von 6H-SiC in (0001)-Orientierung.
59
Man erkennt die 6-zählige Symmetrie der hexagonalen Struktur. (d) Laue-Aufnahme eines Si-Kristalls
(4-zählige Symmetrie des Diamantgitters).

Millerschen Indizes (hkℓ) gehört. Jede Ebenenschar greift sich sozusagen aus dem konti-
nuierlichen Röntgenspektrum genau die Wellenlänge heraus, für die bei dem vorgegebene
Winkel zwischen Ebenen und einfallenden Röntgenstrahl die Bragg-Bedingung erfüllt ist.
Fällt der Röntgenstrahl zum Beispiel entlang einer n-zähligen Drehachse ein, so muss das
zugehörige Punktmuster in der Detektorebene ebenfalls eine n-zählige Symmetrie haben.
Diese Tatsache wird zur Bestimmung der Kristallsymmetrie und der Orientierung von Ein-
kristallen verwendet. Das Laue-Verfahren ist allerdings unpraktisch für die Strukturbestim-
mung, da man häufig eine Überlagerung von Reflexen mit solchen höherer Ordnung erhält.
Den Grund für das Auftreten eines Punktmusters beim Laue-Verfahren können wir uns ein-
fach klar machen, wenn wir zunächst die Beugung an einem eindimensionalen Punktmus-
ter betrachten. Die Bragg-Bedingung ist dabei für eine koaxiale Kegelfamilie erfüllt (siehe
Abb. 2.19b). Beim Übergang zu einem 2- bzw. 3-dimensionalen Punktmuster ist die Bedin-
gung auf den gemeinsamen Punkten von zwei bzw. drei aufeinander senkrecht stehenden
Kegelfamilien erfüllt. Die Schnittpunkte der Kegelfamilien ergeben das beobachtete Punkt-
muster.

(ii) Drehkristall-Verfahren: Beim Drehkristall-Verfahren verwendet man monochroma-


tische Röntgen-Strahlung. Um die Beugungsbedingung zu erfüllen, wird der Kristall ge-
dreht (Winkelvariation bei festem λ). Um die gleiche Achse wird auf einem Kreisbogen
gleichzeitig ein Detektor gedreht, mit dem die gebeugte Intensität gemessen wird (siehe
Abb. 2.20a). Wird der Winkel ω zwischen einer Kristallebenenschar und dem einfallenden
Röntgen-Strahl so gewählt, dass die Beugungsbedingung erfüllt ist, so erscheint der gebeugte
Röntgen-Strahl gerade beim Winkel 2θ bezogen auf die Richtung des Primärstrahls. Um die
zu verschiedenen Beugungsordnungen gehörenden Intensitätsmaxima aufzunehmen, wird
der Winkel ω durchgefahren und gleichzeitig der Detektor mit dem doppelten Winkel 2θ
mitgeführt (ω-2θ Aufnahme, siehe Abb. 2.20b).
2.3 Experimentelle Methoden 93

(a) (c) SrTiO3 SrTiO3 SrTiO3 SrTiO3


105

Intensität (counts)
(001) (002) (003) (004)
4
10

Sr2CrWO6 (004)

Sr2CrWO6 (008)
Sr2CrWO6 (002)

Sr2CrWO6 (006)
mono- Kristall
chromatische 𝝎 10
3

Röntgen-
Strahlung 𝟐𝜽 10
2

1
10

Detektor 100
20 40 60 80 100
2 (°)
(d)
La1/3Ca2/3MnO3 on SrTiO3
(b)

Intensität (a.u.)
4
𝝋
𝝎 FWHM = 0.023°
𝟐𝜽 2

𝝌
𝝎 Kristall mit 0
23.80 23.85 23.90 23.95
epitaktischem Film (°)

Abb. 2.20: (a) Schematische Darstellung des Drehkristall-Verfahrens. (b) Drehachsen bei einem
Vierkreis-Diffraktometer. (c) Röntgenspektrum eines (001) orientierten Sr2 CrWO6 -Films auf 64 einem
(001) SrTiO3 -Einkristall. Im Spektrum sind wegen der Orientierung von Film und Substrat nur (00ℓ)-
Reflexe enthalten. Die c-Achse von Sr2 CrWO6 ist etwa doppelt so groß wie diejenige von SrTiO3 , wes-
halb die Röntgen-Reflexe sehr nahe beieinander liegen. Für Sr2 CrWO6 sind die (00ℓ) mit ungeradzah-
ligem ℓ ausgelöscht. (d) Rocking-Kurve des (002) Reflexes eines epitaktischen La2⇑3 Ca1⇑3 MnO3 Films,
der auf einem einkristallinen SrTiO3 Substrat aufgewachsen wurde.

Um eine detaillierte Texturanalyse von auf einkristallinen Substraten gewachsenen epitak-


tischen Filmen zu machen, werden so genannte Vierkreis-Verfahren verwendet. Zusätzlich
zur ω-2θ-Variation kann die Probe dabei mittels eines Goniometers um drei weitere Ach-
sen (ω, φ, χ) gedreht werden (siehe hierzu Abb. 2.20c). Bei einem ω-Scan setzt man sich
auf einen Beugungsreflex und variiert dann ω bei festgehaltenem 2θ (siehe Abb. 2.20d). Da-
durch kann überprüft werden, ob die ausgewählte Ebenenschar in allen Probenbereichen
tatsächlich die gleiche Orientierung hat oder ob in unterschiedlichen Probenbereichen des
Films leichte Variationen vorliegen (man spricht von Mosaizität). Mit Hilfe eines φ-Scans
kann die Textur des Films bezüglich der Richtungen in der Ebene der durch ω ausgewähl-
ten Netzebenenschar analysiert werden. Man setzt sich hierzu auf einen Beugungsreflex und
variiert φ bei festgehaltenem ω und 2θ. Bei einem perfekt einkristallinen Film tritt bei einer
360○ Variation von φ nur eine bestimmte Zahl von Reflexen auf, die durch die Zähligkeit der
auf der ausgewählten Netzebenenschar senkrecht stehenden Drehachse bestimmt wird.
Die Steuerung der verschiedenen Winkeleinstellungen beim Drehkristallverfahren erfolgt
heute mittels Schrittmotoren völlig automatisiert. Die Daten werden mit Hilfe eines Rech-
ners erfasst und können direkt zur Strukturanalyse verwendet werden.

(iii) Debye-Scherrer-Verfahren: Beim Debye-Scherrer-Verfahren26 wird wie beim Dreh-


kristall-Verfahren monochromatische Röntgen-Strahlung verwendet. Anstelle des Einkris-
26
Benannt nach Peter Debye, geboren 1884 in Maastricht, gestorben 1966 in Ithaca (New York) und
Paul Scherrer, geboren 1890 in St. Gallen, gestorben 1969 in Zürich.
94 2 Strukturanalyse

(a) Pulver-
mono- Probe Film
chroma-
tische 𝟐𝜽
Röntgen-
Strahlung

Abb. 2.21: (a) Schemati-


sche Darstellung des Debye- (b)
Scherrer-Verfahrens. (b) Typi-
sche Debye-Scherrer-Aufnahme.

talls verwendet man allerdings eine feinkörnige Pulverprobe. Die einzelnen Kristallite der
Pulverprobe weisen alle möglichen Kristallrichtungen auf, so dass die Beugungsbedingung
immer für Netzebenen mit beliebigen Millerschen Indizes erfüllt werden kann. Im Gegen-
satz zum Laue-Verfahren, wo θ fest und λ beliebig war, ist also hier λ fest und θ beliebig. 67

Röntgenstrahlen, die an Netzebenen mit gleichen Millerschen Indizes reflektiert werden, lie-
gen auf einem Kegelmantel um den einfallenden Strahl und bilden mit ihm den Winkel 2θ.
Auf einem ringförmig um die Probe angeordneten Detektor (z. B. Film) werden kreisähn-
liche Bogenstücke dieser Kegelmäntel detektiert (siehe Abb. 2.21). Ein großer Vorteil des
Debye-Scherrer-Verfahren liegt darin begründet, dass es keine Einkristalle benötigt.

Literatur
N. W. Ashcroft, N. D. Mermin, Festkörperphysik, Oldenbourg Verlag, München (2012).
P. Debye, Interferenz von Röntgenstrahlen und Wärmebewegung, Ann. d. Phys. 348, 49–92
(1913).
O. Föllinger, Laplace-, Fourier- und z-Transformation, bearbeitet von Mathias Kluw, 8. über-
arbeitete Auflage, Hüthig, Heidelberg (2003).
Ch. Hammond, The Basics of Crystallography and Diffraction, Oxford University Press
(2009).
B. Lenze, Einführung in die Fourier-Analysis, 2. durchgesehene Auflage, Logos Verlag, Berlin
(2000).
M. J. Lighthill, Introduction to Fourier Analysis and Generalised Functions, Cambridge Uni-
versity Press, Cambridge (2003).
W. C. Röntgen, Über eine neue Art von Strahlen, vorläufige Mitteilung, in Aus den Sitzungs-
berichten der Würzburger Physik, medic. Gesellschaft, Würzburg (1895).
L. Spieß, G. Teichert, R. Schwarzer, H. Behnken, Ch. Genzel, Moderne Röntgenbeugung,
Vieweg+Teubner Fachverlage GmbH, Wiesbaden (2009).
I. Waller, Zur Frage der Einwirkung der Wärmebewegung auf die Interferenz von Röntgen-
strahlen, Zeitschrift für Physik A 17, 398–408 (1923).
3 Bindungskräfte in Festkörpern
Bisher haben wir Festkörper nur hinsichtlich ih-
rer Struktur klassifiziert. Wir haben also nur Ar Cl- K+ Cl-
die räumliche Anordnung der Atome diskutiert Ar Ar
aber noch nicht betrachtet, was einen Festkör- Ar K+ Cl- K+
per überhaupt zusammenhält. Dies wollen wir Ar Ar
Cl- K+ Cl-
in diesem Kapitel nachholen, indem wir uns mit Ar
den in Festkörpern vorliegenden Bindungskräf-
Ar-Kristall KCl-Kristall
ten beschäftigen. (Van der Waals) (ionisch)
Generell können wir gleich zu Beginn festhalten,
Na+ Na+ C C
dass für die Bindungskräfte in Festkörpern allein
elektrostatische Wechselwirkungen verantwort- C
e- Na+
lich sind. Magnetische Wechselwirkungen haben
nur einen verschwindend kleinen Einfluss und Na+ Na+ C C
die Gravitation spielt überhaupt keine Rolle. Wir
werden die Bindungskräfte in Festkörpern trotz- Natrium Diamant
dem in verschiedene Kategorien einteilen, näm- (metallisch) (kovalent)

lich die

∎ Van der Waals Bindung: Diese beschreibt die Bindung zwischen neutralen Atomen und
Molekülen mit einer Edelgaskonfiguration der Elektronenhülle.
∎ ionische Bindung: Diese beschreibt die Bindung zwischen positiven und negativen Ionen,
wobei die Elektronenkonfiguration der Ionen einer Edelgaskonfiguration entspricht.
∎ kovalente Bindung: Dieser Bindungstyp beschreibt die Bindung zwischen neutralen Ato-
men, deren Elektronenhülle keine Edelgaskonfiguration hat. Die Elektronenhüllen der
beteiligten Atome überlappen teilweise, so dass sich die an der Bindung beteiligten Elek-
tronen auf mehrere Atome verteilen können.
∎ metallische Bindung: Bei diesem Bindungstyp geben die Atome einen Teil ihrer Elek-
tronen ab. Diese bilden einen „See“ von Elektronen, in dem die positiven Ionen verteilt
sind.
∎ Wasserstoffbrückenbindung: Bei diesem Bindungstyp handelt es sich um einen speziel-
len Bindungstyp mit weitgehendem ionischen Charakter, der vor allem für organische
Substanzen von großer Bedeutung ist.
96 3 Bindungskräfte

3.1 Grundlagen
3.1.1 Bindungsenergie und Schmelztemperatur
Bevor wir die einzelnen Bindungsarten diskutieren, wollen wir zunächst eine allgemeine
Definition der Bindungsenergie oder der Gitterenergie eines kristallinen Festkörpers geben:

Die Bindungsenergie entspricht der Energiedifferenz zwischen der Summe der Energie al-
ler freien Atome/Moleküle und der Gesamtenergie des aus diesen Atomen/Molekülen auf-
gebauten kristallinen Festkörpers.

Wir können auch sagen, dass die Bindungsenergie der Arbeit entspricht, die wir verrichten
müssen, um einen kristallinen Festkörper in seine Bestandteile (Atome, Moleküle) zu zer-
legen. Abhängig vom Bindungstyp variiert die Bindungsenergie von Festkörpern um etwa
3 Größenordnungen. Während die Bindungsenergie eines Neon-Kristalls nur 1.92 kJ/mol
beträgt, ist sie für Wolfram 859 kJ/mol (siehe Abb. 3.1).
Es ist anschaulich klar, dass ein direkter Zusammenhang zwischen Bindungsenergie und der
Schmelztemperatur von Festkörpern besteht. Je höher die Bindungsenergie, desto größer ist
die Temperatur, bei der die Bindungen im Kristall aufgrund der großen thermischen Ener-
gie aufgebrochen werden. Ein ähnlicher Zusammenhang besteht zwischen Bindungsenergie
und der Kompressibilität von Festkörpern, die den Zusammenhang zwischen Druck und
Volumenänderung angibt. Besitzt ein Festkörper eine niedrige Bindungsenergie, so sind die

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18

1
H Schmelztemperatur (°C) He
-259.14 -272
0.05868 Bindungsenergie (kJ/mol)
Li Be B C N O F Ne
2 180.54 1278 2300 3500 -209.9 -218.4 -219.62 -248.6
Alkalimetalle Erdalkalimetalle Übergangsmetalle
158 320 561 711 474 251 81.0 1.92
Seltene Erden andere Metalle Halbmetalle/Halbleiter
Na Mg Nichtmetalle Halogene Edelgase
Al Si P S Cl Ar
3 97.8 650 660.37 1410 44.1 112.8 -100.98 -189.3
107 145 327 446 331 275 135 7.74
K Ca Sc Ti V Cr Mn Fe Co Ni Cu Zn Ga Ge As Se Br Kr
4 63.65 839 1539 1660 1890 1857 1245 1535 1495 1453 1083 419.58 29.78 937.4 817 217 -7.2 -157.2
90.1 178 376 468 512 395 282 413 424 428 336 130 271 372 285.3 237 118 11.2
Rb Sr Y Zr Nb Mo Tc Ru Rh Pd Ag Cd In Sn Sb Te I Xe
5 38.89 764 1523 1852 2468 2617 2200 2250 1966 1552 961.93 320.9 156.61 231.9 630 449.5 113.5 -111.9
82.2 166 422 603 730 658 661 650 554 376 284 112 243 303 265 211 107 15.9
Cs Ba * Hf Ta W Re Os Ir Pt Au Hg Tl Pb Bi Po At Rn
6 28.5 725 2150 2996 3410 3180 3045 2410 1772 1064.43 -38.87 303.5 327.5 271.3 254 302 -71
77.5 183 621 782 859 775 788 670 564 368 65 182 196 210 144 19.5
Fr Ra ** Rf Db Sg Bh Hs Mt Uun Uuu Uub
7 27 700
? ? ? ? ? ? ? ? ?
160

* La Ce Pr Nd Pm Sm Eu Gd Tb Dy Ho Er Tm Yb Lu
920 795 935 1010 1072 822 1311 1360 1412 1470 1522 1545 824 1656
?
431 417 357 328 206 179 400 391 294 302 317 233 154 428
** Ac Th Pa U Np Pu Am Cm Bk Cf Es Fm Md No Lr
1050 1750 1600 1132 640 639.5 994 1340
? ? ? ? ? ? ?
410 598 536 456 347 264 385

Abb. 3.1: Schmelztemperaturen und Bindungsenergien der chemischen Elemente.


3.1 Grundlagen 97

beteiligten Bindungen „weich“ und wir erwarten eine hohe Kompressibilität. Wir können
also direkt aus der Messung der Schmelztemperatur oder der Kompressibilität Rückschlüsse
auf die Bindungsenergie von Festkörpern ziehen. Eine Zusammenstellung der Schmelztem-
peraturen und der Bindungsenergien der chemischen Elemente ist in Abb. 3.1 gegeben.

3.1.2 Elektronische Struktur der Atome


Wir werden in diesem Abschnitt einige Grundlagen aus der Atomphysik wiederholen, die
wir zur Diskussion der Bindung in Festkörpern benötigen. Mit Hilfe der Quantenmechanik
können wir die Elektronenzustände eines Atoms durch Lösung der Schrödinger-Gleichung
für das Zentralpotenzial V (r) lösen:

ħ2 2
ℋ Ψ(r) = ⌊︀− ∇ + V (r)}︀ Ψ(r) = E Ψ(r) . (3.1.1)
2m

Eine einfache Lösung ergibt sich aber nur für das Wasserstoffatom (V (r) = −e 2 ⇑r), bei
dem wir es mit einem Zweikörperproblem (ein Elektron plus ein Proton) zu tun haben.
Bei Atomen mit mehreren Elektronen lassen sich Näherungslösungen angeben, wenn man
die Wechselwirkung eines Elektrons mit dem Kern und allen weiteren Elektronen in ein
effektives Zentralpotenzial Veff (r) steckt und dann wiederum nur ein Zweikörperproblem
zu lösen hat. Der Effekt der anderen Elektronen wird dabei durch eine kontinuierliche
Ladungsverteilung repräsentiert, die das Kernpotenzial mehr oder weniger stark abschirmt.
Die Lösungen der Schrödinger-Gleichung werden üblicherweise in Kugelkoordinaten ange-
geben:

Ψn,l ,m (r) = Ψn,l ,m (r, ϑ, φ) = R nl (r) ⋅ Yl m (ϑ, φ) . (3.1.2)

Hierbei ist R nl (r) die Radialfunktion und Yl m (ϑ, φ) sind die Kugelflächenfunktionen, die
für jedes kugelsymmetrische Potenzial die gleiche Form haben. Die elektronischen Zustände
eines Atoms werden nach den Einelektronenzuständen des kugelsymmetrischen Potenzials
klassifiziert. Hierfür benutzen wir die Zahlen n, l, m, die so genannten Quantenzahlen:

Quantenzahl Bezeichnung Schale


Hauptquantenzahl n = 1, 2, 3, . . . K, L, M, N, . . . Schale
Bahndrehimpulsquantenzahl l = 0, 1, 2, . . . , n − 1 s, p, d, f , . . . Unterschale
Orientierungsquantenzahl m = −l, . . . , +l
oder magnetische Quantenzahl

Zu jeder Bahndrehimpulsquantenzahl l gibt es (2l + 1) mögliche Zustände mit unterschied-


l =0 2l + 1 =
licher Orientierungsquantenzahl. Zu jeder Hauptquantenzahl n gibt es genau ∑n−1
n 2 Zustände mit unterschiedlichem l und m.
In Abb. 3.2 sind zur Veranschaulichung die Absolutquadrate der Kugelflächenfunktionen
für die s-, p-, d- und f -Zustände gezeigt. Die Form der Kugelflächenfunktionen wird bei der
Diskussion der Bindungstypen wichtig sein. Nur die s-Zustände sind kugelsymmetrisch. Die
p, d, f , . . . Zustände weisen dagegen eine mehr oder weniger stark gerichtete Struktur auf.
98 3 Bindungskräfte

0 0 0
0.6 330 30 l=0 0.6 330 30 l=1 0.6 330 30 l=1
m=0 m=0 m=1
0.4 0.4 0.4
300 60 300 60 300 60
0.2 0.2 0.2

0.0 270 90 0.0 270 90 0.0 270 90

0.2 0.2 0.2


240 120 240 120 240 120
0.4 0.4 0.4

0.6 210 150 0.6 210 150 0.6 210 150


180 180 180
0 0 0
0.6 330 30 l=2 0.6 330 30 l=2 0.6 330 30 l=2
m=0 m=1 m=2
0.4 0.4 0.4
300 60 300 60 300 60
0.2 0.2 0.2

0.0 270 90 0.0 270 90 0.0 270 90

0.2 0.2 0.2


240 120 240 120 240 120
0.4 0.4 0.4

0.6 210 150 0.6 210 150 0.6 210 150


180 180 180
0 0 0
0.6 330 30 l=3 0.6 330 30 l=3 0.6 330 30 l=3
m=0 m=1 m=2
0.4 0.4 0.4
300 60 300 60 300 60
0.2 0.2 0.2

0.0 270 90 0.0 270 90 0.0 270 90

0.2 0.2 0.2


240 120 240 120 240 120
0.4 0.4 0.4

0.6 210 150 0.6 210 150 0.6 210 150


180 180 180
0
0.6 330 30 l=3
m=3 z
0.4
300 60 𝝑
0.2

0.0 270 90

0.2

0.4
240 120
𝝋
0.6 210 150
180

Abb. 3.2: Polardarstellung des Absolutquadrats der normierten Kugelflächenfunktionen. Die Länge
des Vektors vom Ursprung zu den gezeigten Kurven gibt ⋃︀Yl m (ϑ)⋃︀2 für die verschiedenen Winkel ϑ
an. Alle Diagramme sind rotationssymmetrisch um die z-Achse, die hier als vertikale Achse gewählt
wurde.

Wir erwarten deshalb für Bindungstypen (z. B. kovalente Bindung), die mit dem Überlapp
dieser Wellenfunktionen in benachbarten Atomen zusammenhängen, eine gewisse Rich-
tungsabhängigkeit. Sind allerdings für eine bestimmte Hauptquantenzahl alle möglichen l-
und m-Zustände besetzt, so ergibt die Summe aller Kugelflächenfunktionen gerade wieder-
3.1 Grundlagen 99

0.6
0.10
0.5

0.4
1s 0.08 3s
0.06
0.3
n,l

r R n,l
2

2 2
r R
2

0.2 0.04

0.1 0.02

0.0 0.00
0 1 2 3 4 5 0 6 12 18 24 30
r / aB r / aB
0.20
0.10

0.15
2s 0.08 3p
0.06
0.10

r R n,l
n,l

2 2
2 2
rR

0.04
0.05
0.02

0.00 0.00
0 3 6 9 12 15 0 6 12 18 24 30
r / aB r / aB
0.20
0.10

0.15
2p 0.08 3d
0.06
0.10
n,l

r R n,l
2 2

2 2
rR

0.04
0.05
0.02

0.00 0.00
0 3 6 9 12 15 0 6 12 18 24 30
r / aB r / aB

Abb. 3.3: Radiale Aufenthaltswahrscheinlichkeiten des Elektrons für einige Zustände des Wasserstof-
fatoms (man beachte die unterschiedlichen Skalen).

um eine kugelsymmetrische Verteilung. Diese Konfiguration ist für die Edelgase gegeben,
weshalb sie auch Edelgaskonfiguration genannt wird. Wir werden später sehen, dass für die
Edelgase eine völlig ungerichtete Van der Waals Wechselwirkung vorliegt. Sind bei einem
Atom alle Elektronenzustände mit einer bestimmten Hauptquantenzahl aufgefüllt, so spre-
chen wir auch von einer abgeschlossenen Elektronenschale. Sind alle Zustände mit einer
bestimmten Drehimpulsquantenzahl aufgefüllt, so sprechen wir von einer vollkommen ge-
füllten Unterschale.
Die Radialfunktion bestimmt die mittlere Aufenthaltswahrscheinlichkeit eines Hüllenelek-
trons als Funktion des Abstands r vom Kern. Wollen wir wissen, wie groß die Wahrschein-
lichkeit dafür ist, das Elektron in einem bestimmten Abstand zwischen r und r + dr vom
Kern aufzufinden, so müssen wir die Größe
π 2π
2
W(r)dr = ∫ ∫ ⋂︀Ψn,l ,m (r, ϑ, φ)⋂︀ r 2 dr sin ϑ d ϑ dφ = r 2 R 2n,l (r) dr (3.1.3)
0 0
100 3 Bindungskräfte

berechnen. Hierbei haben wir die Tatsache ausgenutzt, dass die Kugelflächenfunktionen
Yl m (ϑ, φ) so normiert sind, dass die Integration über den vollen Raumwinkel gerade eins
ergibt. Sie können daher bei der Betrachtung der radialen Abhängigkeit der Aufenthalts-
wahrscheinlichkeiten ignoriert werden. Die Wahrscheinlichkeit W(r) = r 2 R 2n,l (r) nennen
wir radiale Aufenthaltswahrscheinlichkeit. Sie unterscheidet sich wesentlich von der Wel-
lenfunktion R n,l (r). Der Grund dafür ist die Veränderung des Phasenraums mit r. Unter
Phasenraum verstehen wir das Volumen der zwischen r und r + dr liegenden Kugelschale.
Dieses Volumen geht für r → 0 gegen null. So ist für den 1s-Zustand die Wellenfunktion
R nl (r) am Ursprung zwar endlich und fällt von dort mit zunehmendem r exponentiell ab,
die radiale Aufenthaltswahrscheinlichkeit r 2 R 2n,l (r) steigt hingegen von null auf einen ma-
ximalen Wert bei r max an, um dann von dort für r → ∞ auf null abzufallen.
Als weitere Quantenzahl, die natürlich nicht aus der nicht-relativistischen Schrödinger-Glei-
chung erhalten wird, kommt noch die Spin-Quantenzahl s = ± 12 hinzu. Dadurch verdoppelt
sich die Zahl der möglichen Zustände pro Hauptquantenzahl von n 2 auf 2n 2 , da jeder Zu-
stand ⋃︀n, l, m̃︀ noch zwei unterschiedliche Spinrichtungen haben kann. Insgesamt kann der
Zustand eines Hüllenelektrons eindeutig durch die vier Quantenzahlen n, l, m, s charakteri-
siert werden. Da Elektronen Fermionen sind, kann jeder der durch ein bestimmtes Quadru-
pel von Quantenzahlen charakterisierte Zustand nur von einem Elektron besetzt werden.
Die Klassifizierung der elektronischen Zustände der Hüllenelektronen der Atome führt auch
zum Periodensystem der Elemente. Die Struktur des Periodensystems ergibt sich durch das
Auffüllen der Zustände beginnend von der niedrigsten Energie. Zunächst haben wir im Pe-
riodensystem sieben Perioden (Reihen), wobei in der n-ten Periode gerade die Zustände mit
Hauptquantenzahl n aufgefüllt werden. In der 1. Periode wird mit dem Einbau der 1s-Elek-
tronen beim H- und He-Atom begonnen. In der 2. Periode geht es dann mit den 2s- und
2p-Elektronen weiter usw. Da zu jeder Hauptquantenzahl n wegen l ≤ n − 1 verschiedene
Drehimpulsquantenzahlen gehören können, haben wir ferner eine Einteilung jeder Peri-
ode in Haupt- und Nebengruppen (Spalten). Bei den Hauptgruppen 1 und 2 (entsprechend
Ia und IIa in der alten Notation) werden jeweils die zwei s-Elektronen eingebaut, bei den
Hauptgruppen 13 bis 18 (entsprechend IIIa bis VIIIa) werden die sechs p-Zustände aufge-
füllt. Dazwischen liegen die Nebengruppen 3 bis 12, bei denen die zehn d-Elektronen ein-
gebaut werden. Wegen l ≤ n − 1 haben wir für n = 1 nur s-Elektronen, s- und p-Elektronen
für n = 2, s-, p- und d-Elektronen für n = 3 usw. Es gibt aber auch einige Besonderheiten
beim Auffüllen der Elektronenschalen. So würden wir erwarten, dass nach den 3p-Zustän-
den die 3d-Zustände aufgefüllt werden. Dies ist allerdings nicht so. Es werden zuerst die
4s-Zustände aufgefüllt und danach erst die 3d-Zustände. Die erste Serie von Übergangsme-
tallen (Sc bis Zn) steht deshalb in der 4. Periode. Das gleiche gilt für die 4d- (Y bis Cd) und
die 5d-Übergangsmetalle (La bis Hg). Das Auffüllen der 4 f - und 5 f -Zustände beginnt so-
gar erst nach dem Auffüllen der 6s-Zustände und 7s-Zustände (Lanthaniden und Actiniden,
auch als Seltene Erden bezeichnet). Die Ursache dafür ist die Tatsache, dass die s-Elektro-
nen eine endliche Aufenthaltswahrscheinlichkeit am Kernort haben und dadurch für sie der
Abschirmeffekt der übrigen Elektronen kleiner ist. Sie haben deshalb eine höhere Bindungs-
energie und deshalb niedriger liegende Energieniveaus. Die Reihenfolge des Termschemas
des Vielelektronenatoms weicht also hier von dem des Wasserstoffatoms ab.
Haupt- und Nebengruppen
neu
alt
1,00794
4,002602
1H
Periodensystem der Elemente 2He
3.1 Grundlagen

1s2
1s1
Helium
Wasserstoff
6,941 9,012182 rel. Atommasse 12,011
Elementsymbol: 10,811 12,011 14,00674 15,9994 18,9984032 20,1797
Ra kein stabiles Isotop bekannt
3Li 4Be Ordnungszahl 6C Elementsymbol 5B 6C 7N 8O 9F 10Ne
[He] [He] [He] Elektronen-
Ne gasförmig [He] [He] [He] [He] [He] [He]
2s1 2s2 2s22p2 konfiguration Hg flüssig (bei 20°C) 2s22p1 2s22p2 2s22p3 2s22p4 2s22p5 2s22p6
Lithium Beryllium Elementname Kohlenstoff Bor Kohlenstoff Stickstoff Sauerstoff Fluor Neon
22,89768 24,3050
Al fest 26,981539 28,0855 30,973762 32,066 35,4527 39,948

11Na 12Mg 13Al 14Si 15P 16S 17Cl 18Ar


[Ne] [Ne] [Ne] [Ne] [Ne] [Ne] [Ne] [Ne]
3s1 3s2 3s23p1 3s23p2 3s23p3 3s23p4 3s23p5 3s23p6
Natrium Magnesium Aluminium Silicium Phosphor Schwefel Chlor Argon

Abb. 3.4: Periodensystem der Elemente


39,0983 40,078 44,955910 47,867 50,9415 51,9961 54,938049 55,845 58,93320 58,6834 63,546 65,39 69,723 72,61 74,92160 78,96 79,904 83,80

19K 20Ca 21Sc 22Ti 23V 24Cr 25Mn 26Fe 27Co 28Ni 29Cu 30Zn 31Ga 32Ge 33As 34Se 35Br 36Kr
[Ar] [Ar] [Ar] [Ar] [Ar] [Ar] [Ar] [Ar] [Ar] [Ar] [Ar] [Ar] [Ar]3d10 [Ar]3d10 [Ar]3d10 [Ar]3d10 [Ar]3d10 [Ar]3d10
4s1 4s2 3d14s2 3d24s2 3d34s2 3d54s1 3d54s2 3d64s2 3d74s2 3d84s2 3d104s1 3d104s2 4s24p1 4s24p2 4s24p3 4s24p4 4s24p5 4s24p6
Kalium Calcium Scandium Titan Vanadium Chrom Mangan Eisen Cobalt Nickel Kupfer Zink Gallium Germanium Arsen Selen Brom Krypton
85,4678 87,62 88,90586 91,224 92,90638 95,94 [98] 101,07 102,90550 106,42 107,8682 112,411 114,816 118,710 121,760 127,60 126,90447 131,29
37Rb 38Sr 39Y 40Zr 41Nb 42Mo 43Tc 44Ru 45Rh 46Pd 47Ag 48Cd 49In 50Sn 51Sb 52Te 53I 54Xe
[Kr] [Kr] [Kr] [Kr] [Kr] [Kr] [Kr] [Kr] [Kr] [Kr] [Kr] [Kr] [Kr]4d10 [Kr]4d10 [Kr]4d10 [Kr]4d10 [Kr]4d10 [Kr]4d10
5s1 5s2 4d15s2 4d25s2 4d35s2 4d55s1 4d55s2 4d65s2 4d75s2 4d85s2 4d105s1 4d105s2 5s25p1 5s25p2 5s25p3 5s25p4 5s25p5 5s25p6H
Rubidium Strontium Yttrium Zirconium Niobium Molybdän Technetium Ruthenium Rhodium Palladium Silber Cadmium Indium Zinn Antimon Tellur Jod Xenon
132,90543 137,327 178,49 180,9479 183,84 186,207 190,23 192,217 195,078 196,96655 200,59 204,3833 207,2 208,98038 [209] [210] [222]
57 – 71
55Cs 56Ba 72Hf 73Ta 74W 75Re 76Os 77Ir 78Pt 79Au 80Hg 81Tl 82Pb 83Bi 84Po 85At 86Rn
[Xe] [Xe]
La-Lu [Xe]4f14 [Xe]4f14 [Xe]4f14 [Xe]4f14 [Xe]4f14 [Xe]4f14 [Xe]4f14 [Xe]4f14 [Xe]4f14 [Xe]4f145d10 [Xe]4f145d10 [Xe]4f145d10 [Xe]4f145d10 [Xe]4f145d10 [Xe]4f145d10
Lantha-
6s1 6s2 5d26s2 5d36s2 5d46s2 5d56s2 5d66s2 5d76s2 5d86s2 5d106s1 5d106s2 6s26p1 6s26p2 6s26p3 6s26p4 6s26p5 6s26p6
Cäsium Strontium noide Hafnium Tantal Wolfram Rhenium Osmium Iridium Platin Gold Quecksilber Thallium Blei Bismut Polonium Astat Radon
[223] [226] [261] [262] [263] [264] [265] [268] [269] [272] [277] [289] [289] [293]
89 – 103
87Fr 88Ra 104Rf 105Db 106Sg 107Bh 108Hs 109Mt 110Uun 111Uuu 112Uub 113Uut 114Uuq 115Uup 116Uuh 117Uus 118Uuo
[Rn] [Rn]
Ac-Lr [Rn]5f14 [Rn]5f14 [Rn]5f14 [Rn]5f14 [Rn]5f14 [Rn]5f14 [Rn]5f14 [Rn]5f14 [Rn]5f14 [Rn]5f146d10 [Rn]5f146d10 [Rn]5f146d10 [Rn]5f146d10 [Rn]5f146d10 [Rn]5f146d10
7s1 7s2 Actinoide 6d27s2 6d37s2 6d47s2 6d57s2 6d67s2 6d77s2 6d87s2 6d97s2 6d107s2 7s27p1 7s27p2 7s27p3 7s27p4 7s27p5 7s27p6
Francium Radium Rutherfordium Dubnium Seaborgium Bohrium Hassium Meitnerium Ununilium Unununium Ununbium Ununtrium Ununquadium Ununpentium Ununhexium Ununseptium Ununoctium

Die Elemente mit den Ordnungszahlen 113, 115 und 117 wurden noch nicht synthetisiert
138,9055 140,116 140,90765 144,24 [145] 150,36 151,964 157,25 158,92534 162,50 164,93032 167,26 168,93421 173,04 174,967

57La 58Ce 59Pr 60Nd 61Pm 62Sm 63Eu 64Gd 65Tb 66Dy 67Ho 68Er 69Tm 70Yb 71Lu
[Xe] [Xe] [Xe] [Xe] [Xe] [Xe] [Xe] [Xe] [Xe] [Xe] [Xe] [Xe] [Xe] [Xe] [Xe]
5d16s2 4f26s2 4f36s2 4f46s2 4f56s2 4f66s2 4f76s2 4f86s2 4f96s2 4f106s2 4f116s2 4f126s2 4f136s2 4f14s2 4f145d16s2
Lanthan Cer Praseodym Neodym Promethium Samarium Europium Gadolinium Terbium Dysprosium Holmium Erbium Thulium Ytterbium Lutetium
91,224 92,90638 95,94 91,224 92,90638 95,94 91,224 92,90638 95,94 91,224 92,90638 95,94 91,224 92,90638 95,94

89Ac 90Th 91Pa 92U 93Np 94Pu 95Am 96Cm 97Bk 98Cf 99Es 100Fm 101Md 102No 103Lr
[Rn] [Rn] [Rn] [Rn] [Rn] [Rn] [Rn] [Rn] [Rn] [Rn] [Rn] [Rn] [Rn] [Rn] [Rn]
6d17s2 6d27s2 5f26d17s2 5f36d17s2 5f46d17s2 5f67s2 5f77s2 5f76d17s2 5f96d17s2 5f107s2 5f117s2 5f127s2 5f137s2 5f147s2 5f146d17s2
Actinium Thorium Protactinium Uran Neptunium Plutonium Americum Curium Berkelium Californium Einsteinium Fermium Mendelevium Nobelium Lawrencium
101

12
102 3 Bindungskräfte

Die Elektronenkonfiguration, die relative Atommasse und die Ordnungszahl der einzelnen
Elemente kann dem in Abb. 3.4 gezeigten Periodensystem entnommen werden.
Zum Abschluss unseres Exkurses in die Atomphysik wollen wir noch kurz die charakteris-
tischen Bindungsenergien diskutieren. Für das Wasserstoffatom gilt:

me 4 1
En = − . (3.1.4)
(4πє 0 ) 2ħ n 2
2 2

Die charakteristische Energie

me 4 ħ2
EH = = = 13.605 693 009(84) eV (3.1.5)
(4πє 0 )2 2ħ 2 2ma B2
bezeichnet man als die Rydberg-Energie. Die charakteristische Länge

4πє 0 ħ 2
aB = = 0.529 177 210 67(12) Å (3.1.6)
me 2
ist der Bohrsche Radius.

3.2 Die Van der Waals Bindung


Wir betrachten zuerst Atome mit voll gefüllten Elektronenschalen. Solche Atome, z. B.
die Edelgase, haben eine kugelsymmetrische Ladungsverteilung. Der Schwerpunkt der
Ladungsverteilung der Hüllenelektronen fällt mit dem Kern zusammen, so dass das Atom
nach außen hin als elektrisch neutral erscheint. Die Bindungsenergie von solchen Atomen
zu einem Festkörper ist sehr klein. Typischerweise beträgt die Bindungsenergie nur 0.1 eV
pro Atom und damit nur etwa 1% der Ionisierungsenergie. Van der Waals1 hat folgenden
Vorschlag für die Wechselwirkung zwischen solchen Atomen gemacht: Durch die Bewegung
der Elektronen um den Kern wird die kugelsymmetrische Ladungsverteilung ständig ge-
stört (diese ist nur im zeitlichen Mittel gegeben), wodurch fluktuierende elektrische Dipole
erzeugt werden. Das elektrische Feld des Dipols p A eines Atoms A kann nun in einem
benachbarten Atom B ein elektrisches Dipolmoment pB induzieren. Die Wechselwirkung
zwischen diesen Dipolen ist anziehend. Die dabei auftretenden Kräfte werden Van der
Waals Kräfte genannt. Sie treten in einer quantenmechanischen Störungsrechnung erst in
2. Ordnung auf.
Die Van der Waals Wechselwirkung wird nur dann relevant, wenn die üblicherweise viel stär-
kere kovalente oder ionische Bindung (siehe Abschnitt 3.4 und 3.3) nicht vorhanden oder
sehr schwach ist. Dies ist gerade bei den Edelgasen der Fall. Die ionische Bindung tritt hier
nicht auf, da beide Atome in der stabilen, elektrisch neutralen Edelgaskonfiguration vorlie-
gen. Ebenso kann die kovalente Bindung nicht wirksam werden. Die beiden Edelgasatome
können kein Elektron teilen, da aufgrund der voll besetzten Schale keine gemeinsamen Elek-
tronenorbitale existieren können.
1
siehe Kasten auf Seite 103.
3.2 Die Van der Waals Bindung 103

Johannes Diderik van der Waals (1837–1923), Nobelpreis für Physik 1910
Johannes Diderik van der Waals wurde am 23. Novem-
ber 1837 in Leiden, Niederlande geboren. Er erhielt im
Jahr 1910 den Nobelpreis für Physik für seine Untersuchun-
gen am gasförmigen und flüssigen Zustand von Materie.
Seine Arbeiten erlaubten die Erzeugung tiefer Temperatu-
ren nahe am absoluten Nullpunkt.
Van der Waals war Autodidakt. Er nutzte die Möglichkeit,
an der Universität von Leiden auch ohne klassische Ausbil-
dung zur Prüfung zugelassen zu werden. Er machte erstmals
1873 mit seiner Doktorarbeit „Over de Continuiteit van den
Gas – en Vloeistoftoestand“ auf sich aufmerksam. Van der
Waals wurde im Jahr 1877 zum Professor für Physik an der
Universität von Amsterdam ernannt. Diese Stellung nahm © The Nobel Foundation.
er bis 1907 ein. Die van der Waals Kräfte, schwache attrakti- Johannes Diderik Van der Waals (1837 --
ve Wechselwirkungskräfte zwischen neutralen Atomen und Molekülen werden heute Nobelpreis
nach für Physik 1910

ihm benannt.
Bei der Fortsetzung seiner im Rahmen seiner Doktorarbeit begonnenen Forschungsarbei-
ten wusste er, dass das ideale Gasgesetz aus der kinetischen Gastheorie abgeleitet wer-
den kann, falls man annahm, dass die Gasmoleküle kein Volumen und keine attraktive
Wechselwirkung besitzen. Er verwarf allerdings diese beiden Hypothesen und führte im
Jahr 1881 zwei neue Parameter ein, die die Größe und Wechselwirkung der Gasmolekü-
le repräsentieren. Dadurch konnte er eine genauere Zustandsgleichung ableiten, die wir
heute als Van der Waals Gleichung kennen. Er stellte fest, dass die eingeführten Parame-
ter für verschiedene Gase unterschiedlich groß sind. Er erweiterte deshalb seine Analyse
und gelangte zu einer Gleichung, die für alle Gase gleich ist. Für diese Arbeit erhielt er
im Jahr 1910 den Nobelpreis für Physik. Sie bildete die Grundlage für die später erfolgte
Verflüssigung von Wasserstoff und Helium durch Sir James Dewar, England, und Heike
Kamerlingh Onnes, Niederlande.
Van der Waals erhielt mehrere Auszeichnungen, u. a. die Ehrendoktorwürde der University
of Cambridge sowie die Ehrenmitgliedschaft der Imperial Society of Naturalists of Moscow,
der Royal Irish Academy und der American Philosophical Society. Er war ferner korre-
spondierendes Mitglied des Institute de France und der Königlichen Akademie der Wis-
senschaften in Berlin, assoziiertes Mitglied der Royal Academy of Sciences von Belgien und
auswärtiges Mitglied der Chemical Society of London, der National Academy of Sciences
der USA und der Accademia dei Lincei in Rom.
Van der Waals starb am 9. März 1923 in Amsterdam.

3.2.1 Wechselwirkung zwischen fluktuierenden Dipolen


Wir wollen nun den Mechanismus der Van der Waals Bindung etwas näher betrachten. Wird
ein neutrales Atom A in ein elektrisches Feld E gebracht, so entsteht durch die entgegenge-
setzte Kraft auf negative und positive Ladungen ein induziertes Dipolmoment

A = αA ⋅ E ,
pind (3.2.1)
104 3 Bindungskräfte

(a) (b) +
+
𝒑𝑨 (𝒕) B A 𝒑𝑨 +
𝒆− +
= 𝒆𝒓 𝒕 +
+𝒒𝑩 𝑹 +𝒒𝑨
+
+ +

(c)
𝒑𝑩 𝝑𝑨 𝒑𝑨
𝝑𝑩
𝒑𝑨 = 𝟎
𝑹
𝑬𝑩 𝑬𝑨

Abb. 3.5: (a) Momentanes elektrisches Dipolmoment𝐄 𝐩𝐵 = 𝐄 𝐩𝐴 =


der kugelsymmetrischen Ladungsverteilung ei-
1 1
nes Atoms A. (b) Induziertes Dipolmoment durch
3𝑝 cos 𝜗Polarisierung
෡ − 𝐩𝐵
𝐑 der 𝐴 cos 𝜗𝐴
෡ − 𝐩𝐴
Elektronenhülle
3𝑝 𝐑 von Atom A mit
𝐵 𝐵 4𝜋𝜖 𝑅 3
4𝜋𝜖0 𝑅3
einer Punktladung B. (c) Orientierung zweier Dipolmomente p A0 und p B von Atomen A und B mit
den zugehörigen elektrischen Feldern E A und E B . Gegenseitig induzierte
෡ ⋅ 𝐩𝐴 𝐑
෡ ⋅ 𝐩𝐵
Dipolmomente stehen par-
1 𝑝𝐴 𝑝𝐵 − 3 𝐑
R der beiden
Dipol-Dipol-WW-Energie:
allel zum Verbindungsvektor 𝑑𝑑
𝐸𝑝𝑜𝑡 𝑅 Atome.
=
4𝜋𝜖 𝑅3
0
14

das von der Polarisierbarkeit α A des Atoms A und der Feldstärke E abhängt. Wird das elek-
trische Feld z. B. durch die Ladung q B eines Ions B im Abstand R erzeugt (siehe Abb. 3.5b),
so gilt
α A ⋅ q B ⧹︂
A =
pind R. (3.2.2)
4πє 0 R 2
⧹︂ der Einheitsvektor entlang der Verbindungsachse zwischen A und B. Die po-
Hierbei ist R
tenzielle Energie des Atoms A ist gegeben durch
E pot = −pind
A ⋅ E = −(α A E) ⋅ E . (3.2.3)
Wird das elektrische Feld nicht durch ein Ion sondern durch ein neutrales Atom mit perma-
nentem Dipolmoment pB erzeugt, so erhalten wir2

E pot = −
αA ⧹︂ ⋅ cos ϑ B − pB )2
(3p B ⋅ R
(4πє 0 R 3 )2
α A p2B
=− ⋅ (3 cos2 ϑ B + 1) . (3.2.4)
(4πє 0 R 3 )2
Für die Van der Waals Bindung ist die Wechselwirkung neutraler Atome entscheidend.
Hierbei ist wichtig, dass für eine im zeitlichen Mittel kugelsymmetrische Ladungsverteilung
in der Elektronenhülle, wie sie bei den Edelgasen vorliegt, auch das zeitgemittelte Dipol-
moment ∐︀p A ̃︀ verschwindet. Allerdings liegt immer ein momentanes Dipolmoment p A vor
(siehe Abb. 3.5a), zu dem das elektrische Feld

EA =
1 ⧹︂ ⋅ cos ϑ A − p A )
(3p A ⋅ R (3.2.5)
4πє 0 R 3
2
Das von einem Dipol pB erzeugte elektrische Feld ist gegeben durch
1
E(pB ) = (3p B ⋅ R
⧹︂ ⋅ cos ϑ B − pB ) ,
4πє 0 R 3
wobei ϑ B der Winkel zwischen pB und der Verbindungsachse der Atome A und B ist.
3.2 Die Van der Waals Bindung 105

gehört. Dieses induziert wiederum im Atom B ein Dipolmoment

B = α B ⋅ EA ,
pind (3.2.6)
welches seinerseits wieder am Ort des Atoms A ein elektrisches Feld

EB =
1 ⧹︂ ⋅ cos ϑ B − pB )
(3p B ⋅ R (3.2.7)
4πє 0 R 3
erzeugt. Durch die gegenseitige Beeinflussung der beiden Atome wird deren kugelsymme-
trische Ladungsverteilung permanent gestört, so dass im zeitlichen Mittel das Dipolmoment
nicht mehr verschwindet.
Da die beiden induzierten Dipolmomente parallel zur Verbindungsachse der Atome ausge-
⧹︂ und cos ϑ A = 1, so dass wir aus (3.2.5)
richtet sind, ist p ∥ R
2p A ⧹︂ 2p B ⧹︂
EA = R, EB = R (3.2.8)
4πє 0 R 3 4πє 0 R 3
erhalten. Für die potenzielle Wechselwirkungsenergie erhalten wir
E pot (R) = −pind
B ⋅ E A = −p A ⋅ E B
ind
(3.2.9)

A = α A ⋅ E B und p B = α B ⋅ E A
und weiter wegen pind ind

E pot (R) = −α ⋅ ⋃︀E⋃︀2 , (3.2.10)


wobei wir α A = α B = α und ⋃︀E A ⋃︀ = ⋃︀EB ⋃︀ = ⋃︀E⋃︀ für die Wechselwirkung gleicher Atome ange-
nommen haben. Wir erhalten schließlich für das Van der Waals Wechselwirkungspotenzial
zwischen den beiden neutralen Atomen A und B
α
E pot (R) = −C . (3.2.11)
R6
Das Potenzial ist anziehend, wie wir sofort aus dem negativen Vorzeichen erkennen, und sehr
kurzreichweitig, da es mit 1⇑R 6 abfällt. Die van der Waals Wechselwirkung ist also schwach
und kurzreichweitig.

3.2.2 Abstoßende Wechselwirkung


Wenn wir zwei Atome sehr nahe zusammenbringen, so überlappen ihre Elektronenhüllen.
Bei sehr kleinen Abständen ist die daraus resultierende Wechselwirkung abstoßend, da das
Pauli-Prinzip3 es verhindert, dass die Elektronen gleiche Zustände besetzen können. Bei ei-
nem Überlapp von Elektronenhüllen mit voll besetzten Schalen müssen also einige Elektro-
nen auf höhere Niveaus ausweichen, was energetisch sehr ungünstig ist. Anschaulich ist dies
in Abb. 3.6 gezeigt. Wir betrachten zwei Potenzialkästen, die mit jeweils N Elektronen gefüllt
sind. Da Elektronen Fermionen sind, dürfen zwei Elektronen nicht den gleichen Quanten-
zustand besetzen, so dass wir die Energiezustände von unten her bis zu einer maximalen
3
Wolfgang Pauli, geboren am 25. April 1900 in Wien, gestorben am 15. Dezember 1958 in Zürich,
Nobelpreis für Physik 1945.
106 3 Bindungskräfte

𝑬 𝑬 𝑬
𝜟𝑬𝐅 𝑬𝐅
𝑬𝐅 𝑬𝐅
Abb. 3.6: Zur Veranschau-
lichung des Pauli-Prinzips.

Energie E F (diese Energie bezeichnen wir als Fermi-Energie, vergleiche Kapitel 7) auffüllen
müssen. Wollen wir nun diese beiden Potenzialkästen zum Überlapp bringen, so müssen
einige Elektronen auf höhere Energieniveaus ausweichen, da alle Zustände bis E F bereits be-
setzt sind. Dies führt zu einer Anhebung der Gesamtenergie und damit zu einer abstoßenden
Wechselwirkung. 16

Wir werden die abstoßende Wechselwirkung hier nicht im Detail diskutieren, sondern nur
festhalten, dass experimentelle Daten gut mit einem empirischen Potenzial der Form b⇑R 12
angenähert werden können, so dass wir insgesamt E pot (R) = Rb12 − Ra6 erhalten. Üblicher-
weise schreibt man das Gesamtpotenzial in der Form

σ 12 σ 6
E pot (R) = 4є ⌊︀( ) − ( ) }︀ (3.2.12)
R R

mit den neuen Parametern є und σ (siehe Tabelle 3.1) mit a = 4єσ 6 und b = 4єσ 12 . Die-
ses empirische Paarwechselwirkungspotenzial wird Lennard-Jones-Potenzial genannt (siehe
Abb. 3.7).

Tabelle 3.1: Zusammenstellung Ne Ar Kr Xe


der Materialparameter von Edel-
є (eV) 0.0031 0.0104 0.0141 0.0200
gaskristallen. Die aufgelisteten
Größen sind im Text definiert. σ (Å) 2.74 3.40 3.65 3.98
R 0 ⇑σ 1.14 1.11 1.10 1.09
U tot ⇑N (meV) −26 −89 −127 −174
E 0 (meV) 8 9 7 6
(U tot ⇑N) + E 0 (meV) −18 −80 −120 −168

0.06
Ar
𝝐 = 𝟎. 𝟎𝟏𝟎𝟒 𝐞𝐕
0.04
𝝈 = 𝟑. 𝟒𝟎 Å
Epot (eV)

0.02
𝑹𝟎
0.00

−𝝐
-0.02
Abb. 3.7: Das Lennard-Jones-Potenzial 0.8 1.0 1.2 1.4 1.6 1.8
berechnet für є und σ von Argon. R / 
17
3.2 Die Van der Waals Bindung 107

Wir können nun noch das Minimum von E pot und den zugehörigen Gleichgewichtsab-
̃0 für die Paarwechselwirkung berechnen. Aus
stand R
dE pot 6σ 6 12σ 12
= 0 = 4є ⌊︀ 7 − 13 }︀ . (3.2.13)
dR R R
erhalten wir
̃0 = 21⇑6 ⋅ σ = 1.1225 σ
R (3.2.14)
und
Ẽpot (R 0 ) = −є . (3.2.15)

3.2.3 Gleichgewichtsgitterkonstante
Um den Gleichgewichtsabstand der Atome im Kristallgitter zu berechnen, müssen wir das
Lennard-Jones-Potenzial zunächst über alle Paare i j von Atomen im Gitter aufsummieren.
Wir erhalten dann die gesamte potenzielle Energie zu
⎨ 6⎬
⎝ σ σ ⎠
12
∑ 4є ⎝⎝( ) − ( ) ⎠⎠ .
N
U tot = (3.2.16)
2 i≠ j ⎝ r i j ri j ⎠
⎪ ⎮
Die Summe beschreibt gerade die Bindungsenergie eines einzelnen Atoms j, das mit allen an-
deren Atomen i wechselwirkt. Um die Gesamtenergie zu erhalten, müssen wir diesen Beitrag
mit N⇑2 multiplizieren, wobei N die Gesamtzahl aller Atome ist. Der Faktor 12 ist notwen-
dig, da wir bei einer paarweisen Wechselwirkung den Beitrag jedes Atoms nur einmal zäh-
len dürfen. Um die Summation auszuführen, schreiben wir r i j = α i j R, wobei R der nächste
Nachbarabstand ist. Wir erhalten
σ 12 σ 6
U tot = 2Nє ⌊︀A 12 ( ) − A 6 ( ) }︀ (3.2.17)
R R
1
Ak = ∑ k k = 6, 12 . (3.2.18)
α
i≠ j i j

Hierbei ist N die Anzahl der Atome und die Zahlen A k sind die so genannten Gittersummen,
die von der vorliegenden Kristallstruktur abhängen.
Den Gleichgewichtsatomabstand R 0 erhalten wir aus
dU tot σ 12 σ6
= 0 = −2Nє ⌊︀12A 12 13 − 6A 6 7 }︀ (3.2.19)
dR R R
zu4
A 12 1⇑6
R 0 = (2 ) ⋅σ . (3.2.20)
A6
4
Da A 12 < A 6 gilt, finden wir einen Gleichgewichtsatomabstand, der kleiner ist als der Wert
̃0 = 21⇑6 σ des Minimums des Paarpotenzials. Dies können wir auf den Druck der weiter außen
R
liegenden Atome zurückführen.
108 3 Bindungskräfte

Tabelle 3.2: Gittersumme des fcc-, hcp- und bcc-Gitters Kristallstruktur A6 A 12


fcc 14.4539 12.1319
hcp 14.4549 12.1323
bcc 12.253 9.114

Damit ergibt sich für die Bindungsenergie

1 A2
U tot (R 0 ) = − Nє 6 . (3.2.21)
2 A 12

Wir können uns nun fragen, für welche Struktur diese Bindungsenergie minimal wird. Of-
fensichtlich müssen wir Strukturen betrachten, bei denen die Atome möglichst dicht gepackt
sind. Wertet man die Gittersummen aus, so stellt man fest, dass sich die einzelnen dicht ge-
packten Strukturen nur wenig unterscheiden (siehe Tabelle 3.2).Wir sehen ferner, dass die
Gittersummen für die bcc-Struktur wesentlich niedriger sind, weshalb Edelgaskristalle nicht
in dieser Struktur vorkommen. Da für die anziehende Wechselwirkung A 6 entscheidend ist
und dieser Wert für die hcp-Struktur größer ist, erwarten wir eine hcp-Struktur für Edelgas-
kristalle. Die Rechnung ergibt
)︀
⌉︀
⌉︀8.61016 fcc-Struktur
U tot (R 0 ) = −Nє ⌋︀ . (3.2.22)
⌉︀
⌉︀8.61107 hcp-Struktur
]︀
Experimentell beobachten wir allerdings für Edelgaskristalle fcc-Strukturen. Um diese Dis-
krepanz zu verstehen, müssen wir die im nächsten Abschnitt diskutierten Quantenkorrek-
turen berücksichtigen.
Für die fcc-Struktur erhalten wir mit den in der Tabelle angegebenen Gittersummen

R 0 = 1.09 σ . (3.2.23)

Dieser Wert stimmt hervorragend mit den in obiger Tabelle gezeigten experimentellen Wer-
ten überein.

3.2.3.1 Nullpunktsschwingungen
Die zu leichteren Atomen hin zunehmende Abweichung der experimentellen R 0 ⇑σ Werte
vom Theoriewert 1.09 kann auf Nullpunktsfluktuationen zurückgeführt werden. Die Ab-
weichungen sind für leichte Atome am größten. Für kleine Auslenkungen um die Ruhe-
lage können wir das Lennard-Jones-Potenzial durch ein harmonisches Potenzial annähern.
Die quantenmechanische Grundzustandsenergie für dieses Potenzial ist E 0 = 12 ħω und nicht
null, wir sprechen von so genannten Nullpunktsschwingungen. Klassisch gilt für den harmo-
nischen Oszillator

E tot = E kin + E pot . (3.2.24)

Für die maximale Auslenkung ist E kin = 0 und E pot (x max ) = 12 kx max
2
. Hierbei ist k die Kraft-
konstante, die über k = Mω mit der Atommasse M und der Schwingungsfrequenz ω zu-
2
3.2 Die Van der Waals Bindung 109

sammenhängt. Setzen wir 12 kx max


2
gleich der Grundzustandsenergie des harmonischen Os-
zillators, so erhalten wir
ħ
2
x max = . (3.2.25)

Für Helium erhalten wir x max ∼ 0.3–0.4 mal die Gitterkonstante. Bei solch großen Auslen-
kungen aufgrund von Nullpunktsschwingungen kann sich selbst bei T = 0 bei Normaldruck
gar kein fester Zustand bilden, sondern nur eine Flüssigkeit.5 Helium wird erst bei einem
Druck von etwa 25 bar fest.
In harmonischer Näherung können wir die Federkonstante k durch die 2. Ortsableitung der
potenziellen Energie bei R = R 0 ersetzen und erhalten somit die Nullpunktsenergie
}︂ }︂
ħω ħ k ħ (∂ 2 U tot ⇑∂R 2 )R=R 0
E0 = = = . (3.2.26)
2 2 M 2 M
Bei bekanntem U tot (R) können wir damit die Nullpunktsenergie abschätzen. Die entspre-
chenden Werte sind in Tabelle 3.1 aufgelistet.

3.2.4 Kompressibilität
Die Kompressibilität κ eines Festkörpers ist gegeben durch (siehe hierzu auch Kapitel 4)

1 ∂V 1
κ=− ⋁︀ = . (3.2.27)
V ∂p T=const B

Hierbei ist V das Volumen und p der Druck. Der Kompressions- oder Bulk-Modul B ist der
Kehrwert von κ, er gibt die Kraft pro Fläche an, die pro relative Volumenänderung benötigt
wird.
Die innere Energie eines Systems können wir bei T = 0 (hier ist TdS = 0) in differentieller
Form als
dU = −pdV (3.2.28)
schreiben. Mit p = −dU⇑dV erhalten wir für den Bulk-Modul
∂p ∂2 U ∂2 u
B = −V =V 2
=v 2 . (3.2.29)
∂V ∂V ∂v
Hierbei ist u = U⇑N und v = V ⇑N mit N = Anzahl der Atome.

3.2.4.1 Vertiefungsthema: Bulk-Modul eines fcc-Gitters


Die konventionelle kubische Zelle der fcc-Struktur enthält 4 Atome. Das Volumen v = V ⇑N
pro Atom ist deshalb v = a 3 ⇑4, wobei a die Kantenlänge der konventionellen Zelle ist. Der
5
Lindemann-Kriterium für das Schmelzen von Festkörpern: x max ≳ 0.2–0.3 ⋅ a. Dieses Schmelzkri-
terium ist anschaulich klar: wenn die Auslenkungen der Atome in die Größenordnung der Gitter-
konstante a kommen, bricht die langreichweitige kristalline Ordnung zusammen und wir haben
eine Flüssigkeit vorliegen.
110 3 Bindungskräfte

⌋︂
Abstand von benachbarten Atomen ist allerdings nicht a, sondern R = a⇑ 2, da wir ja Ato-
⌋︂
⌋︂
me auf den Mittelpunkten der Seitenflächen ⌋︂
sitzen haben. Daraus folgt dann v = R 3 ⇑ 2.
Damit erhalten wir ∂v⇑∂R = 3R 2 ⇑ 2 oder ∂⇑∂v = ( 2⇑3R 2 )(∂⇑∂R) und wir können für
das Bulk-Modul schreiben:
⌋︂ ⌋︂ ⌋︂
∂ ∂u R3 2 ∂ 2 ∂u 2 ∂ 1 ∂u
B = v ( ) = ⌋︂ (
2 ∂R 3R 2 ∂R
)= R ( 2 )
∂v ∂v 2 3R 9 ∂R R ∂R
⌋︂ ⌋︂
2 2 ∂u 1 ∂2 u 2 1 ∂ 2 u 2 ∂u
= R (− 3 + 2 ) = ( − ). (3.2.30)
9 R ∂R R ∂R 2 9 R ∂R 2 R ∂R

Im Gleichgewicht gilt natürlich (∂u⇑∂R)R=R 0 = 0 und wir erhalten für den Bulk-Modul
⌋︂
2 1 ∂2 u
B 0 = B(R = R 0 ) = ( ) . (3.2.31)
9 R 0 ∂R 2 R=R 0

Mit dem Lennard-Jones-Potenzial (3.2.18) erhalten wir

4є A 6 5⇑2 75.2є
B0 = A 12 ( ) = , (3.2.32)
σ3 A 12 σ3
wobei das zweite Gleichheitszeichen nur für ein fcc-Gitter gilt. In Tabelle 3.3 ist ein Vergleich
zwischen theoretischen und experimentell beobachteten Werten gegeben. Wir sehen, dass
die Abweichungen größer sind als bei den Gitterkonstanten. Dies liegt daran, dass hier die
zweite Ableitung des Potenzials eingeht.

Tabelle 3.3: Experimentelle und Ne Ar Kr Xe


theoretische Werte des Bulk-
B theor
0 (108 Pa) 18.1 31.8 34.6 38.1
Moduls einiger Edelgaskristalle. exp
B0 (108 Pa) 11 27 35 36

3.3 Die ionische Bindung


Die ionische Bindung kommt durch die elektrostatische Wechselwirkung zwischen entge-
gengesetzt geladenen Ionen zustande. Deshalb wird dieser Bindungstyp auch heteropolare
Bindung genannt. Die Ionen entstehen durch Elektronentransfer und besitzen eine Edelgas-
konfiguration mit kugelförmiger Ladungsverteilung. Ein typisches Beispiel für einen Ionen-
kristall ist Natriumchlorid. Um die ionische Verbindung zu verstehen, müssen wir uns mit
der Ionisationsenergie I und der Elektronenaffinität A von Atomen beschäftigen. Die Ioni-
sationsenergie ist die Energie, die aufgebracht werden muss, um Atomen ein Elektron weg-
zunehmen. Die Elektronenaffinität ist dagegen die Energie, die gewonnen wird, wenn man
einem Atom ein zusätzliches Elektron hinzufügt. Die Elektronenaffinität ist positiv, falls das
negative Ion stabil ist. Da wir bei Ionenkristallen wie z. B. NaCl einem Atom (Na) ein Elek-
tron wegnehmen, sollte dessen Ionisationsenergie möglichst klein sein. Dieses Elektron wird
dann dem anderen Atom (Cl) gegeben, dessen Elektronenaffinität deshalb möglichst groß
3.3 Die ionische Bindung 111

Atom A (eV) I (eV) Atom A (eV) I (eV) Tabelle 3.4: Ionisationsenergie I und
−0.7542 −1.39
Elektronenaffinität A verschiedener Ato-
H 13.598 Si 7.900
me (Quelle: H. Hotop, W. C. Lineberger, J.
Li −0.62 5.392 P −0.74 10.487 Phys. Chem. Ref. Data 4, 539 (1975)).
C −1.27 11.260 S −2.08 10.360
O −1.46 13.618 Cl −3.61 12.968
F −3.40 17.427 Br −3.36 11.814
Na −0.55 5.139 I −3.06 10.451
Al −0.46 5.986 K −0.50 4.341

sein sollte, um einen energetisch günstigen Zustand zu erreichen. Die Werte für die Ionisa-
tionsenergie und Elektronenaffinität sind in Tabelle 3.4 aufgelistet. Wir sehen, dass I für die
Alkalimetalle sehr klein und A für die Halogene sehr groß ist. Dies ist anschaulich klar, da
erstere durch Abgabe eines Elektrons und letztere durch Aufnehmen eines Elektrons in die
energetisch günstige Edelgaskonfiguration der Elektronenhülle übergehen können.
Für einen NaCl-Ionenkristall sieht die Energiebilanz folgendermaßen aus

1. Na + I → Na+ + e−
2. e− + Cl → Cl− + A (3.3.1)
3. Na+ + Cl− → Na+ Cl− + E Mad .

Hierbei ist E Mad die Madelung-Energie,6 die aus der elektrostatischen Wechselwirkung
zwischen den positiven und negativen Ionen resultiert. Für NaCl ist I(Na) = 5.14 eV
und A(Cl) = −3.61 eV. Die Größe der Madelungenergie kann grob durch die Cou-
lomb-Wechselwirkung von zwei Punktladungen mit Ladung q 1,2 = ±e abgeschätzt wer-
den. Für NaCl erhalten wir E Mad = q 1 q 2 ⇑4πє 0 a = −e 2 ⇑4πє 0 a ≃ −5 eV für a ≃ 2.8 Å und
є 0 = 8.85 × 10−12 A s⇑V m. Wir werden den genauen Wert der Madelungenergie später
diskutieren. Die Bindungsenergie E B für den Ionenkristall ergibt sich zu

E B = E Mad + A + I (3.3.2)

Die Bindungsenergie eines stabilen Ionenkristalls ist negativ. Sie ergibt sich als Summe der
negativen Madelung-Energie und Elektronenaffinität und der positiven Ionisationsenergie.
Für NaCl erwarten wir mit den obigen Abschätzungen eine Bindungsenergie E B ≃ −3 eV pro
Ionenpaar.

3.3.1 Madelungenergie
Wir wollen nun die Madelung-Energie näher analysieren. Da die Coulomb-Wechselwirkung
zwischen den einzelnen Ionen proportional zu 1⇑r ist, erhalten wir eine langreichweitige
Wechselwirkung. Um die Madelung-Energie zu erhalten, müssen wir über die Wechselwir-
kung zwischen allen Ionen aufsummieren. Hierbei erhalten wir positive und negative Bei-

6
Erwin Madelung, geboren am 18. Mai 1881 in Bonn, gestorben 1. August 1972 in Frankfurt.
112 3 Bindungskräfte

Erwin Rudolf Madelung (1881–1972)


Erwin Rudolf Madelung wurde am 18. Mai 1881 als zweit-
ältester Sohn von Otto und Hedwig Madelung in Bonn ge-
boren. Sein Vater, damals Privatdozent in Bonn, wirkte spä-
ter als Professor der Chirurgie in Rostock und Straßburg im
Elsaß. Der Großvater mütterlicherseits, Fritz Koenig, war als
Unternehmer in den USA erfolgreich gewesen. Zu den Vor-
fahren väterlicherseits gehört der Dichter Matthias Claudi-
us (1740–1815). Die Kindheit und Jugendzeit verbrachte Er-
win Madelung in Bonn, Rostock und Straßburg. Er wuchs
mit mehreren Geschwistern auf und besuchte die Vorschule
und bis 1894 das Gymnasium in Rostock. Die wesentlichen
Bildungsjahre fallen in die Straßburger Zeit. Dort bestand
er 1900 das Abitur an dem „Protestantischen Gymnasium“.
Zwei Jahre vorher hatte an dieser Schule Max von Laue Foto: Goethe Universität Frankfurt
(1879–1960) das Abitur abgelegt und vierzehn Jahre nach Erwin Rudolf Madelung (1881 - 1972)
Madelung tat es Marianus Czerny (1896–1985), der Jahre später Madelungs Kollege in
Frankfurt am Main wurde.
Madelung wollte ursprünglich Ingenieur werden, wandte sich aber sehr bald der Physik
zu. Zunächst galt sein Interesse allerdings nicht der Theorie, sondern der Experimental-
physik. Er begann das Studium 1901 in Kiel, blieb dort aber nur kurze Zeit. Weitere Stu-
dienaufenthalte führten ihn nach Zürich (1901–1902) und Straßburg (1902–1903), wo
Ferdinand Braun (1850–1918) lehrte, der durch seine Kathodenstrahlröhren („Braunsche
Röhre“, 1897) und wesentliche Beiträge zur Entwicklung der drahtlosen Telegraphie be-
rühmt wurde (Nobelpreis 1909 mit Marconi). Die Doktorandenzeit verbrachte Madelung
von 1903 an in Göttingen. Hier wurde er 1905 von der Philosophischen Fakultät der Georg-
August-Universität zum Dr. phil. promoviert.
Als Nachfolger von Max Born wurde Erwin Madelung im Jahr 1921 auf den Lehrstuhl für
Theoretische Physik an die Frankfurter Universität berufen. Er leitete das Institut für Theo-
retische Physik bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1949, also während der Entwicklung
und des Ausbaus der Quantenmechanik.
Erwin Madelung starb am 1. August 1972 in Frankfurt.

träge durch Ionen gleicher und unterschiedlicher Ladung. In Analogie zur gesamten poten-
ziellen Energie bei der Van der Waals Wechselwirkung (vergleiche (3.2.16)) erhalten wir

N q2
U tot = ∑ ⌊︀∓ + λe−r i j ⇑ρ }︀ . (3.3.3)
2 i≠ j 4πє 0 r i j

Der Faktor 12 ist hierbei notwendig, da wir bei der Summation jedes Paar i j = ji zweimal
zählen.7 Das Vorzeichen ± berücksichtigt die Tatsache, dass Ionenpaare das gleiche oder das

7
In vielen Lehrbüchern wird über die Zahl N I = N⇑2 der Ionenpaare summiert, weshalb dann der
Faktor 1⇑2 fehlt.
3.3 Die ionische Bindung 113

entgegengesetzte Vorzeichen haben können. Der zweite Term in der Summe berücksichtigt
die kurzreichweitige Abstoßung von zwei Ionen aufgrund des Pauli-Prinzips. Diese Wech-
selwirkung kann empirisch gut mit dem Born-Mayer- oder auch Buckingham-Potenzial ge-
nannten Term λe−r i j ⇑ρ beschrieben werden. Die Parameter λ und ρ geben die Stärke und die
Reichweite der abstoßenden Wechselwirkung an und können aus den experimentellen Wer-
ten für die Gitterkonstante und die Kompressibilität bestimmt werden. Wir wollen ferner
darauf hinweisen, dass zwischen den Ionenpaaren natürlich auch eine Van der Waals Wech-
selwirkung auftritt. Diese ist aber um etwa 2 Größenordnungen kleiner als die Coulomb-
Wechselwirkung und wird hier vernachlässigt.
Zur Auswertung der Summe (3.3.3) berücksichtigen wir zunächst, dass die Reichweite der
abstoßenden Wechselwirkung sehr klein ist. Wir müssen deshalb nur über die Zahl Z NN der
nächsten Nachbarn aufsummieren. Wir können also r i j = R (Abstand der nächsten Nach-
barn) setzen und erhalten für den Beitrag aufgrund des Pauli-Prinzips

N
UP = Z NN λe−R⇑ρ . (3.3.4)
2
Für den Beitrag aus der Coulomb-Wechselwirkung erhalten wir unter Benutzung von r i j =
̃
α i j R (R = Abstand zum nächsten Nachbarn)

N q2 ±1 N q2
UC = − ∑ = −α (3.3.5)
2 4πє 0 R i≠ j ̃
αi j 2 4πє 0 R

mit der so genannten Madelung-Konstante


±1
α=∑ (3.3.6)
i≠ j ̃
αi j

Die Madelung-Konstante ist abhängig von der Kristallstruktur. Bei der NaCl-Struktur (fcc)
+
ist ein Na⌋︂ -Ion im Abstand R von 6 Cl− ⌋︂
-Ionen umgeben, es folgen dann⌋︂12 Na+ -Ionen im
Abstand 2R, 8 Cl -Ionen im Abstand 3R, 6 Na+ -Ionen im Abstand 4R, usw. Wir er-

halten für diesen Fall also


12 8 6
α = 6 − ⌋︂ + ⌋︂ − ⌋︂ + . . . .
2 3 4
Wertet man die Summen aus,8 so erhält man die in Tabelle 3.5 aufgelisteten Werte.

Struktur Madelung-Konstante Tabelle 3.5: Madelung-Konstante einiger Kristallstruk-


NaCl-Struktur α NaCl = 1.747565 turen.
CsCl-Struktur α CsCl = 1.762675
ZnS-Struktur α ZnS = 1.633806

8
In drei Dimensionen ist die Berechnung der Summe schwierig und erfordert besondere Metho-
den, siehe z. B. Ewald-Methode in Einführung in die Festkörperphysik, Charles Kittel, Oldenbourg
Verlag, München (2006), Anhang B.
114 3 Bindungskräfte

12
NaCl
𝑹 𝜶 = 1.747
8
𝒁𝐍𝐍 𝝀 𝐞𝐱𝐩 − 𝝀 = 1090 eV
𝝆
𝝆 = 0.321 Å
4

U (eV)

𝑼
0

-4
𝑹𝟎

Abb. 3.8: Potenzialverlauf bei der ioni- -8 ෩ 𝑹𝟎


𝑼
schen Bindung. Gezeigt ist die Energie
-12 −𝜶𝒒𝟐 /𝟒𝝅𝝐𝟎 𝑹
pro Ionenpaar eines NaCl-Kristalls, die
sich aus der Madelung-Energie und dem 1 2 3 4 5 6
abstoßenden Beitrag zusammensetzt. R (Å)
26

Wir können nun (3.3.4) und (3.3.5) zusammenfassen. Um die Bindungsenergie bezogen auf
̃ zu bekommen, teilen wir noch durch N⇑2 und erhalten
ein Ionenpaar, U,

2
̃ = −α q
U + Z NN λe−R⇑ρ . (3.3.7)
4πє 0 R

Wir sehen, dass die elektrostatische Energie pro Ionenpaar gerade durch die Coulomb-Ener-
gie zwischen nächsten Nachbarn multipliziert mit der Madelung-Konstante gegeben ist. Das
̃ 0) =
resultierende Gesamtpotenzial ist in Abb. 3.8 dargestellt. Für NaCl erhalten wir U(R
−8.25 eV in guter Übereinstimmung mit dem experimentell gemessenen Wert von −8.15 eV.
Da die Madelung-Konstante für die CsCl-Struktur (sc-Gitter) am größten ist, würde man
erwarten, dass alle Ionenkristalle eine CsCl-Struktur bevorzugen. Dies ist allerdings nicht
der Fall, wie die NaCl-Struktur (fcc-Gitter) von Kochsalz belegt. Der Grund dafür liegt in
dem Verhältnis der Radien der beteiligten Ionen. Der Begriff des Ionenradius ist hierbei so
zu verstehen, dass der Gleichgewichtsabstand R 0 zweier benachbarter Ionen gerade durch
die Summe der Ionenradien r A und r B der beteiligten Ionen gegeben ist. Der Ionenradius
eines bestimmten Elements hat, wenn dieses Element in verschiedenen Verbindungen vor-
kommt, immer nahezu den gleichen Wert. Da die ionische Bindung nicht gerichtet ist, wird
ein Ionenkristall die Struktur bevorzugen, die eine möglichst dichte Packung der beteilig-
ten Ionen erlaubt. Dabei muss allerdings berücksichtigt werden, dass sich Ionen mit unter-
schiedlicher Ladung berühren können, da sonst die Bindungsenergie herabgesetzt wird.⌋︂Wir
können uns diesen Sachverhalt ⌋︂ leicht anhand von Abb. 3.9(a) klar machen. Falls 2r A 3 <
2(r A + r B ), d.h. rr AB < 1⇑( 3 − 1) = 1.366 ist, können sich die negativen und positiven Io-
nen entlang der Raumdiagonalen direkt berühren. Für diesen Fall wird die Cäsiumchlorid-
Struktur (sc-Gitter) bevorzugt. Für rr AB > 1.366 ist dies aber nicht mehr der Fall, weshalb dann
die in Abb. 3.9(b) gezeigte Natriumchlorid-Struktur (fcc-Gitter) bevorzugt wird, bei der sich
die negativen und positiven Ionen jetzt entlang der Flächendiagonalen direkt berühren kön-
nen (siehe hierzu auch die Diskussion in Abschnitt 1.2.7).
Die in Abb. 3.9(c) gezeigte geometrische Betrachtung zeigt sofort, dass bei einem noch grö-
ßeren Verhältnis von r A und r B sich auch in einer Natriumchlorid-Struktur (fcc-Gitter) die
Ionen unterschiedlicher Ladung nicht mehr berühren können. Wird r A zu groß, so verlie-
3.3 Die ionische Bindung 115

(a) H F Cl Br I
Li
Na
Cl – NaCl
K
Cs+ Rb
a Cs CsCl

(b) (c)
A- B+ A-
Cl – 𝒓𝑩
B+
Na+ 𝟐𝒓𝑨 𝒓𝑨
Cl – B+ A-
a
Abb. 3.9: Zur Berechnung des kritischen Verhältnisses der Ionenradien für den Übergang von einer
einfach kubischen (sc) CsCl-Struktur (a) zur einer flächenzentrierten (fcc) NaCl-Struktur (b) bei ei-
nem Ionenkristall mit zweiatomiger Basis. Die in (c) gezeigte geometrische Betrachtung zeigt, dass für
r A ⇑r B > 2.414 sich auch in einer NaCL-Struktur die Ionen unterschiedlicher Ladung nicht mehr direkt
berühren können. Die Tabelle zeigt, welche Verbindungen zwischen Alkalimetallen und Halogenen in
der NaCl- (fcc) und welche in der CsCl-Struktur (sc) kristallisieren.

ren die B-Ionen den direkten Kontakt zu den A-Ionen. Für das kritische Radienverhältnis
erhalten wir aus Abb. 3.9(c) sofort den Wert
rA 1
= ⌋︂ = 2.414 . (3.3.8)
rB 2−1
Für rr AB > 2.414 könnten sich also die Na+ - und Cl− -Ionen nicht mehr berühren. Dies ist aber
für die weniger dicht gepackte Zinkblende-Struktur (ebenfalls fcc-Gitter) möglich, weshalb
wir für sehr große rr AB -Werte eine Zinkblende-Struktur erwarten.

3.3.2 Gleichgewichtsgitterkonstante
Den Gleichgewichtsatomabstand R 0 erhalten wir, indem wir das Minimum von (3.3.7) su-
chen. Aus
̃
dU q2 1
= 0 = +α 2
− Z NN λe−R⇑ρ (3.3.9)
dR 4πє 0 R ρ
erhalten wir
q2
R 02 e−R 0 ⇑ρ = ρα . (3.3.10)
4πє 0 Z NN λ
Wir sehen, dass wir R 0 erhalten können, falls wir die Parameter ρ und λ des abstoßenden
Potenzials wissen. In der Praxis geht man umgekehrt vor: man bestimmt ρ und λ durch
116 3 Bindungskräfte

Messung von R 0 und der Kompressibilität. Setzen wir (3.3.10) in (3.3.7) ein, so erhalten wir

̃ 0 ) = E Mad = −α q2 ρ
U(R (1 − ) . (3.3.11)
4πє 0 R 0 R0
Aus experimentellen Daten erhält man, dass typischerweise ρ ∼ 0.1 R 0 , d. h. das abstoßende
Potenzial ist in der Tat nur sehr kurzreichweitig.

3.3.3 Kompressibilität
In Analogie zu Abschnitt 3.2.4 können wir wiederum die Kompressibilität bzw. den Bulk-
Modul aus dem Ausdruck für die gesamte potenzielle Energie ableiten. Aus

1 ∂2 U d dU dR d 2 U dR 2 dU d 2 R
B= =V = V ( ) = V ⌊︀ ( ) + }︀ . (3.3.12)
κ ∂V 2 dV dR dV dR 2 dV dR dV 2
folgt mit

d2U N Z NN λ −R 0 ⇑ρ αq 2
( ) = ( e − ). (3.3.13)
dR 2 R=R 0 2 ρ2 2πє 0 R 03

und
2
dR 2 1 1
( ) =( ) = . (3.3.14)
dV R=R 0 dV ⇑dR R=R 0 (N⇑2)2 36R 04

Hierbei müssen wir berücksichtigen, dass der Zusammenhang zwischen V und R von der
Kristallstruktur abhängt. Das letzte Gleichheitszeichen gilt deshalb nur für die fcc-Struktur.
Für diese ist das Gesamtvolumen des Kristalls durch V = N8 a 3 gegeben, da jede konventio-
nelle kubische Zelle mit Volumen a 3 je 4 Na+ - und Cl− -Ionen, also genau 8 Ionen enthält.
Der nächste Nachbarabstand ist R = a⇑2 und somit V = 2 N2 R 3 . Berücksichtigen wir noch,
dass dU⇑dR⋃︀R=R 0 = 0, so erhalten wir durch Einsetzen von (3.3.13) und (3.3.14) in (3.3.12)
für die fcc-Struktur den Bulk-Modul
1 1 Z NN λ αq 2
B= = ( 2 e−R 0 ⇑ρ − ). (3.3.15)
κ 18R 0 ρ 2πє 0 R 03
In Tabelle 3.6 sind die charakteristischen Parameter von einigen Ionenkristallen zusammen-
gestellt. Wir sehen, dass die experimentell bestimmten Bindungsenergien relativ gut mit den
theoretisch ermittelten Werten übereinstimmen. Bei den theoretischen Werten wurde zu-
nächst λ und ρ durch Messung von R 0 und κ bestimmt und dann die Bindungsenergie U ̃
̃
mit (3.3.7) bestimmt. Bezüglich der experimentellen Werte von U ist anzumerken, dass sich
diese nicht direkt bestimmen lassen, da wir ja einen Kristall nicht in freie Ionen zerlegen
können. Die Bestimmung erfolgt über den Born-Haberschen Kreisprozess, den wir hier nicht
näher diskutieren wollen.9
9
siehe hierzu z. B. Einführung in die Festkörperphysik, Konrad Kopitzki, Teubner Studienbücher,
3. Auflage, B. G. Teubner, Stuttgart (1993).
3.4 Die kovalente Bindung 117

Kristall R 0 (Å) κ (10−11 m2 /N) ρ (Å) λ (eV) U


̃ theor. (eV) U
̃ exp. (eV) Tabelle 3.6: Gleich-
gewichtsatomabstand R 0 ,
LiF 2.014 1.49 0.291 306 10.70 10.92
Kompressibilität κ,
LiCl 2.570 3.36 0.330 509 8.55 8.93 Bindungsenergie
NaCl 2.820 4.17 0.322 1090 7.92 8.23 pro Ionenpaar U ̃
NaJ 3.237 6.62 0.345 1655 6.96 7.35 sowie die Parameter λ
und ρ für einige Ionen-
KCl 3.147 5.75 0.327 2068 7.17 7.47
kristalle.
KJ 3.533 8.55 0.349 2936 6.43 6.75

3.4 Die kovalente Bindung


In Abschnitt 3.2 und 3.3 haben wir die Bindungsenergien von molekularen und ionischen
Kristallen diskutiert. Die Berechnung der Bindungsenergie für die in solchen Kristallen auf-
tretende Van der Waals und ionische Bindung war einfach. Dies liegt daran, dass die Valenz-
elektronenkonfiguration der beteiligten Atome bzw. Ionen im Festkörper kaum von derjeni-
gen der freien Atome bzw. Ionen abweicht. Die Elektronen der einzelnen Atome sind dabei
immer klar bei nur einem Atom bzw. Ion lokalisiert. In der in diesem Abschnitt diskutierten
kovalenten Bindung und auch bei der metallischen Bindung (siehe Abschnitt 3.5) ist dies
nicht mehr der Fall. Wir haben es jetzt mit Atomen zu tun, die nur teilweise gefüllte Elektro-
nenschalen haben. Die sich in diesen Schalen befindenden Valenzelektronen können jetzt
mit der Elektronenhülle der Nachbaratome überlappen. Die daraus resultierende kovalente
Bindung ist die Folge einer quantenmechanischen Austauschwechselwirkung, die sich im
Rahmen der klassischen Physik nicht erklären lässt. Wir können jetzt die Bindungsenergie
nicht mehr ableiten, indem wir die potenzielle Energie von einem Satz nahezu undeformier-
ter Elektronenhüllen betrachten. Wir müssen im Gegenteil bei der Berechnung der Ener-
gieniveaus der Valenzelektronen das periodische Potenzial der Atomrümpfe im Festkörper
berücksichtigen. Dies wird im Rahmen von so genannten Bandstrukturrechnungen getan
(vergleiche Abschnitt 8.7). Dieses komplexe Thema wollen wir hier allerdings nicht aufgrei-
fen.
Um eine Anschauung für die Ursache der kovalenten Bindung zu erhalten, wollen wir ein
kleines Gedankenexperiment machen. Wir betrachten ein Kristallgitter, bei dem wir den
Gitterabstand kontinuierlich variieren können. Bei sehr großem Abstand der Atome kön-
nen wir Wechselwirkungen vernachlässigen und die Gesamtenergie des Systems ist gerade
die Summe der Energien der Einzelatome. Wenn wir jetzt den Gitterabstand verringern, so
werden ab einen bestimmten Gitterabstand die Elektronenhüllen der einzelnen Atome an-
fangen sich zu überlappen. Haben die einzelnen Atome eine voll gefüllte Elektronenschale
(Edelgaskonfiguration), so führt eine Überlappung zu einer Energieerhöhung, da aufgrund
des Pauli-Prinzips einige Elektronen bei einer Überlappung auf höhere Energieniveaus aus-
weichen müssen. Haben die Atome dagegen nur teilweise gefüllte äußere Schalen, so kön-
nen wir auch eine Energieabsenkung erhalten. Die Elektronen können sich jetzt aufgrund
der Überlappung der Elektronenhüllen auf beide Atome ausdehnen, d. h. ihre Ortsunschärfe
wird größer. Aufgrund der Unschärferelation ∆p∆x ≥ ħ führt die größere Ortsunschärfe zu
einer geringeren Impulsunschärfe. Dies hat im zeitlichen Mittel eine Absenkung der kineti-
schen Energie zur Folge. Natürlich kann die Verringerung des Atomabstandes auch zu einer
118 3 Bindungskräfte

Erhöhung der potenziellen Energie führen, aber insgesamt kann trotzdem ∆E kin + ∆E pot < 0
sein, so dass eine anziehende Wechselwirkung resultiert.
Wir werden jetzt die kovalente Bindung anhand des einfachsten Falls, eines H+2 -Molekül-
ions diskutieren. Dabei werden wir die wesentlichen Ingredienzen der kovalenten Bindung
kennenlernen.

3.4.1 Das H+2 -Molekülion


Das H+2 -Molekülion ist das einfachste aller Moleküle. Mit den Bezeichnungen aus Abb. 3.10
erhalten wir das Wechselwirkungspotenzial zwischen den 3 Teilchen zu

e2 1 1 1
E pot = − ( + − ). (3.4.1)
4πє 0 r A r B R
Vernachlässigen wir die Schwerpunktsbewegung der Kerne, so enthält der Hamilton-Opera-
tor für dieses System die kinetische Energie des Elektrons und die potenzielle Energie (3.4.1).
Das geeignete Molekülorbital für das Elektron erhalten wir dann durch Lösung der Schrö-
dinger-Gleichung

ħ2 2 e2 1 1 1
⌊︀− ∇e − ( + − )}︀ Ψ(r, R) = E Ψ(r, R) . (3.4.2)
2m 4πє 0 r A r B R

Für den Fall, dass das Elektron instantan auf Abstandsänderungen der Kerne reagieren kann
(adiabatische Näherung, vergleiche hierzu Abschnitt 5.1.1) lässt sich die Schrödinger-Glei-
chung exakt lösen.10 Ansonsten müssen wir zu ihrer Lösung selbst für dieses einfachste Mo-
lekül Näherungen machen. Eine gebräuchliche Näherung ist die LCAO-Methode (LCAO:
linear combination of atomic orbitals), bei der das Molekülorbital als Linearkombination
der Zustände ϕ A und ϕ B (in dem betrachteten Fall des H+2 -Molekülions sind dies Wasser-
stoff 1s-Orbitale) der beiden nichtwechselwirkenden Atome angenähert wird:

Ψ(r, R) = c A ϕ A (r A ) + c B ϕ B (r B ) (3.4.3)

Hierbei sind c A und c B reelle Konstanten. Ferner können r A = r + R⇑2 und rB = r − R⇑2
durch r und den Kernabstand R ausgedrückt werden (vergleiche hierzu Abb. 3.10). Da die
Gesamtwellenfunktion für jeden Kernabstand R normiert sein muss, müssen wir

∫ ⋃︀Ψ⋃︀ d r ≡ 1 = c A ∫ ⋃︀ϕ A (r A )⋃︀ d r + c B ∫ ⋃︀ϕ B (r B )⋃︀ d r


2 3 2 2 3 2 2 3

+ 2c A c B R ∫ ϕ∗A ϕ B d 3 r (3.4.4)

fordern, wobei wir jeweils über die Koordinaten des Elektrons integrieren müssen.

10
In diesem Fall können wir die beiden Kerne als starres Gebilde annehmen und haben wiederum ein
Zweiteilchenproblem, allerdings mit nicht-kugelsymmetrischem Potenzial zu lösen. Wir nehmen
ferner an, dass der Schwerpunkt der beiden Kerne sich in Ruhe befindet.
𝟐 𝑯+ - Molekülion
3.4 Die kovalente Bindung 119

𝑦 𝒆−
𝒓
𝒓𝑨 𝒓𝑩

A 𝑥 B
S
𝑹𝑨 𝑹𝑩 𝑧 Abb. 3.10: Zur Definition der Größen beim H+2 -Molekül-
𝒆+ 𝑹 𝒆+ ion.

Die atomaren Wellenfunktionen ϕ A und ϕ B sind bereits normiert, so dass die beiden ersten
Integrale jeweils eins ergeben. Wir erhalten somit
𝐸𝑝𝑜𝑡
c A2 + c B2 + 2c A c B S AB = 1 ,
31
(3.4.5)

wobei das Integral

S AB = R ∫ ϕ∗A (r A )ϕ B (rB ) d 3 r , (3.4.6)

vom räumlichen Überlapp der beiden Atomwellenfunktionen abhängt. Wir nennen es des-
halb Überlappintegral. Sein Wert hängt vom Abstand R der beiden Kerne ab, da über die
Elektronenkoordinaten r = r A − R⇑2 und r = rB + R⇑2 integriert wird.
Aus Symmetriegründen gilt ⋃︀c A ⋃︀2 = ⋃︀c B ⋃︀2 = ⋃︀c⋃︀2 .11 Außerdem muss die entstehende Wellen-
funktion entweder symmetrisch oder antisymmetrisch beim Vertauschen der beiden Atom-
orbitale sein, woraus c A = ±c B folgt. Damit erhalten wir unter Ausnutzung von (3.4.5) die

0.20
0.4 (a) (b)
𝚿𝒔 𝚿𝐚 𝟐

0.2
bindend 0.15
B
𝚿𝒔 𝟐
2

0.0
||

0.10

A
-0.2
anti- 0.05
𝒂
-0.4
bindend 𝚿 A B
0.00
-4 -2 0 2 4 -4 -2 0 2 4
r / aB r / aB

Abb. 3.11: Symmetrische und anti-symmetrische Wellenfunktion des H+2 -Molekülions zusammen-
gesetzt aus Wasserstoff 1s-Orbitalen. Gezeigt ist ein Schnitt durch die zylindersymmetrischen Funk-
tionen Ψ s und Ψ a (a) und deren Absolutquadrate ⋃︀Ψ s ⋃︀2 und ⋃︀Ψ a ⋃︀2 (b).

11
Dieses Ergebnis können wir auch dadurch ableiten, indem wir allgemein den Erwartungswert der
Energie als Funktion von c A und c B berechnen und dann den Minimalwert der Energie bezüg-
lich der Konstanten c A und c B suchen. Die aus ∂E⇑∂c A = 0 und ∂E⇑∂c B = 0 resultierenden Be-
stimmungsgleichungen liefern c A = c B für den antibindenden und c A = −c B für den bindenden
Zustand.
bindend antibindend
32
120 3 Bindungskräfte

normierten (symmetrischen und antisymmetrischen) Molekülorbitale (siehe Abb. 3.11)


1
Ψ s = ⌋︂ (ϕ A + ϕ B ) (3.4.7)
2 + 2S AB
1
Ψ a = ⌋︂ (ϕ A − ϕ B ) . (3.4.8)
2 − 2S AB

Dabei ist die Normierungskonstante ⌋︂2±2S


1
für jeden Abstand R wegen des variierenden
AB
Überlapps immer wieder neu zu berechnen.
Wir können nun den Hamilton-Operator (3.4.2) des starren Moleküls benutzen und den
Erwartungswert der Energie

⧹︂ Ψ dV
∐︀Ẽ︀ = ∫ Ψ∗ H (3.4.9)

bestimmen. Wir erhalten für den symmetrischen und den antisymmetrischen Zustand die
beiden Energiefunktionen

H AA + H AB
E s (R) =
1 + S AB
(3.4.10)
H AA − H AB
E (R) =
a
.
1 − S AB

mit den vom Kernabstand abhängigen Integralen12

⧹︂ A d 3 r = ∫ ϕ∗B Hϕ
H AA = H BB = ∫ ϕ∗A Hϕ ⧹︂ B d 3 r (3.4.11)

⧹︂ B d 3 r = ∫ ϕ∗B Hϕ
H AB = H BA = ∫ ϕ∗A Hϕ ⧹︂ A d 3 r . (3.4.12)

Die Ausdrücke H AB in (3.4.12) werden als Austauschterme bezeichnet. Sie unterscheiden


sich von den Termen H AA in (3.4.11) dadurch, dass im Integral ϕ∗A ϕ A durch ϕ∗B ϕ A ersetzt
wird. Die Austauschterme sind rein quantenmechanischer Natur und besitzen, da ϕ∗B ϕ A
nicht als Ladungsdichte interpretiert werden kann, im Gegensatz zu den mit ϕ∗A ϕ A verbun-
denen Coulomb-Termen kein klassisches Analogon.13

12
Beim Ausrechnen der Integrale über die Elektronenkoordinaten müssen die Variablen r A und r B ,
die jeweils auf den Kern A bzw. B bezogen sind, auf einen gemeinsamen Ursprung transformiert
werden. Die Lösung von Integralen der Form

e−r A ⇑a B e−r B ⇑a B 3
I(R) = ∫ d r
rArB
wird am besten in konfokalen elliptischen Koordinaten vollzogen.
13
Wir können dies auch so formulieren. Der Ausdruck ϕ∗B ϕ A ist kein Quadrat einer Wahrscheinlich-
keitsamplitude und somit nicht als Wahrscheinlichkeitsdichte interpretierbar. Es handelt sich, um
einen Begriff aus der Optik zu benutzen, um die Interferenz von Wahrscheinlichkeitsamplituden.
Die chemische Bindung ist eine Folge dieser Interferenz.
3.4 Die kovalente Bindung
𝑯+ - Molekülion 121
𝟐

𝑬𝒔 𝑹 𝑬𝒂 𝑹
4

𝑹𝟎 = 𝟐. 𝟒𝟗 𝒂𝐁 = 𝟎. 𝟏𝟑𝟐 𝐧𝐦
𝑬 𝑹𝟎 − 𝑬𝟏𝒔 = −𝟏. 𝟕𝟕 𝐞𝐕
E - E1s (eV)

-2
Abb. 3.12: Energiefunktionen E s (R)
und E a (R) für symmetrische und
0 1 2 3 4 5 6
antisymmetrische Elektronendichte-
R / aB verteilungen des H+2 -Molekülions.

33

Auf ein explizites Ausrechnen der Terme H AA , H AB und S AB wollen wir hier verzichten
und nur das Ergebnis anhand von Abb. 3.12 diskutieren. Für R → ∞ wird der Überlapp der
Wellenfunktionen null und wir erhalten E s = E a = H AA = E 1s = −13.6 eV, da der Beitrag
e 2 ⇑4πє 0 R in (3.4.2) aufgrund der Abstoßung der beiden Wasserstoffkerne vernachläs-
sigbar klein wird (E 1s ist die Bindungsenergie des Wasserstoff 1s-Orbitals). Für R → 0
gehen sowohl E s als auch E a gegen unendlich, da jetzt der Term e 2 ⇑4πє 0 R dominiert.
Für mittlere R sehen wir, dass E s (R) ein Minimum besitzt, während E a (R) monoton mit
zunehmendem R abfällt. Für E s (R) − E 1s erhalten wir eine Kurve, die ein Minimum bei
R 0 = 2.49 ⋅ a B ≃ 1.32 Å aufweist. Die zugehörige Energie D e = E s (R 0 ) − E 1s = −1.77 eV ist
negativ. Wir bezeichnen D e als Dissoziationsenergie, da diese Energie notwendig ist, um
das Molekül wieder in ein Proton und ein Wasserstoffatom zu trennen. Befindet sich das
elektronische System im Ψ s -Zustand, so kommt es also zur Energieabsenkung bzgl. des
dissoziierten Systems, dessen elektronische Energie gleich E 1s ist. Die physikalische Folge
ist ein stabiles Molekül. Ψ s wird deshalb als bindendes Molekülorbital (MO) bezeichnet.
E a (R) − E 1s ist eine positive, für R → 0 monoton ansteigende Funktion. Sie führt somit
nicht zu einem Bindungszustand. Ψ a wird als anti-bindendes Molekülorbital bezeichnet.
Wir erhalten also eine Aufspaltung der atomaren Energieniveaus in ein bindendes und ein
antibindendes Molekülorbital (siehe Abb. 3.13).
Abb. 3.11 zeigt, dass das bindende Molekülorbital ein symmetrisches Orbital mit einer er-
höhten Elektronendichte in der Mitte zwischen den beiden Wasserstoffkernen ist. Für das
antibindende Orbital verschwindet dagegen die Elektronendichte in der Mitte zwischen den
Kernen. Dies stimmt mit unserer anfangs gemachten anschaulichen Diskussion überein, auf-

antibindendes
Molekülorbital

𝑯𝑨𝑨 𝝓𝑨 𝑬𝒂 𝚿𝒂 𝑯𝑩𝑩 𝝓𝑩
Atom- Atom- Abb. 3.13: Aufspaltung der atomaren Energie-
orbital A 𝑬𝒔 𝚿𝒔 orbital B
niveaus in ein bindendes und antibindendes
bindendes
Molekülorbital Molekülorbital.
122 3 Bindungskräfte

grund derer wir ganz allgemein einen bindenden Zustand erwartet haben, falls sich die Elek-
tronen der Hülle auf mehrere Atome verteilen können.

3.4.2 Das H2 -Molekül


Gehen wir vom H+2 -Molekülion zum H2 -Molekül über, so haben wir es jetzt mit zwei
Elektronen zu tun, die wir mit einer Zweielektronenwellenfunktion Ψ(r1 , r2 ) beschreiben
müssen. Den Hamilton-Operator für das Vierteilchensystem können wir schreiben als
⧹︂ = H
H ⧹︂0 + H
⧹︂1 (3.4.13)
2 2
⧹︂0 = − ħ )︀∇2e1 + ∇2e2 ⌈︀ − e ]︀ 1 + 1 {︀
H (3.4.14)
2m 4πє 0 r 1A r 2B
2
⧹︂1 = e ]︀ 1 + 1 − 1 − 1 {︀ .
H (3.4.15)
4πє 0 R r 12 r 1B r 2A
Hierbei sind r 1A , r 1B die Abstände von Elektron 1 zu Kern A und B, r 2A , r 2B die Abstände
von Elektron 2 zu Kern A und B, r 12 der Abstand zwischen den beiden Elektronen und R
der Abstand zwischen den beiden Kernen (siebe Abb. 3.14). Der Anteil H 0 beschreibt gerade
zwei völlig getrennte, nicht wechselwirkende Wasserstoffatome und der Anteil H 1 die Wech-
selwirkung zwischen den beiden Elektronen und Kernen sowie von Elektron 1 mit Kern B
und Elektron 2 mit Kern A. Um die Schrödinger-Gleichung zu lösen, müssen wir einen ge-
eigneten Ansatz für die Zweielektronenwellenfunktion machen. Wir wollen im Folgenden
zwei Näherungen diskutieren:

𝑦 𝒆−
Wasserstoff-Molekül 𝟐
𝒆−
𝟏 𝒓𝟏𝟐

𝑥
A B
S
𝑹𝑨 𝑹𝑩
Abb. 3.14: Zur Definition der Größen beim H2 -Molekül. 𝒆+ 𝑹 𝒆+ 𝑧

3.4.2.1
𝑟1𝐴 , 𝑟Die
2𝐵 : Molekülorbitalnäherung
Abstand von Elektron 1 zu Kern A und Elektron 2 zu Kern B
𝑟1𝐵 , 𝑟2𝐴 : Abstand
Der Grundzustand desvon
H2Elektron 1 zugeht
-Moleküls Kernfür R →Elektron
B und ∞ in zwei
2 zu H-Atome
Kern A im 1s-Zustand über.
Deshalb wählen wir als Molekülorbital genauso wie beim H+2 -Molekülion die symmetrische
𝑟12 , 𝑅: Abstand der beiden Elektronen und Kerne
normierte Linearkombination
1
Ψ s = ⌋︂ (ϕ A + ϕ B ) (3.4.16)
2 + 2S AB
bestehend aus den Wasserstoff 1s-Wellenfunktionen ϕ A und ϕ B .
 Berechnung von Bindungsenergie erfordert Ansatz für Zweielektronen-Wellenfunktion
36
3.4 Die kovalente Bindung 123

Für den Fall, dass beide Elektronen im Grundzustand des H2 -Moleküls sind, setzen wir für
unsere Zweielektronen-Wellenfunktion das Produkt
Ψ(r1 , r2 ) = Ψ s (r1 ) ⋅ Ψ s (r2 ) (Produkt von Molekülorbitalen) (3.4.17)
der beiden Molekülorbitale (3.4.16) an. Wir sprechen deshalb von der Molekülorbitalnä-
herung. Dieser Ansatz bedeutet, dass wir den Einfluss der Wechselwirkung zwischen den
beiden Elektronen (Korrelationseffekte) auf die räumliche Verteilung der Molekülorbitale
vernachlässigen.
Wir sehen ferner, dass unser Ansatz (3.4.17) symmetrisch bezüglich einer Vertauschung der
beiden Elektronen ist. Da wir es aber mit Fermionen zu tun haben, für die das Pauli-Prinzip
gilt, muss die Gesamtwellenfunktion antisymmetrisch sein. Dies können wir dadurch errei-
chen, dass wir den Ortsanteil mit einem antisymmetrischen Spin-Anteil multiplizieren und
somit die antisymmetrische Gesamtwellenfunktion
Ψ(r1 , r2 , s1 , s2 ) = Ψ s (r1 ) ⋅ Ψ s (r2 ) ⋅ χ asym (3.4.18)
mit
1
χ asym = ⌋︂ )︀σ + (r1 )σ − (r2 ) − σ + (r2 )σ − (r1 )⌈︀ (3.4.19)
2
erhalten. Hierbei bedeutet σ + (r1 ), dass der Spin des Elektrons am Kern 1 nach oben zeigt.
Wir sehen, dass die beiden Elektronen antiparallelen Spin haben und somit einen anti-
symmetrischen Spin-Singulett-Zustand bilden. Aus (3.4.17) erhalten wir unter Benutzung
von (3.4.16):
1
Ψ s (r1 , r2 ) = )︀ϕ A (r1 ) + ϕ B (r1 )⌈︀ ⋅ )︀ϕ A (r2 ) + ϕ B (r2 )⌈︀ (3.4.20)
2 + 2S AB
In analoger Weise können wir eine antisymmetrische Wellenfunktion aus einer antisymme-
trischen Ortsfunktion und einer symmetrischen Spin-Funktion aufbauen. Die symmetri-
sche Ortsfunktion erhalten wir durch Multiplikation einer symmetrischen Funktion (3.4.16)
mit einer antisymmetrsichen Linearkombination
1
Ψ a = ⌋︂ (ϕ A − ϕ B ) . (3.4.21)
2 − 2S AB
Wir erhalten dann wiederum eine antisymmetrische Gesamtwellenfunktion
Ψ(r1 , r2 , s1 , s2 ) = Ψ s (r1 ) ⋅ Ψ a (r2 ) ⋅ χ sym (3.4.22)
mit dem symmetrischen Spin-Triplett-Zustand
)︀
⌉︀ σ + (r1 )σ + (r2 )
⌉︀
⌉︀
⌉︀
⌉︀ 1
χ sym = ⌋︀ ⌋︂ (︀σ + (r1 )σ − (r2 ) + σ + (r2 )σ − (r1 )⌋︀ . (3.4.23)
⌉︀
⌉︀
⌉︀
2
⌉︀
⌉︀ − −
]︀ (r1 )σ (r2 )
σ
Für den antisymmetrischen Ortsanteil ergibt sich
1
Ψ a (r1 , r2 ) = ⌈︂ )︀ϕ A (r1 ) + ϕ B (r1 )⌈︀ ⋅ )︀ϕ A (r2 ) − ϕ B (r2 )⌈︀ . (3.4.24)
2 1 − S AB
2
124 3 Bindungskräfte

3.4.2.2 Valenzbindungsnäherung
Das Produkt in der Molekularorbitalnäherung (3.4.20) enthält auch Terme, die den Zustand
beschreiben, in dem sich beide Elektronen in der Nähe eines der beiden Kerne aufhalten. Es
stellt deshalb nur dann eine gute Näherung dar, wenn Elektron-Elektron-Wechselwirkun-
gen vernachlässigt werden können. Die Coulombabstoßung der beiden Elektronen macht
diesen Zustand aber in den meisten Fällen unwahrscheinlich. Wir können die mathema-
tische Behandlung erheblich vereinfachen, wenn wir diese Terme bei der Berechnung der
Grundzustandsenergie erst gar nicht berücksichtigen. Tun wir dies, so kommen wir zur so
genannten Valenzbindungsnäherung, die auf Walter Heitler14 und Fritz London15 zurück-
geht. In dieser Näherung setzen wir die Gesamtwellenfunktion für die beiden Elektronen
nicht als Produkt von zwei Molekülorbitalen, sondern als Produkt von zwei Atomorbitalen
an. Im tiefsten Molekülorbital können zwei Elektronen mit entgegengesetztem Spin unter-
gebracht werden. Die dazugehörige Wellenfunktion

Ψ1 = c 1 ϕ A (r1 ) ⋅ ϕ B (r2 ) (Produkt von Atomorbitalen) (3.4.25)

gibt die Wahrscheinlichkeit dafür an, dass das Elektron 1 am Kern A ist, also durch die
atomare Wellenfunktion ϕ A beschrieben werden kann, und das Elektron 2 gleichzeitig am
Kern B zu finden ist und deshalb durch ϕ B beschrieben wird. Es treten also keine Terme auf,
die dem Antreffen beider Elektronen an einem der beiden Kerne entsprechen.
Da die beiden Elektronen ununterscheidbar sind, muss auch die Wellenfunktion

Ψ2 = c 2 ϕ A (r2 ) ⋅ ϕ B (r1 ) (3.4.26)

eine mögliche Wellenfunktion mit gleicher Ladungsverteilung sein. Nach dem Pauli-Prinzip
muss der räumliche Anteil der Wellenfunktion symmetrisch oder antisymmetrisch bezüg-
lich der Vertauschung der beiden Elektronen sein, um so mit der entsprechenden Spin-
Funktion eine insgesamt antisymmetrische Gesamtwellenfunktion zu ergeben. Mit c = c 1 =
±c 2 können wir schreiben:

Ψ s,a = Ψ1 ± Ψ2 = c )︀ϕ A (r1 ) ⋅ ϕ B (r2 ) ± ϕ A (r2 ) ⋅ ϕ B (r1 )⌈︀ . (3.4.27)

Da die atomaren Wellenfunktionen ϕ A und ϕ B bereits normiert sind, erhalten wir


⌋︂ zur Herleitung von (3.4.7) und (3.4.8) analogen Rechnung den Koeffizienten
nach einer
c = 1⇑ 2 ± 2S, so dass wir für die Heitler-London Wellenfunktion

1
Ψ s,a = ⌋︂ )︀ϕ A (r1 ) ⋅ ϕ B (r2 ) ± ϕ A (r2 ) ⋅ ϕ B (r1 )⌈︀ (3.4.28)
2 ± 2S

erhalten. Hierbei ist

14
Walter Heinrich Heitler, geboren am 2. Januar 1904 in Karlsruhe, gestorben am 15. November
1981 in Zollikon, Schweiz.
15
Fritz Wolfgang London, geboren am 7. März 1900 in Breslau, gestorben am 30. März 1954 in
Durham, North Carolina, USA.)
3.4 Die kovalente Bindung 125

S = ∬ d 3 r 1 d 3 r 2 ϕ∗A (r1 )ϕ∗B (r2 ) ⋅ ϕ A (r2 )ϕ B (r1 )

= ∬ d 3 r 1 d 3 r 2 ϕ∗A (r2 )ϕ∗B (r2 ) ⋅ ϕ A (r1 )ϕ B (r2 ) (3.4.29)

das Überlappintegral.
Der Unterschied zur Molekülorbitalnäherung besteht darin, dass dort ein Molekülorbital-
ansatz für ein Elektron gemacht wurde, das sich sowohl in ϕ A als auch in ϕ B aufhalten kann
und deshalb durch die Linearkombination (3.4.7) beschrieben wird. Für die Besetzung mit
zwei Elektronen wird dann der Produktansatz (3.4.17) verwendet. Bei der Heitler-London
Näherung werden dagegen gleich beide Elektronen betrachtet, so dass für Ψ1 der Produkt-
ansatz der atomaren Orbitale notwendig ist, deren Linearkombination dann durch das Pauli-
Prinzip erzwungen wird.
Wir können jetzt mit dem Ansatz (3.4.28) und dem Hamilton-Operator (3.4.13) den Erwar-
tungswert der Energie berechnen. Der Beitrag von H 0 ergibt gerade 2E 1s und den Beitrag
aufgrund von H 1 können wir durch die Coulomb-Integrale V und die Austauschintegrale A

⧹︂1 ϕ A (r1 )ϕ B (r2 )


V = ∬ d 3 r 1 d 3 r 2 ϕ∗A (r1 )ϕ∗B (r2 ) H

⧹︂1 ϕ A (r2 )ϕ B (r1 )


= ∬ d 3 r 1 d 3 r 2 ϕ∗A (r2 )ϕ∗B (r1 ) H (3.4.30)

R = 0.05 nm R = 0.08 nm R = 0.1 nm

R = 0.15 nm 4
R = 0.25 nm
E - 2E1s (eV)

-2

-4
0.00 0.05 0.10 0.15 0.20 0.25
R (nm)

Abb. 3.15: Energiekurve E(R) und Elektronendichten des Wasserstoffmoleküls für verschiedene Ab-
stände R der Kerne berechnet mit dem LCAO-Programmpaket „Gauss“ (rot = hohe Elektronendichte,
blau = niedrige Elektronendichte).
126 3 Bindungskräfte

⧹︂1 ϕ A (r2 )ϕ B (r1 )


A = ∬ d 3 r 1 d 3 r 2 ϕ∗A (r1 )ϕ∗B (r2 ) H

⧹︂1 ϕ A (r1 )ϕ B (r2 )


= ∬ d 3 r 1 d 3 r 2 ϕ∗A (r2 )ϕ∗B (r1 ) H (3.4.31)

ausdrücken. Insgesamt erhalten wir

V +A
E s (R) = 2E 1s +
1+S
(3.4.32)
V −A
E (R) = 2E 1s +
a
.
1−S

Wir sehen, dass auch in der Heitler-London Näherung die symmetrische Orbitalfunktion
den energetisch günstigeren Zustand liefert. Für R → ∞ gehen sowohl V als auch A ge-
gen null und wir erhalten E s = E a = 2E 1s , also die Energie von zwei nicht wechselwirkenden
Wasserstoffatomen. Für R → 0 dominiert wie beim H+2 -Molekülion die repulsive Coulomb-
Wechselwirkung der beiden Wasserstoffkerne. Dazwischen gibt es, wie Abb. 3.15 zeigt, für
die symmetrische Wellenfunktion ein Minimum, also einen bindenden Zustand.

Singulett- und Triplett-Zustand: Wir haben gesehen, dass unabhängig von den gemach-
ten Näherungen nur immer das symmetrische Molekülorbital einen bindenden Zustand
liefert. Da die Gesamtwellenfunktion für Fermionen antisymmetrisch sein muss, muss die
Spin-Funktion antisymmetrisch sein. Das heißt, die beiden Elektronen haben im H2 -Mole-
kül eine antiparallele Stellung. Sie bilden einen Singulett-Zustand. Für das nichtbindende,
antisymmetrische Molekülorbital muss dagegen die Spin-Funktion symmetrisch sein.
Die Elektronenspins sind parallel ausgerichtet und bilden einen Triplett-Zustand (siehe
Abb. 3.16). Wir sehen also, dass die Bindungsenergie offenbar von der Stellung der beiden
Elektronenspins abhängt. Diese spinabhängige Coulomb-Energie ist von zentraler Bedeu-
tung für den Magnetismus von Festkörpern. Ursache ist letztendlich das Pauli-Prinzip, das
erfordert, dass sich Elektronen mit parallelem Spin aus dem Weg gehen, und auf diese Weise
die Ortswellenfunktion beeinflusst.

Singulett, S =0 Triplett, S = 1

𝝓𝑨 𝚿𝒂 𝝓𝑩 𝝓𝑨 𝚿𝒂 𝝓𝑩

𝚿𝒔 𝚿𝒔

Abb. 3.16: Singulett- und Triplett-Zustand für ein H2 -Molekül. Offensichtlich ist der energetisch güns-
tigste Fall derjenige, bei dem die zwei Elektronen mit antiparallelem Spin in das bindende Molekülor-
bital eingebaut werden.

37
3.4 Die kovalente Bindung 127

3.4.2.3 Vergleich der Näherungen: Ionische vs. kovalente Bindung


Multiplizieren wir die Klammern in (3.4.20) aus, so erhalten wir für die Molekülorbitalnä-
herung (MO)

Ψ s,MO (r1 , r2 ) = c )︀ϕ A (r1 )ϕ A (r2 ) + ϕ B (r1 )ϕ B (r2 )


+ ϕ A (r1 )ϕ B (r2 ) + ϕ A (r2 )ϕ B (r1 )⌈︀

= Ψionisch
s
+ Ψkovalent
s
(3.4.33)

mit
s
Ψionisch (r1 , r2 ) ∝ )︀ϕ A (r1 )ϕ A (r2 ) + ϕ B (r1 )ϕ B (r2 )⌈︀ (3.4.34)
s
Ψkovalent (r1 , r2 ) ∝ )︀ϕ A (r1 )ϕ B (r2 ) + ϕ A (r2 )ϕ B (r1 )⌈︀ (3.4.35)

Vergleichen wir dies mit dem Heitler-London Ansatz, so erkennen wir, dass im Heitler-
s
London Ansatz der Anteil Ψionisch fehlt. Er beschreibt gerade die Situation, bei der beide
Elektronen entweder am Kern A oder am Kern B sind und somit ein H+ -H− -Ionenmolekül
s
vorliegt. Die Wellenfunktion Ψionisch beschreibt also ein System, bei dem beide Elektronen
nur einem Proton zugeordnet sind. Für R → ∞ ergibt sich eine Separation in ein nacktes
Proton und ein H− -Ion. Wir bezeichnen Bindungen, die aufgrund derartiger Orbitale zu-
stande kommen, als ionisch.
Für das H2 -Molekül ist der ionische Zustand wesentlich unwahrscheinlicher als der kova-
s s
lente Zustand Ψkovalent . Die Wellenfunktion Ψkovalent beschreibt ein System, bei dem jedem
Proton ein Elektron zugeordnet ist, wobei allerdings auch eine Mischung der beiden Elektro-
nenwellenfunktionen auftritt. Für R → ∞ separiert dieses System in zwei neutrale H-Atome,
die sich in ihrem jeweiligen 1s-Grundzustand befinden. Wir bezeichnen Bindungen, die
auf Grund derartiger Orbitale zustande kommen, als kovalent. Wir sehen also, dass in der
Heitler-London Näherung nur der kovalente Anteil Berücksichtigung findet, während in der
MO-Näherung der ionische und der kovalente Anteil mit gleichem Gewicht eingehen.
Vergleichen wir die beiden Näherungen so sehen wir, dass die MO-Näherung den ioni-
schen Anteil überbewertet, während die Heitler-London-Näherung diesen unterbewertet.
Eine Verbesserung der Näherungsmethoden können wir deshalb dadurch erreichen, indem
wir den Ansatz

Ψ s,MO = (1 − λ) Ψionisch
s
+ (1 + λ) Ψkovalent
s
, 0≤λ≤1 (3.4.36)

Beispiel Bindungstyp Kristallstruktur Tabelle 3.7: Übergang von ei-


≃ ionisch
ner rein ionischen zu einer
I–VII Alkalihalogenide NaCl
rein kovalenten Bindung mit
II–VI Erdalkalihalogenide mehr ionisch NaCl zunehmender Valenz der Bin-
II–VI ZnS, CdS, HgS mehr kovalent ZnS dungspartner.
III–V GaAs, InSb überwiegend kovalent ZnS
IV–IV C, Si, Ge, α-Sn ≃ kovalent Diamant
128 3 Bindungskräfte

machen, der es gestattet, das Verhältnis von ionischem und kovalentem Bindungsanteil
durch einen Parameter λ zu regeln. Für λ = 0 sind der ionische und kovalente Bindungsan-
teil gleich gewichtet. Vergrößern wir λ, so reduzieren wir das Gewicht des ionischen Anteils
und gelangen dadurch zu einer realistischeren Situation. In der Tat lässt sich dadurch eine
bessere Übereinstimmung mit dem Experiment erzielen. Optimieren wir den Parame-
ter λ(R) durch eine Variationsrechnung, so erhalten wir E B = −4.0 eV bei R 0 = 0.75 Å bei
= 0.2 (experimenteller Wert: E B = −4.747 eV). Der ionische Anteil variiert stark mit R.
1−λ exp
1+λ
Für R → ∞ geht er gegen null. Die Potenzialkurve sowie elektronische Ladungsverteilungen
im Grundzustand des Wasserstoffmoleküls bei verschiedenen Protonenabständen sind
in Abb. 3.15 gezeigt. Wir wollen ferner festhalten, dass eine kovalente Bindung zwischen
ungleichen Atomen immer einen gewissen ionischen Charakter hat. In Tabelle 3.7 ist der
Charakter von Bindungen zwischen Atomen mit zunehmender Valenz zusammengestellt.
Wir erhalten einen fließenden Übergang von einer rein ionischen zu einer rein kovalenten
Bindung.
Eine weitere Verbesserung können wir dadurch erreichen, dass wir eine mögliche Verzer-
rung der Atomorbitale bei der Annäherung der beiden Wasserstoffatome berücksichtigen.
Dies können wir dadurch erreichen, indem wir für das Molekülorbital die Linearkombina-
tion
N
Ψ = ∑ ci ϕi (3.4.37)
i=1

aus N atomaren Orbitalen ansetzen. In der Summe werden alle Orbitale berücksichtigt, die
das verformte 1s-Orbital bei der Annäherung möglichst gut wiedergeben. Als Molekülorbi-
tal für beide Elektronen kann dann entweder in der Molekülorbitalnäherung das Produkt

Ψ(r1 , r2 ) = Ψ(r1 ) ⋅ Ψ(r2 ) (3.4.38)

oder in der Heitler-London-Näherung den Ansatz

Ψ(r1 , r2 ) = ∑ c i k ϕ i (r1 ) ⋅ ϕ k (r2 ) (3.4.39)


i,k

benutzt werden. In beiden Fällen werden die Koeffizienten so optimiert, dass die Gesamt-
energie E(R) minimal wird. Sehr gute Rechnungen mit bis zu 50 Funktionen ϕ i ergeben
E B = −4.7467 eV, was mit dem experimentellen Wert E B = −4.747 eV sehr gut überein-
exp

stimmt.
Wir können nun folgendes zur kovalenten Bindung zusammenfassen: Die kovalente Bin-
dung erfolgt durch den Austausch gemeinsamer Elektronen zwischen zwei Atomen und die
dadurch erfolgte Umordnung der Dichteverteilung der Elektronen, die zu einer Erhöhung
der Dichte der Elektronen zwischen den beiden Kernen und damit einer gerichteten elek-
trostatischen Anziehung führt. Sie spielt nur dann eine Rolle, wenn R < r A + r B , d. h. wenn
der Abstand R der Kerne klein gegenüber der Summe der Atomradien der beiden Atome
ist. Dieser Effekt schlägt sich im Valenzbindungsmodell der Chemie nieder. Ferner teilen
sich, wie oben bereits diskutiert wurde, bei der kovalenten Bindung beide Atome ein oder
mehrere Elektronen. Die im Vergleich zum Atomorbital größere räumliche Ausdehnung des
Molekülorbitals verringert die mittlere kinetische Energie der an der Bindung beteiligten
3.4 Die kovalente Bindung 129

Valenzelektronen. Dieser Effekt trägt zum Minimum in der Potenzialkurve bei, in der ja
die mittlere kinetische Energie enthalten ist. Dieser Beitrag zu Molekülbindung wird Aus-
tauschwechselwirkung genannt, weil er auf dem Austausch ununterscheidbarer Elektronen
resultiert, und ist rein quantenmechanischer Natur. Beide zur Bindung führenden Effekte
spielen für R < r A + r B , also für Abstände, bei denen sich die beiden Elektronenhüllen der
Atome überlagern, eine Rolle. Es gibt also hier gemeinsame Elektronen.

3.4.3 Vertiefungsthema: Hybridisierung


Bei der Diskussion der kovalenten Bindung haben wir Einelektronenatomzustände zu Mo-
lekülorbitalen gemischt (LCAO-Verfahren). In manchen Fällen kann es aber günstiger sein,
zuerst gewisse Atomorbitale zu mischen und diese gemischten Atomorbitale zur Molekül-
bindung heranzuziehen (vergleiche (3.4.37) und (3.4.38)). Die Mischung von Atomorbitalen
bezeichnen wir als Hybridisierung. Sie kommt bei freien Atomen nicht vor. Hybridisierung
ist vor allem dann einfach möglich, wenn der energetische Unterschied zwischen den betei-
ligten Einelektronenorbitalen im Molekülfeld klein wird.

3.4.3.1 Das Wassermolekül


Wir wollen uns die Bedeutung der Hybridisierung am Beispiel des Wassermoleküls H2 O
klarmachen. Für die Bindung des H2 O-Moleküls müssen wir die Elektronen in den ungefüll-
ten Schalen, also die 1s-Orbitale des Wasserstoffs und die vier Valenzorbitale 2s, 2p x , 2p y
und 2p z des Sauerstoffs betrachten. Die Elektronenkonfiguration des Sauerstoff lautet
2s 2 , 2p1x , 2p1y , 2p2z . Wir könnten deshalb annehmen, dass nur die beiden ungepaarten 2p x
und 2p y Elektronen des Sauerstoffs zur Bindung beitragen, da nur dann ein bindendes
Orbital mit je einem Elektron des O- und des H-Atoms mit einer großen Elektronendichte
zwischen den beiden Kernen zustandekommt. Wir erhalten deshalb für die bindenden
Molekülorbitale die symmetrischen Linearkombinationen
Ψ1 = c 1 ϕ(1s) + c 2 ϕ(2p x ) (3.4.40)
Ψ2 = c 3 ϕ(1s) + c 4 ϕ(2p y ) , (3.4.41)
die jeweils von zwei Elektronen mit entgegengesetztem Spin (antisymmetrische Spinfunk-
tion) besetzt werden. In diesem Fall würden wir die in Abb. 3.17a gezeigte Situation erhalten,
nämlich ein Wasserstoffmolekül mit einem Bindungswinkel von 90○ . Der experimentelle
Wert liegt dagegen bei 104.5○ .
Die Ursache für einen von 90○ abweichenden Bindungswinkel ist die Hybridisierung des
2s-Orbitals mit den 2p-Orbitalen des Sauerstoffs. Anschaulich können wir uns das so vor-
stellen, dass durch die Wechselwirkung der Elektronen des O- und des H-Atoms die Elektro-
nenhüllen der Atome leicht deformiert werden. Deshalb ist das 2s-Orbital nicht mehr völlig
kugelförmig, sondern muss als Linearkombination
Φ = b 1 ϕ(2s) + b 2 ϕ(2p) (3.4.42)
geschrieben werden. Durch die Beimischung der 2p-Orbitale wird der Schwerpunkt der La-
dungsverteilung (siehe Abb. 3.18) verschoben, wodurch ein größerer Überlapp der Wellen-
130 3 Bindungskräfte

𝒚
H
H 1s
1s

𝟐𝒑𝒚 90° 104.5°


Abb. 3.17: (a) Bindung zwischen den 𝒙
1s-Orbitalen der H-Atome und den 2p x - O H O
und 2p y -Orbitalen des Sauerstoffatoms 𝟐𝒑𝒙 H
𝟏𝒔
ohne Hybridisierung. (b) Bildung des Was- 𝟏𝒔
sermoleküls mit hybridisierten Orbitalen. (a) (b)

funktion Φ mit den 1s-Orbitalen des H-Atoms und dadurch eine bessere Bindung resul-
46
tiert. Wir müssen jetzt noch die Wellenfunktion Φ für die größtmögliche Bindungsenergie
optimieren. Hierzu variieren wir die Koeffizienten b i in (3.4.42) so, dass die Bindungsener-
gie zwischen den H-Atomen und dem O-Atom maximal wird, also die Gesamtenergie des
Moleküls minimiert wird. Mit den so gefundenen Koeffizienten erhalten wir Hybridorbita-
le (siehe Abb. 3.17b), die nicht mehr wie die 2p x und 2p y Orbitale senkrecht aufeinander
stehen, sondern einen Winkel von 104.5○ miteinander einschließen.

3.4.3.2 sp-, sp2 - und sp3 -Hybridisierung


Wir wollen uns in diesem Abschnitt näher mit der Hybridisierung von s- und p-Orbitalen
beschäftigen, die vor allem für Kohlenstoffverbindungen sehr wichtig ist. Die Elektronen-
konfiguration des Kohlenstoffatoms ist in seinem Grundzustand

(1s 2 ) (2s 2 ) (2p x ) (2p y ) .

Das Kohlenstoffatom besitzt also 2 ungepaarte Elektronen in der 2p-Unterschale, welche


ohne Hybridisierung zu zwei gerichteten Bindungen in x- und y-Richtung und damit zu ei-
nem Bindungswinkel von 90○ führen würden. Es kann nun aber in vielen Fällen energetisch
günstiger sein, wenn neben den beiden 2p-Elektronen auch noch die 2s-Elektronen an der
Bindung teilnehmen. Durch eine Verformung der 2s-Orbitale kann nämlich ein Überlapp
mit den Elektronenhüllen der an das C-Atom bindenden Atome erreicht werden und damit
eine Vergrößerung der Bindungsenergie. Natürlich muss der Zugewinn an Bindungsenergie

0.2 𝝓 𝒔 + 𝝓𝒑
𝚽=
0.1
𝝓𝒔 𝟐

0.0

𝝓𝒑

-0.1

-0.2 z z z z
y y y y

Abb. 3.18: Schematische Darstel- -0.3


x + x x x

lung der Bildung einer Linearkom- 𝒔 𝒑𝒙


bination von s- und p-Orbitalen zur -0.4
-10 -5 0 5 10
Bildung eines sp-Hybridorbitals. r

47
3.4 Die kovalente Bindung 131

dabei größer sein als die Energie, die notwendig ist, um ein 2s-Elektron in einen 2p-Zustand
anzuheben.

sp-Hybridisierung: Wir sprechen von sp-Hybridisierung, wenn sich ein s-Orbital nur mit
einem p-Orbital mischt. Zur Analyse der sp-Hybridisierung betrachten wir die beiden Li-
nearkombinationen eines s-Orbitals mit dem noch unbesetzten p z -Orbital:

Φ 1 = b 1 ϕ(s) + b 2 ϕ(p z ) (3.4.43)

Φ 2 = b 3 ϕ(s) + b 4 ϕ(p z ) . (3.4.44)

Die Koeffizienten c i können wir aus den Normierungs- und Orthogonalitätsbedingungen

∫ ⋃︀Φ i ⋃︀ dV = 1
2
(3.4.45)


∫ Φ i Φ k dV = δ i k (3.4.46)

bestimmen. Wir erhalten


1 1
b 1 = b 2 = b 3 = ⌋︂ , b 4 = − ⌋︂ (3.4.47)
2 2
und damit die beiden sp-Hybridorbitale
1
Φ 1 = ⌋︂ (ϕ(s) + ϕ(p z )) (3.4.48)
2
1
Φ 2 = ⌋︂ (ϕ(s) − ϕ(p z )) . (3.4.49)
2
⌉︂
Mit der Winkelabhängigkeit p z = 3

cos ϑ erhalten wir

}︂
1 ⌋︂
Φ 1,2 (ϑ) = (1 ± 3 cos ϑ) ,
sp
(3.4.50)

wobei der Winkel ϑ gegen die z-Achse gemessen wird (siehe Abb. 3.19). Wir sehen, dass
⋃︀Φ 1,2 ⋃︀2 für die Winkel ϑ = 0○ und 180○ maximal werden.
sp

Durch die sp-Hybridisierung erhalten wir also zwei entgegengesetzt orientierte Bindungen,
die zu einem linearen Molekül führen. Bei einem Kohlenstoffatom sind zusätzlich zu den
beiden sp-Hybridorbitalen noch die 2p x - und 2p y -Orbitale vorhanden, so dass das Koh-
lenstoffatom insgesamt vier freie Bindungen hat. Geht das Kohlenstoffatom eine Bindung
mit zwei anderen Atomen ein (z. B. in CO2 ), so wird bei einer sp-Hybridisierung der Über-
lapp mit den Atomorbitalen für die beiden entgegengesetzten Richtungen am größten. Wir
erhalten somit ein lineares O=C=O Molekül.
sp Hybridisierung:

Normierung
132 Orthogonalität 3 Bindungskräfte

𝒛0 𝝑 𝒛0 𝝑30
0.6 330 30 0.6 330
𝐬𝐩
0.4 300 60 0.4 300
𝚽𝟐 60

0.2 0.2

0.0 270 90 0.0 270 90

0.2 0.2

240 120 240 120


0.4 𝐬𝐩 0.4
𝚽𝟏
0.6 210 150 0.6 210 150
180 180

Abb. 3.19: Polardarstellung der Orbitale der sp-Hybridisierung. Der Winkel ϑ wird gegen die z-Achse
gemessen. 48

sp2 -Hybridisierung: Für manche Verbindungen des Kohlenstoffatoms mit anderen Ato-
men ist es günstiger, wenn das s- und die beiden p-Elektronen eine räumliche Verteilung
haben, die durch eine Linearkombination eines s-Orbitals und zweier p-Orbitale entsteht.
Wir sprechen dann von einer sp2 -Hybridisierung, bei der wir drei Hybridorbitale aus Line-
arkombinationen der Atomorbitale ϕ(s), ϕ(p x ) und ϕ(p y ) bilden. Analog zur sp-Hybridi-
sierung erhalten wir unter Berücksichtigung der Normierungs- und Orthogonalitätsbedin-

𝑦 𝑦
90 90
0.6 120 60 0.6 120 60
𝝋 𝝋
0.4
150 𝐬𝐩𝟐 30 0.4
150 30
𝚽𝟏
0.2 0.2

0.0 180 0 0.0 180 0


𝑥 𝑥
0.2 0.2
𝐬𝐩𝟐
0.4
210 330
0.4
210 𝚽𝟐 330

0.6 240 300 0.6 240 300


270 270
𝑦 z z
90
y z y
0.6 120 60
𝝋 y
0.4
150 𝐬𝐩𝟐 30
x x x
𝚽𝟑
0.2
𝑠 𝑝𝑥 𝑝𝑦
0.0 180 0
𝑥
0.2
z z z
210 330 y y y
0.4
x x x
0.6 240 300
270
51

Abb. 3.20: Polardarstellung der Orbitale der sp2 -Hybridisierung. Der Winkel φ wird gegen die x-Achse
gemessen.
3.4 Die kovalente Bindung 133

gungen die drei Orbitalfunktionen

s p2 1 ⌋︂
Φ 1 = ⌋︂ (ϕ(s) + 2ϕ(p x )) , (3.4.51)
3
}︂
s p2 1 ⎛ 1 3 ⎞
Φ2 = ⌋︂ ϕ(s) − ⌋︂ ϕ(p x ) + ϕ(p y ) , (3.4.52)
3⎝ 2 2 ⎠
}︂
s p2 1 ⎛ 1 3 ⎞
Φ3 = ⌋︂ ϕ(s) − ⌋︂ ϕ(p x ) − ϕ(p y ) . (3.4.53)
3⎝ 2 2 ⎠

Die Winkelanteile dieser Funktionen sind durch

s p2 1 1 ⌋︂
Φ 1 = ⌋︂ ( ⌋︂ + 2 cos φ) ,
4π 3
}︂
s p2 1 ⎛ 1 1 3 ⎞
Φ2 = ⌋︂ ⌋︂ − ⌋︂ cos φ + sin φ , (3.4.54)
4π ⎝ 3 2 2 ⎠
}︂
s p2 1 ⎛ 1 1 3 ⎞
Φ3 = ⌋︂ ⌋︂ − ⌋︂ cos φ − sin φ
4π ⎝ 3 2 2 ⎠

gegeben, wobei der Winkel φ gegen die x-Achse gemessen wird. In Abb. 3.20 sind die Win-
kelverteilungen der drei Hybridorbitale dargestellt. Sie haben ihr Maximum für 0○ , 120○
und 240○ . Wir sehen daraus, dass die sp2 -Hybridisierung zu drei gerichteten Bindungen
führt, die in einer Ebene liegen. Das vierte Orbital (2p z ) steht senkrecht auf diesem Stern
und kann eine so genannte π-Bindung bilden. Diese Elektronen sind vollständig delokali-
siert und führen zu einer guten elektrischen Leitfähigkeit entlang der Kohlenstoffebenen.
Ein prominenter Vertreter dieses Bindungstyps ist Graphit. Die flächenhaften sp2 -Hybrid-
orbitale führen zusammen mit der π-Bindung zu einer starken Bindung der Kohlenstoff-
atome innerhalb der Ebenen (4.3 eV). Die Ebenen untereinander sind nur locker über Van-
der-Waals-Kräfte gebunden, die Bindungsenergie beträgt hier lediglich 0.07 eV. Der Abstand
der Kohlenstoffatome innerhalb der Ebenen beträgt 1.42 Å, der Abstand der Ebenen auf-
grund der wesentlich schwächeren Bindung dagegen 3.35 Å. Durch die drei keulenförmigen
Hybridorbitale, die einen 120○ -Stern bilden, entsteht eine sechseckförmige Anordnung der
Kohlenstoffatome innerhalb der Ebenen (siehe hierzu Abb. 1.27).

sp3 -Hybridisierung: Ganz analog zur sp- und sp2 -Hybridisierung lässt sich die sp3 -Hy-
bridisierung behandeln, die z. B. beim Methanmolekül CH4 vorliegt. Im Falle einer sp3 -Hy-
bridisierung mischen wir das s-Orbital mit allen 3 p-Orbitalen. Die daraus entstehenden
134 3 Bindungskräfte

(a) (b) H
H
𝟏𝒔

𝐬𝐩𝟑 109.47° 𝟏
109.47° 𝚽𝟒 𝟏𝒔
C
C 𝚽𝟑
𝐬𝐩𝟑 H H
𝐬𝐩𝟑
𝚽𝟐
𝐬𝐩𝟑 109.47°
H 𝚽𝟏
𝟏
109.47°
𝟏𝒔
H
𝟏𝒔 𝟏

Abb. 3.21: (a) Orientierung der vier sp3 -Hybridorbitale bei der Bindung im CH4 -Molekül. (b) Die aus
der sp3 -Hybridisierung resultierende Tetraederstruktur.

53

normierten und orthogonalen Hybridorbitale sind

s p3 1 ⌋︂
Φ1 = (ϕ(s) + 3ϕ(p z )) ,
2
}︂ }︂
s p3 1⎛ 8 1 ⎞
Φ2 = ϕ(s) + ϕ(p x ) − ϕ(p z ) ,
2⎝ 3 3 ⎠
}︂ }︂ (3.4.55)
s p3 1⎛ 2 ⌋︂ 1 ⎞
Φ3 = ϕ(s) − ϕ(p x ) + 2ϕ(p y ) − ϕ(p z ) ,
2⎝ 3 3 ⎠
}︂ }︂
s p3 1⎛ 2 ⌋︂ 1 ⎞
Φ4 = ϕ(s) − ϕ(p x ) − 2ϕ(p y ) − ϕ(p z ) .
2⎝ 3 3 ⎠

Setzen wir in diese Ausdrücke die Winkelanteile ein, so erhalten wir für die vier sp3 -Hybrid-
orbitale Maxima, die in den Ecken eines Tetraeders liegen. Der Tetraederwinkel θ be-
trägt 109, 47○ (siehe Abb. 3.21b). Die tetraedrische kovalente Bindung ist ein besonders
wichtiger Bindungstyp, der bei vielen Elementen der 4. Hauptgruppe wie z. B. C, Si oder Ge
auftritt. Die Bindungsenergie ist trotz der geringen Zahl von nur 4 Bindungspartnern hoch.
Sie beträgt bei Diamant 7.36 eV⇑Atom, bei Si 4.64 eV⇑Atom und bei Ge 3.87 eV⇑Atom.

3.4.3.3 Hybridisierung und Molekülgeometrie


Außer der Mischung von s- und p-Orbitalen können natürlich auch d-Orbitale in der Hybri-
disierung vorkommen. Sie führen ebenfalls zu gerichteten Bindungen mit unterschiedlicher
Molekülgeometrie. In Tabelle 3.8 sind einige Hybridisierungstypen und die daraus resultie-
rende Molekülgeometrie zusammengestellt. Wir haben bereits gesehen, dass eine sp3 -Hybri-
disierung zu einer tetraedrischen Geometrie führt (siehe Abb. 3.21). Eine sp2 d-Hybridisie-
rung führt zu vier gerichteten Bindungen, die alle in einer Ebene liegen und den Winkel 90○
3.4 Die kovalente Bindung 135

Hybridtyp Anzahl Geometrie Beispiel Tabelle 3.8: Hybridisierungstypen,


Anzahl der Hybridorbitale und
sp 2 linear C2 H2
resultierende Molekülgeometrie.
sp2 3 eben, 120○ C2 H4
sp3 4 tetraedrisch CH4
sp2 d 4 eben, quadratisch XeF4
sp3 d 5 dreiseitige Doppelpyramide SF4
sp3 d 2 6 Oktaeder SF6

miteinander einschließen. Dies resultiert in einer quadratisch-planaren Molekülgeometrie.


Wir sehen daraus, dass wir die Geometrie eines Moleküls aus seinen Molekülorbitalen be-
stimmen können. Die eigentlich bindenden Molekülorbitale sind dann Linearkombinatio-
nen aus den atomaren Hybridorbitalen des Atoms A und der Atomorbitale der an der Bin-
dung beteiligten Atome B. Dies ist in Abb. 3.21a für CH4 gezeigt. Die sp3 -Hybridorbitale des
Kohlenstoff überlappen mit den 1s-Orbitalen der Wasserstoffatome. Die bindenden Mole-
külorbitale ergeben sich deshalb als Linearkombinationen aus den sp3 -Hybridorbitalen und
den 1s-Orbitalen.
Wir weisen nochmals darauf hin, dass das Grundprinzip der Hybridisierung immer die Mi-
nimierung der Gesamtenergie. Dies wird dadurch erreicht, dass der Überlapp zwischen den
Wellenfunktionen der an der Bindung beteiligten Atome optimiert wird. Um festzustellen,
welche Hybridisierung für eine bestimmte Bindung optimal ist, müssen wir das Überlappin-
tegral S zwischen den beteiligten Orbitalen berechnen. Für eine C-C Bindung erhält man
z. B., dass das Überlappintegral für eine sp-Hybridisierung größer ist als für eine sp2 - oder
eine sp3 -Hybridisierung.

3.4.3.4 Kohlenstoffchemie
Die starke Neigung des Kohlenstoffs zur Hybridisierung ist ein wesentlicher Punkt der spe-
ziellen Chemie des Kohlenstoffs (organische Chemie), die ganz entscheidend für die Grund-
lagen unseres Lebens ist. Kohlenstoff kommt schon in elementarer Form in verschiedenen
Modifikationen vor.
Graphit ist eine planare, hexagonale Schichtstruktur. Die Bindung in Graphit basiert auf ei-
ner sp2 -Hybridisierung (planare Koordination), was nach unserer obigen Diskussion eine
planare Bindungsgeometrie nahelegt. Im Graphit liegen ebene Sechsecke aus trigonal pla-
nar koordinierten C-Atomen vor. Es gibt unterschiedliche Stapelfolgen, ABAB (hexagonaler
Graphit) oder ABC (rhomboedrischer Graphit) und daneben viele Polytype.16

16
Polytypie bezeichnet das Phänomen, dass eine Substanz in zwei oder mehreren verschiedenen
Kombinationen schichtartiger Struktureinheiten vorliegt. Die Strukturen von Polytypen unter-
scheiden sich nur in der Abfolge und Orientierung der einzelnen Schichten, nicht aber in deren
Aufbau und Zusammensetzung. Abweichungen in den Zusammensetzungen verschiedener Poly-
type einer Verbindung dürfen 0,25 Atome pro Formeleinheit nicht überschreiten. Bei größeren
Unterschieden spricht man von Polytypoiden. Polytype besitzen in Richtung der Stapelung der
schichtförmigen Baugruppen Gitterkonstanten, die ganzzahligen Vielfachen der Dicke der einzel-
nen Einheiten entsprechen. Die übrigen Elementarzellkanten verschiedener Polytype sind nahezu
gleich. In Gegensatz hierzu brauchen verschiedene Polymorphe einer Verbindung keine struktu-
136 3 Bindungskräfte

Diamant wird durch die sp3 -Hybridisierung gebildet. In der kubischen Diamant-Struktur
(Schichtenfolge . . . ABCABC. . . ) sind alle Kohlenstoffatome tetraedrisch von vier weiteren
C-Atomen koordiniert. Es entsteht ein Raumnetz mit Sechsringen aus C-Atomen. Neben der
kubischen Diamantstruktur gibt es noch die hexagonale Diamantstruktur (sog. Lonsdaleit),
die wir hier nicht diskutieren wollen.
Eine im Jahr 1985 entdeckte, ungewöhnliche Form des Kohlenstoff sind die so genann-
ten Fullerene.17 , 18 Der wohl bekannteste Vertreter ist C60 , bei dem 60 Kohlenstoffatome in
32 Ringen, nämlich 12 Fünfecken und 20 Sechsecken, angeordnet sind. Das C60 -Molekül
hat die Form eines Fußballs mit einem Durchmesser von nur wenigen Å. Die Bindung in
diesem Molekül basiert wie in Graphit auf einer sp2 -Hybridisierung. Wir können uns die
fußballartigen Kohlenstoffmoleküle dadurch entstanden denken, dass eine planare Kohlen-
stoffschicht zu einem Ball gebogen wird. Außer zu kugelförmigen Gebilden lassen sich auch
röhrenförmige Strukturen bilden, die man als Kohlenstoff-Nanoröhrchen (engl.: carbon na-
notubes) bezeichnet. Diese Nanoröhrchen zeigen eine sehr hohe elektrische Leitfähigkeit
und eignen sich deshalb zur Verdrahtung von Nanoschaltkreisen. Vor kurzem wurden so-
gar Transistoren auf der Basis von Kohlenstoff-Nanoröhrchen hergestellt.

3.5 Die metallische Bindung


Die metallische Bindung kommt ähnlich zur kovalenten Bindung auch dadurch zustande,
dass die Elektronen der äußersten Schale (Valenzelektronen) nicht an ein Atom gebunden
sind. Im Unterschied zur kovalenten Bindung steht jetzt aber kein Nachbaratom zur Ver-
fügung, das zur Aufnahme der Valenzelektronen neigen würde. Daher entstehen keine ge-
richteten Bindungen, sondern die Valenzelektronen sind gleichmäßig über das ganze Metall
verschmiert. Diese über den ganzen Festkörper verschmierten, frei beweglichen Elektronen
bezeichnen wir als Leitungselektronen. Sie bilden einen See von ungebundenen Elektronen,
in den die verbliebenen positiven Ionenrümpfe eingebettet sind. Im Prinzip können wir die
metallische Bindung auch als Extremfall der kovalenten Bindung betrachten, bei der die
Valenzelektronen nicht nur mit den benachbarten Atomen ausgetauscht werden, sondern
gleichzeitig mit allen Atomen. Wir nennen solche Elektronen deshalb auch delokalisiert. Die
Bindungsenergie bei der metallischen Bindung kommt hauptsächlich durch eine Redukti-
on der kinetischen Energie der Valenzelektronen zustande. Eine quantitative Erfassung der
Bindungsenergie bedarf der vollen Berechnung der elektronischen Struktur des Festkörpers.
Die starke Verschmierung der Valenzelektronen über den gesamten Kristall hängt damit
zusammen, dass die Elektronenwellenfunktionen der äußeren Valenzelektronen noch eine
relativ große Amplitude bei den nächsten, übernächsten und dritten Nachbarn haben. Dies

rell ähnlichen Baueinheiten aufzuweisen. Ihre Gitterkonstanten stehen nicht notwendigerweise in


einfachen ganzzahligen Verhältnissen zueinander.
17
H. W. Kroto, J. R. Heath, S. C. O’Brien, R. F. Curl, R. E. Smalley, C60: Buckminsterfullerene, Nature
318, 162–163 (1985).
18
Für die Entdeckung der Fullerene erhielten R. F. Curl, H. W. Kroto und R. F. Smalley im Jahr 1996
den Nobelpreis für Chemie.
3.5 Die metallische Bindung 137

0.04 Nachbarn
1. 2. 3.
𝟐𝒑𝒛
3/2

0.02
𝟑𝒅𝒛𝟐
Rn,l / (Z/aB)

0.00

𝟒𝒔
-0.02
Ni 4s²3d8
0 10 20 30 40 50 Abb. 3.22: Die Amplitude der 2p z -, 3d z 2 -
r / (aB/Z) und der 4s-Wellenfunktion von Ni.
62

ist beispielhaft in Abb. 3.22 für das 3d-Übergangsmetall Nickel gezeigt. Das Beispiel zeigt,
dass die 4s-Wellenfunktion von Ni einen sehr starken Überlapp mit den benachbarten Ato-
men hat. Die 3d-Elektronen sind dagegen viel lokalisierter. Wir können von einem Übergang
von itineranten zu lokalisierten Elektronen sprechen. Diese Tatsache ist besonders wichtig
hinsichtlich der magnetischen Eigenschaften von Festkörpern.
Die Bindungsenergie von Alkali-Metallen ist wesentlich kleiner als diejenige von Alkali-
halogenid-Kristallen. Das bedeutet, dass die Bindung durch die freien Leitungselektronen
nicht sehr stark ist. Ferner ist festzuhalten, dass der interatomare Abstand der Atome bei
den Alkali-Metallen relativ groß ist. Dies ist einsichtig, da die kinetische Energie der frei-
en Elektronen für größere Abstände kleiner wird. Da die metallische Bindung ungerichtet
ist, kristallisieren Metalle hauptsächlich in dicht gepackten Strukturen (fcc, hcp und bcc)
und nicht in wenig dichten Strukturen wie der Diamantstruktur (siehe hierzu Abb. 1.18).
Andererseits ist die Bindungsenergie von Übergangsmetallen sehr groß (hohe Schmelztem-
peraturen). Dies liegt an dem erheblichen Beitrag der d-Elektronen zur metallischen Bin-
dung. Damit sich die d-Elektronen, deren Orbitale weniger ausgedehnt sind als diejenigen
der s-Elektronen, überlappen, ist eine dicht gepackte Struktur am günstigsten. In der Tat
haben Übergangsmetalle häufig eine fcc- oder hcp-Struktur (siehe Abb. 1.18).

3.5.1 Bindungsenergie
Um eine Abschätzung der Bindungsenergie und des Atomabstandes für die metallische Bin-
dung zu machen, werden wir einem Ergebnis aus Kapitel 7 vorgreifen. Wir werden dort ler-
nen, dass im Rahmen des so genannten freien Elektronengasmodells die mittlere kinetische
ħ2
Energie eines Elektrons 35 E F beträgt, wobei E F = 2m (3π 2 n)2⇑3 eine für jedes Metall charak-
teristische Energie ist, die nur von der Elektronendichte n = N⇑V abhängt.
Um eine Abschätzung der Bindungsenergie der metallischen Bindung zu machen, nehmen
wir an, dass wir ein Gitter von positiven Punktladungen in einem See aus negativen La-
dungen vorliegen haben, wobei die Ladung eines einzelnen Elektrons gleichmäßig über eine
Kugel mit Radius r A (halber Abstand der Atomrümpfe) verschmiert sein soll. Der charakte-
ristische Radius r A wird auch als Wigner-Seitz Radius bezeichnet. Wir können dann für ein
einwertiges Metall n = ( 43 πr 3A )−1 schreiben und erhalten für die mittlere kinetische Energie
138 3 Bindungskräfte

eines Elektrons
3 3 9π 2⇑3 ħ 2 1 ħ2 aB 2
E kin = E F = ( ) 2
≃ 2.21 2
( ) . (3.5.1)
5 5 4 2m r A 2ma B r A

Hierbei haben wir den Bohrschen Radius a B = 4πє 0 ħ 2 ⇑me 2 = 0.529 Å verwendet. Wir benö-
tigen jetzt noch einen Ausdruck für die potenzielle Energie aus der elektrostatischen Wech-
selwirkung. Hierzu betrachten wir das elektrostatische Potenzial im Abstand r von einer
Punktladung +e, wobei wir berücksichtigen müssen, dass diese Punktladung durch die ho-
mogene Elektronenladung teilweise abgeschirmt wird. Wir erhalten für das Potenzial
3
e − e ( rrA )
, (3.5.2)
4πє 0 r
wobei r ≤ r A . Eine elektrische Raumladung der Dichte ρ = −e( 43 πr 3A )−1 in einer Kugelschale
der Dicke dr im Abstand r von der Punktladung +e liefert zur elektrostatischen Wechsel-
wirkungsenergie den Beitrag
3
e ]︀1 − ( rrA ) {︀
3e 2 r r4
dE pot = ρ 4πr 2 dr = − ( 3 − 6 ) dr . (3.5.3)
4πє 0 r 4πє 0 r A r A
Für die gesamte Wechselwirkungsenergie erhalten wir damit
rA
9e 2 1 9 ħ2 aB
E pot = ∫ dE pot = − =− ( ). (3.5.4)
40πє 0 r A 5 2ma B2 r A
0

Mit Hilfe von (3.5.1) und (3.5.4) erhalten wir die Gesamtenergie pro Elektron zu

ħ2 3 9π 2⇑3 a B 2 9 a B
E= ⌊︀ ( ) ( ) − ( )}︀ . (3.5.5)
2ma B2 5 4 rA 5 rA
Die in Abb. 3.23 gezeigte Gesamtenergie nimmt einen minimalen Wert für

r A,0 2 9π 2⇑3
= ( ) ≃ 2.45 bzw. r A,0 ≃ 1.3 Å (3.5.6)
aB 3 4
an. Das heißt, der Gleichgewichtsabstand zwischen zwei benachbarten Atomrümpfen ist
R 0 = 2r A,0 ≃ 2.6 Å. Dies stellt trotz des stark vereinfachenden Modells bereits eine recht gute
Näherung dar.
Bei unserer stark vereinfachten Betrachtung haben wir allerdings auch wichtige Beiträge
einfach weggelassen, die aus der Elektron-Elektron-Wechselwirkung resultieren (vergleiche
hierzu Abschnitt 8.7). Dies ist einmal die Austauschwechselwirkung, die in Analogie zur ko-
valenten Bindung durch den Überlapp der Wellenfunktionen der delokalisierten Elektronen
zustandekommt. Man erhält für sie [vergleiche (8.7.5)]
3k F e 2 ħ2 aB
EA = − = −0.916 ( ) (3.5.7)
(4π)2 є 0 2ma B2 r A
3.5 Die metallische Bindung 139

kinetische Energie
1
Gesamt-
E / (ħ /2maB)

energie
2

𝒓𝑨,𝟎
0
𝑬𝑩
2

-1

Coulomb Energie
Abb. 3.23: Beiträge der kinetischen und poten-
-2 ziellen Energie zur metallischen Bindung auf-
0 1 2 3 4 getragen gegen den auf den Bohrschen Radius
rA / aB normierten Abstand.
63

pro Elektron, wobei wir k F = (3π 2 n)1⇑3 und n = ( 43 πr 3A )−1 benutzt haben. Ferner kommt
es aufgrund des Spins der Elektronen zu Korrelationen im Elektronensystem. Der daraus
resultierende Beitrag pro Elektron kann durch den Ausdruck
12
EK = − (︀eV⌋︀ (3.5.8)
(r A ⇑a B ) + 7.8
approximiert werden. Berücksichtigen wir diese Zusatzbeiträge, so erhalten wir für einwerti-
ge Metalle einen Gleichgewichtsabstand R 0 = 2r A,0 ≃ 3.2 a B . Dieser Wert liegt um mehr als
den Faktor 2 unter den experimentell gemessenen Werten. Diese Diskrepanz liegt haupt-
sächlich daran, dass wir bei unserer einfachen Betrachtung angenommen haben, dass sich
die Elektronen gleichmäßig über den gesamten Festkörper verteilen. Tatsächlich ist es aber
so, dass sich die delokalisierten Elektronen aufgrund des Pauli-Verbots kaum im Bereich
der ionisierten Atomrümpfe aufhalten, die entgegen unserer zweiten vereinfachenden An-
nahme nicht punktförmig sind. Um dieser Tatsache Rechnung zu tragen, werden häufig so
genannte Pseudopotenziale verwendet (vergleiche hierzu 8.3.2). Dem attraktiven Coulomb-
Potenzial wird dabei empirisch ein bei kleinen Abständen wirkender abstoßender Potenzi-
alanteil hinzugefügt. Man ersetzt also jedes atomare Potenzial durch ein viel schwächeres
Potenzial, das aber für die Leitungselektronen in etwa die gleiche Streuamplitude besitzt. In
diesem Fall stimmt die mit diesem schwächeren Potenzial berechnete Bandstruktur (siehe
Kapitel 8) mit derjenigen überein, die mit dem ursprünglichen Potenzial berechnet wird.
Der Effekt des bei kleinen Abständen wirkenden abstoßenden Potenzialanteils ist eine Re-
duktion der Coulomb-Energie, was zu einem größeren Gleichgewichtsabstand führt. Die
so erhaltenen Werte stimmen mit den tatsächlich gemessenen r A,0 -Werten gut überein. Ty-
pische Bindungsenergien pro Atom liegen im Bereich weniger eV (Li: 1.63 eV, Na: 1.11 eV,
K: 0.93 eV, Fe: 4.28 eV, Co: 4.39 eV, Ni: 4.44 eV).
140 3 Bindungskräfte

3.6 Die Wasserstoffbrückenbindung


Von einer Wasserstoffbrückenbindung sprechen wir, wenn ein Wasserstoffatom an zwei wei-
tere Atome gebunden ist. Auf den ersten Blick ist eine solche Bindung überraschend, da das
Wasserstoffatom ja nur ein Elektron besitzt. Wir können uns die Wasserstoffbrückenbindung
allerdings mit folgender Vorstellung veranschaulichen: Wenn ein Wasserstoffatom an einer
kovalenten Bindung mit einem stark elektronegativen Atom wie z. B. Sauerstoff teilnimmt,
wird das Elektron des Wasserstoffatoms fast vollständig an den Partner transferiert. Das ver-
bleibende Proton kann dann eine anziehende Wechselwirkung auf ein weiteres negativ ge-
ladenes Ion ausüben. Das Besondere an der Wasserstoffbrückenbindung ist nun, dass das
verbleibende, fast „nackte“ Proton extrem klein ist (Kerndurchmesser ∼ 10−15 m ∼ 10−5 a B ).
Dieses Proton kann deshalb nicht an einen weiteren, dritten Partner binden (siehe Abb. 3.24).
Das Wasserstoffatom ist deshalb immer zweifach koordiniert.

Abb. 3.24: Schematische Darstellung zur Wasser-


F- F-
stoffbrückenbindung. Das Wasserstoffatom ist oh- H+
ne Elektronenhülle als reines Proton gezeichnet.

Wasserstoffbrückenbindungen bilden sich bevorzugt zwischen zwei stark elektronegativen


Partnern wie z. B. Sauerstoff, Fluor oder Stickstoff aus. Der Charakter der Bindung ist weit-
gehend ionisch. Typische Bindungsenergien sind hier 0.1 eV⇑Bindung. Ein allgemeines Kri-
terium für die Ausbildung einer Wasserstoffbrückenbindung ist, dass der beobachtete Ab-
stand der Partneratome A und B kleiner ist als er bei einer reinen Van der Waals Bindung
sein würde.19
Die Wasserstoffbrückenbindung ist für unser Alltagsleben von großer Bedeutung. Sie ist ent-
scheidend für die Bindung in

∎ Wasser
Die Wasserstoffbrückenbindungen führen zur Dichteanomalie des Wassers zwischen 0
und 4 ○ C. In flüssigem Wasser existieren H2 O-Komplexe, die durch Wasserstoff-
brückenbindungen zusammengehalten werden. Im Vergleich zu Wassermolekülen ohne
Brückenbindungen nehmen diese ein größeres Volumen ein. Erhöht man die Tempera-
tur, so schmelzen die durch Brückenbindungen zusammengehaltenen Aggregate, was zu
einer Erhöhung der Dichte führt. Oberhalb von 4 ○ C findet dann die übliche thermische
Ausdehnung statt.
∎ Eis
∎ organische Verbindungen (z. B. Eiweiße, Verknüpfung der Doppelhelix in der DNS).
Wasserstoffbrücken sind verantwortlich für die speziellen Eigenschaften vieler für Le-
bewesen wichtiger Moleküle wie z. B. von (i) Proteinen (Stabilisierung von Sekundär-
strukturelementen wie Alpha-Helix und Beta-Faltblatt), (ii) der RNA (komplementäre
19
M. D. Joesten, L. Schaad, Hydrogen Bonding, Dekker (1974).
3.7 Atom- und Ionenradien 141

Basenpaarung innerhalb von ncRNA-Molekülen oder zwischen RNA- und DNA-Mole-


külen), (iii) der DNA (komplementäre Basenpaarung innerhalb der Doppelhelix: die bei-
den DNA-Stränge werden von den Wasserstoffbrückenbindungen zusammengehalten,
sie lassen sich jedoch beim Kopiervorgang durch Helikasen lösen – „Reißverschluss“-
Prinzip) und (iv) von Wirkstoffen (die Bindungsaffinität von Wirkstoffen an ihre Ziel-
strukturen hängt maßgeblich von den gebildeten Wasserstoffbrücken ab).

3.7 Atom- und Ionenradien


Wir haben in Kapitel 2 gelernt, dass wir den Abstand von Atomen in Festkörpern mit Hilfe
von Beugungsmethoden sehr genau messen können. Wir können allerdings nur den Ab-
stand zwischen Atomen messen und somit eigentlich nicht einem Atom einen bestimmten
Radius zuordnen. Das wäre auch nicht sinnvoll, da die Ladungsverteilung um ein Atom ja
keine feste Grenze hat, sondern verschmiert ist. Nichtsdestotrotz wird das Konzept eines
Atomradius bzw. Ionenradius sehr häufig angewendet, um die Existenz und wahrscheinli-
chen Gitterkonstanten von Verbindungen, die noch gar nicht hergestellt wurden, vorherzu-
sagen. Andererseits kann die elektronische Konfiguration eines Atoms in einer bestimmten
Verbindung häufig aus der Messung der Gitterkonstanten abgeleitet werden.

Atomradius Atomradius: metallisch

4Å 4Å

Atomradius: kovalent Atomradius: Van der Waals

4Å 4Å

Abb. 3.25: Grafische Darstellung der Atomradien der chemischen Elemente auf der Basis des Peri-
odensystems.
142 3 Bindungskräfte

3.7.1 Atomradien
Wir können phänomenologisch einem Atom einen Radius zuordnen, indem wir die Git-
terkonstante einer Verbindung als Summe der Atomradien der beteiligten Atome auffassen.
Dabei müssen wir natürlich die Bindungsart (kovalent, metallisch, Van der Waals) und die
Koordinationszahl berücksichtigen. In der Praxis analysiert man die Gitterabstände einer
großen Zahl von Verbindungen und kann dann einen Satz selbstkonsistenter Atomradien
angeben. Dies ist in Abb. 3.25 dargestellt, wo die Atomradien zusammen mit den selbstkon-
sistenten Radien bei einer metallischen, einer kovalenten und einer Van der Waals Bindung
grafisch dargestellt sind.20 , 21 , 22 , 23

Beispiel: Der Abstand der Kohlenstoffatome in Diamant ist z. B. 1.54 Å, was einen Atom-
radius von 0.77 Å ergibt. In Silizium, das die gleiche Kristallstruktur hat, ist der halbe
Atomabstand 1.17 Å. Wir erwarten deshalb für SiC einen Atomabstand von 1.94 Å. Dies
stimmt mit dem experimentell bestimmten Wert von 1.89 Å gut überein. Im Allgemeinen
erlaubt uns die Benutzung von Atomradien, die Gitterkonstante von Verbindungen im
Prozentbereich vorherzusagen.

3.7.2 Ionenradien
In Abb. 3.26 sind die Radien von Ionen in ionisch gebundenen Festkörpern dargestellt. Die
meisten der dargestellten Ionen besitzen Edelgaskonfiguration. Bei einer genauen Abschät-
zung der Gitterkonstante von Ionenkristallen muss zusätzlich zu den Ionenradien immer
noch die Koordinationszahl berücksichtigt werden. Der Atomabstand ergibt sich damit zu
D N = R A + R K + ∆ N , wobei R A und R K der Ionenradius des Anions und des Kations ist
und ∆ N eine von der Koordinationszahl N abhängige Korrektur darstellt.

Beispiel: Wir betrachten BaTiO3 , das bei Raumtemperatur eine Gitterkonstante von
4.004 Å hat. Jedes Ba2+ -Ion hat zwölf O2− -Ionen als nächste Nachbarn und wir müs-
sen den Korrekturfaktor ∆ 12 = +0.19 Å berücksichtigen. Mit R A (Ba2+ ) = 1.35 Å und
R K (O2− ) = 1.405 Å⌋︂erhalten wir D N = R A + R K + ∆ N = 1.25 + 1.40 + 0.19 = 2.94 Å. Mul-
tiplizieren wir mit 2, so erhalten wir die Gitterkonstante a = 4.16 Å. Die Tatsache, dass
die gemessene Gitterkonstante etwas kleiner ist, könnte ein Hinweis darauf sein, dass die
Bindung nicht rein ionisch ist, sondern auch einen gewissen kovalenten Anteil hat.

20
L. Pauling, The Nature of the Chemical Bond, 3. Auflage, Cornell (1960).
21
R. D. Shannon, Revised effective ionic radii and systematic studies of interatomic distances in haldies
and chalcogenides, Acta Cryst. A 32, 751 (1976).
22
R. D. Shannon, C. T. Prewitt, Effective ionic radii in oxides and fluorides, Acta Cryst. B 25, 925–946
(1969).
23
W. B. Pearson, Crystal Chemistry and Physics of Metals and Alloys, Wiley Interscience (1972).
Literatur 143

Li+ Be2+ B3+ C4+ N3– O2– F–

Na+ Mg2+ Al3+ SI4+


P3– S2– Cl–
5+ 6+ 6+
4+ 4+ 3+ 3+ 3+ 3+
3+ 3+
2+ 2+ 2+ 2+ 2+
K+ Ca2+ Sc3+ Ti V Cr Mn Fe Co Ni2+

Cu2+ Zn2+ Ga3+ Ge4+


As3– Se2– Br–

Rb+ Sr2+ Y3+ Zr4+ Nb4+ Mo6+ Tc7+ Ru4+ Rh3+


4+
2+
Ag+ Cd2+ In3+ Sn
Sb3– Te2– I–

Cs+ Ba2+ La3+ Ce4+ Gd3+ Hf4+ Ta5+ W4+


3+ 4+ 5+
1+ 2+ 3+

Au+ Hg2+ Tl Pb Bi
0 5Å Abb. 3.26: Grafische Dar-
Ra2+ Th4+ stellung der Ionenradien der
chemischen Elemente.

Literatur
M. D. Joesten, L. Schaad, Hydrogen Bonding, Dekker (1974).
C. Kittel, Einführung in die Festkörperphysik, Oldenbourg Verlag, München (2006), An-
hang B.
K. Kopitzki, Einführung in die Festkörperphysik, Teubner Studienbücher, 3. Auflage,
B. G. Teubner, Stuttgart (1993).
H. W. Kroto, J. R. Heath, S. C. O’Brien, R. F. Curl, R. E. Smalley, C60: Buckminsterfullerene,
Nature 318, 162–163 (1985).
L. Pauling, The Nature of the Chemical Bond, 3. Auflage, Cornell (1960).
W. B. Pearson, Crystal Chemistry and Physics of Metals and Alloys, Wiley Interscience (1972).
R. D. Shannon, Revised effective ionic radii and systematic studies of interatomic distances in
haldies and chalcogenides, Acta Cryst. A 32, 751 (1976).
R. D. Shannon, C. T. Prewitt, Effective ionic radii in oxides and fluorides, Acta Cryst. B 25,
925–946 (1969).
4 Elastische Eigenschaften
von Festkörpern
Wir betrachten in diesem Kapitel
die elastischen Eigenschaften von
Festkörpern. Im vorangegange-
nen Kapitel haben wir gesehen,
dass aufgrund der verschiedenen
Bindungskräfte in Festkörpern
die Atome einen Gleichgewichts-
abstand R 0 einnehmen, für den FEM Simulation: Biegebalken mit Torsionslast
Bild: Lothar Golla
die gesamte potenzielle Energie
U(R 0 ) ein Minimum besitzt. Un-
sere Betrachtungen haben wir allerdings ohne das Einwirken einer äußeren Kraft gemacht.
Wir wollen jetzt diskutieren, wie sich der mittlere Atomabstand in Festkörpern unter Ein-
wirkung einer äußeren Kraft verhält. Es ist einsichtig, dass auf ein Atom die Rückstellkraft

∂U
F=−
∂r
wirkt, falls es aus seiner Gleichgewichtslage ausweichen will. Wollen wir also einen Festkör-
per verformen, so müssen wir diese Rückstellkraft überwinden.
Bei der in diesem Kapitel vorgenommenen Betrachtung werden wir den Festkörper als ein
Kontinuum annehmen. Das heißt, wir werden die atomare Struktur des Festkörpers völ-
lig außer Acht lassen. Diese Kontinuumsnäherung ist angebracht, wenn wir nur Vorgän-
ge auf einer Längenskala λ beschreiben, die groß gegen den mittleren Atomabstand R 0 ist.
Da R 0 ∼ 1 Å, können wir mit der Kontinuumsnäherung nur Vorgänge auf der Längenskala
λ ≳ 100 Å betrachten. Als Beispiel diskutieren wir elastische Wellen in einem Festkörper. Da
die typische Schallgeschwindigkeit von Festkörpern im Bereich v = 103 –104 m/s liegt, erhal-
ten wir für λ > 100 Å die maximale Frequenz f = v⇑λ < 1011 –1012 Hz. Falls wir also Phäno-
mene im Frequenzbereich von Schall- oder Ultraschallfrequenzen (Hz- bis MHz-Bereich)
betrachten, ist die Kontinuumsnäherung sehr gut. Die Betrachtung eines Systems mit dis-
kreter Gitterstruktur erfolgt später in Kapitel 5, wo wir elastische Schwingungen mit sehr
kleinen Wellenlängen diskutieren werden, für die die atomare Struktur des Festkörpers na-
türlich eine entscheidende Rolle spielt.
146 4 Elastische Eigenschaften

4.1 Grundlagen
Bei der Diskussion der elastischen Eigenschaften von Festkörpern unterscheidet man gene-
rell zwischen elastischen und plastischen Verformungen. Bei elastischen Verformungen han-
delt es sich um einen reversiblen Verformungsprozess, während eine plastische Verformung
einen irreversiblen Verformungsprozess darstellt. Wir werden uns hier nur mit elastischen
Verformungen befassen.
Dabei benutzen wir nur die Newtonschen Gesetze und das Hookesche Gesetz, das besagt,
dass bei einer elastischen Verformung eines Festkörpers die Dehnung e direkt proportional
zur Spannung σ ist:

σ = Ce . (4.1.1)

Hierbei ist
F Kraft
σ≡ = (4.1.2)
A Fläche
die Spannung (engl. stress) und
∆V
e≡ (4.1.3)
V
die Dehnung (engl. strain), die sich z. B. in einer relativen Längenänderung manifestiert. Die
Proportionalitätskonstante C bezeichnen wir als Dehnungsmodul oder Elastizitätsmodul.
Gleichung (4.1.1) gilt natürlich nur für den Bereich kleiner Spannungen, in dem ein linearer
Zusammenhang (Hookesches Gesetz) zwischen Spannung und Dehnung besteht. Für große
Spannungen erhalten wir ein kompliziertes nichtlineares Verhalten.
Wir werden im Folgenden sehen, dass die Spannung und Dehnung im Allgemeinen durch
symmetrische Tensoren 2. Stufe und der Elastizitätsmodul durch einen Tensor 4. Stufe be-
schrieben werden müssen. Einige der nachfolgenden Zusammenhänge sehen deshalb kom-
pliziert aus, da die Beziehungen zwischen verschiedenen Größen nicht durch Skalare, son-
dern durch Tensoren gegeben sind, was unvermeidlich zu einer Vielzahl von Indizes führt.

4.2 Spannung und Dehnung


4.2.1 Der Spannungstensor
Unter einer Spannung verstehen wir eine innere Kraft in einem Festkörper. Wir können die-
se in einem Körper wirkenden Kräfte dadurch beschreiben, dass wir den Körper in kleine
Volumenelemente zerlegen, auf die diese Kräfte wirken. Die Volumenelemente erleiden un-
ter Einwirkung der Spannungen Deformationen. Betrachten wir ganz allgemein eine auf ein
Flächenelement ∆A wirkende Kraft ∆F, so können wir diese Kraft immer in eine Normal-
komponente ∆Fn und zwei zueinander senkrechte Tangentialkomponenten ∆F t1 und ∆F t2
4.2 Spannung und Dehnung 147

(a) (b) 𝝈𝒛𝒛 𝒛

𝝈𝒙𝒛 𝝈𝒚𝒛
𝝈𝒛𝒙 Abb. 4.1: (a) Zerlegung
𝜟𝑭𝒏 𝝈𝒛𝒚
𝜟𝑭 𝝈𝒙𝒙 der an einem Flächenele-
𝝈𝒙𝒚 ment ∆A angreifenden Kraft
𝜟𝑭𝒕𝟐 𝝈𝒚𝒙 𝝈𝒚𝒚 in eine Normal- und zwei
𝒙
Tangentialkomponenten.
DA 𝒚 (b) Zur Definition der Span-
𝜟𝑭𝒕𝟏 nungskomponenten.

zerlegen (siehe Abb. 4.1a). Die mit der Normalkomponente verbundene Spannung ∆Fn ⇑∆A
nennen wir Normalspannung, die beiden mit den Tangentialkomponenten verbundenen
Spannungen ∆F t1 ⇑∆A und ∆F t2 ⇑∆A nennen wir Schubspannungen.
Den Spannungszustand eines kleinen, würfelförmigen Volumenelements können wir allge-
Spannungstensor
mein durch Angabe von 9 Größen beschreiben (siehe Abb. 4.1b), wobei wir für jede Seite des
Würfels drei Kraftkomponenten angeben müssen. Ist der Würfel hinreichend
6
klein, so wirkt
auf die gegenüberliegenden Seiten die gleiche Kraft. Wir können also den Spannungszustand
vollkommen durch die Elemente des Spannungstensors

⎛σ x x σ x y σ x z ⎞
⧹︂
σ = ⎜σ yx σ y y σ yz ⎟ (4.2.1)
⎝ σzx σz y σzz ⎠

charakterisieren. Hierbei sind die Komponenten definiert als (siehe hierzu Abb. 4.1b)
Kraftkomponente in i-Richtung
σi j ≡ (4.2.2)
Fläche mit Normalkomponente in j-Richtung
Die Komponenten σx x , σ y y und σzz stellen also Normalspannungen und die Komponenten
σx y , σ yx , σ yz , σz y , σx z und σzx Schubspannungen dar. Aus der Definition (4.2.2) und Abb. 4.1b
erkennen wir, dass bei den Normalspannungen die Kraft senkrecht auf der betreffenden Flä-
che steht, während bei den Schubspannungen die Kraft parallel zur Fläche gerichtet ist.
Wir wollen uns nun überlegen, ob alle 9 Komponenten des Spannungstensors unabhängig
voneinander sind. Hierzu fordern wir, dass durch die wirkenden Spannungen keine Dreh-
oder Translationsbewegung erzeugt werden soll. Daraus erhalten wir sofort folgende Bedin-
gungen (siehe hierzu Abb. 4.2):

∎ Die auf entgegengesetzte Flächen (eines Würfels) wirkenden Spannungen müssen gleich
mit umgekehrtem Vorzeichen sein (dies ist immer erfüllt, wenn wir das betrachtete Wür-
felelement klein machen). Abb. 4.2 zeigt, dass die Kräfte in x- und y-Richtung verschwin-
den.
∎ Damit kein Drehmoment auftritt, muss
σ i j = σ ji (4.2.3)
gelten.
148 4 Elastische Eigenschaften

𝒚 𝝈𝒙𝒚

𝝈𝒚𝒙
Abb. 4.2: Zur Veranschaulichung der Tatsache, dass für einen
Festkörper im statischen Gleichgewicht σ i j = σ ji gelten muss. 𝝈𝒚𝒙 𝒙
Die Summe der Kräfte in x-Richtung verschwindet für σx y =
σ yx . Ebenso ist die Summe der Kräfte in y-Richtung null. Das
Gesamtdrehmoment verschwindet ebenfalls für σx y = σ yx . 𝝈𝒙𝒚

Wir haben dadurch nur 6 unabhängige Spannungskomponenten, nämlich 3 Normal- und


• es darf keineist
3 Schubspannungskomponenten. Der Spannungstensor Translationsbewegung
symmetrisch. entstehen:
Spannungen auf gegenüberliegende Flächen müssen entgegengesetzt glei

4.2.1.1 Zug, Biegung, Scherung, Torsion • es darf kein Drehmoment entstehen:


sij = sji
Die Bezeichnungen Zug, Biegung, Scherung und Torsion beschreiben elementare Belas-
tungsfälle:

∎ Zug bzw. Druck tritt auf, wenn die Schubspannungen verschwinden und die Kraft gleich-
mäßig am Körper angreift. Der Körper reagiert mit Dehnung und Querdehnung (siehe
Abb. 4.3a und b). Liegt isotroper Druck (hydrostatischer Druck) vor, so wirkt der gleiche
Druck auf alle Seiten des Körpers und der Körper reagiert mit einer Volumenänderung
(siehe Abb. 4.3c).

(a) 𝑭 (b) 𝑭 (c) 𝑭


𝚫ℓ 𝜟ℓ

ℓ 𝑭 𝑭

𝑭
𝒅 𝑭
𝚫𝒅/𝟐 𝜟𝒅/𝟐

(d) (e) (f)


𝑭
𝑭
𝜸

𝑭
𝜶

𝑭
Abb. 4.3: Zur Veranschaulichung einer Dehnung (a), einer Querdehnung (b), einer allseitigen Kom-
8
pression (c), einer Biegung (d), einer Scherung (e) und einer Torsion (f).
4.2 Spannung und Dehnung 149

∎ Bei einer Biegung verschwinden die Schubspannungen, der Zug oder Druck greift
allerdings nicht gleichmäßig an und bewirkt eine ungleichmäßige Verformung (sie-
he Abb. 4.3d). An einigen Stellen des Körpers resultiert eine Zug-, an anderen eine
Druckbelastung.
∎ Eine Scherung tritt auf, wenn nur Schubspannungen wirken, die Kräfte also parallel zur
Oberfläche des Körpers angreifen. Der Körper reagiert mit einer Verformung, die als
Scherung bezeichnet wird. Hierbei ändern sich die Winkel zwischen den Kanten des
Körpers (siehe Abb. 4.3e).
∎ Bei einer Torsion treten wie bei einer Scherung nur Schubspannungen auf, die aber an
verschiedenen Stellen in verschiedene Richtungen zeigen und dadurch ein Drehmoment
erzeugen. Dies führt zu einer Verdrehung der Körperachsen (siehe Abb. 4.3f).

Alle in der Praxis vorkommenden Belastungsfälle lassen sich aus diesen elementaren Fällen
zusammensetzen.

4.2.2 Die Dehnungskomponenten


Wir wollen nun die Dehnungskomponenten allgemein für einen dreidimensionalen Fest-
körper definieren. Hierzu betrachten wir ein orthogonales System von Einheitsvektoren ⧹︂ x,
y und ⧹︂
⧹︂ z, das in einen unverspannten Festkörper eingebaut ist (siehe hierzu Abb. 4.4a). Nach
einer gleichmäßigen Deformation1 des Festkörpers, haben wir auch die Orientierung und
die Länge dieser Einheitsvektoren geändert (siehe Abb. 4.4b). Das neue Koordinatensystem
x′ , y′ , z′ können wir auf der Basis des ursprünglichen Koordinatensystems schreiben als
x′ = (1 + є x x )⧹︂ y + є x z⧹︂
x + є x y⧹︂ z (4.2.4)

y′ = є yx ⧹︂ y + є yz⧹︂
x + (1 + є y y )⧹︂ z (4.2.5)

z′ = є zx ⧹︂
x + є z y⧹︂
y + (1 + є zz )⧹︂
z. (4.2.6)
Die Koeffizienten є i j beschreiben dabei die Deformation, sie sind dimensionslos und haben
Werte ≪ 1, da wir nur kleine Deformationen im Hookeschen Bereich betrachten wollen. Die
Länge der neuen Achsen x′ , y′ , z′ ist nicht eins, wie wir sofort aus
x′ ⋅ x′ = 1 +eines
Deformation + є 2 + є 2Koordinatensystems
2є orthogonalen
xx + є2
xx xy xz (4.2.7)

𝑧Ƹ 𝑧′
Deformation
𝟗𝟎° 𝟗𝟎°
Abb. 4.4: Koordinatenachsen zur Be-
schreibung des Dehnungszustandes:
𝑥ො
𝟗𝟎°
𝑦ො 𝑥′ 𝑦′ die orthogonalen Achsen in (a) wer-
den im gedehnten Zustand (b) ver-
(a) (b) formt.
1
Bei einer gleichmäßigen Deformation wird jede Einheitszelle des Festkörpers in gleicher Weise
deformiert.
𝜖𝑖𝑗 ≪ 1 beschreiben Deformation

9
150 4 Elastische Eigenschaften

erkennen. Da є i j ≪ 1, können wir in guter Näherung2


x′ ≃ 1 + єx x + . . . (4.2.8)
schreiben. Das heißt, in erster Ordnung sind die relativen Änderungen der Länge der Ein-
heitsvektoren ⧹︂ y und ⧹︂
x, ⧹︂ z gerade є x x , є y y und є zz .
Wir betrachten nun die Auswirkung der Deformation (4.2.4) bis (4.2.6) auf die Position
r = x⧹︂
x + y⧹︂
y + z⧹︂
z eines Atoms. Falls die Deformation gleichmäßig ist, wird die neue Position
durch r′ = xx′ + yy′ + zz′ gegeben sein. Wir können dann den Verschiebungsvektor R der
Deformation einführen:
R = r′ − r = x(x′ − ⧹︂
x) + y(y′ − ⧹︂
y) + z(z′ − ⧹︂
z) . (4.2.9)
Benutzen wir (4.2.4) bis (4.2.6), so erhalten wir
R(r) = (xє x x + yє yx + zє zx )⧹︂
x + (xє x y + yє y y + zє z y )⧹︂
y
+ (xє x z + yє yz + zє zz )⧹︂
z. (4.2.10)
Den Verschiebungsvektor können wir auch ganz allgemein schreiben als

R(r) = u(r)⧹︂
x + v(r)⧹︂
y + w(r)⧹︂
z. (4.2.11)

Falls die Deformation ungleichmäßig sein sollte, müssen wir u, v und w in Bezug zu den
lokalen Dehnungen setzen. Entwickeln wir den Ausdruck für R in eine Taylor-Reihe um
r = 0 unter Benutzung von R(0) = 0, so erhalten wir in erster Näherung
∂u ∂u ∂u ∂v ∂v ∂v
R ≃ (x +y + z )⧹︂
x + (x +y + z )⧹︂
y
∂x ∂y ∂z ∂x ∂y ∂z
∂w ∂w ∂w
+ (x +y +z )⧹︂
z. (4.2.12)
∂x ∂y ∂z
Durch Vergleich von (4.2.10) mit (4.2.12) erhalten wir die Beziehungen
∂u ∂u ∂u
xє x x ≃ x yє yx ≃ y zє zx ≃ z usw . (4.2.13)
∂x ∂y ∂z
Es ist allgemein üblich, mit den Dehnungskoeffizienten e α β anstatt mit den Koeffizienten є α β
zu arbeiten. Die Dehnungskoeffizienten e x x , e y y und e zz sind durch folgende Beziehungen
mit den Koeffizienten є x x , є y y und є zz verknüpft:

1 1 ∂u
e x x ≡ x′ ⋅ x′ − = є x x =
2 2 ∂x
1 1 ∂v
e y y ≡ y′ ⋅ y′ − = є y y =
2 2 ∂y
1 1 ∂w
e zz ≡ z′ ⋅ z′ − = є zz = . (4.2.14)
2 2 ∂z
2
⌋︂
Wir benutzen 1 + x ≃ 1 + 12 x.
4.3 Der Elastizitätstensor 151

Die weiteren Dehnungskoeffizienten werden durch die Änderungen der Winkel zwischen
den Achsen definiert. Mit (4.2.4) bis (4.2.6) erhalten wir

1 1 1 ∂u ∂v
e x y ≡ x′ ⋅ y′ = (є yx + є x y ) = ( + )
2 2 2 ∂y ∂x

1 1 1 ∂v ∂w
e yz ≡ y′ ⋅ z′ = (є z y + є yz ) = ( + )
2 2 2 ∂z ∂y
1 1 1 ∂u ∂w
e zx ≡ z′ ⋅ x′ = (є zx + є x z ) = ( + ). (4.2.15)
2 2 2 ∂z ∂x
Die Ausdrücke (4.2.14) und (4.2.15) zeigen, dass die dimensionslosen Dehnungskoeffizien-
ten durch die partiellen Ableitungen der Komponenten des Verschiebungsvektors R nach
den Koordinaten x, y, z gegeben sind. Sie bestimmen die Dehnung vollständig. Aus Sym-
metriegründen gilt e k l = e l k , d. h. der durch die Dehnungskoeffizienten gebildete Tensor 2.
Stufe ist ein symmetrischer Tensor:

⎛e x x e x y e x z ⎞
⧹︂
e = ⎜ e yx e y y e yz ⎟ (4.2.16)
⎝ e zx e z y e zz ⎠

4.3 Der Elastizitätstensor


Wir haben bereits in Abschnitt 4.1 diskutiert, dass zwischen Spannung und Dehnung ein
linearer Zusammenhang besteht, solange wir uns im Hookeschen Bereich genügend kleiner
Deformationen befinden. In diesem Fall sind die Dehnungskoeffizienten lineare Funktionen
der Spannungkomponenten und umgekehrt und es gilt

σ i j = ∑ C i jk l e k l . (4.3.1)
kl

Hierbei sind C i jk l die Komponenten des Elastizitätstensors (engl. Young’s modulus).


Sie werden auch als elastische Moduln bezeichnet. Die Dimension der Koeffizienten ist
Kraft/Fläche oder äquivalent Energie/Volumen. Die Elastizitätsmoduln C i jk l bilden einen
Tensor 4. Stufe, die Spannungskomponenten σ i j und die Dehnungskoeffizienten e k l einen
Tensor 2. Stufe. Im Allgemeinen besitzt der Elastizitätstensor 81 Komponenten. Aufgrund
der Symmetriebeziehungen σ i j = σ ji und e k l = e l k gilt aber C i jk l = C ji k l = C i jl k , wodurch
sich die Zahl der unabhängigen Komponenten auf 36 reduziert. Aus der quadratischen Ab-
hängigkeit der elastischen Energie von der Verformung folgt ferner C i jk l = C k l i j , wie wir in
Abschnitt 4.3.1 zeigen werden. Somit verbleiben nur noch 21 unabhängige Komponenten.
Eine weitere Reduktion erfolgt aufgrund der zugrunde liegenden Kristallsymmetrie.
In ähnlicher Weise könnten wir anstelle des Elastizitätstensors auch den inversen Tensor be-
nutzen, der als Nachgiebigkeitstensor oder Compliance-Tensor bezeichnet wird. Seine Ko-
effizienten S i jk l werden als Elastizitätskoeffizienten oder elastische Konstanten bezeichnet.
152 4 Elastische Eigenschaften

Sie sind durch

e i j = ∑ S i jk l σ k l (4.3.2)
kl

definiert.
Aufgrund der oben diskutierten Symmetriebeziehungen können wir eine verkürzte Notati-
on, die so genannte Voigt-Notation

xx → 1 , yy → 2 , zz → 3 ,
(4.3.3)
yz = z y → 4 , xz = zx → 5 , x y = yx → 6

verwenden. Berechnen wir mit Hilfe von (4.3.1) und den genannten Symmetrieüberlegun-
gen die Komponente σx x in Tensor-Notation

σx x = C x x x x e x x + C x x x y e x y + C x x x z e x z
+ C x x yx e yx + C x x y y e y y + C x x yz e yz
+ C x x zx e zx + C x x z y e z y + C x x zz e zz (4.3.4)
= C x x x x e x x + C x x y y e y y + C x x zz e zz
+ 2C x x yz e yz + 2C x x x z e x z + 2C x x x y e x y

und in Matrix-Notation

σ1 = C 11 e 1 + C 12 e 2 + C 13 e 3 + 2 C 14 e 4 + 2C 15 e 5 + 2C 16 e 6 , (4.3.5)

so erkennen wir, dass durch zusätzliches Einführen von Faktoren beim Übergang der Tensor-
in die Matrix-Notation des Dehungstensors

⎛e x x e x y e x z ⎞ ⎛ e1 2 e6 2 e5 ⎞
1 1

⎜ e yx e y y e yz ⎟ → ⎜ 2 e 6 e 2 12 e 4 ⎟
1
(4.3.6)
⎝ e zx e z y e zz ⎠ ⎝ 1 e5 1 e4 e3 ⎠
2 2

Gleichung (4.3.1) in folgender kompakter Form geschrieben werden kann:3


6
σm = ∑ C mn e n . (4.3.7)
n=1

3
Der zusätzliche Faktor bei den Komponenten e 4 , e 5 und e 6 sorgt dafür, dass beim Übergang der
Tensor- in die Matrix-Notation die elastische Energiedichte erhalten bleibt. Wir sehen leicht, dass
das Skalarprodukt aus Spannung und Dehnung, σ ⋅ e, in der Voigtschen Matrix-Notation gleich
dem inneren Tensorprodukt, ⧹︂ e, in der Tensorschreibweise ist. Dieses Produkt entspricht gerade
σ ∶ ⧹︂
dem Doppelten der elastischen Energiedichte (siehe unten). Die Voigt-Notation hat den Vorteil,
dass sie (i) deutlich kompakter als die vollständige Tensornotation ist, (ii) die elastische Energie-
dichte und die elastischen Moduln erhält und (iii) dass sich die Voigtsche Steifigkeitsmatrix leicht
invertieren lässt. Nachteile sind, dass Spannung und Dehnung unterschiedlich behandelt werden
und die Normen der drei Tensoren nicht erhalten bleiben.
4.3 Der Elastizitätstensor 153

Für die 6 unabhängigen Komponenten des Spannungstensors erhalten wir dann folgende
6 Gleichungen mit 36 Koeffizienten

σ1 = C 11 e 1 + C 12 e 2 + C 13 e 3 + C 14 e 4 + C 15 e 5 + C 16 e 6
σ2 = C 21 e 1 + C 22 e 2 + C 23 e 3 + C 24 e 4 + C 25 e 5 + C 26 e 6
σ3 = C 31 e 1 + C 32 e 2 + C 33 e 3 + C 34 e 4 + C 35 e 5 + C 36 e 6
(4.3.8)
σ4 = C 41 e 1 + C 42 e 2 + C 43 e 3 + C 44 e 4 + C 45 e 5 + C 46 e 6
σ5 = C 51 e 1 + C 52 e 2 + C 53 e 3 + C 54 e 4 + C 55 e 5 + C 56 e 6
σ6 = C 61 e 1 + C 62 e 2 + C 63 e 3 + C 64 e 4 + C 65 e 5 + C 66 e 6 .

4.3.1 Elastische Energiedichte


Die Anzahl unabhängiger Komponenten des Elastizitätstensors C i jk l kann durch Betrach-
tung der elastischen Energiedichte U weiter reduziert werden. Die elastische Energiedich-
te U ist eine quadratische Funktion der Dehnung und kann analog zur elastischen Energie
einer gedehnten Feder geschrieben werden als

1 6 6 ̃mn e n .
U= ∑ ∑ em C (4.3.9)
2 m=1 n=1

Hierbei sind die Indizes 1 bis 6 durch die Voigt-Notation (4.3.3) definiert.
Wir müssen nun den Zusammenhang zwischen den Koeffizienten C ̃mn und C mn klären. Die
Spannungskoeffizienten sind durch die Ableitung von U nach dem zugehörigen Dehnungs-
koeffizienten gegeben:

∂U ̃ 1 6 ̃ ̃
σ1 = = C 11 e 1 + ∑ (C 1n + C n1 )e n
∂e 1 2 n=2
∂U ̃ 1 6 ̃2n + C
̃n2 )e n (4.3.10)
σ2 = = C 22 e 2 + ∑ (C
∂e 2 2 n=1,n≠2
usw .

Wir sehen, dass in den Zusammenhang zwischen Spannung und Dehnung jeweils nur die
Kombinationen 12 (C̃mn + C
̃nm ) eingehen. Daraus können wir ablesen, dass die Elastizitäts-
moduln symmetrisch sind:
̃mn + C
C mn = 12 (C ̃nm ) = C nm . (4.3.11)

Von den 36 Koeffizienten des Elastizitätstensors bleiben also nur noch 21 übrig.

4.3.1.1 Beispiel: Volumenausdehnung


Die relative Änderung ∆V
V
des Volumens eines Festkörpers aufgrund einer Deformation be-
zeichnen wir als Volumenausdehnung δ. Für hydrostatischen Druck ist die Volumenausdeh-
nung negativ. Der Einheitswürfel mit den Achsen ⧹︂ y und ⧹︂
x, ⧹︂ z hat nach der Deformation das
154 4 Elastische Eigenschaften

durch das Spatprodukt gegebene Volumen


V ′ = (x′ ⋅ y′ ) × z′ . (4.3.12)
Mit Hilfe von (4.2.4) bis (4.2.6) erhalten wir
∫︀∫︀∫︀1 + є x x є x y є x z ∫︀∫︀∫︀∫︀
∫︀∫︀∫︀
(x ⋅ y ) × z = ∫︀∫︀∫︀ є yx 1 + є y y є yz ∫︀∫︀∫︀∫︀∫︀ ≃ 1 + e x x + e y y + e zz .
′ ′ ′
(4.3.13)
∫︀∫︀∫︀ є є z y 1 + є zz ∫︀∫︀∫︀∫︀
∫︀ zx
Hierbei haben wir Produkte von zwei Dehnungskoeffizienten vernachlässigt. Die Volumen-
ausdehnung ergibt sich damit zu
V′ − V
δ≡ ≃ e x x + e y y + e zz . (4.3.14)
V
Die Größe δ wird häufig einfach als Dilatation oder Ausdehnung bezeichnet.

4.3.2 Kristallsymmetrie und Elastizitätsmodul


Die Zahl der unabhängigen Komponenten des Elastizitätsmoduls wird weiter reduziert, falls
der betrachtete Kristall Symmetrieelemente besitzt. Wir wollen dies hier nicht ausführlich
ableiten, sondern nur in Tabelle 4.1 das Ergebnis festhalten.
Tabelle 4.1: Zahl der unabhän- Kristallsystem Punktgruppe elastische Konstanten
gigen elastischen Konstanten.
triklin alle 21
monoklin alle 13
orthorhombisch alle 9
tetragonal C 4 , C 4h , S 4 , 7
C 4v , D 4v , D 4h , D 2d 6
rhomboedrisch C3 , S6 , 7
C 3v , D 3 , D 3d 6
hexagonal alle 5
kubisch alle 3

Für kubische Kristalle haben wir nur drei unabhängige Komponenten des Elastizitätsmo-
duls. Es sind dies
C 11 = C x x x x = C 22 = C y y y y = C 33 = C zzzz
C 12 = C x x y y = C 23 = C y yzz = C 31 = C zzx x (4.3.15)
C 44 = C yz yz = C 55 = C zx zx = C 66 = C x yx y .
Alle anderen Koeffizienten sind null und wir erhalten
⎛C 11 C 12 C 12 0 0 0 ⎞
⎜C 12 C 11 C 12 0 0 0 ⎟
⎜ ⎟
⎜ 0 ⎟
⧹︂ = ⎜C 12 C 12 C 11 0 0 ⎟.
C ⎜ 0 0 ⎟
(4.3.16)
⎜ 0 0 C 44 0 ⎟
⎜ 0 0 ⎟
⎜ 0 0 0 C 44 ⎟
⎝ 0 0 0 0 0 C 44 ⎠
4.3 Der Elastizitätstensor 155

4.3.2.1 Vertiefungsthema: Elastizitätstensor eines kubischen Kristalls


Falls (4.3.16) richtig ist, erhalten wir aus (4.3.9) die elastische Energiedichte eines kubischen
Kristalls zu
U = 12 C 11 (e 12 + e 22 + e 32 ) + 12 C 44 (e 42 + e 52 + e 62 )
+ C 12 (e 2 e 3 + e 3 e 1 + e 1 e 2 ) . (4.3.17)

In der elastischen Energiedichte tauchen keine Terme der Form

ex x ex y + . . . e yz e x z + . . . e x x e yz + . . . (4.3.18)

auf. Wir wissen, dass wir für einen kubischen Kristall insgesamt 4 dreizählige Rotationsach-
sen haben, deren Richtungen in [111] und die dazu äquivalenten Richtungen zeigen. Drehen
wir einen Würfel, dessen Kanten entlang der x-, y- und z-Achse ausgerichtet sind, um 2π⇑3
um diese vier Rotationsachsen, so tauschen wir die x-, y- und z-Achsen gemäß folgenden
vier Schemata gegeneinander aus:

x→y→z→x − x → z → −y → −x
(4.3.19)
x → z → −y → x − x → y → z → −x .

Gemäß dem ersten Schema erhalten wir zum Beispiel für die Terme in (4.3.17)

e x2 x + e 2y y + e zz
2
→ e 2y y + e zz
2
+ e x2 x
e 2yz + e x2 z + e x2 y → e zx
2
+ e 2yx + e 2yz (4.3.20)
e y y e zz + e zz e x x + e x x e y y → e zz e x x + e x x e y y + e y y e zz .

Wir sehen sofort, dass (4.3.17) invariant unter der betrachteten Operation ist. Wir sehen
ferner, dass für die Terme aus (4.3.18) dagegen wir immer eine Transformation aus dem
Satz (4.3.19) finden können, die das Vorzeichen eines Terms ändert, da z. B. e x y = −e x(−y) .
Das heißt, die Terme in (4.3.18) sind nicht invariant unter der für die kubische Symmetrie
notwendigen Operation. Diese Terme dürfen also in der Tat im Ausdruck für die elastische
Energiedichte nicht auftauchen.
Wir müssen jetzt noch zeigen, dass die Zahlenfaktoren in (4.3.17) richtig sind. Ge-
mäß (4.3.10) und (4.3.17) erhalten wir
∂U
= σ1 = C 11 e 1 + C 12 (e 2 + e 3 )
∂e 1
∂U (4.3.21)
= σ2 = C 11 e 2 + C 12 (e 1 + e 3 )
∂e 2
... .
156 4 Elastische Eigenschaften

Vergleichen wir dies mit (4.3.8), so sehen wir, dass


C 11 = C 22 = C 33
C 44 = C 55 = C 66
C 12 = C 13 = C 23 = C 21 = C 31 = C 32
C 14 = C 41 = C 15 = C 51 = C 16 = C 61 =0 (4.3.22)
C 24 = C 42 = C 25 = C 52 = C 26 = C 62 =0
C 34 = C 43 = C 35 = C 53 = C 36 = C 63 =0
C 45 = C 54 = C 46 = C 64 = C 56 = C 65 =0.
Damit erhalten wir sofort den Elastizitätstensor (4.3.16).

4.3.2.2 Elastische Konstanten eines kubischen Kristalls


Die elastischen Konstanten S i k eines kubischen Kristalls hängen mit den Komponenten C i k
des Elastizitätsmoduls wie folgt zusammen:4
1
C 44 =
S 44
1
C 11 − C 12 = (4.3.23)
S 11 − S 12
1
C 11 + 2C 12 = .
S 11 + 2S 12

4.3.2.3 Beispiel: Bulk-Modul und Kompressibilität eines kubischen Kristalls


Für einen kubischen Kristall ist bei Anlegen von hydrostatischem Druck e x x = e y y = e zz und
wir erhalten eine gleichförmige Dehnung e x x = e y y = e zz = 13 δ. Hierbei gilt σ = −∆p. Für
diese Deformation erhalten wir aus (4.3.9) für einen kubischen Kristall somit die Energie-
dichte
1 δ2 1
U = (3C 11 + 6C 12 ) = (C 11 + 2C 12 )δ 2 . (4.3.24)
2 9 6
Der Kompressionsmodul ist durch
∂p ∂2 U
B = −V =V (4.3.25)
∂V ∂V 2
definiert (vergleiche Abschnitt 3.2.4). Äquivalent zu dieser Definition können wir mit δ =
∆V ⇑V den Kompressionsmodul auch durch die Beziehung
U = 21 Bδ 2 (4.3.26)
ausdrücken. Für einen kubischen Kristall erhalten wir deshalb
B = 13 (C 11 + 2C 12 ) . (4.3.27)
4
Diesen Zusammenhang erhält man durch Invertieren der 6 × 6 Matrix der Elastizitätsmoduln.
4.4 Vertiefungsthema: Verspannungseffekte in epitaktischen Schichten 157

Die Kompressibilität κ ist durch den Kehrwert des Kompressionsmoduls B gegeben.


Aus obiger Definition des Kompressionsmoduls wird klar, dass wir durch eine experimen-
telle Bestimmung von B Informationen über die Bindungskräfte erhalten können. Wir be-
trachten als Beispiel einen NaCl-Ionenkristall (kubisch, fcc). Für einen kubischen Kristall
mit fcc-Struktur ist der Kompressionsmodul durch (vergleiche (3.3.15))

1 1 ZN N λ αq 2
B= = ( 2 e−R 0 ⇑ρ − ) (4.3.28)
κ 18R 0 ρ 2πє 0 R 03

gegeben. Mit α = 1.7476, R 0 = 2.82 Å, λ = 1.74 × 10−16 J und ρ = 0.322 Å (vergleiche Tabel-
le 3.6) erhalten wir für NaCl den Kompressionsmodul B ≃ 2.7 × 1010 N/m2 . In der Praxis
geht man natürlich umgekehrt vor. Man bestimmt aus den gemessenen Werten für R 0 und
B die Parameter λ und ρ der Potenzialkurve der ionischen Bindung.

4.4 Vertiefungsthema: Verspannungseffekte


in epitaktischen Schichten
Dünne Schichten spielen in der heutigen Festkörperphysik und -technologie eine bedeu-
tende Rolle. In vielen Fällen werden diese Schichten epitaktisch auf einem einkristallinen
Substrat aufgewachsen. Epitaktisch bedeutet dabei, dass die kristallographischen Achsen
des Films und des Substrats eine wohldefinierte Orientierung zueinander haben. Falls Film
und Substratmaterial nicht gleich (Homoepitaxie) sondern unterschiedlich (Heteroepitaxie)
sind, können an der Grenzfläche zwischen Substrat und Film Verspannungseffekte auftreten,
da Film und Substrat unterschiedliche Gitterkonstaten haben können. Diese Verspannungs-
effekte sind von großer Bedeutung sowohl für das Filmwachstum als auch für die physikali-
schen Eigenschaften der Filme.
Als Beispiel wollen wir Halbleitermaterialien betrachten. In Abb. 4.5 sind die Werte der
Energielücke verschiedener Halbleitermaterialien gegen ihre Gitterkonstante aufgetragen.
In künstlichen Halbleiterheterostrukturen wird durch die Kombination von Halbleiterma-
terialien mit unterschiedlichen Energielückenwerten gezielt die Bandstruktur modifiziert,
um zum Beispiel zweidimensionale Elektronengassysteme zu erzeugen. Dazu müssen diese
Halbleitermaterialien heteroepitaktisch in künstlichen Vielschichtstrukturen übereinander
aufgewachsen werden. Dies funktioniert meistens nur dann gut, wenn ihre Gitterkonstanten
gut zueinander passen. Obwohl die verwendeten Materialien leicht unterschiedliche Gitter-
konstanten besitzen, zeigen die Grenzflächen zwischen den verschiedenen Materialien keine
Defekte wie z. B. Stufenversetzungen. Wir werden im Folgenden sehen, dass dies nur dann
der Fall ist, wenn entweder die Gitterkonstanten der Materialien sehr ähnlich sind oder die
einzelnen Schichten sehr dünn sind.
Ein weiteres interessantes Materialsystem sind die supraleitenden Kuprate. Diese besitzen
als gemeinsames Strukturelement CuO2 -Ebenen. Dadurch haben unterschiedliche Kuprat-
supraleiter (z. B. YBa2 Cu3 O7 , La2−x Srx CuO4 oder Bi2 Sr2 CaCu2 O8 ) ähnliche Gitterkonstan-
ten parallel zu diesen Ebenen. Sie lassen sich deshalb gut heteroepitaktisch übereinander
158 4 Elastische Eigenschaften

4
ZnS

3 Zn0.5Mn0.5Se

Energielücke (eV)
AlP ZnSe CdS Cd0.5Mn0.5Se
AlAs ZnTe
2 GaP
CdSe
GaAs AlSb CdTe
InP
Si
1
Ge GaSb
InAs InSb
Abb. 4.5: Energielücken und Gitter-
0 HgTe
konstanten von einigen Halbleiter- HgS HgSe
materialien. Familien mit ähnlichem
5.4 5.6 5.8 6.0 6.2 6.4 6.6
Gitterparametern sind mit gleich-
farbigen Symbolen eingezeichnet. Gitterkonstante (Å)

wachsen. Wählt man gezielt zwei Kupratsupraleiter mit relativ großem Unterschied der Git-
terkonstanten, so kann man kontrolliert den Effekt von biaxialen Verspannungseffekten z. B.
auf die kritische Temperatur studieren.5 , 6 , 7
Wir wollen im Folgenden den einfachen Fall betrachten, dass wir einen epitaktischen Film
eines kubischen Materials auf einem sehr dicken Substrat aufwachsen. Das Filmmaterial soll
die Gitterkonstante a f und das Substrat den Gitterparameter a s besitzen. Man führt nun
üblicherweise die so genannte Gitterfehlanpassung
a f − as
f ≡ (4.4.1)
as
an der Grenzfläche ein. Durch diese Definition ist gewährleistet, dass für einen Film, der an
der Grenzfläche die Gitterkonstante a s des Substrates vollständig übernimmt, die Dehnung e
gerade durch die Gitterfehlanpassung f gegeben ist. Wird ein Teil der Gitterfehlanpassung
durch Versetzungen kompensiert, so ist

f ≡ e+γ, (4.4.2)

wobei γ gerade die durch Versetzungen kompensierte Gitterfehlanpassung ist.


Um den Dehnungszustand eines auf einem Substrat bei endlicher Gitterfehlanpassung ge-
wachsenen Films zu analysieren, müssen wir überlegen, welcher Zustand die Summe der
beiden Energien E e und E γ minimiert. Hierbei ist E e die elastische Energie aufgrund einer
5
R. Gross, A. Gupta, E. Olsson, A. Segmüller, G. Koren, Critical current density of strained multilayer
thin films of Nd1.83 Ce0.17 CuOx /YBa2 Cu3 O7−δ , Appl. Phys. Lett. 57, 203 (1990).
6
A. Gupta, R. Gross, E. Olsson, A. Segmüller, G. Koren, C. C. Tsuei, Heteroepitaxial growth of strained
multilayer superconducting thin films of Nd1.83 Ce0.17 CuOx /YBa2 Cu3 O7−δ Phys. Rev. Lett. 64, 3191
(1990).
7
R. Gross, A. Gupta, E. Olsson, A. Segmüller, G. Koren, Heteroepitaxial Growth of Strained Multi-
layer Thin Films of High-Temperature Superconductors, in High Temperature Superconductors, Ma-
terial Aspects, H. C. Freyhardt, R. Flükiger, M. Peukert eds., DGM Verlag, p. 65, 1990.
4.4 Vertiefungsthema: Verspannungseffekte in epitaktischen Schichten 159

biaxialen Dehnung (bzw. Kompression) des Films und E γ die Energie der Versetzungen.8 Um
die Diskussion sehr einfach zu halten, nehmen wir an, dass der Film aus einem kubischen
Material besteht, sich die Dehnung im Hookeschen Bereich bewegt und eine der kubischen
Achsen senkrecht zur Substratoberfläche steht. Zusätzlich nehmen wir an, dass sich nur Stu-
fenversetzungen (vergleiche hierzu Abschnitt 1.4.1) ausbilden, die in einem quadratischen
Gitter angeordnet sind und deren Burgers-Vektoren parallel zur Grenzfläche liegen. Durch
die biaxiale Dehnung/Kompression des Films ändert sich die Gitterkonstante des Films par-
allel zur Grenzfläche um e = ∆a f ⇑a f . Ist die Dicke des Films durch d gegeben und der Film
in seiner gesamten Dicke homogen gedehnt/komprimiert, so ist die mit der elastischen Ver-
formung des Films verbundene Energie pro Flächeneinheit durch9

U e = Be 2 d (4.4.3)

gegeben, wobei B der Kompressionsmodul des kubischen Filmmaterials ist.


Die mit der Bildung einer Stufenversetzung an der Grenzfläche zwischen zwei Kristallen mit
Schermoduln G s und G f verbundene Energie pro Längeneinheit ist näherungsweise durch10
1 Gs G f b
U V ≃ Db (︀ln(R⇑b) + 1⌋︀ mit D= (4.4.4)
2 π(G s + G f )(1 − µ)
gegeben. Hierbei ist b die Länge des Burgers-Vektors der Stufenversetzung (siehe hierzu
Abb. 1.32), R der Abstand zur äußeren Grenze des mit der Versetzung verbundenen Span-
nungsfeldes und µ die Querzahl [vergleiche (4.5.2)] des Filmmaterials. Mit der obigen De-
finition von γ ist der Abstand s zwischen zwei Versetzungen durch
b
s= (4.4.5)
γ
gegeben. Mit b = sγ und der Tatsache, dass wir es mit zwei zueinander senkrechten Arrays
von Versetzungen mit Abstand s zu tun haben, erhalten wir die mit der Bildung von Verset-
zungen verbundene Energie pro Flächeneinheit zu
UV
Uγ = 2 = Dγ (︀ln(R⇑b) + 1⌋︀ = D( f − e) (︀ln(R⇑b) + 1⌋︀ . (4.4.6)
s
Wir müssen jetzt noch eine vernünftige Annahme für R machen. Falls 2s < d, ist R ∼ s eine
vernünftige Annahme. Falls 2s > d, ist dagegen R ∼ d eine vernünftige Annahme. Letztere
Annahme trifft meistens bei kleiner Gitterfehlanpassung und nicht allzu dicken Filmen zu.
Um für diesen Fall die optimale Situation zu finden, müssen wir das Minimum der Gesamt-
energie U e + U γ bestimmen. Wie wir durch differenzieren der Gesamtenergie pro Flächen-
einheit leicht zeigen können, erhalten wir die energetisch günstigste Situation für
D
e∗ = (︀ln(d⇑b) + 1⌋︀ . (4.4.7)
2Bd
8
J. H. Van der Merve, in Single Crystal Films, M. H. Francombe, H. Sato eds., Pergamon Press, Oxford
(1964).
9
J. W. Cahn, On Spinodal Decomposition in Cubic Crystals, Acta Met. 10, 179–183 (1962).
10
J. W. Matthews, in Epitaxial Growth, Part B, J. W. Matthews ed., Academic Press, New York (1975).
160 4 Elastische Eigenschaften

Natürlich ist der größtmögliche Wert von e ∗ gerade die Gitterfehlanpassung f . Falls
der durch (4.4.7) vorhergesagte Wert größer oder gleich f ist, so wird der Film biaxi-
al gedehnt/komprimiert aufwachsen, um sich optimal der Gitterkonstante des Substrats
anzupassen. Ist dagegen e ∗ < f , so wird die Fehlanpassung teilweise durch Versetzungen
kompensiert werden, wobei dann e ∗ = f − γ. Die Dicke d c , bei der es gerade günstiger
wird, Versetzungen zu bilden, wird als kritische Schichtdicke bezeichnet. Setzen wir e ∗ = f
in (4.4.7) ein, so erhalten wir
D
dc = (︀ln(d c ⇑b) + 1⌋︀ . (4.4.8)
2B f

Wir sehen, dass die kritische Schichtdicke groß wird, falls die Gitterfehlanpassung klein
ist und außerdem der Kompressionsmodul des Filmmaterials klein ist, also der Film sich
leicht komprimieren oder dehnen lässt. Ferner ist d c groß, falls der Schermodul groß ist,
da es dann viel Energie kostet, Versetzungen zu bilden. Die durch (4.4.8) vorhergesagte kri-
tische Schichtdicke stimmt größenordnungsmäßig gut mit experimentellen Werten über-
ein.11 , 12 , 13 , 14

4.5 Technische Größen


In der Technik haben wir es häufig mit polykristallinen Materialien (z. B. metallische Werk-
stoffe) zu tun, die wir in guter Näherung durch ein völlig isotropes Medium beschreiben
können. Die Beschreibung des elastischen Verhaltens wird dann wesentlich einfacher. In
Anlehnung an die in Abb. 4.3 gezeigten elementaren Belastungsfälle werden in der Tech-
nik meistens folgende vier Größen zur Charakterisierung der elastischen Verformung im
Hookeschen Bereich verwendet:

1. Elastizitätsmodul oder Young-Modul E:


Die Größe E gibt den Zusammenhang zwischen einer Spannung σ und der daraus resul-
tierenden relativen Längenänderung ∆ℓ

in Richtung der Spannung an:

∆ℓ
σ=E . (4.5.1)

Der Elastizitätsmodul ist für das isotrope Medium jetzt kein Tensor mehr, sondern ein
Skalar.

11
J. H. Van der Merve, in Single Crystal Films, M. H. Francombe, H. Sato eds., Pergamon Press, Oxford
(1964).
12
J. H. Van der Merve, Structure of epitaxial crystal interfaces, Surface Sci. 31, 198–228 (1972).
13
J. H. Van der Merve, Misfit dislocation energy in epitaxial overgrowths of finite thickness, Surface
Sci. 32, 1–15 (1972).
14
C. A. B. Ball, J. H. Van der Merve, On Bonding and Structure of Epitaxial Bicrystals I. Semi-Infinite
Crystals, Phys. Sta. Sol. 38, 335–344 (1970).
4.5 Technische Größen 161

2. Poisson-Zahl ν und Querzahl µ:


Die Poisson-Zahl ν ist der Kehrwert der Querdehnungszahl µ. Sie gibt das Verhältnis
von Querkontraktion zu Dehnung an:

1 −∆d⇑d
ν= = . (4.5.2)
µ ∆ℓ⇑ℓ
Eine Spannung σ resultiert nicht nur in einer Längenänderung ∆ℓ in Richtung der Span-
nung, sondern auch in einer Kontraktion −∆d quer zur wirkenden Spannung.
3. Kompressionsmodul B:
Der Kompressionsmodul B gibt den Zusammenhang zwischen Volumenänderung und
einer gleichmäßig auf den Körper wirkenden Spannung, die z. B. durch hydrostatischen
Druck realisiert werden kann, an:
∆V
p = −σ = −B . (4.5.3)
V
4. Schub-, Scher- oder Gleitmodul G:
Der Schub-, Scher- oder Gleitmodul G gibt den Zusammenhang zwischen einer auf einen
Körper wirkenden Schubspannung und dem daraus resultierenden Scherwinkel α an:

σ = Gα . (4.5.4)

Tatsächlich sind nur zwei dieser vier Größen unabhängig voneinander. Dies lässt sich für die
Volumenänderung aufgrund von gleichmäßigem Druck leicht zeigen: Betrachten wir einen
Quader mit Länge ℓ und Stirnfläche d 2 , so bewirkt die senkrecht zu den Stirnflächen wirken-
de Spannung −σ = p die relative Längenänderung ∆ℓ = − E . Infolge der endlichen Querdeh-
p

nung erhalten wir allerdings auch eine Änderung der beiden Querdimensionen und zwar
= −ν ∆ℓ = ν E . Wir können das so auffassen, dass der Anteil νp der auf die Stirnfläche
p
um ∆dd ℓ
wirkenden Spannung nicht mehr vollkommen für die Längenänderung zur Verfügung steht,
da er für die Änderung der beiden Querrichtungen verbraucht wird. Insgesamt steht dann
für die Längenänderung nur noch die Spannung p − 2νp zur Verfügung und wir erhalten

∆ℓ p(1 − 2ν)
=− . (4.5.5)
ℓ E
Das gleiche gilt für die Querdimension. Die auf die beiden Seitenflächen des Quaders wir-
kende Spannung −σ = p bewirkt die relative Breitenänderung ∆d = − E . Aus der Querdeh-
p
d
= −2µ ∆d = 2µ E .
p
nung resultiert auch eine Änderung der Längsdimension und zwar um ∆ℓ ℓ d
Insgesamt steht dann für die Längenänderung nur noch die Spannung p − 2µp zur Verfü-
gung und wir erhalten

∆d p(1 − 2µ)
=− . (4.5.6)
d E
Wir betrachten nun den Fall, dass eine Spannung nur auf die Stirnfläche des Quaders wirkt
und überlegen uns, ob sich dadurch das Gesamtvolumen ändert. Da sich der Quader in
Längsrichtung verkürzt und gleichzeitig in Querrichtung ausdehnt, ist nicht direkt einsich-
tig, ob das Volumen zu- oder abnimmt. Für die Volumenänderung gilt ∆V = V − V ′ = (︀(ℓ +
162 4 Elastische Eigenschaften

∆ℓ)(d + ∆d)2 ⌋︀ − ℓd 2 ≃ 2ℓd∆d + d 2 ∆ℓ. Da ∆ℓ⇑ℓ ≪ 1 und ∆d⇑d ≪ 1, haben wir hier Terme
in 2. Ordnung vernachlässigt. Teilen wir durch V = ℓd 2 , so erhalten wir die relative Volu-
menänderung

∆V ∆ℓ 2∆d
= + (4.5.7)
V ℓ d

und mit ∆d
d
= −ν ∆ℓ

damit

∆V ∆ℓ p
= (1 − 2ν) = − (1 − 2ν) . (4.5.8)
V ℓ E
Wir sehen, dass für eine Poisson-Zahl ν = 0.5 das Volumen gerade konstant bleibt.
Für den Fall, dass von allen Seiten die gleiche Druckkraft wirkt (allseitige Kompression),
müssen wir im Vergleich zu (4.5.8) einen Faktor 3 berücksichtigen, da jetzt ja drei Normal-
spannungen wirken. Wir erhalten dann

∆V 3p
= − (1 − 2ν) . (4.5.9)
V E
Durch Vergleich mit (4.5.3) sehen wir ferner sofort, dass
1 3
= (1 − 2ν) . (4.5.10)
B E
In gleicher Weise kann gezeigt werden, dass15

E
G= . (4.5.11)
2(1 + ν)

In Tabelle 4.2 sind einige Zahlenwerte zu den elastischen Konstanten von polykristallinen
Materialien zusammengestellt.

Tabelle 4.2: Elas- Material E (1010 N/m2 ) G (1010 N/m2 ) B (1010 N/m2 ) ν
tische Konstanten
Al (rein, weich) 7.2 2.7 7.5 0.34
von polykristalli-
nen Materialien. Al (hart) 7.7 2.7 7.5 0.34
α-Eisen 21.8 8.4 17.2 0.28
Edelstahl 19.5 8.0 17.0 0.28
Federstahl (CrV) 21.2 8.0 17.0 0.28
Gold 8.1 2.8 18.0 0.42
Kupfer, weich 12.0 4.0 14.0 0.35
Blei 1.7 0.6 4.4 0.44
Silizium 10.0 3.4 32.0 0.45
Quarzglas 7.6 3.3 3.8 0.17
Marmor 7.3 2.8 6.2 0.30

15
W. Weizel, Lehrbuch der Theoretischen Physik, Bd. 1, Springer Verlag, Berlin (1969).
4.6 Elastische Wellen 163

4.5.0.1 Kubische Kristalle


Natürlich können die technischen Größen für einen kristallinen Festkörper mit den Kom-
ponenten C nm des Elastizitätstensors in Verbindung gebracht werden. Wir wollen hier ohne
Beweis die Zusammenhänge für einen kubischen Kristall angeben:

(C 11 − C 12 )(C 11 + 2C 12 )
E= (4.5.12)
C 11 + C 12
C 12
µ= (4.5.13)
C 11 + C 12
G = C 44 (4.5.14)

B = 13 (C 11 + 2C 12 ) . (4.5.15)

Im Gegensatz zu isotropen Festkörpern gilt Gleichung (4.5.11) für einen kubischen Kristall
nicht, d. h. G ist eine von E und ν unabhängige Materialkonstante. Kubische Kristalle sind
also keineswegs elastisch isotrop.

4.6 Elastische Wellen


⌈︂ es
Lenken wir ein Federpendel mit der Kraftkonstante k aus seiner Ruhelage aus und lassen
dann los, so schwingt es um seine Ruhelage mit der charakteristischen Frequenz ω = k⇑m.
Die zugehörige Differentialgleichung lautet ẍ = −(k⇑m)x. Wir können für ein eindimensio-
nales elastisches Medium eine entsprechende Differentialgleichung angeben. Da wir es mit
einem kontinuierlichen Medium zu tun haben, müssen wir die relevanten Größen pro Län-
geneinheit angeben. Mit der relativen Auslenkung u = x⇑L in x-Richtung, der Masse pro
Längeneinheit, ρ̃, und der Federkonstante pro Längeneinheit, C eff , erhalten wir die Diffe-
rentialgleichung

C eff
ü = − u. (4.6.1)
ρ̃

Wir erwarten deshalb für ein elastisches Medium in ähnlicher Weise, dass es bei entspre-
chender Anregung Schwingungen mit einer charakteristischen Frequenz
}︂
C eff
ω= (4.6.2)
ρ̃

ausführt. Die Einheit der Kraftkonstante pro Längeneinkeit, C eff , ist Kraft/Fläche und ent-
spricht daher der Einheit des Elastizitätsmoduls. Wir haben hier einen effektiven Elastizi-
tätsmodul verwendet, der von der Richtung der Schwingung relativ zu den Kristallachsen
abhängt.
164 4 Elastische Eigenschaften

4.6.1 Elastische Wellen in kubischen Kristallen


Wir betrachten der Einfachheit halber zunächst ein isotropes Medium. Um die Differential-
gleichung für eine longitudinale elastische Welle in diesem Medium abzuleiten, betrachten
wir den in Abb. 4.6 gezeigten Würfel mit Volumen ∆x∆y∆z und Dichte ρ. Auf diesen Würfel
wirkt die Spannung σx x (x) auf der einen Seite bei x und σx x (x + ∆x) auf der anderen Seite
bei x + ∆x. Die resultierende Nettokraft ist dann
∂σx x
∆Fx = (︀σx x (x + ∆x) − σx x (x)⌋︀ ∆y∆z = ∆x∆y∆z . (4.6.3)
∂x
Sie führt zu einer Verschiebung s x des betrachteten Würfels in x-Richtung. Diese Kraft müs-
sen wir dem Produkt aus Masse des Würfels, ρ∆x∆y∆z, und der Beschleunigungskompo-
nente in x-Richtung, ∂ 2 s x ⇑∂t 2 , gleichsetzen (2. Newtonsches Gesetz) und erhalten somit die
Differentialgleichung

∂ 2 s x ∂σx x
ρ = . (4.6.4)
∂t 2 ∂x
Verwenden wir ferner die Beziehung σx x = C 11 e x x = C 11 (∂s x ⇑∂x), so ergibt sich die einfache
Wellengleichung

∂2 s x ∂2 s x
ρ = C 11 . (4.6.5)
∂t 2 ∂x 2
Betrachten wir dagegen ein anisotropes Medium, so müssen wir neben der Spannungskom-
ponente σx x auch alle anderen auf das Volumenelement wirkenden Spannungskomponenten
berücksichtigen. Wir erhalten dann (i, j, k, l = x, y, z)

∂2 s i ∂σ i j ∂2 s l
ρ = ∑ = ∑ C i jk l . (4.6.6)
∂t 2 j ∂j jk l ∂ j∂k

Dieses gekoppelte Differentialgleichungssystem ist relativ komplex, kann aber für Kristalle
mit hoher Symmetrie wesentlich vereinfacht werden. Wir werden im Folgenden den Fall
kubischer Kristalle näher betrachten.

𝝈𝒙𝒙 𝒙 𝝈𝒙𝒙 𝒙 + 𝜟𝒙

𝜟𝒛
𝒚

Abb. 4.6: Zur Ableitung der Kraftkom-


ponenten in einem kubischen Kristall. 𝒙
𝜟𝒙

25
4.6 Elastische Wellen 165

4.6.1.1 Schallwellen in kubischen Kristallen


Für kubische Kristalle hat der Elastizitätstensor nur die drei Komponenten C 11 , C 12 und C 44 .
Gleichung (4.6.6) vereinfacht sich damit stark und wir erhalten für die Auslenkung in x-
Richtung (wir benutzen im Folgenden s x = u, s y = v, s z = w)

∂2 u ∂σx x ∂σx y ∂σx z


ρ 2
=( + + ). (4.6.7)
∂t ∂x ∂y ∂z

Wir können nun (4.3.8) und den Elastizitätsmodul für ein kubisches Material benutzen und
erhalten damit
∂2 u ∂e x x ∂e y y ∂e zz ∂e x y ∂e x z
ρ = C 11 + C 12 ( + ) + 2C 44 ( + ). (4.6.8)
∂t 2 ∂x ∂x ∂x ∂y ∂z

Hierbei haben wir angenommen, dass die Richtungen x, y, z parallel zu den Würfelkanten
sind. Benutzen wir weiter die durch (4.2.14) und (4.2.15) gegebenen Zusammenhänge zwi-
schen den Dehnungskoeffizienten e k l und den Ableitungen der Auslenkungen, so erhalten
wir
∂2 u ∂2 u ∂2 u ∂2 u ∂2 v ∂2 w
ρ = C 11 + C 44 ( + ) + (C 12 + C 44 ) ( + ). (4.6.9)
∂t 2 ∂x 2 ∂y 2 ∂z 2 ∂x∂y ∂x∂z

Hierbei sind u, v, w die Komponenten des Verschiebungsvektors R, der durch (4.2.11) defi-
niert ist.
Die entsprechenden Ausdrücke für ∂ 2 v⇑∂t 2 und ∂ 2 w⇑∂t 2 erhalten wir durch zyklisches Ver-
tauschen der Indizes. Sie lauten:
∂2 v ∂2 v ∂2 v ∂2 v ∂2 u ∂2 w
ρ 2
= C 11 2 + C 44 ( 2 + 2 ) + (C 12 + C 44 ) ( + ), (4.6.10)
∂t ∂y ∂x ∂z ∂x∂y ∂y∂z

∂2 w ∂2 w ∂2 w ∂2 w ∂2 u ∂2 v
ρ = C 11 + C 44 ( + ) + (C 12 + C 44 ) ( + ). (4.6.11)
∂t 2 ∂z 2 ∂x 2 ∂y 2 ∂x∂z ∂y∂z

4.6.1.2 Elastische Wellen in [100] Richtung


Longitudinale Wellen: Als Beispiel für Lösungen der Bewegungsgleichungen (4.6.9)
bis (4.6.11) betrachten wir zuerst eine longitudinale Welle

u(x, t) = u 0 exp(︀ı(kx − ωt)⌋︀ (4.6.12)

entlang der [100]-Richtung eines kubischen Kristalls, die mit der x-Achse zusammenfallen
soll. Sowohl der Wellenvektor k als auch die Auslenkung u sind parallel zur x-Achse. Setzen
wir den Lösungsansatz (4.6.12) in (4.6.9) ein, so erhalten wir
}︂
C 11
ω 2 ρ = C 11 k 2 oder ω= k. (4.6.13)
ρ
166 4 Elastische Eigenschaften

Der Zusammenhang zwischen Frequenz und Wellenvektor wird allgemein als Dispersions-
relation bezeichnet. Für den Fall der longitudinalen Welle erhalten wir also eine lineare Di-
spersionsrelation. Die Geschwindigkeit ω⇑k der longitudinalen Schallwelle in x-Richtung
ist16
}︂
ω ω C 11
vlong = = λ= . (4.6.14)
k 2π ρ
Das heißt, der effektive Elastizitätsmodul für diese Kristallrichtung ist C eff = C 11 .

Transversale Wellen: Als nächstes betrachten wir eine in x-Richtung (diese soll wieder
parallel zur [100]-Richtung sein) laufende transversale oder Scherwelle. Die Auslenkung soll
in y-Richtung erfolgen:
v(x, t) = v 0 exp(︀ı(kx − ωt)⌋︀ . (4.6.15)
Setzen wir diesen Ansatz in (4.6.10) ein, so erhalten wir
}︂
C 44
ω ρ = C 44 k oder ω =
2 2
k (4.6.16)
ρ
und für die Wellengeschwindigkeit
}︂
ω ω C 44
vtrans = = λ= . (4.6.17)
k 2π ρ
Das heißt, der effektive Elastizitätsmodul für die transversale Welle in [100]-Richtung ist
jetzt C eff = C 44 . Einen äquivalenten Ausdruck erhalten wir, wenn die Auslenkung in die z-
Richtung erfolgt. Das heißt, für die Ausbreitung entlang der [100] Richtung sind die Ge-
schwindigkeiten der beiden transversalen Wellen für ein kubisches System identisch (ver-
gleiche Tabelle 4.3).

4.6.1.3 Elastische Wellen in [110] und [111] Richtung


Für Wellen, die sich in [110] oder [111]-Richtung ausbreiten, können wir eine zum Fall der
Ausbreitung in [100]-Richtung äquivalente Diskussion durchführen. Wir wollen dies hier
nicht explizit tun, sondern nur in Tabelle 4.3 die effektiven Elastizitätsmoduln auflisten.

Tabelle 4.3: Effektive Elastizitätsmoduln für die Wellenausbreitung in [100], [110] und [111] Richtung
in kubischen Medien.

Richtung [100] [110] [111]


longitudinal L C 11 1
2
(C 11 + C 12 + 2C 44 ) 1
3
(C 11 + 2C 12 + 4C 44 )
(Kompressionswelle)
transversal T1 C 44 C 44 1
(C 11 − C 12 + C 44 )
(C 11 − C 12 )
3
(C 11 − C 12 + C 44 )
1
(Torsionswelle) T2 C 44 2
1
3

16
⌈︂
Im Gegensatz zu Gleichung (4.6.2) ist C⇑ρ jetzt eine Geschwindigkeit statt einer Frequenz. Dies
liegt daran, dass bei der obigen eindimensionalen Betrachtung ̃
ρ die Einheit Masse/Länge hatte,
im jetzigen Fall aber Masse/Volumen.
4.6 Elastische Wellen 167

Für kubische Kristalle gibt es gerade drei Moden für eine vorgegebene Amplitude und Rich-
tung des Wellenvektors k. Durch Messung der Schallgeschwindigkeiten der drei Moden las-
sen sich die drei Elastizitätsmoduln C 11 , C 12 und C 44 bestimmen. Im Allgemeinen sind die
Polarisationen dieser drei Moden nicht exakt parallel oder senkrecht zu k. Nur für die spe-
ziellen Ausbreitungsrichtungen in [100], [110] und [111] Richtung trifft dies zu. Deshalb ist
die Analyse der Wellenausbreitung für diese Richtungen wesentlich einfacher als für eine
beliebige Ausbreitungsrichtung.

4.6.2 Experimentelle Methoden


Die Messung der Schallgeschwindigkeit von elastischen Wellen in Festkörpern erfolgt üb-
licherweise durch die Bestimmung der Laufzeit von Ultraschallimpulsen (siehe Abb. 4.7).
Dabei werden planparallel geschliffene Proben mit einem Ultraschallgeber und einem Ultra-
schallempfänger versehen. Ein elektrischer Hochfrequenzimpuls von typischerweise einigen
µs Dauer regt einen piezoelektrischen Ultraschallgeber zu Schwingungen an. Entsprechend
der Schnittlage des Piezokristalls entstehen longitudinale oder transversale Schwingungen
mit Frequenzen, die üblicherweise im MHz-Bereich liegen. Dies entspricht Wellenlängen
im mm-Bereich. Man erhält dadurch ebene Wellen, die durch die Probe laufen und dort von
einem Ultraschallempfänger detektiert werden. Alternativ kann man das an der Gegenseite
der Probe reflektierte Signal detektieren. Dieses verursacht im piezoelektrischen Ultraschall-
geber wiederum ein elektrisches Signal, das leicht gemessen werden kann.
Aus den Abmessungen der Probe und den gemessenen Laufzeiten kann direkt die Schallge-
schwindigkeit für die longitudinalen und transversalen Schwingungsmoden bestimmt wer-
den. Misst man z. B. für einen kubischen Kristall die Schallgeschwindigkeit der longitudi-
nalen und der beiden transversalen Moden, so können aus diesen drei Geschwindigkeiten
die drei Komponenten des Elastizitätsmoduls bestimmt werden. Einige Zahlenwerte sind in
Tabelle 4.4 zusammengefasst.

Piezoquarz Piezoquarz
Ultraschallgeber Ultraschalldetektor

Hoch-
Oszillo-
frequenz- Probe graph
generator

Ultraschallpuls
L T1 T2
Signal

Zeit

Abb. 4.7: Ultraschallmessverfahren zur Bestimmung der Schallgeschwindigkeit. Für die longitudi-
nale (L) und die beiden transversalen Moden (T1 und T2 ) werden unterschiedliche Laufzeiten ge-
messen.
168 4 Elastische Eigenschaften

Tabelle 4.4: Komponenten C 11 , C 12 und C 44 des Elastizitätsmoduls sowie Dichte ρ von kubischen Kris-
tallen bei Raumtemperatur.

Kristall C 11 (1011 N/m2 ) C 12 (1011 N/m2 ) C 44 (1011 N/m2 ) ρ (g/cm3 )


W 5.233 2.045 1.607 19.371
Ta 2.609 1.574 0.818 16.696
Cu 1.684 1.214 0.754 9.018
Ag 1.240 0.937 0.461 10.635
Au 1.923 1.631 0.420 19.488
Al 1.068 0.607 0.282 2.733
Pb 0.495 0.423 0.149 11.599
Ni 2.508 1.500 1.235 8.968

Zusätzlich zur Laufzeit der Ultraschallimpulse kann auch deren Abschwächung gemessen
werden. Aus der Ultraschallabsorption können Informationen über Streuprozesse und De-
fekte in der Probe gewonnen werden. Dies wird heute häufig für die zerstörungsfreie Werk-
stoffprüfung ausgenutzt (z. B. Prüfung der Laufräder des ICE).

Literatur
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Infinite Crystals, Phys. Sta. Sol. 38, 335–344 (1970).
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W. Weizel, Lehrbuch der Theoretischen Physik, Bd. 1, Springer Verlag, Berlin (1969).
5 Dynamik des Kristallgitters
Im vorangegangenen Kapitel haben wir die Reaktion
des Kristallgitters auf eine von außen wirkende Kraft
diskutiert. Dabei haben wir das Gitter als ein Kon-
tinuum behandelt, dessen elastische Eigenschaften
wir mit dem Elastizitätsmodul beschrieben haben.
In diesem Kapitel wollen wir unsere Betrachtung er-
weitern und die diskrete Struktur des Kristallgitters
in unsere Betrachtungen mit einbeziehen. Wir wer-
den uns mit der Bewegung der Gitteratome um ihre Ruhelage beschäftigen, wobei wir für die
3

auf die Atome bei einer Auslenkung wirkenden Kräfte einen sehr allgemeinen Ansatz wäh-
len werden. Um die Betrachtung einfach zu halten, werden wir die so genannte adiabatische
und harmonische Näherung benutzen, die wir in Abschnitt 5.1 näher erläutern werden.
Die dynamischen Eigenschaften des Kristallgitters sind von zentraler Bedeutung für eine
Vielzahl von Festkörpereigenschaften wie zum Beispiel

∎ die spezifische Wärme, die thermische Ausdehnung und die Wärmeleitfähigkeit von Iso-
latoren,
∎ die Temperaturabhängigkeit des elektrischen Widerstands von Metallen,
∎ die Supraleitfähigkeit von Metallen,
∎ die dielektrischen Eigenschaften von ionischen Kristallen und
∎ die inelastische Licht- und Neutronenstreuung.

Die in diesem Kapitel gemachten Betrachtungen sind deshalb von grundlegender Bedeu-
tung.
Nach der Diskussion der verwendeten Näherungen in Abschnitt 5.1 werden wir in Ab-
schnitt 5.2 zunächst Gitterschwingungen im Rahmen einer klassischen Betrachtung
diskutieren. Wir werden dort den Zusammenhang zwischen Frequenz und Wellenvek-
tor (Dispersionsrelation) anhand einfacher Modellsysteme ableiten. Wir werden dann in
Abschnitt 5.4 das Konzept der quantisierten Gitterschwingungen einführen und schließlich
in Abschnitt 5.5 experimentelle Methoden zur Untersuchung der Gitterdynamik vorstellen.
172 5 Gitterdynamik

5.1 Grundlegendes
Die allgemeine Beschreibung der Schwingungen eines komplizierten Systems aus vielen Ato-
men ist sehr anspruchsvoll, so dass wir zu seiner einfachen Beschreibung Näherungen ein-
führen müssen. Wir werden im Folgenden im Wesentlichen zwei wichtige Näherungen be-
nutzen, nämlich

∎ die adiabatische Näherung,1 die von Max Born2 und Julius Robert Oppenheimer3 ein-
geführt wurde, und
∎ die harmonische Näherung.

Wir wollen diese Näherungen und ihre physikalische Motivation in den folgenden Abschnit-
ten besprechen.

5.1.1 Die adiabatische Näherung


Generell müssen wir Festkörper genauso wie Atome, Moleküle und andere Formen kon-
densierter Materie im Rahmen einer Quantentheorie beschreiben. Dies schließt nicht aus,
dass manche Eigenschaften mit der klassischen Mechanik bzw. Statistik qualitativ, bisweilen
sogar quantitativ beschreibbar sind. Da wir bei der Diskussion der Bindungskräfte (siehe ko-
valente Bindung in Abschnitt 3.4) gesehen haben, dass selbst die Stabilität der Materie erst
durch Quanteneffekte bewirkt wird, ist die Quantentheorie notwendiger Ausgangspunkt ei-
ner umfassenden Theorie der Festkörper. Man wird sich dann gegebenenfalls klarmachen,
warum manchmal klassische Überlegungen ausreichen.
Wie in der Atomphysik, und anders als etwa in der Kernphysik, sind wir in der Festkörper-
physik in der zunächst glücklichen Lage, den Hamilton-Operator, der die Dynamik und die
Statistik des Systems bestimmt, genau zu kennen. Jeder Festkörper besteht aus Elektronen
der Masse m und der Ladung −e sowie aus Kernen der Masse M und der Ladung Ze. Die
Wechselwirkung zwischen diesen Teilchen ist rein elektromagnetisch. Der weit überwiegen-
de Anteil dieser Wechselwirkung ist die Coulomb-Wechselwirkung. Andere Anteile – etwa
die Spin-Bahn-Wechselwirkung – müssen gelegentlich für eine quantitative Beschreibung
hinzugefügt werden. Wenn wir der Einfachheit halber solche relativistischen Korrekturen
ignorieren, lautet der Hamilton-Operator

P2k p2 e2 Z2 e2 Ze 2
ℋ=∑ +∑ i +∑ +∑ −∑ .
k 2M i 2m i< j 4πє 0 ⋃︀r i − r j ⋃︀ k<l 4πє 0 ⋃︀R k − R l ⋃︀ i,k 4πє 0 ⋃︀r i − R k ⋃︀
(5.1.1)

1
M. Born, R. Oppenheimer, Zur Quantentheorie der Molekeln, Ann. Phys. (Leipzig) 84, 457 (1927).
2
Max Born, siehe Kasten auf Seite 173.
3
Julius Robert Oppenheimer, geboren am 22. April 1904 in New York, gestorben am 18. Februar
1967 in Princeton, New Jersey.
5.1 Grundlegendes 173

Max Born (1882–1970), Nobelpreis für Physik 1954


Max Born wurde am 11. 12. 1882 in Breslau geboren. Nach
Studium in Breslau, Heidelberg und Zürich wechselte er 1904
nach Göttingen. Dort ergaben sich sofort enge Beziehungen
zu Hilbert und Minkowski. Als Physiker wurde sein Vorbild
Albert Einstein, mit dem er seit etwa 1914 befreundet war.
Nach Einsteins Ansatz von 1907 begründete Born zusammen
mit Theodore von Karman (gleichzeitig mit und unabhängig
von Peter Debye) die Quantentheorie der spezifischen Wär-
me. Die ebenfalls 1912 erfolgte Entdeckung der Röntgeninter-
ferenzen durch Max von Laue lieferte dabei ein nachträgliches
Argument für Borns Methode. Quelle: Wikimedia Commons.
Born arbeitete nun daran, eine einheitliche Kristallphysik auf
atomistischer Grundlage aufzubauen. In seinem Buch „Dynamik der Kristallgitter“ (1915)
und in einem Artikel in der Mathematischen Enzyklopädie, der als selbstständige Mono-
graphie unter dem Titel „Atomtheorie des festen Zustandes“ 1923 erschien, fasste er das
Gebiet der Gitterdynamik in einheitlicher zusammen und legte damit einen der Grundstei-
ne für die Festkörperphysik. Im Jahr 1921 wurde Born auf den Lehrstuhl des II. Physikali-
schen Instituts in Göttingen berufen. Angeregt von den „Bohr-Festspielen“, einem großen
Vortragszyklus von Niels Bohr in Göttingen 1922, beteiligte sich auch Born an der Suche
nach einer neuen Atomtheorie. Einige Ergebnisse seiner Kristallphysik hatten ihn schon
länger überzeugt, dass das Bohrsche Atommodell nur einen begrenzten Wert besitzt. 1925
formulierte Werner Heisenberg (damals 24-jähriger Assistent Borns) einen Ansatz, an den
anknüpfend Max Born in Zusammenarbeit mit Pascual Jordan und Werner Heisenberg
eine geschlossene mathematische Theorie der Quantenmechanik entwickeln konnte. Im
Jahr 1926 konnte Born seine Vermutung, dass die neue Quantentheorie eine statistische Be-
schreibung der Natur beinhaltet, am Beispiel der Stoßvorgänge beweisen. Diese Leistung
trug wesentlich zur „Kopenhagener Deutung“ bei. Um Born versammelten sich in Göt-
tingen hervorragende Schüler und Mitarbeiter aus der ganzen Welt. Zum Göttinger Kreis
gehörten unter anderen: Max Delbrück, Maria Göppert-Mayer, Werner Heisenberg, John
von Neumann, J. Robert Oppenheimer, Wolfgang Pauli, Edward Teller, Victor F. Weißkopf
und Eugen P. Wigner.
Im Jahr 1933 wurde Born in die Emigration gezwungen. Er ging nach Cambridge, dann
nach Edinburgh, wo er nochmals 17 Jahre lehrte. Nach seiner Emeritierung 1953 kehrte er
wieder nach Deutschland zurück und lebte zuletzt zurückgezogen in Bad Pyrmont. Er hat
ein gewaltiges Lebenswerk hinterlassen: Zwanzig wissenschaftliche und wissenschaftsphi-
losophische Bücher, über 300 Aufsätze in Fachzeitschriften, die von ihm allein stammen
oder in Zusammenarbeit mit Schülern und Freunden entstanden sind. Er blieb bis ins hohe
Alter aktiv tätig. Als sein Name durch die Verleihung des Nobelpreises 1954 weiten Krei-
sen bekannt geworden war, trug er engagiert dazu bei, auf die Gefahren des Atomzeitalters
aufmerksam zu machen. Später verfasste er aus der Erinnerung zahlreiche historische Auf-
sätze und gab seinen Briefwechsel mit Albert Einstein heraus.
Max Born starb am 5. Januar 1970 in Göttingen.
174 5 Gitterdynamik

Dabei bezeichnen wir die Orte und Impulse der Elektronen durch kleine Buchstaben r und p,
die der Kerne durch große Buchstaben R und P. Um den Einfluss der verschiedenen auftre-
tenden Naturkonstanten ħ, e, m, und M überblicken zu können, gehen wir zu atomaren
Einheiten über. Wir messen alle Längen in Bohrschen Radien a B = 4πє 0 ħ 2 ⇑me 2 = 0.529 Å
und alle Energien in Einheiten der zweifachen Rydberg-Energie 2E H = me 4 ⇑(4πє 0 )2 ħ 2 =
27.2 eV (vergleiche (3.1.5) und (3.1.6)). Wir ersetzen damit r durch r⇑a B , R durch R⇑a B und
ℋ durch ℋ⇑2E H und erhalten den Hamilton-Operator in normierten Größen

1 m 1 1 Z2 Z
ℋ = − ∑ ∇2k − ∑ ∇2i + ∑ +∑ −∑ . (5.1.2)
2 k M 2 i i< j ⋃︀r i − r j ⋃︀ k<l ⋃︀R k − R l ⋃︀ i,k ⋃︀r i − R k ⋃︀

Die einzigen Parameter, die sich durch die Skalentransformation nicht eliminieren lassen
und von denen die Eigenschaften der Materie nicht-trivial abhängen, sind also die Kernla-
dungszahlen Z und die Massenverhältnisse m⇑M.
Für unsere weitere Diskussion ist entscheidend, dass die Massenverhältnisse m⇑M sehr klein
sind (zwischen 1⇑1836 und etwa 1⇑500 000). Deshalb bieten sich diese als Entwicklungs-
parameter an. Wir können den Hamilton-Operator in einen ungestörten, adiabatischen Ha-
milton-Operator

1 1 Z2 Z
ℋa = − ∑ ∇2i + ∑ +∑ −∑ (5.1.3)
2 i ⋃︀r
i< j i − r j ⋃︀ k<l ⋃︀R k − R l ⋃︀ i,k ⋃︀r i − R k ⋃︀

und die kinetische Energie der Kerne als Störung


1 m
𝒯 = − ∑ ∇2k (5.1.4)
2 k M

aufspalten, so dass

ℋ = ℋa + 𝒯 . (5.1.5)

In der kinetischen Energie der Kerne 𝒯 sind die Kernpositionen nicht mehr enthalten.4 Um
zu klären, wie sich der Einfluss der kleinen Störung 𝒯 für Systeme bemerkbar macht, die
sich in der Nähe der Gleichgewichtskonfiguration befinden, stellen wir eine einfache klas-
sische Überlegung an.5 Hierzu vergleichen wir die Beschleunigungen, die auf Elektronen
und Kerne wirken. Wegen des Reaktionsprinzips sind die Kräfte, die Elektronen und Ker-
ne aufeinander ausüben, entgegengesetzt gleich und wir können die qualitative Beziehung
M R̈ ≃ mr̈ aufstellen. Wir erkennen sofort, dass die schweren Kerne sich viel langsamer als
die leichten Elektronen bewegen. Aus dieser Einsicht ergibt sich die Idee der adiabatischen
4
Die Tatsache, dass die Kernorte in 0-ter Ordnung bezüglich der Störung 𝒯 Erhaltungsgrößen sind,
erklärt, weshalb Materie bei tiefen Temperaturen eine räumliche Struktur hat, d. h. wieso Kerne in
Festkörpern feste Relativpositionen einnehmen.
5
Um über diese klassische Betrachtung hinaus eine Aussage über die Größe der quantenmecha-
nisch bedingten Auslenkungen machen zu können, müssen wir die Quantenmechanik des har-
monischen Oszillators benutzen. Wir wissen, dass die Nullpunktsenergie ħω⇑2 sich zu gleichen
Teilen aus einem kinetischen Anteil ∝ P2 und einem potenziellen Anteil ∝ (R − R0 )2 zusam-
mensetzt und dass beide Anteile proportional zur Frequenz sind. Daraus lesen wir das folgende
5.1 Grundlegendes 175

Näherung: Wir nehmen an, dass sich die schnellen Elektronen der langsamen Bewegung
der Kerne zu jedem Zeitpunkt adiabatisch anpassen können, so dass sie (in guter Näherung)
immer in dem mit ℋa bestimmten Grundzustand bleiben. Daraus folgt eine beträchtliche
Vereinfachung der Beschreibung, weil die Bewegungen der Elektronen und der Kerne ent-
koppelt werden.6
Bei Auslenkung aus seiner Ruhelage R0 erfährt ein Kern eine rücktreibende Kraft, die in
atomaren Einheiten in harmonischer Näherung durch die klassische Bewegungsgleichung
M
m
R̈ ∝ (R − R0 ) beschrieben wird. Daher skalieren die Frequenzen ω der Kernbewegung
mit dem Massenverhältnis wie
{︂
m
ω∝ . (5.1.6)
M
Die Kernbewegung ist also um mehrere Größenordnungen langsamer als die Elektronen-
bewegung. Wir können deshalb die Energie des elektronischen Systems separat als Funkti-
on der Kernposition berechnen. Die Gesamtenergie des Systems als Funktion der Auslen-
kung ∆R aus der Ruhelage der Ionen erhalten wir dann entsprechend (5.1.5) als Summe der
potenziellen Energie des Elektronensystems U el und der kinetischen Energie der Kerne Tion
zu
P2
E tot = U el + Tion = U el + . (5.1.7)
2M
Der Nutzen der adiabatischen Näherung ist evident: Wir können die potenzielle Energie der
Elektronen für jede Konfiguration der Ionen im Verlauf ihrer Bewegung um die Ruhelage
berechnen. Sie entspricht gerade derjenigen Energie, die wir für die entsprechende statische
Anordnung der Ionen erhalten würden. Als Beispiel ist in Abb. 5.1 die Variation von U el als
Funktion des Atomabstands für die Van der Waals Wechselwirkung von zwei Atomen ge-
zeigt. Falls sich die Atome gegeneinander bewegen, können wir mit Hilfe der adiabatischen
Näherung aus der U el (R)-Kurve für jeden momentanen Abstand der Atome die potenzi-
elle Energie angeben. Wir sehen sofort, dass bei einer Abweichungen der Atome von ih-
rem Gleichgewichtsabstand R 0 auf die Atome eine Rückstellkraft proportional zu −dU el ⇑dR
wirkt.
Skalierungsverhalten für die quantenmechanischen Nullpunktsschwankungen ab:
m 1⇑4
∆R ∝ ( )
M
m −1⇑4
P∝( )
M
m 3⇑4
Ṙ ∝ ( ) .
M
Wir haben damit das Skalierungsverhalten der quantenmechanischen Nullpunktsbewegung der
Kerne in dem Entwicklungsparameter m⇑M gewonnen. Interessant ist, dass die Ortsunschärfe der
Kerne nur proportional zur vierten Wurzel aus m⇑M klein ist. Dies macht verständlich, warum die
Nullpunktsschwingungen in besonderen Fällen die Ausbildung einer räumlichen Struktur verhin-
dern können (z. B. beim Helium).
6
Die adiabatische Näherung wurde mit dem gleichen Argument auch bei der Berechnung der Ener-
gie-Abstandskurve bei der kovalenten Bindung zwischen zwei Atomen verwendet, vergleiche Ab-
schnitt 3.4.
176 5 Gitterdynamik

0.01

Uel (eV)
𝜟𝑹 = 𝑹 − 𝑹𝟎
harmonische
0.00
Näherung
Abb. 5.1: Zur adiabatischen und harmo-
nischen Näherung. Gezeigt ist die Po- 𝑹𝟎
tenzialkurve für eine Van-der-Waals- -0.01
Wechselwirkung von zwei Atomen
(durchgezogene Linie) und die harmo- 1.0 1.2 1.4 1.6 1.8
nische Näherung (gestrichelte Linie). R / 
6

5.1.2 Die harmonische Näherung


Der Verlauf der Potenzialkurve U el (R) kann recht kompliziert sein. Wir wollen zu einer
weiteren Vereinfachung der Beschreibung das Potenzial um die Ruhelage (R = R0 bzw. ∆R =
0) der Atome durch ein harmonisches Potenzial annähern (siehe Abb. 5.1).
Die Position eines Atoms in einer Gitterzelle n können wir nach Abb. 5.2 durch

rnα = Rn + rα + unα (5.1.8)

beschreiben. Hierbei gibt Rn = n 1 a1 + n 2 a2 + n 3 a3 den n-ten Punkt des Bravais-Gitters,


rα die Gleichgewichtsposition des α-ten Atoms in der n-ten Gitterzelle und unα die Aus-
lenkung des α-ten Atoms in der n-ten Gitterzelle aus dieser Gleichgewichtsposition an. In
Kapitel 3 haben wir das Paarwechselwirkungspotenzial ϕ für verschiedene Bindungstypen
abgeleitet. Die gesamte potenzielle Energie erhielten wir immer durch Aufsummieren der
Paarwechselwirkung über alle Atom- bzw. Ionenpaare im betrachteten Festkörper:

U el = 2 ∑
1
ϕ(rnα − rmβ ) = 2 ∑
1
ϕ(Rn − Rm + rα − r β + unα − umβ ) . (5.1.9)
n,m,α,β; n,m,α,β;
nα≠mβ nα≠mβ

Im Rahmen der harmonischen Näherung werden wir dieses Potenzial um die Ruhelage der
Atome als harmonisches Potenzial annähern. Diese Näherung ist immer dann gut, wenn wir
nur kleine Auslenkungen aus der Ruhelage betrachten. Wir wollen hier sofort anmerken,

n-te Einheitszelle

Abb. 5.2: Zur Indizierung bei der Be- 𝒖𝒏𝜶


zeichnung der Atompositionen. Rn gibt
die Position der n-ten Gitterzelle, rα die 𝒓𝜶
Position der α-ten Atoms in der Git-
terzelle und unα die Auslenkung des
(0,0,0)
α-ten Atoms in der n-ten Gitterzelle an.

𝑅𝑛 : Position des 𝑛 −ten Punkts in Bravais-Gitter


𝑟𝛼 : Gleichgewichtsposition des 𝛼 −ten Atoms in der Gitterzelle
𝑟𝑛𝛼 : Position des 𝛼 −ten Atoms in 𝑛 −ter Gitterzelle
5.1 Grundlegendes 177

dass bei Raumtemperatur die Auslenkung u durchaus 10% der Gitterkonstanten a betragen
kann (siehe Abschnitt 2.2.7). Wir erwarten deshalb bei Raumtemperatur Abweichungen von
den mit der harmonischen Näherung erhaltenen Ergebnissen, die wir später noch diskutie-
ren werden. Effekte, die nur durch Einbeziehung von Abweichungen vom harmonischen
Potenzial erklärt werden können, bezeichnen wir als anharmonische Effekte.
Die zu (5.1.9) gehörende harmonische Näherung erhalten wir durch eine Taylor-Entwick-
lung des Potenzials um seine Ruhelage:7

U el = 2 ∑
1
ϕ(r0nα − r0mβ ) + 2 ∑
1
(unα − umβ ) ∇ϕ(r0nα − r0mβ )
n,m,α,β; n,m,α,β
nα≠mβ
2
+ 4 ∑
1
)︀(unα − umβ ) ⋅ ∇⌈︀ ϕ(r0nα − r0mβ ) + . . . . (5.1.10)
n,m,α,β

Hierbei ist r0nα − r0mβ = Rn − Rm + rα − r β der Gleichgewichtsabstand der Atome α und β


in den Gitterzellen n und m. Der erste Term in diesem Ausdruck ist nichts anderes als die
Gleichgewichtsenergie, die uns hier nicht interessiert und die wir durch Verschieben unseres
Energienullpunkts gleich null setzen können. Der in (unα − umβ ) lineare Term verschwin-
det. Durch Umformen können wir nämlich schreiben
∑ (unα − umβ )∇ϕ(rnα − rmβ )
0 0

n,m,α,β

= ∑ unα ∑ ∇ϕ(r0nα − r0mβ ) − ∑ umβ ∑ ∇ϕ(r0nα − r0mβ ) . (5.1.11)


n,α m,β m,β n,α

Wir sehen, dass dieser Ausdruck verschwindet, da

∑ ∇ϕ(rnα − rmβ ) = ∑ ∇ϕ(rnα − rmβ ) = 0 .


0 0 0 0
(5.1.12)
n,α m,β

Dies muss so sein, da in diesem Ausdruck über alle Kräfte aufsummiert wird, die alle
Atome auf ein bestimmtes Atom ausüben. Diese Kraft muss für den Gleichgewichtszu-
stand rnα = r0nα gerade verschwinden. Brechen wir die Taylor-Entwicklung nach dem in
(unα − umβ ) quadratischen Term ab, erhalten wir unser harmonisches Potenzial zu

2
U elharm = U 0 + 4 ∑
1
)︀(unα − umβ ) ⋅ ∇⌈︀ ϕ (r0nα − r0mβ ) . (5.1.13)
n,m,α,β

Die Konstante U 0 ist für die weitere Diskussion ohne Bedeutung und wird weggelassen.
Die 2. Ableitungen des Potenzials an der Gleichgewichtsposition

∂ 2 U elharm
C nα i =
mβ j
(5.1.14)
∂r nα i ∂r mβ j

bezeichnen wir als Kopplungskonstanten. Sie haben die Dimensionen von Federkonstanten
und stellen eine Verallgemeinerung der Federkonstante eines harmonischen Oszillators auf
7
Es gilt f (r + a) = f (r) + a∇ f (r) + 12 (∇ ⋅ a)2 f (r) + . . .
178 5 Gitterdynamik

Gitterzelle n

𝒓𝜶
Gitterzelle m

𝒓𝜷 𝒖𝒎𝜷

(0,0)

Abb. 5.3: Zweidimensionales Gitter mit zweiatomiger Basis. Die Auslenkung des Atoms β in der Git-
terzelle m um umβ resultiert über das Federnetzwerk in einer Kraft Fnα auf das Atom α in der Git-

terzelle n. Die Größe der Kraft wird durch die Kopplungskonstanten C nα bestimmt. Zur Berechnung
der effektiven Gesamtkraft auf das Atom α in der Zelle n muss über alle Kraftkomponenten durch die
Kraft auf Atom a in Zelle n in Richtung i durch
Auslenkungen der Atome in allen anderen Gitterzellen
Auslenkung aufsummiert
von Atom b inwerden.
Zelle m in Richtung j

ein System mit vielen Freiheitsgraden dar. Die Indizes i, j = x, y, z geben hierbei die Kom-
ponenten der Vektoren in x, y und z-Richtung an. Die Größe

Fnα i = −C nα i u mβ j
mβ j
(5.1.15) 9

gibt uns die Kraft auf das Atom α in der Einheitszelle n in Richtung i an, die durch die
Auslenkung des Atoms β in der Gitterzelle m in Richtung j verursacht wird. Die Situation
ist in Abb. 5.3 veranschaulicht.
Die Kopplungskonstanten müssen eine Reihe von Bedingungen erfüllen, die aus der Isotro-
pie des Raumes sowie der Translationsinvarianz und der Punktsymmetriegruppe des Gitters
folgen. Ohne die Diskussion vertiefen zu wollen, weisen wir darauf hin, dass die Translati-
mβ j
onsinvarianz des Gitters erfordert, dass die Größe C nα i nur von der Differenz zwischen m
und n abhängt:
(m−n)β j
C nα i = C 0α i
mβ j
. (5.1.16)

5.2 Klassische Theorie


5.2.1 Bewegungsgleichungen
Wir verwenden nun die Gesetze der klassischen Mechanik, um mit Hilfe des Potenzi-
als (5.1.13) den Zusammenhang zwischen Schwingungsfrequenz und Wellenvektor der
Gitterschwingungen abzuleiten. Für die Auslenkung u eines Atoms α in der Gitterzelle n in
Richtung i muss nach Newton die Summe der Kopplungskräfte und Trägheitskräfte gleich
5.2 Klassische Theorie 179

null ergeben:
∂ 2 u nα i
+ ∑ C nα i u mβ j = 0 .
mβ j
Mα (5.2.1)
∂t 2 m,β, j

Haben wir in unserem Festkörper N Einheitszellen mit r ′ Atomen vorliegen, so erhalten wir
r = 3N ′ = 3r ′ N Differentialgleichungen, welche die Bewegung der Atome beschreiben. Die
Lösung dieses Differentialgleichungssystems scheint wegen der Größe von N eine unlösbare
Aufgabe darzustellen. Glücklicherweise können wir für periodische Strukturen einen Ansatz
wählen, der zu einer weitgehenden Entkopplung führt. Der Ansatz beinhaltet, dass wir die
Auslenkungen u nα i als ebene Wellen hinsichtlich der Zellkoordinaten schreiben:
1
u nα i = ⌋︂ A α i (q)e ı(q⋅R n −ωt) . (5.2.2)

Im Gegensatz zu normalen ebenen Wellen ist diese Welle nur an den Gitterpunkten Rn de-
finiert. Setzen wir den Ansatz in (5.2.1) ein, so erhalten wir
1 mβ j ıq⋅(R m −R n )
−ω 2 A α i (q) + ∑ ∑ ⌈︂ C e A β j (q) = 0 . (5.2.3)
β, j m M α M β nα i
Aufgrund der Translationsinvarianz hängen die Terme in der Summe nur von m − n ab.
Führen wir die Summation über m aus, so erhalten wir die Größe
1
D α i (q) = ∑ ⌈︂ C nα i e ıq⋅(R m −R n ) ,
βj mβ j
(5.2.4)
m Mα Mβ
die unabhängig von n ist. Dies rechtfertigt die Tatsache, dass wir in obigem Ansatz die Am-
plituden ohne den Index n geschrieben haben. Die Größen D α i (q) bilden die so genannte
βj

dynamische Matrix. Das Gleichungssystem

−ω 2 A α i (q) + ∑ D α i (q) A β j (q) = 0


βj
(5.2.5)
β, j

stellt ein lineares homogenes Gleichungssystem der Ordnung r = 3r ′ dar. Falls wir nur eine
einatomige Basis haben, ist r ′ = 1 und wir haben für jeden Wellenvektor q nur ein System
von 3 Gleichungen zu lösen. Die Vereinfachung, die wir durch die Translationsinvarianz
erhalten haben, ist also riesig.
Aus der Mathematik ist uns bekannt, dass ein homogenes, lineares Gleichungssystem nur
dann nicht-triviale Lösungen besitzt, wenn die Koeffizientendeterminante

det {D α i (q) − ω 2 1} = 0
βj
(5.2.6)

verschwindet. Diese Gleichung hat genau r = 3r ′ Lösungen ω(q) für jeden Wellenvektor q.
Die Abhängigkeit ω(q) nennen wir Dispersionsrelation. Die r unterschiedlichen Lösungen
bezeichnen wir als Zweige der Dispersionsrelation.
Wir schließen unsere allgemeine Diskussion hier ab und die bisherigen Ergebnisse dazu, die
Dispersionsrelation für einige einfache Beispiele abzuleiten.
180 5 Gitterdynamik

5.2.2 Kristallgitter mit einatomiger Basis


5.2.2.1 Longitudinale Gitterschwingungen
Wir wollen unsere allgemeine Diskussion jetzt anwenden, um die Dispersionrelation eines
Kristallgitters mit einer einatomigen Basis herzuleiten. Dabei untersuchen wir den einfa-
chen Fall, dass sich die Netzebenen eines Kristalls in Richtung ihrer Normalen zueinan-
der verschieben (longitudinale Schwingung, siehe Abb. 5.4a). Bei Ausbreitung der Welle
in eine Kristallrichtung hoher Symmetrie (z. B. [100]-Richtung) wird die Situation beson-
ders einfach. Dies können wir uns anhand von Abb. 5.4a klar machen. Lenken wir die Ato-
me einer bestimmten Netzebene horizontal aus, so wirken auf die Atome der benachbarten
Netzebenen Kräfte, die generell sowohl eine horizontale als auch eine vertikale Komponen-
te haben. Aus Symmetriegründen kompensieren sich aber gerade alle vertikal wirkenden
Kräfte und es bleiben nur die horizontalen Komponenten übrig. Das heißt, die resultierende
Kraft wirkt ausschließlich in Ausbreitungsrichtung. Wir haben es dadurch mit einer Wellen-
ausbreitung mit rein longitudinalem Charakter zu tun, wodurch wir es effektiv mit einem
eindimensionalen Problem zu tun haben.8 Die Auslenkung der durch den Index n gekenn-
zeichneten Gitterebene ist u n , sie lässt sich also durch eine einzige Koordinate beschreiben.
Eine völlig analoge Überlegung können wir für den Fall einer transversalen Welle machen.
Lenken wir die Atome einer Netzebene in vertikaler Richtung aus, so kompensieren sich ge-
rade alle horizontalen Kraftkomponenten und es bleiben nur die vertikal wirkenden Kompo-
nenten übrig. Bei einer Wellenausbreitung in eine beliebige Richtung wird die Behandlung
schwieriger. In diesem Fall sind die wirkenden Kräfte nicht mehr rein parallel oder senkrecht
zur Ausbreitungsrichtung, wodurch die resultierende Wellenausbreitung einen gemischten
longitudinalen und transversalen Charakter hat. Wir sprechen dann von einer gemischten
Polarisation der Wellen. Wir werden im Folgenden aber nur den einfachen Fall einer rein
longitudinalen Wellenausbreitung betrachten.

(a) (b)

𝒖𝒏−𝟐 𝒖𝒏−𝟏 𝒖𝒏 𝒖𝒏+𝟏 𝒖𝒏+𝟐 𝒖𝒏+𝟑𝟐


𝒖𝒏−𝟐 𝒖𝒏−𝟏 𝒖𝒏 𝒖𝒏+𝟏 𝒖𝒏+𝟐 𝒖𝒏+𝟑

𝒏−𝟐 𝒏−𝟏 𝒏 𝒏+𝟏 𝒏+𝟐 𝒏+𝟑 𝒏−𝟐 𝒏−𝟏 𝒏 𝒏+𝟏 𝒏+𝟐 𝒏+𝟑

Abb. 5.4: Schematische Darstellung der Auslenkung der Netzebenen bei einer longitudinalen (a) und
transversalen Gitterschwingung (b). Die gestrichelten Linien geben die Gleichgewichtslage, die Pfeile
die Auslenkung an.

8
Die Problemstellung ist zu der einer einatomigen Kette äquivalent.
10
5.2 Klassische Theorie 181

Wir betrachten zunächst die Kraft, die auf ein Atom in der Netzebene n durch die Netz-
ebene mit Index n + p ausgeübt wird. Sie ist in harmonischer Näherung proportional
zu (u n+p − u n ). Die Kraft, die insgesamt auf ein Atom der Netzebene n einwirkt beträgt
dann

Fn = ∑ C p (u n+p − u n ) . (5.2.7)
p

Hierbei haben wir die Kopplungskonstante C nm zwischen den Netzebenen n und m durch C p
mit p = m − n ersetzt (p durchläuft alle positiven und negativen ganzen Zahlen). Dies kön-
nen wir tun, da die Kopplung nur vom Abstand der Netzebenen abhängt. Setzen wir diese
Kraft der Trägheitskraft gleich, erhalten wir die Bewegungsgleichung

∂2 u n
M − ∑ C p (u n+p − u n ) = 0 . (5.2.8)
∂t 2 p

Als Lösungsansatz wählen wir

u n+p = Ae ı(q pa−ωt) , (5.2.9)

wobei q die Wellenzahl und ω die Frequenz der fortschreitenden Welle ist und a der Netz-
ebenenabstand. Setzen wir diesen Ansatz in (5.2.8) ein, so erhalten wir

−ω 2 MAe−ı ωt − ∑ C p (Ae ı q pa e−ı ωt − Ae−ı ωt ) = 0


p

−ω 2 M − ∑ C p (e ı q pa − 1) = 0 . (5.2.10)
p

Da aus Symmetriegründen C−p = C p gelten muss, können wir diesen Ausdruck zu


∞ ∞
−ω 2 M = ∑ C p (e ı q pa + e−ı q pa − 2) = 2 ∑ C p )︀cos(qpa) − 1⌈︀ (5.2.11)
p=1 p=1

umschreiben und erhalten schließlich die Dispersionsrelation

2 ∞
ω2 = ∑ C p (1 − cos qpa) . (5.2.12)
M p=1

Berücksichtigen wir nur die Wechselwirkung der Gitteratome mit ihren unmittelbaren
Nachbarn, so ist nur C 1 ≠ 0 und wir erhalten

2C 1 4C 1 qa
ω2 = (1 − cos qa) = sin2 . (5.2.13)
M M 2
Die Dispersionsrelation (5.2.13) ist in Abb. 5.5 gezeigt. Die Dispersionsrelation ist erstens
periodisch, ω(q) = ω(q + n 2π⇑a) und ist zweitens invariant gegenüber dem Vorzeichen des
Wellenvektors, ω(q) = ω(−q). Hierbei entspricht die Periode n 2π⇑a gerade der Länge eines
reziproken Gittervektors G. Eine Deutung dieser Eigenschaften erfolgt weiter unten bei der
Diskussion der Bedeutung der 1. Brillouin-Zone.
182 5 Gitterdynamik

1.0 1. Brillouin-Zone

/ (4C1/M)1/2
0.8

0.6

0.4

0.2

Abb. 5.5: Dispersionsrelation 0.0


der Gitterschwingungen für ein -1.0 -0.5 0.0 0.5 1.0 1.5 2.0
Kristallgitter mit einatomiger Basis. qa / 11

5.2.2.2 Gruppengeschwindigkeit
Wir wollen als erstes die Ausbreitungsgeschwindigkeit der Gitterschwingungen diskutieren.
Ganz allgemein ist die Ausbreitungsgeschwindigkeit eines Wellenpakets durch die Gruppen-
geschwindigkeit

vg = ∇q ω(q) (5.2.14)

gegeben. Aus der Dispersionsrelation (5.2.13) ergibt sich deshalb


}︂
C1 a2 1
vg = cos qa . (5.2.15)
M 2

Grenzfälle: Wir wollen nun einige Grenzfälle der Dispersionsrelation (5.2.13) diskutieren:

1. Rand der 1. Brillouin-Zone: q = π⇑a:


Die Gruppengeschwindigkeit verschwindet am Rand der 1. Brillouin-Zone. Wir haben
⌈︂ hier mit einer stehenden Welle zu tun. Die maximale Schwingungsfrequenz ist ω max =
es
4C 1 ⇑M.
2. Langwelliger Grenzfall: q ≪ 1⇑a bzw. λ ≫ a:
Für q ≪ 1⇑a, d. h. für große Wellenlängen λ = 2π⇑q ≫ a können wir den Sinus durch
sein Argument annähern und wir erhalten
}︂
C1 a2
ω= q. (5.2.16)
M
⌈︂
Wir erhalten also eine lineare Dispersionsrelation ω =v long q mit v g =v long = C 1 a 2 ⇑M =
const. Den Grenzfall λ ≫ a haben wir bereits in Kapitel 4 ausführlich behandelt. In
diesem Grenzfall dürfen wir das Kristallgitter als ein Kontinuum annähern und der
Ausdruck für die Gruppengeschwindigkeit liefert gerade die Ausbreitungsgeschwindig-
5.2 Klassische Theorie 183

keit v long einer longitudinalen Schallwelle in dem betreffenden Festkörper. Die Wel-
lengleichung für Schallwellen können wir ableiten, indem wir die Auslenkungen u n (t)
im langwelligen Limes durch kontinuierliche Funktionen einer reellen Variablen x
auffassen:

u n (t) → u(x, t) , u n±p (t) → u(x ± pa, t) . (5.2.17)

Eine Taylor-Entwicklung ergibt

∂u(x, t) p2 a 2 ∂ 2 u(x, t)
u n±p (t) = u(x ± pa, t) = u(x, t) ± pa + ±...
∂x 2! ∂x 2
(5.2.18)

und durch Einsetzen in die Kraftgleichung (5.2.8) erhalten wir, wenn wir nur Wechsel-
wirkungen zwischen nächsten Nachbarn berücksichtigen, im langwelligen Grenzfall die
eindimensionale Wellengleichung

∂ 2 u(x, t) C 1 a 2 ∂ 2 u(x, t) 2
2 ∂ u(x, t)
= = v s . (5.2.19)
∂t 2 M ∂x 2 ∂x 2
Diese Gleichung entspricht der Wellengleichung (4.6.9), die wir in Abschnitt 4.6 aus ei-
ner kontinuumsmechanischen Betrachtung hergeleitet haben, wobei wir für das hier be-
trachtete eindimensionale System in (4.6.9) alle Terme weglassen können, in denen die
elastischen Konstanten C 12 und C 44 auftreten. Die Größen C 1 ⇑a und M⇑a 3 in (5.2.19)
entsprechen dem Elastizitätsmodul C 11 und der Massendichte ρ in (4.6.9).
Die Tatsache, dass ω ∝ q für qa ≪ 1, folgt unmittelbar auch aus (5.2.12), gilt also nicht
nur für die Näherung, in der wir nur nächste Nachbarwechselwirkungen berücksichti-
gen. Zwar hat dann die Proportionalitätskonstante einen anderen Wert, aber der lineare
Zusammenhang zwischen ω und q ist unabhängig davon, ob wir nur die Wechselwir-
kung zwischen unmittelbar benachbarten Netzebenen berücksichtigen oder auch den
Effekt von weiter entfernten Netzebenen mit einschließen.

Mit

ω max ⧸︂ ⟩ 4C 1 ⇑M = 2
= ⧸︂ (5.2.20)
v long C 1 a 2 ⇑M a

erhalten wir mit a ∼ 2 Å und v long ∼ 4000 m⇑s die maximale Schwingungsfrequenz zu ∼ 4 ×
1013 s−1 .

5.2.2.3 Die erste Brillouin-Zone


Wir wollen uns nun überlegen, welcher Bereich der Wellenvektoren q überhaupt physika-
lisch sinnvoll ist. Wir sehen, dass die Dispersionsrelation ω(q) periodisch in q mit einer Pe-
riode q = 2π⇑a ist. Das heißt, die Periodenlänge im reziproken Raum entspricht gerade der
minimalen Länge eines reziproken Gittervektors. Dies gilt nicht nur für unseren speziellen
Fall, sondern ganz allgemein. Gleichung (5.2.4) zeigt, dass in die Koeffizienten D α i (q) der
βj
184 5 Gitterdynamik

dynamischen Matrix Summen über die Phasenfaktoren e ıq⋅(R m −R n ) eingehen. Da Rm und Rn


Vektoren des Bravais-Gitters sind, folgt sofort, dass

D α i (q) = D α i (q + G) ,
βj βj
(5.2.21)

da für jeden reziproken Gittervektor G die Beziehung G ⋅ Rm = 2πn gilt. Die Lösungen
von (5.2.6) müssen deshalb die Bedingung

ω(q) = ω(q + G) (5.2.22)

erfüllen. Ferner muss

ω(−q) = ω(q) (5.2.23)

gelten, da u(−q) eine Welle repräsentiert, die identisch zu u(q) ist, allerdings in die entge-
gengesetzte Richtung läuft. Da die vor- und zurücklaufenden Wellen durch die Zeitumkehr
miteinander verbunden sind, müssen die Eigenfrequenzen für q und −q gleich sein.
Gleichung (5.2.22) verdeutlicht, dass es völlig ausreichend ist, die Dispersionsrelation im
Bereich eines reziproken Gittervektors zu betrachten. Es ist üblich, hierfür die 1. Brillouin-
Zone zu verwenden. Für unser eindimensionales System können wir uns also auf
π π
− ≤q≤+ (5.2.24)
a a
beschränken. Aufgrund von Gleichung (5.2.23) reicht es sogar aus, die Dispersionsrelation
nur in einem Oktanten der 1. Brillouin-Zone anzugeben.
Eine anschauliche Erklärung dafür, dass es völlig ausreicht, die Dispersionsrelation in der
1. Brillouin-Zone anzugeben, ist in Abb. 5.6 gezeigt. Es ist sofort einsichtig, dass die gestri-
chelte Kurve, die zu einem Wellenvektor aus einer höheren Brillouin-Zone gehört, keine
andere Information liefert als die durchgezogene Kurve. Physikalisch ist es nämlich völlig
irrelevant, wie der Wellenverlauf zwischen den Atomen aussieht, es interessieren lediglich
die Auslenkungen der Gitteratome.

Abb. 5.6: Auslenkung der Gitteratome in ei-


ner transversalen Welle mit der kleinstmög-
lichen Wellenzahl (durchgezogene Linie).
Ebenfalls gezeigt ist eine Welle mit einem grö- 𝟐𝝅
ßeren Wellenvektor (gestrichelter Wellenzug). 𝝀= = 𝟐𝒂
𝑮/𝟐

5.2.2.4 Transversale Gitterschwingungen


14

Für transversale Gitterschwingungen (siehe Abb. 5.4b) erhält man analoge Ergebnisse. In
der Dispersionsrelation (5.2.12) haben dann natürlich die Kopplungskonstanten C p andere
5.2 Klassische Theorie 185

Werte. Die Ausbildung rein longitudinal und transversal polarisierter Wellen ist nur bei einer
Ausbreitung der Welle in Richtung einer Symmetrieachse möglich. Bei einem kubischen
Kristall ist dies z. B. die [100]-, [110]- oder die [111]-Richtung. Diese Tatsache haben wir
bereits in Abschnitt 4.6 im Rahmen der Kontinuumsbeschreibung diskutiert.

5.2.2.5 Allgemeiner Fall


Im allgemeinen Fall bewegen sich die Gitteratome in der ebenen Welle weder parallel noch
senkrecht zur Ausbreitungsrichtung. Ihre Auslenkungen haben also sowohl eine longitudi-
nale als auch eine transversale Komponente. Eine solche Welle lässt sich mit dem allgemei-
nen Ansatz (5.2.2) beschreiben.

5.2.3 Kristallgitter mit zweiatomiger Basis


Wir wollen nun die Dispersionrelation eines Kristallgitters mit einer zweiatomigen Basis
(r ′ = 2) herleiten. Die Massen der beiden Atome seien M 1 und M 2 . Dabei untersuchen wir
wiederum den einfachen Fall, dass sich die Netzebenen des Kristalls in Richtung ihrer Nor-
malen zueinander verschieben (longitudinale Schwingung, siehe Abb. 5.7) und diese Netz-
ebenen jeweils nur eine Atomsorte enthalten. Dies träfe z. B. auf einen NaCl-Kristall für ei-
ne Schwingung in [111]-Richtung zu. Der Abstand der Netzebenen mit gleichen Atomen
sei a und die Auslenkungen der durch den Index n gekennzeichneten Gitterebenen seien u n
und v n für die beiden Atomsorten. Die Indizes i, j können wir weglassen, da wir es mit ei-
nem eindimensionalen Problem zu tun haben. Wir werden ferner der Einfachheit halber
nur Wechselwirkungen unmittelbar benachbarter Ebenen berücksichtigen und annehmen,
dass die Kopplungskonstante zwischen benachbarten Ebenen gleich ist.9 Das heißt, der In-

𝑴𝟏 𝑴 𝟐 𝑴𝟏 𝑴𝟐 𝑴 𝟏 𝑴𝟐 𝑴𝟏 𝑴 𝟐 𝑴𝟏 𝑴𝟐
𝒖𝒏−𝟏
𝒖𝒏−𝟐

𝒗𝒏−𝟐

𝒗𝒏−𝟏

𝒖𝒏+𝟐
𝒖𝒏+𝟏

𝒗𝒏+𝟏

𝒗𝒏+𝟏
𝒖𝒏

𝒗𝒏

𝒏−𝟐 𝒏−𝟏 𝒏 𝒏+𝟏 𝒏+𝟐

Abb. 5.7: Schematische Darstellung der Auslenkung der Netzebenen bei einer longitudinalen Gitter-
schwingung in einem Kristallgitter mit zweiatomiger Basis. Die gestrichelten Linien geben die Position
der unausgelenkten Netzebenen an.

9
Ein sehr ähnliches Problem erhalten wir, wenn wir annehmen, dass die Masse der beiden Atome
gleich ist, die Kopplungskonstanten zwischen den Atomen dafür aber abwechselnd zwei unter-
19
186 5 Gitterdynamik

dex m in der Summe (5.2.1) kann nur die Werte n + 1, n, n − 1 annehmen. Bezeichnen wir
die Kopplungskonstante zwischen den benachbarten Ebenen mit f , so erhalten wir folgende
Bewegungsgleichungen:

∂2 u n
M1 = f (v n − u n ) + f (v n−1 − u n ) (5.2.25)
∂t 2
∂2 v n
M2 = f (u n − v n ) + f (u n+1 − v n ) . (5.2.26)
∂t 2
Hierbei stellen die Differenzen (v n − u n ), (v n−1 − u n ), usw. die relativen Auslenkungen
von benachbarten Ebenen der beiden Atomsorten dar. Sind z. B. u n und v n gleich, so wird
(v n − u n ) = 0, da die Feder, die die beiden Ebenen verbindet, dann nicht gedehnt oder
gestaucht wird.
Damit lauten die Bewegungsgleichungen

∂2 u n
M1 + f (2u n − v n − v n−1 ) = 0 (5.2.27)
∂t 2
∂2 v n
M2 + f (2v n − u n − u n+1 ) = 0 . (5.2.28)
∂t 2
Als Lösungsansatz verwenden wir entsprechend (5.2.2)
1
u n (q) = ⌋︂ A 1 (q)e ı(qan−ωt)
M1
(5.2.29)
1
v n (q) = ⌋︂ A 2 (q)e ı(qan−ωt) .
M2
Setzen wir diesen Lösungsansatz in (5.2.27) und (5.2.28) ein, so ergibt sich

2f 1
( − ω 2 ) A 1 − f ⌋︂ (1 + e−ı qa ) A 2 = 0 (5.2.30)
M1 M1 M2
1 2f
− f ⌋︂ (1 + e+ı qa ) A 1 + ( − ω2 ) A2 = 0 . (5.2.31)
M1 M2 M2

Die dynamische Matrix D α i (q) ist folglich durch


βj

⎛ − ⌋︂ M M (1 + e−ı qa )⎞
2f f
M1
⎜ 1 2

⎜ ⎟ (5.2.32)

⎝− ⌋︂ M 1 M 2 (1 + e ) ⎠
f qa 2f
M2

schiedliche Werte annehmen, siehe hierzu Festkörperphysik, N. W. Ashcroft, N. D. Mermin, Ol-


denbourg Verlag, München (2012).
5.2 Klassische Theorie 187

1.0 optischer Zweig


/ [2f (1/M1+1/M2)]1/2

𝝎+
0.8 𝟐𝒇/𝑴𝟐
1. Brillouin-Zone
0.6 𝟐𝒇/𝑴𝟏
𝝎− 𝑴𝟏 > 𝑴 𝟐
0.4

0.2 akustischer Zweig

0.0 Abb. 5.8: Dispersionsrelation für ein Kris-


-1.0 -0.5 0.0 0.5 1.0 1.5 2.0 tallgitter mit zweiatomiger Basis berechnet
qa / für M 1 = 2M 2 .
20

gegeben. Setzen wir die Determinante dieser Matrix gleich null, erhalten wir die Dispersions-
relation10
1⇑2
1 1 1 1 2 4 qa
ω =f(
2
+ ) ± f ⌊︀( + ) − sin2 }︀ . (5.2.33)
M1 M2 M1 M2 M1 M2 2

Diese Dispersionsrelation ist in Abb. 5.8 gezeigt. Wir erhalten also für unser System mit
einer zweiatomigen Basis zwei Dispersionszweige ω+ (q) und ω− (q), wie wir es nach unserer
allgemeinen Diskussion in Abschnitt 5.2.1 erwarten.11

Grenzfälle:

1. Langwelliger Grenzfall: q ≪ 1⇑a bzw. λ ≫ a:


Für qa ≪ 1 können wir die Sinus-Funktion in⌋︂(5.2.33) durch ihr Argument ersetzen und
den Wurzelausdruck mit Hilfe der Näherung 1 − x ≃ 1 − 12 x approximieren. Wir erhal-

10
Wir erhalten:
2f 2f f2
0=( − ω2 ) ( − ω2 ) − (1 + e+ı qa ) (1 + e−ı qa )
M1 M2 M1 M2
4f 2 ω2 2 f ω2 2 f f2
= − − + ω4 − (2 + e+ı qa + e−ı qa )
M1 M2 M1 M2 M1 M2
= M 1 M 2 ω 4 − 2 f (M 1 + M 2 )ω 2 + 2 f 2 (1 − cos qa) .
Daraus erhalten wir
⌈︂
2 f (M 1 + M 2 ) ± f 2 (M 1 + M 2 )2 − 2M 1 M 2 f 2 (1 − cos qa)
ω = .
M1 M2

11
Im dreidimensionalen Fall erwarten wir für eine Basis mit zwei Atomen wir r = 3r ′ = 6 Dispersi-
onszweige, im eindimensionalen Fall dagegen nur r = r ′ = 2.
188 5 Gitterdynamik

ten dann für den langwelligen Grenzfall

1 1 a2 f
ω+2 (q) ≃ 2 f ( + )− q2 (5.2.34)
M1 M2 2(M 1 + M 2 )

a2 f
ω−2 (q) ≃ q2 . (5.2.35)
2(M 1 + M 2 )

Für den ω− -Zweig


⌈︂ erhalten wir eine lineare Dispersionsrelation mit der Schallgeschwin-
digkeit v s = a 2 f ⇑2(M 1 + M 2 ). Für den ω+ -Zweig ergibt sich für den Grenzfall q → 0
eine konstante Schwingungsfrequenz
}︂
1 1
ω+ (0) = 2f ( + ). (5.2.36)
M1 M2

Für das Verhältnis der Schwingungsamplituden erhalten wir für den Grenzfall q → 0
aus (5.2.30) und (5.2.31) unter Benutzung von ω+2 (0) = 2 f (1⇑M 1 + 1⇑M 2 ) und
ω−2 (0) = 0 das einfache Ergebnis
⌋︂
A 1 (0)⇑ M 1 M2
⌋︂ =− für ω+ , (5.2.37)
A 2 (0)⇑ M 2 M1
⌋︂
A 1 (0)⇑ M 1
⌋︂ =1 für ω− . (5.2.38)
A 2 (0)⇑ M 2

Wir sehen, dass die Atome für den ω− -Zweig mit gleicher Amplitude in Phase schwingen,
während sie für den ω+ -Zweig gegenphasig mit einem zum Massenverhältnis inversen
Amplitudenverhältnis schwingen. Dadurch bleibt der Schwerpunkt in Ruhe.
2. Rand der 1. Brillouin-Zone: q → π⇑a bzw. λ → 2a:
Für M 1 > M 2 erhalten wir
}︂
2f
ω+ (π⇑a) = (5.2.39)
M2
}︂
2f
ω− (π⇑a) = . (5.2.40)
M1

Zwischen den beiden Frequenzen ω+ (π⇑a) und ω− (π⇑a) existiert eine Frequenzlücke,
die umso größer ist, je größer das Massenverhältnis M 1 ⇑M 2 ist. In dieser Frequenzlücke
wird der Wellenvektor q imaginär, woraus eine gedämpfte Welle resultiert. Wir sehen
ferner, dass das Frequenzband ω+ umso schmäler wird, je größer M 1 ⇑M 2 ist.
5.2 Klassische Theorie 189

Wir wollen weiterhin die Grenzfälle M 1 ≫ M 2 und M 1 = M 2 betrachten:

1. M 1 ≫ M 2 :
Für M 1 ≫ M 2 erhalten wir aus (5.2.33)12
f f M2 qa 1⇑2
ω2 ≃ ± (1 − 4 sin2 )
M2 M2 M1 2
f f M2 qa
≃ ± (1 − 2 sin2 ). (5.2.41)
M2 M2 M1 2
Hierbei haben wir den Wurzelausdruck entwickelt, da M 2 ⇑M 1 ≪ 1 ist.13 Wir erhalten
somit
2f 2f qa
ω+2 ≃ − sin2 (5.2.42)
M2 M1 2
2f qa
ω−2 ≃ sin2 . (5.2.43)
M1 2
Wir sehen, dass wir für den ω− -Zweig in etwa die Dispersionsrelation eines Gitters mit
nur einer Masse M 1 bekommen, was anschaulich wegen M 1 ≫ M 2 zu erwarten ist. Beim
ω− -Zweig schwingen die beiden Massen in Phase. Die kleine Masse bewegt sich dabei
quasi mit der großen mit und wir erhalten dadurch die Dispersionsrelation für ein Gitter
mit nur einer, und zwar der großen Masse. Beim ω+ -Zweig schwingen die beiden Massen
gegenphasig. Die große Masse bleibt bei der gegenphasigen Bewegung quasi in Ruhe und
wir erhalten eine Schwingungsfrequenz, die vom Wellenvektor fast unabhängig ist und
durch die leichte Masse bestimmt wird.
2. M 1 = M 2 :
Für M 1 = M 2 = M erhalten wir aus (5.2.33)
2f 2f qa 1⇑2 2f qa
ω2 = ± (1 − sin2 ) ≃ (1 ± cos ) (5.2.44)
M M 2 M 2
und somit
2f qa
ω+2 ≃ (1 + cos ) (5.2.45)
M 2
2f qa 4f qa
ω−2 ≃ (1 − cos ) = sin2 . (5.2.46)
M 2 M 4
Wir erhalten also für den ω− -Zweig die gleiche Dispersionsrelation wie für eine einato-
mige Basis, allerdings mit halbem Gitterabstand. Dies ist einsichtig, da für M 1 = M 2 = M
das resultierende Gitter tatsächlich ein einatomiges Gitter mit Gitterkonstante a⇑2 dar-
stellt. Der Verlauf des ω+ -Zweiges ist genau spiegelbildlich zu dem des ω− -Zweiges. Hier-
bei müssen wir allerdings beachten, dass der ω+ -Zweig eigentlich für M 1 = M 2 gar nicht
existieren kann und die Schwingungsmode mit Wellenvektor q einer Schwingungsmode
mit Wellenvektor π⇑a − q des ω− -Zweiges entspricht.

12
Wir benutzen M11 + M12 ≃ 1
M2
.
13
⌋︂
Es gilt: 1 − x ≃ 1 − 12 x.
190 5 Gitterdynamik

5.2.3.1 Akustische und optische Gitterschwingungen


Im Frequenzband ω− schwingen nach (5.2.38) die benachbarten Massen M 1 und M 2 in
Phase, genauso wie es bei akustischen Wellen der Fall ist. Wir bezeichnen deshalb dieses
Frequenzband als den akustischen Zweig des Frequenzspektrums. Je nachdem, ob die Ato-
me parallel oder senkrecht zur Ausbreitungsrichtung der Welle schwingen, unterscheiden
wir zwischen longitudinal akustischen und transversal akustischen Schwingungen (siehe
Abb. 5.9). Für diesen Zweig wird ferner für q → 0 die Ausbreitungsgeschwindigkeit der
Wellen konstant. Der akustische Zweig beschreibt hier die dispersionslose Ausbreitung von
Schallwellen.
Im Frequenzband ω+ schwingen die Atome nach (5.2.37) gegenphasig. Wenn die Gitterato-
me wie z. B. bei Ionenkristallen entgegengesetzte Ladung haben, treten bei dieser Schwin-
gungsform starke elektrische Dipolmomente auf, die sich im optischen Verhalten des Kris-
talls bemerkbar machen. Wir bezeichnen deshalb dieses Frequenzband als den optischen
Zweig des Frequenzspektrums. Je nachdem, ob die Atome parallel oder senkrecht zur Aus-
breitungsrichtung der Welle schwingen, unterscheiden wir wiederum zwischen longitudinal
optischen und transversal optischen Schwingungen. Wir werden auf diese Schwingungen
im Zusammenhang mit der Diskussion der dielektrischen Eigenschaften von Festkörpern
später zurückkommen. Wir können jetzt auch das Ergebnis (5.2.36) einfach interpretieren.
Für q = 0 sind die Auslenkungen der Atome in jeder Gitterzelle identisch. Die Untergitter
der schweren und leichten Atome schwingen bei der optischen Schwingung gegeneinander.
In diesem Fall können wir das Problem auf ein System von zwei Massen mit Kraftkonstan-
te 2 f und reduzierter Masse 1⇑µ = 1⇑M 1 + 1⇑M 2 reduzieren. Daraus ergibt sich sofort die
Beziehung (5.2.36).

longitudinal akustisch

longitudinal optisch

transversal akustisch

transversal optisch
Abb. 5.9: Longitudinal und trans-
versal akustische und optische
Gitterschwingungen. Die ge-
punkteten Kreise geben die
Ruheposition der Atome an.

21
5.2 Klassische Theorie 191

5.2.4 Gitterschwingungen – dreidimensionaler Fall


Bisher haben wir eindimensionale Fälle diskutiert, indem wir angenommen haben, dass im-
mer ganze Netzebenen ausgelenkt werden. Wir müssen jetzt auch kurz auf den allgemeinen
dreidimensionalen Fall zu sprechen kommen.

5.2.4.1 Einatomige Basis


Für eine Welle mit Wellenvektor q können im Dreidimensionalen r = 3r ′ = 3 unabhängige
Schwingungsformen auftreten, die sich hinsichtlich der Auslenkung der Atome bezüglich
q, d. h. bezüglich ihrer Polarisation unterscheiden. Diese drei Schwingungsformen haben
im Allgemeinen unterschiedliche Energie und wir finden für sie 3 Dispersionszweige, einen
longitudinal akustischen Zweig und zwei transversal akustische Zweige. Für den longitudi-
nalen Zweig ist q ∥ u und für die beiden transversalen Zweige ist q ⊥ u. Im Allgemeinen ist
die Frequenz des longitudinalen Zweiges größer, d. h. ω L > ω T . Die verschiedenen Moden
können aber auch energetisch entartet sein. So sind z. B. für einen kubischen Kristall die
transversalen Moden für die [100] und [111] Richtung entartet (siehe Tabelle 4.3).
Wie wir bereits bei der Diskussion elastischer Wellen in Abschnitt 4.6 diskutiert haben, sind
die drei Polarisationen im Allgemeinen nicht exakt parallel oder senkrecht zu q. Dies trifft
nur für bestimmte Ausbreitungsrichtungen zu (z. B. für die [100]-, [110]- und [111]-Rich-
tung in einem kubischen Kristall).
Aluminium (einatomige Basis)
Zonengrenze
6 [100] [110] [111]

L L
 (10 1/s)

L
4
13

T2
[111]
L
2 G K X [110]
X T1 T
[100]

0
0.0 0.5 1.0 q 01.5 0.0 0.5
𝚪 𝐗 𝐊 𝚪 𝐋
Abb. 5.10: Phononen-Dispersionsrelationen von Al. Die durchgezogenen und gestrichelten Linien 25 stel-

len mit unterschiedlichen Methoden berechnete


⌋︂ 2π Kurven,
⌋︂ 2π die Symbole experimentelle Daten dar. Der
Wellenvektor q ist in Einheiten von 2π
a
, 2 a
und 3 a
in [100]-, [110]- und [111]-Richtung aufge-
tragen (nach M. A. Coulthard, J. Phys. C: Solid State Phys. 3, 820–834 (1970)).
192 5 Gitterdynamik

Die Disperisonskurven sind nach wie vor periodisch. Es gilt

ω(q) = ω(q + G) (5.2.47)

und ferner aufgrund der Zeitumkehrsymmetrie

ω(−q) = ω(q) . (5.2.48)

Es genügt deshalb, die Dispersionskurve in einem Oktanten der 1. Brillouin-Zone anzuge-


ben.
Als Beispiel ist in Abb. 5.10 die Dispersionskurve von Al gezeigt. Aluminium hat ein mono-
atomares fcc-Gitter. In der Praxis werden die Dispersionskurven immer entlang von be-
stimmten Richtungen im q-Raum gezeigt. Diese Richtungen werden durch Symbole Γ, X, W,
K, etc. angegeben, die bestimmte Punkte der Brillouin-Zone markieren. Zum Beispiel mar-
kiert Γ das Zentrum der Brillouin-Zone. Im gezeigten Beispiel sehen wir die Dispersionskur-
ve von Al entlang der ΓX-Richtung (entspricht [100]), der ΓK-Richtung (entspricht [110])
und der ΓL-Richtung (entspricht [111]).

5.2.4.2 Mehratomige Basis


Wir haben bereits in Abschnitt 5.2.1 gesehen, dass wir für den allgemeinen Fall einer Basis
mit r ′ Atomen ein homogenes Gleichungssystem erhalten, das nur dann Lösungen besitzt,
wenn die Determinante

det {D α i (q) − ω 2 1}
βj

verschwindet. Diese Gleichung hat genau D ⋅ r ′ Lösungen ω(q) für jeden Wellenvektor q, die
wir als Dispersionszweige bezeichnen. Hierbei ist D die Dimensionalität unseres betrachte-
ten Kristallsystems. Für die Zahl der akustischen und optischen Zweige erhalten wir für ein
dreidimensionales System mit r ′ Atomen pro Gitterzelle:

3 akustische Zweige
′ (5.2.49)
3r − 3 optische Zweige .

Als Beispiel betrachten wir Silizium. Si besitzt eine Diamantstruktur mit einer zweiatomi-
gen Basis. Wir erwarten also insgesamt r = 3r ′ = 6 (drei akustische und drei optische) Di-
spersionszweige. Ein experimentelles Ergebnis ist in Abb. 5.11 zusammen mit Berechnun-
gen der Dispersionsrelationen gezeigt. Entlang der [100]- und der [111]-Richtung sehen wir
aufgrund der Entartung der transversalen Zweige nicht 6 sondern nur 4 verschiedene Di-
spersionszweige. Entlang der [110]-Richtung haben wir 6 Dispersionszweige vorliegen. Die
Übereinstimmung von Theorie und Experiment ist in dem gezeigten Beispiel dürftig. Durch
das von Werner Weber vorgeschlagene „adiabatische bond-charge Modell“ wurde eine er-
hebliche Verbesserung der theoretischen Modellierung erreicht.14

14
W. Weber, Adiabatic bond charge model for the phonons in diamond, Si, Ge, and α-Sn, Phys. Rev.
B 15, 4789 (1977).
5.3 Zustandsdichte im Phononenspektrum 193
Silizium (zweiatomige Basis)

[100] [110] [111]


TO
15 TO

 (10 1/s) LO LO
Si
10
12

LA
LA
5

TA TA
0
0.0 0.5 1.0 q 1.5 0.0 0.5
𝚪 𝐗 𝐊 𝚪 𝐋
27

Abb. 5.11: Phononen-Dispersionsrelationen von Si. Die Linien stellen berechnete Dispersionsrelatio-
⌋︂ 2π

nen,
⌋︂ 2πdie Symbole experimentelle Daten dar. Der Wellenvektor q ist in Einheiten von a , 2 a und
3 a in [100]-, [110]- und [111]-Richtung aufgetragen (Daten aus P. E. Van Camp et al., Phys. Rev.
B 31, 4089 (1985)).

5.3 Zustandsdichte im Phononenspektrum


Wir haben bisher immer unendlich ausgedehnte Festkörper betrachtet. Diese liegen aller-
dings in der Realität nie vor. Alle realen Festkörper sind endlich groß und besitzen eine Ober-
fläche. Eine wichtige Folge davon ist, dass nicht alle Wellenvektoren im Bereich − πa ≤ q ≤ + πa
zulässig sind. Die mit den endlichen Abmessungen des Kristalls verbundenen Randbedin-
gungen bewirken, dass nur eine bestimmte Anzahl von Wellenvektoren möglich ist. Wir
wollen hier die Frage beantworten, wie viele Wellenvektoren pro Volumen im Impulsraum
erlaubt sind. Die Beantwortung dieser Frage führt uns auf den Begriff der Zustandsdichte.
Die Tatsache, dass wir in einem endlichen System nur eine endliche Zahl von Schwingungs-
frequenzen haben, kennen wir bereits aus der klassischen Mechanik, wo wir gelernt haben,
dass in einem System aus N schwingenden Massen nur 3N Eigenfrequenzen existieren. Wir
erwarten also, dass die Zahl der Atome im Festkörper die Zahl der Schwingungsfrequenzen
bestimmt. Andererseits sollte die genaue Form der Randbedingung, mit der wir der Endlich-
keit des Systems Rechnung tragen, für einen makroskopischen Festkörper (N ist sehr groß)
keine Rolle spielen. Daraus können wir folgern, dass wir die Randbedingungen so wählen
können, dass die mathematische Beschreibung möglichst bequem wird. Dies führt uns zu
den periodischen oder zyklischen Born–von Karman Randbedingungen.
194 5 Gitterdynamik

5.3.1 Randbedingungen
5.3.1.1 Eindimensionaler Fall: Periodische Randbedingungen
Wir gehen von der periodischen Randbedingung

u n = u n+N (5.3.1)

aus. Diese Randbedingung können wir uns am einfachsten anhand einer eindimensionalen
Kette plausibel machen. Für genügend große N ändert sich physikalisch nichts, wenn wir die
Kette zu einem Kreis biegen und an den Enden zusammenfügen. Da sich in diesem Fall alle
N Atome bewegen können, erwarten wir N Schwingungsmoden. Mit dem Lösungsansatz

u n = A e ı(qna−ωt) = A e ı(qR n −ωt) , (5.3.2)

wobei R n = na ein Bravais-Gittervektor ist, erhalten wir aus der Randbedingung

e ı qN a = 1 ⇒ qNa = p 2π mit p = ganzzahlig . (5.3.3)

Beschränken wir q auf die 1. Brillouin-Zone, so finden wir

2π p 2π N N
q= = p mit − <p≤+ . (5.3.4)
a N L 2 2

Dies sind, wie erwartet, N mögliche Wellenvektoren.15 Falls wir statt einer einatomigen Ba-
sis eine Basis mit r Atomen vorliegen haben, so ergibt sich das obige Ergebnis für jeden
einzelnen Dispersionszweig. Wir erhalten somit insgesamt r ⋅ N Schwingungsmoden, wobei
N nun die Zahl der Bravais-Gitterpunkte ist.
Wir wollen nun noch die Frage beantworten, wie viele Wellenvektoren pro Volumen des
Impulsraums erlaubt sind. Im Impulsraum erhalten wir nach (5.3.4) eine Folge von äqui-
distanten erlaubten Wellenvektoren (siehe Abb. 5.12). Im Intervall ∆q = πa − −π
a
= 2π
a
liegen
offenbar N Zustände. Da diese äquidistant sind, erhalten wir die so genannte Zustands-
dichte Z(q) im q-Raum zu

Anzahl der Zustände N Na L


Z(q) = = = = . (5.3.5)
zugehöriges q-Raum-Volumen 2π⇑a 2π 2π

Wir sehen also, dass im eindimensionalen q-Raum jeder Zustand das Volumen 2π⇑L ein-
nimmt.

Abb. 5.12: Zustände im ein- 𝒒


dimensionalen Impulsraum. −𝝅/𝒂 2𝝅/𝑳 𝟎 +𝝅/𝒂

15
Hinweis: Das <-Zeichen taucht auf, da wir am Zonenrand für q = π⇑a stehende Wellen erhalten,
so dass die Lösungen für q = ± πa identisch sind. Für alle anderen Werte von q sind ±q anhand der
Ausbreitungsrichtung unterscheidbar.

32
5.3 Zustandsdichte im Phononenspektrum 195

5.3.1.2 Dreidimensionaler Fall: periodische Randbedingungen


Wir betrachten jetzt einen Kristall mit den primitiven Gittervektoren a1 , a2 und a3 und den
Seitenlängen N 1 ⋃︀a1 ⋃︀, N 2 ⋃︀a2 ⋃︀ und N 3 ⋃︀a3 ⋃︀. Die Zahl der Gitterpunkte ist dann N = N 1 ⋅ N 2 ⋅ N 3 .
Betrachten wir ein Gitter mit einer einatomigen Basis, so können wir die Positionen der Ato-
me mit den Bravais-Gittervektoren R angeben. Ist die Auslenkung des Atoms an der Posi-
tion R durch u(R) gegeben, so können wir die periodischen Randbedingungen schreiben
als

u(R) = u(R + N i a i ) i = 1, 2, 3 . (5.3.6)

Mit dem Lösungsansatz

u(R) = Ae ı(q⋅R−ωt) (5.3.7)

erhalten wir dann

u(R + N i a i ) = Ae ıq⋅R e ıq⋅a i N i e−ı ωt = u(R) e ıq⋅a i N i . (5.3.8)

Es muss also gelten

N i a i ⋅ q = 2πp i , i = 1, 2, 3 und p i = ganzzahlig . (5.3.9)

Da N i a i ein Bravais-Gittervektor ist, folgt aus dieser Beziehung sofort, dass q ein reziproker
Gittervektor sein muss (vergleiche hierzu (2.1.16)). Wir können dann q durch die primitiven
reziproken Gittervektoren b1 , b2 und b3 ausdrücken:

q = hb1 + kb2 + ℓb3 . (5.3.10)

Da

a i ⋅ b j = 2πδ i j (5.3.11)

gilt, folgt aus (5.3.9)


p1 p2 p3
h= , k= , ℓ= (5.3.12)
N1 N2 N3
und damit für die erlaubten Wellenvektoren
p1 p2 p3
q= b1 + b2 + b3 . (5.3.13)
N1 N2 N3

Beschränken wir uns wiederum auf die 1. Brillouin-Zone, so ergibt sich

⋃︀b i ⋃︀ p i ⋃︀b i ⋃︀ Ni Ni
− < ⋃︀b i ⋃︀ ≤ + oder − < pi ≤ + . (5.3.14)
2 Ni 2 2 2
Dies ergibt N 1 ⋅ N 2 ⋅ N 3 = N Schwingungsmoden.
Dehnen wir die obige Betrachtung auf ein dreidimensionales Gitter mit einer aus r ′ Atomen
bestehenden Basis aus, so erhalten wir das allgemeine Ergebnis:
196 5 Gitterdynamik

In einem dreidimensionalen Gitter mit einer aus r ′ Atomen bestehenden Basis sind
3r ′ ⋅ N = r ⋅ N Schwingungsmoden möglich. Dies entspricht genau N Schwingungsmoden
pro Dispersionszweig.

5.3.2 Zustandsdichte im Impulsraum


Um die Zustandsdichte für ein dreidimensionales System abzuleiten, benutzen wir, dass das
Volumen der 1. Brillouin-Zone durch
(2π)3 (2π)3
Ω BZ = = (5.3.15)
a1 ⋅ (a2 × a3 ) VWS
gegeben ist, wobei VWS = a1 ⋅(a2 ×a3 ) das Volumen der Wigner-Seitz-Zelle ist. Nach (5.3.14)
liegen in Ω BZ genau N = N 1 ⋅ N 2 ⋅ N 3 Zustände, die wiederum äquidistant sind (pro Rich-
tungen b i ). Das q-Raum Volumen eines einzelnen Zustands ist damit
Ω BZ (2π)3 (2π)3
= = (5.3.16)
N N ⋅ VWS V
und wir erhalten die Zustandsdichte im dreidimensionalen q-Raum zu
V
Z(q) = . (5.3.17)
(2π)3

5.3.3 Zustandsdichte im Frequenzraum


Wir werden später sehen, dass wir häufig Summen der Form

∑ F(︀ω r (q)⌋︀ = ∑ ∫ d q Z(q) F(︀ω r (q)⌋︀


3
(5.3.18)
q,r r
1. BZ

berechnen müssen. Dabei läuft der Index r über alle Dispersionszweige und wir haben die
Summation über q bereits durch eine Integration über die 1. Brillouin-Zone ersetzt. Dies ist
immer dann möglich, wenn wir es mit großen Festkörpern (also großen N) zu tun haben, so
dass die Zustände im q-Raum sehr dicht liegen (∝ 2π⇑L i ). Häufig möchte man die Summa-
tion über alle q-Zustände in eine Summation bzw. Integration über Frequenzen überführen.
Dazu schreiben wir, was wir immer tun können, formal
ω max

∑ ∫ d q Z(q) F(︀ω r (q)⌋︀ = ∫ dω F(ω) D(ω)


3
(5.3.19)
r ω min
1. BZ

Dabei gilt, wie wir leicht durch Einsetzen überprüfen können

D(ω) = ∑ ∫ d 3 q Z(q) δ(ω − ω r (q)) . (5.3.20)


r
1. BZ
5.3 Zustandsdichte im Phononenspektrum 197

𝝎
𝝎𝐦𝐚𝐱
𝑫 𝝎
groß 𝒅𝝎

𝒅𝝎
𝑫 𝝎 Abb. 5.13: Zur Veranschauli-
klein chung der Ableitung der Zu-
𝒅𝒒 𝒅𝒒 standsdichte im Frequenzinter-
𝝎𝐦𝐢𝐧 vall mit Hilfe der Dispersions-
𝟎 𝟐𝝅/𝑳 𝝅/𝒂 𝒒 relation ω(q).

Wir wollen uns zunächst die Bedeutung der Zustandsdichte im Frequenzraum anhand
einer eindimensionalen Dispersionskurve ω(q) klarmachen (siehe hierzu Abb. 5.13). Die
konstante Zustandsdichte im q-Raum übersetzt sich über eine nichtlineare Dispersionskur-
ve ω(q) in eine Zustandsdichte D(ω), wobei
34

Z(q)dq = D(ω)dω (5.3.21)

gilt. Offenbar ist D(ω) nicht konstant. Wir sehen, dass D(ω) groß ist, wo ω(q) flach verläuft
und umgekehrt. Wir wollen ferner darauf hinweisen, dass immer
ω max

N = ∫ d q Z(q) = ∫ dω D(ω)
3
(5.3.22)
1. BZ ω min

gelten muss.
Wir wollen nun einen allgemeinen Ausdruck für die Zustandsdichte D(ω) ableiten. Hier-
zu betrachten wir nur einen Dispersionszweig ω(q). Wir bestimmen zuerst die Anzahl der
Schwingungszustände im Frequenzintervall zwischen ω und ω + ∆ω für diesen einzelnen
Dispersionszweig. Für genügend große N sind die Zustände im q-Raum dicht gepackt, so
dass wir von einer quasi-kontinuierlichen Verteilung ausgehen können. Wir können dann
die Zahl der Zustände in einem Frequenzintervall dω dadurch bestimmen, indem wir über
das Volumen des q-Raumes, das von den beiden Flächen ω(q) und ω(q) + ∆ω(q) begrenzt
wird (in Abb. 5.14 würde dies der schattierten Fläche entsprechen), integrieren und mit der
Zustandsdichte Z(q) des q-Raumes multiplizieren. Wir erhalten
ω(q)+∆ω(q) q(ω+∆ω)
V
∫ D(ω)dω ≃ D(ω)∆ω = ∫ d3q . (5.3.23)
(2π)3
ω(q) q(ω)

Die genaue Form der Fläche ω(q) = const wird dabei durch die Dispersion ω(q) bestimmt.
Im einfachsten Fall einer linearen Dispersion ω(q) = v s ⋃︀q⋃︀ erhalten wir eine Kugeloberfläche.
Zur Ausführung der Integration in (5.3.23) setzen wir d 3 q = dS q dq⊥ , wobei dS q ein
Flächenelement der Fläche ω(q) = const und dq⊥ der jeweilige Abstand der Fläche
ω(q) + ∆ω(q) = const von der Fläche ω(q) = const ist (siehe hierzu Abb. 5.14). Mit
198 5 Gitterdynamik

𝒒𝒚
𝝎𝒒 = const
𝝎 + 𝚫𝝎 = const

𝒅𝒒⊥
𝒒𝒙 𝝎 = const
𝒅𝑺𝒒
erlaubte
Zustände

Abb. 5.14: Links: Erlaubte Zustände im zweidimensionalen q-Raum sowie q-Raumvolumen (schat-
tiert) zwischen zwei Flächen konstanter Frequenz. Rechts: Zur Herleitung der Zustandsdichte der
Schwingungsmoden im Frequenzintervall zwischen ω(q) und ω(q) + ∆ω(q).

∆ω = ⋃︀∇q ω(q)⋃︀dq⊥ können wir d 3 q schreiben als16


dS q
d 3 q = dS q dq⊥ = ∆ω (5.3.24)
⋃︀∇q ω(q)⋃︀
35

und erhalten damit

V dS q
D(ω) = ∫ . (5.3.25)
(2π)3 ⋃︀∇q ω(q)⋃︀
ω=const

Dies ist der gewünschte allgemeine Ausdruck für die Zustandsdichte. Das Integral erstreckt
sich hierbei im q-Raum über die Fläche ω(q) = const. Wir können die Zustandsdichte D(ω)
berechnen, falls wir die Dispersionsrelation ω(q) kennen. Wir sehen, dass die Zustandsdich-
te für diejenigen Frequenzwerte besonders hoch ist, für die die Gruppengeschwindigkeit
∇q ω(q) klein ist. Für ∇q ω(q) = 0 tritt im Integrand von (5.3.25) eine Singularität auf. Diese
wird als van Hove Singularität bezeichnet.

Zustandsdichte eines isotropen Mediums: Als Beispiel berechnen wir die Zustandsdichte
eines isotropen Mediums mit einer einatomigen Basis (nur akustische Zweige) mit Schallge-
schwindigkeit v L für die londitudinalen und v T für die beiden transversalen Moden. Da wir
ω L = v L q bzw. ω T = v T q vorliegen haben, ist für jeden Dispersionszweig die Fläche ω(q) =
const eine Kugel mit Radius q und es gilt ⋃︀∇q ω i (q)⋃︀ = v i für die drei Dispersionszweige. Das
Oberflächenintegral in (5.3.25) ist deshalb gerade 4πq 2 und wir erhalten für jeden Disper-
sionszweig
V q2 V ω2
D i (ω) = = . (5.3.26)
2π 2 v i 2π 2 v i3
Für die gesamte Zustandsdichte der 3 Zweige ergibt sich
V 1 2
D(ω) = 2
( 3 + 3 ) ω2 . (5.3.27)
2π v L v T
16
Man beachte, dass ⋃︀∇q ω(q)⋃︀ die Änderung von ω senkrecht zur Fläche ω = const darstellt.
5.3 Zustandsdichte im Phononenspektrum 199

Wir sehen, dass die Zustandsdichte proportional zu ω 2 zunimmt. Dieses Ergebnis gilt auch
für nicht-isotrope Festkörper im Bereich kleiner q, wo die Dispersionsrelation gut durch
eine lineare Beziehung angenähert werden kann.

Zustandsdichte niederdimensionaler Systeme: Bei der Herleitung von (5.3.25) sind wir
von einem dreidimensionalen Festkörper ausgegangen. Wir können dieses Ergebnis aber
leicht auf den zweidimensionalen Fall erweitern. Wir gehen wieder von
ω(q)+∆ω(q) q(ω+∆ω)
(2) (2) A
∫ D (ω)dω ≃ D (ω)∆ω = ∫ d2q (5.3.28)
(2π)2
ω(q) q(ω)

aus, wobei D(2) (ω) die Zustandsdichte im Frequenzraum eines 2D-Systems ist und wir
Z (2) (q) = A⇑(2π)2 benutzt haben. Wir schreiben d 2 q = dL q dq⊥ , wobei dL q jetzt ein in-
finitesimales Element der Linie ω(q) = const und dq⊥ der senkrechte Abstand der Linie
ω(q) + ∆ω(q) = const von der Linie ω(q) = const ist. Wir benutzen ferner d 2 q = dL q dq⊥ =
d Lq
⋃︀∇q ω(q)⋃︀
∆ω und erhalten damit

A dL q
D(2) (ω) = ∫ . (5.3.29)
(2π)2 ⋃︀∇q ω(q)⋃︀
ω=const

Für ein isotropes Medium sind die Linien ω(q) = const Kreise mit Radius q und es gilt fer-
ner ⋃︀∇q ω i (q)⋃︀ = v i für die beiden Dispersionszweige. Das Integral in (5.3.29) ergibt deshalb
gerade 2πq und wir erhalten für jeden Dispersionszweig
(2) A q A ω
D i (ω) = = . (5.3.30)
2π v i 2π v i2
Für die gesamte Zustandsdichte der beiden Zweige ergibt sich
A 1 1
D(2) (ω) = ( 2 + 2 )ω . (5.3.31)
2π v L v T
Wir erhalten also für zweidimensionale Systeme ein lineares Ansteigen der Zustandsdichte
mit der Wellenzahl bzw. mit der Frequenz.
Für den eindimensionalen Fall ergibt sich analog
L dPq
D(1) (ω) = ∫ , (5.3.32)
(2π) ⋃︀∇q ω(q)⋃︀
ω=const

wobei jetzt dPq nur noch ein Punktelement ist. Für ein isotropes Medium stellt ω(q) = const
gerade zwei Punkte dar und das Integral in (5.3.32) ergibt deshalb gerade 2. Da wir es nur
noch mit einem longitudinalen Dispersionszweig zu tun haben, erhalten wir
L 2
D(1) (ω) = . (5.3.33)
2π v L
Die Zustandsdichte ist also unabhängig von der Wellenzahl bzw. Frequenz.
200 5 Gitterdynamik

5.4 Quantisierung der Gitterschwingungen


Bisher haben wir die Dynamik des Kristallgitters rein klassisch behandelt. Wir haben als
wesentliches Ergebnis erhalten, dass es Eigenfrequenzen ω r (q) gibt, wobei q die erlaubten
Wellenvektoren und r die Polarisationsrichtungen sowie die anderweitigen optischen Di-
spersionszweige durchnummerieren. Wir können deshalb den Kristall als Summe von har-
monischen Oszillatoren mit Eigenfrequenzen ω r (q) auffassen. Wir wollen in diesem Ab-
schnitt nun zu einer quantenmechanischen Beschreibung übergehen.

5.4.1 Das Quantenkonzept


Max Planck stellte im Jahr 1901 fest, dass das Frequenzspektrum eines schwarzen Strah-
lers nur dann erklärbar ist, wenn man annimmt, dass Strahlungsenergie der Frequenz ω
nur in Portionen ħω emittiert oder absorbiert wird.17 Hierbei ist ħ = 1.054 571 800(13) ×
10−34 Js das Plancksche Wirkungsquantum. Mit Hilfe dieser Quantenhypothese konnte Max
Planck das nach ihm benannte Plancksche Strahlungsgesetz (zur Herleitung vergleiche Ab-
schnitt 6.1.7)
ħ ω3
u(ω, T) = (5.4.1)
c 3 π2 exp(ħω⇑k B T) − 1
ableiten, das die spektrale Energiedichte u(ω) pro Kreisfrequenzintervall dω = 2πdν eines
Hohlraumes bei der Temperatur T beschreibt.
Ein völlig analoges Quantenkonzept kann für das Frequenzspektrum von Gitterschwin-
gungen eingeführt werden. Die Ausdehnung des Quantenkonzepts auf die atomare Kinetik
erfolgte sehr bald durch Albert Einstein (1907) und Peter Debye. Historisch wurde das
Quantenkonzept im Zusammenhang mit elektromagnetischer Strahlung eingeführt. Dies
lag sicherlich daran, dass der experimentelle Stand bei der Untersuchung des Spektrums
elektromagnetischer Strahlung zu dieser Zeit bereits auf einem hohen Niveau war und
deshalb sehr genaue experimentelle Ergebnisse vorlagen.

5.4.2 Phononen
5.4.2.1 Quantentheorie für harmonische Kristalle
Wir wollen nun kurz aufzeigen, wie in harmonischer Näherung Gitterschwingungen mit
Hilfe der Quantentheorie beschrieben werden können. Bei der mathematischen Behand-
17
Es war am 14. Dezember 1900, als Max Planck in einem Vortrag vor der Deutschen Physikalischen
Gesellschaft in Berlin seine Formel zur Beschreibung des Spektrums eines schwarzen Strahlers prä-
sentierte. Bei der Ableitung dieser Formel musste Planck, wie er damals selbst sagte, „in einem Akt
der Verzweiflung“ die Quantisierung der Strahlungsmoden annehmen. Diese Quantenhypothese
Plancks bedeutete gleichzeitig die Geburtsstunde der modernen Quantentheorie und damit einen
der größten Fortschritte der Physik.
M. Planck: Zur Theorie des Gesetzes der Energieverteilung im Normalspektrum, Verhandlungen der
Deutschen physikalischen Gesellschaft 2 (1900) Nr. 17, S. 245, Berlin.
5.4 Quantisierung der Gitterschwingungen 201

lung der Schwingungen eines Systems miteinander gekoppelter Oszillatoren führt man ge-
wöhnlich durch eine lineare Transformation so genannte Normalkoordinaten ein (siehe An-
hang A). Diese erlauben dann innerhalb der harmonischen Näherung die Aufstellung von
Bewegungsgleichungen völlig entkoppelter Oszillatoren. Das Frequenzspektrum der Nor-
malschwingungen der ungekoppelten harmonischen Oszillatoren entspricht dabei demje-
nigen der Eigenschwingungen des Systems der miteinander gekoppelten Oszillatoren. Die
Normalkoordinaten können natürlich nicht mehr wie die Auslenkungen u den einzelnen
Gitteratomen zugeordnet werden.
Die Eigenenergien bzw. Eigenfrequenzen der Normalschwingungen sind durch die Eigen-
werte des harmonischen Hamilton-Operators
1 2
ℋharm = 𝒯 + U elharm = ∑ P (rnα ) + U elharm (5.4.2)
n,α 2M α

gegeben. Hierbei ist 𝒯 die kinetische Energie der Gitteratome und U elharm die harmonische
Näherung (5.1.13) des in adiabatischer Näherung erhaltenen Potenzials der elektronischen
Wechselwirkungen. Die Methode, wie diese Eigenwerte bestimmt werden können, ist in An-
hang A beschrieben. Das dort erhaltene Ergebnis ist sehr plausibel. Um die Energieniveaus
eines aus N Atomen bestehenden Kristalls zu spezifizieren, betrachten wir ihn als System von
3N unabhängigen Oszillatoren, deren Frequenzen denjenigen der 3N klassischen Schwin-
gungsmoden entsprechen, die wir in Abschnitt 5.3 diskutiert haben. Ein bestimmter Schwin-
gungszustand der Frequenz ω r (q) kann nun nur die diskreten Energiewerte

(n qr + 12 ) ħω r (q) , n qr = 0, 1, 2, 3, . . . (5.4.3)

annehmen. Hierbei ist n qr die Besetzungszahl der Normalschwingung mit Wellenvektor q


im Dispersionszweig r. Ein Zustand des gesamten Kristalls ist dann dadurch spezifiziert, dass
wir die Besetzungszahlen für alle der 3N Normalschwingungen angeben. Die Gesamtenergie
ergibt sich dann aus der Summe der Energien der individuellen Moden zu

E = ∑ (n qr + 12 ) ħω r (q) . (5.4.4)
qr

Es ist wichtig, sich klar zu machen, dass die oben diskutierten Normalschwingungen nicht
den lokalisierten Schwingungen einzelner Gitteratome zugeschrieben werden können. Viel-
mehr tragen alle Atome des Gitters zu einer Schwingung bei. Das heißt, die Schwingung
beschreibt einen bestimmten Anregungszustand des gesamten Gitters.

5.4.2.2 Normalschwingungen vs. Phononen


Das Ergebnis (5.4.4) kann im Rahmen einer Besetzungszahl n qr einer Normalschwingung
mit Wellenvektor q im Dispersionszweig r interpretiert werden. Diese Nomenklatur ist aller-
dings oft ungeschickt, insbesondere wenn wir Prozesse beschreiben wollen, bei denen Ener-
gie zwischen den Normalmoden oder zwischen Normalmoden und anderen Systemen aus-
getauscht wird. Es ist deshalb üblich, die Bezeichnungsform Normalschwingung durch eine
äquivalente, aus dem Teilchenbild abgeleitete Bezeichnung zu ersetzen. Einer Schwingung
mit Frequenz ω und Wellenvektor q können wir ja im Sinne des Teilchen-Welle-Dualismus
ein Teilchen zuordnen. Dieses Teilchen nennen wir Phonon:
202 5 Gitterdynamik

Phononen sind die Quanten des Auslenkungsfeldes in einem Kristall. Sie können als Teil-
chen mit Impuls p = ħq und Energie E = ħω aufgefasst werden.

Der Term „Phonon“ betont die Analogie zu Photonen. Letztere sind die Quanten des elek-
tromagnetischen Strahlungsfeldes, welche im geeigneten Frequenzbereich Lichtwellen be-
schreiben. Erstere sind die Quanten des Auslenkungsfeldes in einem Kristall, die im geeig-
neten Frequenzbereich Schallwellen beschreiben. Gitterschwingungen im Teilchenbild zu
betrachten ist in der Festkörperphysik üblich. Auch anderen Wellen, wie z. B. Spinwellen,
werden Teilchen, z. B. Magnonen, zugeordnet.
Eine offensichtliche Frage, die sich aufwirft, betrifft die Übersetzung der Tatsache, dass eine
Schwingung in verschieden angeregten Zuständen (entspricht unterschiedlichen Amplitu-
den) n qr vorliegen kann, in das Teilchenbild. Die einfache Antwort ist, dass wir sagen, dass
wir n qr Phononen des Typs r mit Wellenvektor q im Kristall vorliegen haben. Man sagt auch,
dass der Oszillator mit Frequenz ω qr von n qr Phononen besetzt ist. Je höher also eine Schwin-
gung angeregt ist, desto mehr dieser Schwingung entsprechende Phononen sind vorhanden.
Es sei hier auch darauf hingewiesen, dass in völliger Analogie mit Photonen die Anzahl der
Phononen nicht erhalten ist. Wir erwarten zum Beispiel, dass bei hohen Temperaturen die
Zahl der Phononen größer ist als bei tiefen.

5.4.3 Der Impuls von Phononen


Wir haben dem Phonon formal einen Impuls ħq zugeordnet. Dies ist sehr praktisch, wenn
wir die Wechselwirkung eines Phonons mit anderen Teilchen wie Photonen, Neutronen,
Elektronen, etc. betrachten. Wir müssen uns allerdings die Frage stellen, ob dieser Impuls
wirklich existiert bzw. ob er eine physikalische Bedeutung besitzt.
Durch eine sehr einfache Überlegung können wir folgern, dass Phononen keinen wirkli-
chen Impuls haben können. Die Phonon-Koordinate enthält nämlich (außer für q = 0) nur
relative Atomkoordinaten. Vergleichen wir die Situation mit der eines H2 -Moleküls. Hier
ist die Koordinate r1 − r2 der Relativschwingung auch eine relative Koordinate, die keinen
linearen Impuls trägt. Die Schwerpunktskoordinate 12 (r1 + r2 ) entspricht dagegen der uni-
formen Mode q = 0 und kann einen linearen Impuls haben.
Wir können unsere Überlegung vertiefen und den Impuls eines eindimensionalen Kristalls
aus N Atomen mit Abstand a berechnen, in dem ein Phonon mit Wellenzahl q angeregt ist.
Es gilt

d N−1
P=M ∑ u n (t) . (5.4.5)
dt n=0

Mit u n (t) = Ae ı(qna−ωt) erhalten wir


N−1 )︀1 − e ı qN a ⌈︀
P = −ıωMAe−ı ωt ∑ e ı qna = −ıωMAe−ı ωt . (5.4.6)
n=0 (︀1 − e ı qa ⌋︀

Hierbei haben wir die Identität ∑n=0 x = (1 − x N )⇑(1 − x) ausgenutzt.


N−1 n
5.4 Quantisierung der Gitterschwingungen 203

Wir haben in Abschnitt 5.3.1 gezeigt, dass q nur ganz bestimmte Werte annehmen kann, und
zwar q = ±(2π⇑Na)p, wobei p eine ganze Zahl ist. Wir erhalten deshalb e ı qN a = e±ı2π p = 1.
Damit folgt aus (5.4.6) sofort
N−1
P = −ıωMAe−ı ωt ∑ e ı qna = 0 . (5.4.7)
n=0

Die einzige Ausnahme bildet die uniforme Mode q = 0, für die alle Auslenkungen u n = u
gleich sind, so dass P = N M du⇑dt. Diese Mode entspricht einer gleichförmigen Translation
des gesamten Kristalls, die natürlich einen endlichen Impuls besitzt.
Wir können auch anders argumentieren, wenn wir die Symmetrieeigenschaften des Hamil-
ton-Operators in Betracht ziehen. Es gilt ganz allgemein, dass aus jeder Symmetrieeigen-
schaft des Hamilton-Operators eine Erhaltungsgröße folgt. So folgt aus der Translationsin-
varianz die Impulserhaltung, aus der Drehinvarianz die Drehimpulserhaltung etc. Das von
uns betrachtete Kristallgitter besitzt nun keine Translationsinvarianz, sondern nur eine dis-
krete Translationsinvarianz bei Verschiebung um einen Bravais-Gittervektor. Wir erwarten
also, dass eine Impulserhaltung gelten sollte, allerdings in einer gegenüber Systemen mit kon-
tinuierlicher Translationsinvarianz abgeschwächten Form. Dies ist in der Tat der Fall. Wir
erinnern uns, dass q und q′ = q + G identische Zustände beschreiben, wenn G ein reziproker
Gittervektor ist. Daher ist zu vermuten, dass in einem Kristall mit diskreter Translationsinva-
rianz statt ħq nur ħq + ħG erhalten bleibt. Betrachten wir also Streuprozesse im Festkörper,
an denen Phononen beteiligt sind, so gilt die Impulserhaltung nur bis auf einen reziproken
Gittervektor. Wir können also schreiben

∑ ħk i
vor
= ∑ ħknach
i + ∑ ±ħq i + ħG . (5.4.8)
i i i

In Abb. 5.15 ist ein durch (5.4.8) beschriebener Streuprozess für den Fall einer Phononenver-
nichtung dargestellt. Das einfallende Teilchen mit Wellenvektor k (Photon, Elektron, Neu-
tron) streut mit einem Phonon und vernichtet es. Dadurch wird die Energie des gestreuten
Teilchens erhöht, was sich in einer größeren Länge des Wellenvektors k′ manifestiert. Der
Endpunkt von k′ liegt dann nicht mehr wie bei der elastischen Streuung auf der Ewald-Kugel,
sondern außerhalb. Der Impulsübertrag k′ − k setzt sich aus dem Anteil ħG zusammen, den
der gesamte Kristall aufnimmt, und dem Quasiimpuls ħq des vernichteten Phonons.
Impulserhaltung bei Streuexperiment mit Phononen

Ewald-Kugel
𝒒
𝒌 𝑮
𝒌′ − 𝒌
≠ |𝐤 ′ | Abb. 5.15: Inelastische Streuung eines Teilchens mit Im-
1. BZ 𝒌′ puls k mit einem Phonon, bei dem das Phonon vernichtet
wird. Der Wellenvektor k′ des gestreuten Teilchens liegt
außerhalb der Ewald-Kugel. Der Streuvektor k′ − k ist
durch die Summe aus Wellenvektor q des Phonons und
reziprokem Gittervektor G gegeben.

elastische Streuung eines Teilchens mit Impuls 𝑘 unter Vernichtung eines Phonons ( 𝑘 ′ > 𝑘 )

෍ ℏ𝒌𝐯𝐨𝐫
𝒊 = 𝒌 + 𝒒 + 𝑮 = ෍ ℏ𝒌𝐧𝐚𝐜𝐡
𝒊 = 𝒌′ ⇒ 𝒌′ − 𝒌 = 𝒒 + 𝑮
𝒊 𝒊
39
204 5 Gitterdynamik

Wir können festhalten, dass Phononen im Gegensatz zu Photonen keinen echten Impuls tra-
gen. Trotzdem verhalten sich Phononen in Streuprozessen so, als ob sie den Impuls ħq haben
würden. Wir bezeichnen die impulsähnliche Größe ħq als Quasiimpuls oder Kristallimpuls.
Tatsächlich ändert sich in einem Streuprozess der Impuls des gestreuten Teilchen, wenn ein
Phonon erzeugt oder vernichtet wird. Allerdings wird der Impulsübertrag vom gesamten
Kristallgitter aufgenommen. Die angeregten oder vernichteten Phononen selbst tragen nicht
zu dessen Gesamtimpuls bei.

5.5 Experimentelle Methoden


Wir wollen zum Abschluss experimentelle Methoden diskutieren, mit denen die Dispersi-
onsrelation von Phononen bestimmt werden kann. Im Allgemeinen werden hierzu inelas-
tische Streuprozesse eingesetzt (siehe Abb. 5.16). Dabei wird eine Sonde mit Energie E k
und Impuls k inelastisch an einem Kristall gestreut, wodurch ein Phonon mit der Ener-
gie E q = ħω q und Wellenvektor q erzeugt oder vernichtet wird.Bei diesem Prozess betrach-
ten wir das Phonon als Teilchen und wir können die Energie und Impulserhaltung schrei-
ben als

E k ′ − E k = ±ħω q
(5.5.1)
k′ − k = ±q + G .

Hierbei sind E k ′ und ħk′ Energie und Impuls der Sonde nach dem Streuprozess und das
+ Zeichen (− Zeichen) gilt für die Vernichtung (Erzeugung) eines Phonons beim Streupro-
zess. Gleichung (5.5.1) gilt auch für elastische Streuprozesse. Hier gilt E k ′ = E k oder ⋃︀k′ ⋃︀ = ⋃︀k⋃︀
und k′ − k = G. Die Impulserhaltung stellt dann gerade die von-Laue-Bedingung dar.
Aus (5.5.1) wird klar, was in einem Experiment gemessen werden muss. Es muss sowohl die
Energie als auch der Impuls der Sonde vor und nach dem inelastischen Streuprozess gemes-
sen werden. Dann kann mit Hilfe von (5.5.1) die Energie bzw. Frequenz und der Wellenvek-
tor des Phonons bestimmt und daraus die Dispersionsrelation ω(q) abgeleitet werden.
Für die Messsonde können verschiedeneEnergie-
Teilchensorten verwendet werden. Allerdings ist
und Impulserhaltung beim inelastischen Streuprozess
dabei zu beachten, dass unterschiedliche Teilchen unterschiedliche E(k)-Beziehungen be-

Erzeugung von Phonon

𝒌, 𝑬𝒌 𝜗 𝑬𝒌′ = 𝑬𝒌 − ℏ𝝎𝒒

𝒌′ = 𝒌 − 𝒒 + 𝑮

Vernichtung von Phonon

𝒌, 𝑬𝒌 𝜗 𝑬𝒌′ = 𝑬𝒌 + ℏ𝝎𝒒
Abb. 5.16: Vektordiagram-
𝒌′ = 𝒌 + 𝒒 + 𝑮
me zum inelastischen Streu-
prozess. Wir haben G = 0 gewählt.

40
5.5 Experimentelle Methoden 205

4
10 1019

100 1015
Abb. 5.17: E(k)-Beziehung für Neutronen
thermischer Bereich
-4 11 und Photonen. Der Bereich thermischer
10 10
Ek (eV)

/1.6 (Hz)
Energien ist grau hinterlegt. Die rechte
-8 Skala zeigt die zur Energie äquivalente
10 107
Frequenz. Eingezeichnet ist auch der akus-
-12
10 103 tische Zweig einer Phononendispersions-
relation für ein Material mit einer Schall-
10-16 10-1 geschwindigkeit von etwa 5000 m⇑s und
einer Gitterkonstante von 1 Å. Der Rand
-20
10 10-5 der 1. Brillouin-Zone liegt typischerweise
100 103 106 109 bei einer Wellenzahl im Bereich zwischen
k (1/cm) 108 und 109 cm−1 .
42

sitzen. Dies ist anhand von Abb. 5.17 für Neutronen und Photonen gezeigt. Für diese gilt:

p2 ħ2 k 2
E(k) = = Neutronen ,
2M N 2M N (5.5.2)
E(k) = pc = ħkc Photonen .

Hierbei ist c = 2.998 × 108 m⇑s die Lichtgeschwindigkeit und M N = 1.67 × 10−27 kg die
Masse des Neutrons.
Abb. 5.17 zeigt, dass die inelastische Streuung von Photonen zur Aufnahme der Dispersi-
onsrelation ω(q) der Phononen nicht gut geeignet ist. Zwar liegt der Wellenvektor bzw.
die Wellenlänge von Photonen (z. B. Röntgenquanten) im richtigen Bereich. Wollen wir
den Bereich der 1. Brillouin-Zone abdecken, brauchen wir aber Wellenvektoren bis etwa
π⇑a ∼ 108 cm−1 . Da die Lichtgeschwindigkeit in einem Festkörper etwa 105 mal größer als
die Schallgeschwindigkeit ist, unterscheiden sich die Kreisfrequenzen von Röntgenstrahlen
und Gitterschwingungen bei gleicher Wellenzahl ebenfalls um etwa den Faktor 105 . Die re-
lative Frequenzänderung von Röntgenquanten bei einer Streuung am Kristallgitter ist des-

Analysator

Schlitze Detektor
elastisch
Probe Abb. 5.18: Phononenspek-
C (111)
Undulator Monochromator
Monochromator
Intensität

(hochauflösend)
tren von Diamant aufge-
nommen mit inelastischer
Röntgenstreuung für unter-
schiedliche Impulsüberträge
entlang der Γ − L-Richtung.
Die Energieauflösung des
Analysators betrug etwa
7.5 meV bei einer Rönt-
genenergie von 14 keV
(Daten: Argonne National
Laboratory).

Diamant: G-L Richtung


206 5 Gitterdynamik

halb nur sehr gering. Abb. 5.17 zeigt, dass für einen Impulsübertrag von 1 Å−1 = 108 cm−1
eine Photonenenergie von etwa 1 keV notwendig ist. Um nun die typischen Phononenener-
gien im meV-Bereich auflösen zu können, müssen relative Energieänderungen der Licht-
quanten im Bereich von ∆E⇑E ≃ 10−6 aufgelöst werden. Der Nachweis solch kleiner rela-
tiver Energieänderungen ist experimentell schwierig. Durch eine stetige Verbesserung der
Photonenquellen (Synchrotronstrahlung) wurden aber hier in den letzten Jahren beträcht-
liche Fortschritte gemacht. Es wurden insbesondere spezielle Systeme entwickelt, die eine
Energieauflösung ∆E⇑E im Bereich von 10−5 bis 10−13 für Röntgenenergien im Energiebe-
reich zwischen 6 und 30 keV besitzen. Mit solchen Systemen können die Phononendispersi-
onsrelationen von Festkörpern auch mit Hilfe von inelastischer Röntgenstreuung bestimmt
werden (siehe Abb. 5.18).
Für Elektronen besteht das gleiche Problem wie für Photonen. Elektronen haben bei einer
de Broglie-Wellenlänge von etwa 1 Å (d. h. k ∼ 1 Å−1 ) eine Energie von etwa 150 eV (siehe
Abb. 2.17). Deshalb müssen auch hier kleine relative Energieänderungen gemessen werden.
Hinzu kommt noch die geringe Eindringtiefe von Elektronen. Neutronen sind dagegen für
die Analyse der Phononen-Dispersion sehr gut geeignet. Bei einer de Broglie-Wellenlänge
von etwa 1 Å ist die Neutronenenergie in der gleichen Größenordnung wie die Phononen-
energie, so dass die relative Energieänderung groß ist und deshalb einfach gemessen werden
kann.

5.5.1 Inelastische Neutronenstreuung


Wir haben bereits in Abschnitt 2.3 gesehen, dass elastische Streuung von Neutronen zur
Strukturanalyse von Festkörpern herangezogen werden kann, da thermische Neutronen ei-
ne Wellenlänge besitzen, die in der Größenordnung des Gitterabstandes liegt. Aus Abb. 5.17
folgt ferner, dass inelastische Neutronenbeugung auch zur Bestimmung der Phononen-Di-
spersionsrelationen sehr gut geeignet ist, da gleichzeitig auch die Energie bzw. Frequenz der
Neutronen im Frequenzbereich der Gitterschwingungen liegt. Das bedeutet, dass bei einem
inelastischen Streuprozess eine für die Messung genügend große Änderung der Neutronen-
energie entsteht.
In Abb. 5.19 ist der typische experimentelle Aufbau für die inelastische Neutronenbeugung
gezeigt. Zunächst werden die aus einem Reaktor kommenden thermischen Neutronen durch
Bragg-Reflexion an einem Einkristall monochromatisiert. Der monochromatische Neutro-
nenstrahl mit dem Wellenvektor k trifft dann auf die Probe und wird an dieser inelastisch
Dreiachsenspektrometer
gestreut. Die unter dem Winkel ϑ an der Probe gestreuten Neutronen werden anschließend

Kollimator Monochromator
Analysator
𝜶
Reaktor 𝜷

Abb. 5.19: Schematischer Aufbau Probe


eines Dreiachsenspektrometers zur 𝜽
inelastischen Neutronenstreuung. Detektor

(Energieübertrag)
5.5 Experimentelle Methoden 207

Bertram N. Brockhouse (1918–2003) und Clifford G. Shull (1915–2001),


Nobelpreis für Physik 1994
Bertram N. Brockhouse und Clifford G.
Shull erhielten im Jahr 1994 den No-
belpreis für Physik für ihre Beiträge zur
Entwicklung der Neutronenstreuung und
-spektroskopie und deren Anwendung in
der Festkörperphysik.
Bertram Neville Brockhouse, geboren am
15. Juli 1918 in Lethbridge, studierte an
der University of British Columbia und
der University of Toronto (Ph. D. 1950).
Er war dann „Research Officer“ (1950– © The Clifford G. Shull
Nobel Foundation.
Bertram N. Brockhouse
59) und Leiter der Neutronenphysikabtei-
lung (1960–62) am Chalk River Laboratory. Er lehrte an der McMaster University (1962–
84). Am Chalk River Laboratory studierte erNobelpreis
die Streuung
für Physik,von
1944langsamen Neutronen an
stark absorbierenden Elementen wie Cadmium. … für ihre
Er Beiträge zur Entwicklung der Neutronenstreuung
führte ferner die ersten Experimente
und -spektroskopie und deren Anwendung in der Festkörperphysik
zur inelastischen Neutronenstreuung an Festkörpern durch. Seine bahnbrechenden Arbei-
ten zur Beugung und Spektroskopie mit langsamen Neutronen hatten einen starken Ein-
fluss auf die Theorie und das Verständnis der Physik von Festkörpern und Flüssigkeiten.
Bertram N. Brockhouse starb am 13. Oktober 2003.
Clifford Glenwood Shull, geboren am 23. September 1915 in Pittsburgh, studierte am Car-
negie Institute of Technology (jetzt Carnegie Mellon University) und an der New York Uni-
versity (Ph. D. 1941). Shull gehörte zu den Mitarbeitern der Texas Company (1941–46) und
der Clinton Laboratories (1946–55, nach 1948 Oak Ridge National Laboratory), bevor er
Mitglied der Fakultät am Massachusetts Institute of Technology (1955–86) wurde. In Oak
Ridge zeigte er, dass ein Strahl von Neutronen, der auf einen Festkörper trifft, durch des-
sen Atome gestreut wird und dass ein Beugungsmuster erhalten werden kann, aus dem die
Position der Atome bestimmt werden kann. Clifford G. Shull starb am 31. März 2001 in
Lexington, Massachusetts.

mit Hilfe von Bragg-Reflexion hinsichtlich ihrer Wellenzahl und damit ihrer Energie analy-
siert. Durch den Winkel α wird also k und damit E k bestimmt. Durch den Winkel ϑ wird
die Richtung von k′ und schließlich durch den Winkel β die Länge ⋃︀k′ ⋃︀ des Wellenvektors,
also die Energie E k ′ der in k′ -Richtung gestreuten Neutronen selektiert. Gemäß (5.5.1) gilt

ħ 2 (k ′ − k 2 )
2

±ħω q = E k ′ − E k = Energieübertrag (5.5.3)


2M N
k′ − k = ±q + G Impulsübertrag . (5.5.4)

Wir können also bei vorgegebenem k durch Messung von k′ und ⋃︀k′ ⋃︀ den Wellenvektor q
und die Energie ħω q der Phononen bestimmen.
208 5 Gitterdynamik

Die in Abb. 5.19 gezeigte Anordnung nennt man ein Dreiachsenspektrometer. Für die Ent-
wicklung der Neutronenspektroskopie und -streuung und der damit verbundenen experi-
mentellen Techniken erhielten Bertram N. Brockhouse und Clifford G. Shull im Jahr 1994
den Nobelpreis für Physik.
Der Nachteil der in Abb. 5.19 gezeigten Methode ist die Tatsache, dass aufgrund des für die
Messung notwendigen Monochromators nur ein kleiner Bruchteil des Spektrums der aus
dem Reaktor kommenden Neutronen genutzt werden kann. Dieser Nachteil kann mit Hilfe
einer gepulsten Neutronenquelle beseitigt werden. Hier kann der Monochromator weggelas-
sen werden und es kann deshalb ein Großteil des Neutronenspektrums der Quelle genutzt
werden. Die Bestimmung der Energie der einfallenden Neutronen erfolgt dann dadurch,
dass man das Signal am Detektor zeitaufgelöst aufnimmt. Da Neutronen unterschiedlicher
Energie wegen E = 12 M n v 2 unterschiedliche Geschwindigkeiten haben, kommen sie am De-
tektor zeitlich versetzt an (Flugzeitspektrometer). Die Energie der Neutronen nach der Streu-
ung wird nach wie vor mit einem Analysatorkristall bestimmt.

5.5.2 Inelastische Lichtstreuung


Wir haben im vorangegangenen Abschnitt bereits darauf hingewiesen, dass mit Röntgen-
licht zwar prinzipiell genügend große Impulsüberträge erreicht werden können, dass aber die
relative Energieänderung eines Röntgenphotons bei einer inelastischen Streuung an einem
Phonon sehr klein ist. Benutzen wir Licht im sichtbaren Bereich, so liegt die Frequenz Ω der
Photonen im Bereich zwischen etwa 1015 und 1016 Hz. Dies bedeutet, dass bei einem inelas-
tischen Streuprozess eines Photons (Erzeugung oder Vernichtung eines Phonons mit einer
maximalen Frequenz ω max im Bereich von 1014 Hz) eine relative Frequenzverschiebung des
Photons im Bereich von 1 bis 10% resultiert. Diese kann natürlich mit Spektrometern gut
gemessen werden. Allerdings ändert sich auch der Wellenvektor des Photons nur um den
gleichen Prozentsatz, so dass die maximal erreichbaren Impulsüberträge für den sichtbaren
Spektralbereich nur ∆k = k ′ − k ∼ 0.01–0.1 × ω⇑c sind, also im Bereich von 10−3 –10−4 Å−1
liegen. Da die Ausdehnung der 1. Brillouin-Zone im Bereich von 1 Å−1 liegt, können wir
also mit inelastischer Lichtstreuung nur einen sehr kleinen Teil der Brillouin-Zone abde-

1.0
Raman-
0.8 Streuung
opt
/ 0

0.6 ≈ 𝟏𝟎−𝟒 − 𝟏𝟎−𝟑

0.4
Brillouin-
Streuung
0.2

Abb. 5.20: Zur Veranschaulichung des bei 0.0


der Raman- und Brillouin-Streuung zu- 0.0 0.2 0.4 0.6 0.8 1.0
gänglichen Bereichs der 1. Brillouin-Zone. qa /
50
5.5 Experimentelle Methoden 209

cken (siehe Abb. 5.20). Wir sind also bei der inelastischen Lichtstreuung auf den Bereich
um q = 0 der 1. Brillouin-Zone beschränkt. Es ist üblich, dabei folgende Unterscheidung zu
machen:18 , 19

∎ Raman-Streuung:20
Inelastische Lichtstreuung an optischen Phononen. Da die optischen Phononen für q ≃ 0
hohe Frequenzen haben, ist bei der Raman-Streuung die erforderliche Energieauflösung
moderat.
∎ Brillouin-Streuung:21
Inelastische Lichtstreuung an akustischen Phononen. Da die akustischen Phononen für
q ≃ 0 sehr kleine Frequenzen haben, ist hier eine hohe Energieauflösung erforderlich.

Als Lichtquellen werden heute meist Laser verwendet. Da die Streuintensität proportional
zu Ω 4 ist, werden möglichst kurzwellige Laser verwendet. Diese Abhängigkeit gilt allerdings
nur für Ω ≫ ω q . Für die Raman-Streuung kann aber auch Ω ≃ ω q realisiert werden. Für
diesen Fall ist die Streuintensität stark erhöht, man spricht von resonanter Raman-Streuung.
Für die resonante Raman-Streuung sind durchstimmbare Laser notwendig (z. B. Dye-Laser).
Die Verwendung von extrem monochromatischem Laserlicht in Verbindung mit hochauf-
lösenden optischen Spektrometern (z. B. Fabry-Pérot-Interferometern) ist vor allem für die
Brillouin-Streuung erforderlich, die eine hohe Energieauflösung von bis zu ∆Ω⇑Ω ∼ 10−8
benötigt.
Da wir bei der inelastischen Lichtstreuung auf das Zentrum der 1. Brillouin-Zone beschränkt
sind, kommt im Erhaltungssatz für den Impuls der reziproke Gittervektor G nicht vor und
wir können für die Energie- und Impulserhaltung schreiben:

±ħω q = ħΩ′ − ħΩ Energieübertrag (5.5.5)


k′ − k = ±q Impulsübertrag . (5.5.6)

Hierbei sind Ω und Ω′ die Kreisfrequenzen des Lichts vor und nach dem Streuprozess.
Nach Gleichung (5.5.6) ist jede Lichtstreuung, bei der der Streuwinkel von null verschie-
den ist, mit der Erzeugung oder Vernichtung eines Phonons und damit mit einer Änderung
der Lichtfrequenz verknüpft. Die Verschiebung ±ħω q = ħΩ′ − ħΩ der ursprünglichen Pho-
tonenenergie wird als Raman-Verschiebung bezeichnet. Im Experiment sollten wir deshalb
im gestreuten Licht nur die Frequenzen Ω + ω q und Ω − ω q beobachten. In Wirklichkeit be-
obachtet man aber im abgelenkten Strahl auch die Frequenz Ω. Dies resultiert aus der elasti-
schen Lichtstreuung an Fehlordnungen im untersuchten Kristall, die wir als Rayleigh-Streu-
ung 22 bezeichnen. Ein typisches Frequenzspektrum ist in Abb. 5.21 gezeigt. Die Spektrallinie
mit Ω − ω q (Phononen-Erzeugung) wird gewöhnlich als Stokes-Linie, die Spektrallinie mit

18
D. A. Long, Raman Spectroscopy, McGraw-Hill, New York (1977).
19
A. Mooradiam, Light Scattering Spectra of Solids, G. B. Wright, ed., Springer, Berlin (1969).
20
Sir Chandrasekhara Venkata Raman, siehe Kasten auf Seite 210.
21
Léon Brillouin, geboren am 7. August 1889 in Sèvres, gestorben am 4. Oktober 1969 in New York.
22
John William Rayleigh, geboren 1842 in Langford, Großbritannien, gestorben 1919 in Terling
Place, Großbritannien. Nobelpreis für Physik 1904.
210 5 Gitterdynamik

Ω + ω q (Phononen-Vernichtung) als Anti-Stokes-Linie bezeichnet. Ein äquivalentes Spek-


trum erhält man auch bei der inelastischen Neutronenstreuung. Hier bezeichnet man den
Peak ohne Energieübertrag als den quasielastischen Streupeak.
Das Intensitätsverhältnis der Stokes- und Anti-Stokes-Linie hängt von der Kristalltempe-
ratur ab. Falls die Besetzungszahl ∐︀n q ̃︀ der Phononen anfänglich im thermischen Gleich-
gewicht war, ist das Intensitätsverhältnis durch einen Boltzmann-Faktor gegeben:23

I(Ω + ω q ) ∐︀n q ̃︀ −
ħω q
= = e kB T . (5.5.7)
I(Ω − ω q ) ∐︀n q ̃︀ + 1

Sir Chandrasekhara Venkata Raman (1888–1970), Nobelpreis für Physik 1930


Sir Chandrasekhara Venkata Raman wurde am 7. Novem-
ber 1888 in Trichinopoli, Indien geboren. Sein Vater war
Dozent für Mathematik und Physik, so dass er sehr früh
mit naturwissenschaftlichen Fragestellungen in Berührung
kam. Er besuchte das Presidency College, Madras (1902–
1907), wo er seinen Bachelor- und Master-Abschluss mach-
te.
Raman wurde zunächst Beamter am Indian Finance De-
partment, da damals eine wissenschaftliche Karriere ein
großes Risiko darstellte. Er experimentierte aber in seiner
Freizeit in den Labors der Indian Association for the Culti-
vation of Science in Kalkutta.
Im Jahr 1917 wurde ihm der neue „Palit Chair of Physics“ an
der Kalkutta University angeboten, den er auch akzeptierte. © The Nobel Foundation.
Nach 15 Jahren in Kalkutta wurde er dann Professor am In-
dian Institute of Science in Bangalore (1933–1948) und schließlich nach 1948 Direktor des
Raman Institute of Research in Bangalore, das nach ihm benannt wurde. Er gründete im
Jahr 1926 das Indian Journal of Physics und unterstützte die Gründung der Indian Acade-
my of Sciences, deren Gründungspräsident er wurde.
Raman beschäftigte sich anfangs mit der Theorie von Musikinstrumenten (hauptsächlich
Streichinstrumenten), wozu er 1928 einen Artikel im 8. Band des Handbuchs der Physik
publizierte. Im Jahr 1922 publizierte er die Arbeit „Molecular Diffraction of Light“, den
ersten Artikel zu einer Serie von Untersuchungen, die schließlich am 28. Februar 1928 zur
Entdeckung des nach ihm benannten Raman-Effekts führte („A new radiation“, Indian J.
Phys. 2, 387 (1928)). Für seine Arbeiten zur Streuung von Licht und Röntgenstrahlung an
Festkörpern erhielt er 1930 den Nobelpreis für Physik.
Raman erhielt zahlreiche Auszeichnungen. Er wurde u. a. im Jahr 1924 zum Fellow der
Royal Society gewählt und wurde 1929 zum Ritter geschlagen. Chandrasekhara Raman
starb am 21. November 1970 in Bangalore, Indien.

23
Dieses Ergebnis erhalten wir, wenn wir die Bose-Einstein-Verteilungsfunktion (6.1.26) für die mitt-
lere Besetzungszahl der Phononen einsetzen. Eine ausführliche Diskussion der Besetzungswahr-
scheinlichkeit der Phononenzustände folgt später in Abschnitt 6.1.3.
5.5 Experimentelle Methoden 211

𝑰 Rayleigh
Stokes
Stokes 𝒌, 𝑬𝒌 Abb. 5.21: Typisches Fre-
𝜗
quenzspektrum bei der
Anti-Stokes inelastischen Lichtstreu-
ung. Neben der Stokes- und
Anti-Stokes Anti-Stokes-Linie durch Er-
𝒌, 𝑬𝒌 𝜗 zeugung und Vernichtung
eines Phonons tritt auch
die Rayleigh-Linie durch
𝛀 − 𝝎𝒒 𝛀 𝛀 + 𝝎𝒒 𝛀 elastische Lichtstreuung auf.

Bei tiefen Temperaturen sind wegen k B T ≪ ħω q nur sehr wenige Phononenzustände be-
setzt. Dadurch werden Anti-Stokes-Prozesse, bei denen Phononen vernichtet werden, un-
wahrscheinlich. Dies resultiert in einer im Vergleich zur Stokes-Linie sehr schwachen Anti-
Stokes-Linie.
Bei der Raman-Streuung wird die Probe mit Laserlicht bestrahlt51und das gestreute Licht mit
einem hochauflösenden Spektrometer analysiert. Da die Dispersionskurve der optischen
Phononen im Zentrum der Brillouin-Zone flach verläuft, hängt die Frequenz der wech-
selwirkenden Phononen kaum vom Wellenvektor ab. Das bedeutet, dass die beobachtete
Frequenzverschiebung praktisch nicht von der Beobachtungsrichtung abhängt. Wir wollen
darauf hinweisen, dass nicht alle Phononenlinien beobachtet werden können, die aufgrund
der Energie- und Impulserhaltung erlaubt wären. Eine weitere Voraussetzung ist, dass eine
endliche Kopplung zwischen der einfallenden Lichtwelle und der Gitterschwingung besteht.
Vereinfacht dargestellt erzeugt die einfallende Lichtwelle über die elektrische Suszeptibilität
der Probe eine mit der Frequenz Ω oszillierende elektrische Polarisation. Zur Raman-Streu-
ung kommt es, wenn die Gitterschwingung eine Modulation dieser Polarisation mit der Fre-
quenz ω q bewirkt. Es kommt dann zur Abstrahlung einer elektromagnetischen Welle mit
der Summen- bzw. Differenzfrequenz.
Abb. 5.22 zeigt das Raman-Spektrum des Kuprat-Supraleiters YBa2 Cu3 O6 . Bei dem ange-
gebenen Sauerstoffgehalt ist das Kuprat nicht supraleitend, sondern isolierend und antifer-
romagnetisch. Im Raman-Spektrum (B 1g -Symmetrie) fällt deshalb der elektronische Unter-
grund weg und man sieht deutlich die Stokes- und Anti-Stokes-Linie einer Phonon-Mode
bei etwa 340 cm−1 oder 40 meV, die einer gegenphasigen Schwingung der Sauerstoffatome
in den CuO2 -Ebenen des Kuprats zugeordnet werden kann. In Abb. 5.22 ist ferner gezeigt,
dass das Intensitätsverhältnis von Stokes- und Anti-Stokes-Linie gut durch Gleichung (5.5.7)
beschrieben werden kann. Die aus der Anti-Stokes-Linie und der Probentemperatur berech-
nete Stokes-Linie stimmt gut mit der gemessenen überein.
Bei der Brillouin-Streuung hängt aufgrund der linearen Dispersionsrelation der akustischen
Phononen im Zentrum der Brillouin-Zone die Frequenz der streuenden Phononen vom
Streuwinkel ab. Die typischen Frequenzänderungen der Photonen liegen im Bereich von nur
etwa 20 GHz. Ihr Nachweis erfordert hochauflösende Spektrometer. Vereinfacht betrachtet
kann die Brillouin-Streuung mit Hilfe der Bragg-Reflexion verstanden werden. Die Schall-
welle erzeugt im Festkörper eine Variation der Streudichte, an der die Lichtwelle gebeugt
wird. Die Beugungsbedingung entspricht der Bragg-Bedingung, wobei der Abstand d der
Gitterebenen durch die Periodizität der Streudichte, also der Wellenlänge λ q der Schallwelle
212 5 Gitterdynamik

100
Abb. 5.22: Stokes- und Anti- berechnet
Stokes-Linie von antiferro- Anti-Stokes (AS) ST ST
Stokes (ST)
magnetischem, isolierendem 80
Rayleigh
YBa2 Cu3 O6 aufgenommen Stokes berechnet YBa2Cu3O6

Intensität (cps/mW)
in B 1g -Symmetrie (gekreuzte aus Anti-Stokes
60 für T = 250 K (AFM)
Lichtpolarisation). Die Phonon-
Linie kann einer gegenphasigen O
Schwingung der Sauerstoffatome 40 Cu
in den CuO2 -Ebenen des Ku-  = 458 nm
prats zugeordnet werden (siehe T = 250 K
20 AS
Inset). Neben der Stokes- und
Anti-Stokes-Linie ist auch die aus
der Anti-Stokes-Linie berechne- 0
te Stokes-Linie gezeigt, die sehr
gut mit der gemessenen überein- -100 -80 -60 -40 -20 0 20 40 60 80 100
stimmt (Quelle: WMI Garching). Raman-Verschiebung  (meV)

ersetzt werden muss. Es gilt dann

2λ q sin θ = nλ . (5.5.8)

Hierbei ist λ die Lichtwellenlänge und θ = ϑ⇑2 der halbe Streuwinkel (vergleiche Abb. 5.21).
In dieser Betrachtungsweise wird die Frequenzverschiebung des Lichts durch den Doppler-
effekt erzeugt, da sich die streuenden Atome der fortlaufenden Schallwelle bewegen.

Literatur
N. W. Ashcroft, N. D. Mermin, Festkörperphysik, Oldenbourg Verlag, München (2012).
M. Born, R. Oppenheimer, Zur Quantentheorie der Molekeln, Ann. Phys. (Leipzig) 84, 457
(1927).
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Liang-fu Lou, Introduction to phonons and electrons, World Scientific, Singapore (2003).
A. Mooradiam, Light Scattering Spectra of Solids, G. B. Wright, ed., Springer, Berlin (1969).
M. Planck: Zur Theorie des Gesetzes der Energieverteilung im Normalspektrum, Verhandlun-
gen der Deutschen physikalischen Gesellschaft 2 (1900) Nr. 17, S. 245, Berlin.
G. P Srivastava, The Physics of Phonons, Taylor & Francis Group, New York (1990).
F. Schwabl, Advanced Quantum Mechanics, Springer-Verlag, Berlin (2008).
W. Weber, Adiabatic bond charge model for the phonons in diamond, Si, Ge, and α-Sn, Phys.
Rev. B 15, 4789 (1977).
6 Thermische Eigenschaften
des Kristallgitters
Wir wollen uns in diesem Kapitel mit den ther-
mischen Eigenschaften des Kristallgitters beschäfti-
gen. Dabei werden wir nur die mit den Phononen
verbundenen Eigenschaften diskutieren. Die erhal-
tenen Ergebnisse sind deshalb hauptsächlich für Iso-
latoren relevant. Auf die thermischen Eigenschaften
von Festkörpern, die mit dem elektronischen System
oder mit magnetischen Anregungen zusammenhän-
gen, werden wir später bei der Diskussion von Me-
tallen, Supraleitern oder magnetischen Materialien
eingehen. Die mit dem Kristallgitter verbundenen thermischen Eigenschaften spielen al-
lerdings auch für diese Systeme eine Rolle, da der Beitrag der Gitterschwingungen immer
demjenigen der elektronischen oder magnetischen Anregungen überlagert ist.
Im Einzelnen werden wir folgende Eigenschaften von Isolatoren diskutieren:

∎ spezifische Wärme
∎ thermische Ausdehnung
∎ Wärmeleitfähigkeit

Zur Diskussion der thermischen Eigenschaften des Kristallgitters werden wir einige grund-
legende Beziehungen der Thermodynamik und der statistischen Physik verwenden. Diese
werden wir nur plausibel machen, ohne sie explizit abzuleiten.
214 6 Thermische Eigenschaften

6.1 Spezifische Wärme


6.1.1 Definition der spezifischen Wärme
Die Wärmekapazität eines Festkörpers ist wie folgt definiert:

Die Wärmekapazität eines Stoffes ist diejenige Wärmemenge ∆Q, die benötigt wird, um
seine Temperatur um 1 K zu erhöhen:

zugeführte Wärmemenge ∆Q
C≡ = . (6.1.1)
Temperaturerhöhung ∆T

Die auf diese Weise definierte Wärmekapazität hängt natürlich von der Stoffmenge ab. Um
verschiedene Materialien vergleichen zu können, wird C meistens auf die Stoffmenge 1 mol
bezogen. Wir bezeichnen diese molare Wärmekapazität mit c m :

∆Q J
cm ≡ ]︀ {︀ . (6.1.2)
∆T ⋅ mol K ⋅ mol

Alternativ können wir die Wärmekapazität pro Masse oder Volumen eines Stoffes angeben.
Wir bezeichnen diese Größe als spezifische Wärmekapazität

C J C J
c mass ≡ ⌊︀ }︀ c vol ≡ ]︀ {︀ . (6.1.3)
m K ⋅ kg V K ⋅ m3

Die hochgestellten Indizes werden wir im Folgenden meist weglassen und dann jeweils sa-
gen, ob es sich bei c um die auf die Masse oder das Volumen normierte Wärmekapazität
handelt. Der Zusammenhang zwischen der Wärmekapazität und der inneren Energie U folgt
aus dem 1. Hauptsatz der Thermodynamik:

dQ = dU − dW = dU + pdV . (6.1.4)

Hierbei ist dQ die dem System zugeführte Wärmemenge, dU die Änderung seiner inneren
Energie und dW = −pdV die am System geleistete Arbeit. Wir sehen, dass die durch die
zugeführte Wärmemenge dQ erzielte Änderung der inneren Energie davon abhängt, ob wir
den Druck p oder das Volumen V festhalten.
Halten wir das Volumen V des Festkörpers konstant, d. h. dV = 0, so erhalten wir die Wär-
mekapazität bei konstantem Volumen:

∂Q ∂U
CV ≡ ⋀︀ = ⋀︀ . (6.1.5)
∂T V ∂T V

Am häufigsten verwendet werden die auf die Masse m normierte spezifische Wärmekapa-
zität c V = C V ⇑m oder die auf das Volumen V normierte spezifische Wärmekapazität c V =
C V ⇑V . Wir sehen, dass C V direkt mit der inneren Energie des Festkörpers zusammenhängt.
6.1 Spezifische Wärme 215

In Experimenten ist es meist sehr schwierig, das Volumen eines Festkörpers konstant zu hal-
ten, da der Festkörper sich aufgrund anharmonischer Effekte ausdehnt (siehe Abschnitt 6.3).
Experimente werden fast immer bei konstantem Druck durchgeführt, weshalb die Wärme-
kapazität bei konstantem Druck

∂Q
Cp ≡ ⋀︀ (6.1.6)
∂T p

gemessen wird. Die Thermodynamik liefert folgenden allgemeinen Zusammenhang zwi-


schen C V und C p (eine Herleitung dieser Beziehung wird in Abschnitt 6.3.2 gegeben):

C p − C V = T V α V2 B . (6.1.7)

Hierbei ist α V der Volumenausdehnungskoeffizient (vergleiche Abschnitt 6.3) und B der


Bulk-Modul (vergleiche Abschnitt 3.2.4). Die bei konstantem Druck gemessene spezifische
Wärme ist immer etwas größer, da ja ein Teil der zugeführten Energie für die Volumen-
ausdehnungsarbeit pdV benötigt wird. Um die gleiche Temperaturerhöhung zu erzielen,
muss also bei konstantem Druck mehr Energie zugeführt werden. Die Differenz zwischen C p
und C V ist aber üblicherweise sehr klein und wir werden sie im Folgenden meistens vernach-
lässigen.1 Für Blei beträgt z. B. C p = 24 J/mol K, Vmol = 18.4 cm3 , B = 4 × 106 J/cm3 , α V =
3 × 10−5 K−1 und damit C p − C V ≃ 2 J/mol, also C p − C V ≪ C p .

6.1.2 Klassische Betrachtung


Wir wollen zunächst ein System von 3N ′ = 3r ′ N wechselwirkungsfreien Schwingungsmo-
den betrachten, wie wir es für einen Kristall mit N Einheitszellen und r ′ Atomen pro Ein-
heitszelle erhalten (vergleiche hierzu Abschnitt 5.4.2). Mit Hilfe des Gleichverteilungssatzes
der klassischen Thermodynamik können wir diesen Normalmoden jeweils 21 k B T für ihre
mittlere kinetische und potenzielle Energie zuordnen. Wir erhalten damit für die mittlere
innere Energie
1
U = U eq + 3r ′ N ⋅ 2 k B T = U eq + 3r ′ N k B T . (6.1.8)
2
Hierbei ist U eq die Energie des statischen Gitters. Für die Wärmekapazität erhalten wir dar-
aus das Gesetz von Dulong–Petit:2

C V = 3r ′ N k B . (6.1.9)

Die Zahl N der Elementarzellen können wir als N = νN A schreiben, wobei

N A = 6.022 140 857(74) × 1023 1⇑mol

die Avogadro-Konstante oder Loschmidtsche Zahl und ν die Molzahl ist. Für die molare
1
Anmerkung: In harmonischer Näherung ist C p = C V , da α V = 0, siehe Abschnitt 6.3.
2
Pierre Louis Dulong, geboren 1785 in Rouen, gestorben 1838 in Paris. Alexis Thérèse Petit, gebo-
ren 1791 in Vesoul, gestorben 1820 in Paris.
216 6 Thermische Eigenschaften

spezifische Wärme erhalten wir dann

c Vm = 3r ′ ⋅ N A k B = 3r ′ ⋅ R ≃ 3r ′ ⋅ 8.31 J⇑mol K . (6.1.10)

Hierbei ist R = 8.314 4598(48) J/mol K die allgemeine Gaskonstante.


Eine wichtige Voraussetzung bei der Ableitung dieses Ergebnisses ist das Vorliegen von von-
einander unabhängigen Gitterschwingungen (Normalschwingungen). Deshalb ist die Ablei-
tung nur für den Hookeschen Bereich gültig, in dem anharmonische Effekte vernachlässigt
werden können. Wir wollen im Folgenden die obigen Ergebnisse genauer ableiten und dabei
einige der verwendeten Konzepte näher erörtern.

6.1.2.1 Thermodynamischer Mittelwert


In der Thermodynamik betrachten wir im Allgemeinen große Systeme mit vielen Teilchen.
Ist A(p, r) eine Messgröße, die von der Konfiguration der Koordinaten p und r abhängt (eine
solche Konfiguration nennen wir einen Mikrozustand), so können wir den Mittelwert dieser
Größe im thermodynamischen Gleichgewicht bei der Temperatur T wie folgt angeben:

d 3 pd 3 r A(p, r)e−βH(p,r)
∐︀Ã︀ = ∫ . (6.1.11)
∫ d 3 pd 3 r e−βH(p,r)
Dabei ist H(p, r) die klassische Hamilton-Funktion und β = 1⇑k B T. Gleichung (6.1.11) ist
ein zentrales Ergebnis der klassischen Thermodynamik. Wir sehen, dass wir, um den Mit-
telwert zu erhalten, über alle Konfigurationen p, r summieren (Integration) und dabei die
Konfiguration mit einem Boltzmann-Faktor wichten müssen. Dadurch werden Konfigura-
tionen mit hoher Energie weniger wahrscheinlich als solche mit niedriger Energie. Der Nen-
ner in (6.1.11) dient nur der Normierung.

6.1.2.2 Vertiefungsthema: Mittlere innere Energie


Einen Kristall (wir nehmen der Einfachheit halber eine einatomige Basis an) können wir in
harmonischer Näherung durch folgende Hamilton-Funktion beschreiben (vergleiche Ab-
schnitt 5.1):

p2
H=∑ + U eq + U elharm . (6.1.12)
i 2M

Hierbei läuft die Summation über i über alle Punkte des Bravais-Gitters. Für die mittlere
Energie erhalten wir dann:

dΓHe−βH
∐︀Ũ︀ = ∫

−βH
= − ln ∫ dΓe−βH . (6.1.13)
∫ dΓe ∂β

Hierbei bezeichnet

dΓ = ∏ d 3 u i d 3 p i (6.1.14)
i
6.1 Spezifische Wärme 217

das Integral über alle d 3 p i d 3 u i , wobei u i die Auslenkung des i-ten Atoms ist. Die Berech-
nung von ∐︀Ũ︀ gelingt mit folgenden Substitutionen
1 1 3
u i = ⌈︂ ̃ui d3ui = ̃i
d u (6.1.15)
β β 3⇑2
1 1 3
p i = ⌈︂ ̃pi d3 pi = d ̃
pi . (6.1.16)
β β 3⇑2

Damit erhalten wir

−βH p2
∫ dΓe = ∫ ∏ d 3 ud 3 p exp (−β ⌊︀∑ + U eq + U elharm }︀)
i i 2M
1 3 3 ̃
p2 U elharm
=∫ ∏ d ̃
u d ̃
p exp (−β ⌊︀∑ + U eq
+ }︀)
i β3 i 2Mβ β
̃
p2
= β−3N e−βU {∫ ∏ d 3 u
̃d 3 ̃
eq
p exp (− ∑ − U elharm )(︀
i i 2M
−3N −βU eq
=β e F, (6.1.17)

wobei die Größe F in den geschweiften Klammern nicht von β abhängt. Damit erhalten wir


ln [︀β−3N e−βU F⌉︀
eq
∐︀Ũ︀ = −
∂β
F (−3N β−3N−1 e−βU − β−3N U eq e−βU )
eq eq

=−
β−3N e−βU eq F
3N
= U eq + = U eq + 3N k B T . (6.1.18)
β

Wir finden also in der Tat das Ergebnis (6.1.8) und damit C V = 3N k B .
Wir wollen hier noch zwei Anmerkungen machen. Erstens erhalten wir für T = 0 das Ergeb-
nis ∐︀Ũ︀ = U eq . Dies zeigt, dass wir klassisch gerechnet haben und daher Nullpunktsschwin-
gungen nicht berücksichtigt haben. Zweitens ist U eq ⇑Atom ∼ 1 eV und daher groß gegen
k B T ∼ meV. Um einen Vergleich zwischen Theorie und Experiment zu machen, bieten sich
deshalb Messgrößen an, die nicht von U eq abhängen. Eine solche Messgröße ist gerade C V .

6.1.2.3 Experimentelle Befunde


Bevor wir zu einer quantenmechanischen Berechnung von ∐︀Ũ︀ übergehen, wollen wir kurz
das klassische Ergebnis mit experimentellen Befunden vergleichen. Abb. 6.1 zeigt die spezi-
fische Wärme c p von verschiedenen Isolatoren. Es ist deutlich Folgendes zu erkennen:

1. Bei hohen Temperaturen nähert sich die gemessene spezifische Wärme dem Dulong-
Petit Wert an. Teilweise liegt c p oberhalb dieses Wertes, was allerdings darauf zurückzu-
führen ist, dass der experimentelle Wert c p und der Dulong-Petit-Wert c V darstellt und
immer c p ≥ c V gilt.
218 6 Thermische Eigenschaften

1.0
(a) 0.4 (b)
0.8
0.3 Tm

cp (J / g K)
cp (J / g K)

0.6
Tm
0.2
0.4
Ge
0.1 Si
0.2

0.0 0.0
0 300 600 900 1200 1500 0 400 800 1200 1600 2000
Temperatur (K) Temperatur (K)

(c) 2.0

1.6
cp (J / g K)

1.2

0.8

Diamant
0.4

0.0
0 200 400 600 800 1000
Temperatur (K)

Abb. 6.1: Spezifische Wärme c p von Germanium (a), Silizium (b) und Diamant (c); Tm markiert
die Schmelztemperaturen. Um den Wert in J/mol K zu erhalten, muss mit der Molmasse von8
Si (28.08 g/mol), Ge (72.61 g/mol) und Diamant (12 g/mol) multipliziert werden. Der Dulong-Petit
Wert für C V (gestrichelte Linie) beträgt 0.882 J/g K für Si, 0.343 J/g mol für Ge und 2.075 J/g mol für
Diamant.

2. Bei tiefen Temperaturen ist das klassische Ergebnis völlig falsch. Man beobachtet eine
drastische Abnahme der spezifischen Wärme mit abnehmender Temperatur. Das Expe-
riment liefert c p ∝ T 3 .

Während wir die Abweichungen der experimentellen Daten vom Dulong-Petit Wert
bei hohen Temperaturen auf anharmonische Effekte zurückführen können, zeigen die
starken Abweichungen bei tiefen Temperaturen deutlich das Versagen der klassischen
Beschreibung. Wir müssen unsere Überlegungen deshalb auf eine quantenmechanische
Beschreibung erweitern. Der Übergang von der klassischen Beschreibung nach Dulong-
Petit zur quantenmechanischen Beschreibung entspricht dem Übergang vom Rayleigh-
Jeansschen zum Planckschen Strahlungsgesetz bei der Beschreibung des Spektrums eines
schwarzen Strahlers. Wir werden auf diese Analogie zwischen Phononen und Photonen
später in Abschnitt 6.1.7 nochmals zurückkommen.
6.1 Spezifische Wärme 219

6.1.3 Quantenmechanische Betrachtung


Unsere bisherige Diskussion legt nahe, dass die Quantisierung der Gitterschwingungen ent-
scheidend für die innere Energie und damit die spezifische Wärme des Kristallgitters ist.
Diesen Sachverhalt können wir uns durch folgende anschauliche Überlegung klarmachen.
Bei genügend kleinen Temperaturen wird immer ħω ≫ k B T gelten. Für einen klassischen
harmonischen Oszillator ist das kein Problem, da für diesen beliebige Energien möglich
sind und er folglich nach wie vor die Energie k B T aus dem Wärmebad aufnehmen kann.
Für einen quantenmechanischen Oszillator sind dagegen nur die diskreten Energiewerte

E n = (n + 12 ) ħω (6.1.19)

möglich. Für ħω ≫ k B T kann ein solcher Oszillator keine Energie aus dem Bad aufnehmen
und er verbleibt im Grundzustand. Bei genügend hohen Temperaturen, d. h. ħω ≪ k B T, ist
das natürlich möglich. Dies ist in Abb. 6.2 anschaulich dargestellt.

ℏ𝜔 ≫ 𝑘B 𝑇 ℏ𝜔 ≪ 𝑘B 𝑇
E E

Abb. 6.2: Veranschaulichung zur Besetzung ei-


nes Oszillatorzustands bei tiefen (links) und
ℏ𝜔 ℏ𝜔 𝒌𝐁 𝑻 hohen Temperaturen (rechts). Bei tiefen Tem-
peraturen kann der Oszillator keine Energie aus
dem Wärmebad aufnehmen und verbleibt im
𝒌𝐁 𝑻 Grundzustand.

In einem Kristall liegt nun eine Vielzahl von Eigenfrequenzen ω qr vor. Mit abnehmender
Temperatur verbleibt eine immer größere Zahl dieser Oszillatoren im Grundzustand. Wir
sprechen von einem „Ausfrieren“ der Schwingungsfreiheitsgrade. Dieses führt dazu, dass die
spezifische Wärme für T → 0 auch gegen null geht. Wir wollen im Folgenden diese Situation
10

quantitativ erfassen.

6.1.3.1 Quantenmechanischer Mittelwert der inneren Energie


Wir betrachten ein System aus 3N harmonischen Oszillatoren (z. B. Normalschwingungen
eines dreidimensionalen Kristalls aus N Gitterzellen mit einatomiger Basis) in Kontakt mit
einem Wärmebad der Temperatur T. Zur Vereinfachung der Rechnung nehmen wir an, dass
alle harmonischen Oszillatoren die gleiche Energie ħω haben. Wir müssen jetzt bei der Be-
rechnung des Mittelwerts der inneren Energie dieses Systems die Quantisierung der Ener-
gie berücksichtigen. Da wir gemäß (6.1.19) ein diskretes Energiespektrum vorliegen haben,
müssen wir von einer Integration zu einer Summation übergehen. Wir erhalten

∑ E n e−βE n
∐︀Ũ︀ = U + 3N
eq n
. (6.1.20)
∑ e−βE n
n
220 6 Thermische Eigenschaften

Wie bei der klassischen Betrachtung wird jeder Zustand mit einem Boltzmann-Faktor ge-
wichtet. Setzen wir (6.1.19) in (6.1.20) ein, so erhalten wir

∑ (n + 12 ) ħωe−β(n+ 2 )ħω
1

∐︀Ũ︀ = U eq + 3N
n=0

∑ e−β(n+ 2 )ħω
1

n=0

)︀
⌉︀
∞ [︀
⌉︀
⌉︀
⌉︀ e−βħω⇑2 ∑ nħωe−βħωn ⌉︀
⌉︀
⌉︀
⌉︀
⌉︀ 1 ⌉︀
= U eq + 3N ⌋︀ ħω + ⌈︀ .
n=0
∞ (6.1.21)
⌉︀
⌉︀
⌉︀ 2 −βħω⇑2 −βħωn ⌉︀
⌉︀
⌉︀
⌉︀
⌉︀ e ∑ e ⌉︀
⌉︀
]︀ n=0 ⌊︀
Mit x ≡ e−βħω finden wir
)︀
⌉︀
∞ [︀
⌉︀
⌉︀
⌉︀ ∑ nx n ⌉︀⌉︀
⌉︀
⌉︀
⌉︀ 1 ⌉︀
∐︀Ũ︀ = U + 3N ħω ⌋︀ + ∞ ⌈︀ .
eq n=0
(6.1.22)
⌉︀
⌉︀
⌉︀ 2 n ⌉︀
⌉︀
⌉︀
⌉︀
⌉︀ ∑ x ⌉︀
⌉︀
]︀ n=0 ⌊︀
Mit den Identitäten

1
∑x =
n
(6.1.23)
n=0 1−x

d ∞ n d 1 x
∑n⋅x =x⋅ ∑x =x⋅ =
n
. (6.1.24)
n=0 dx n=0 dx 1 − x (1 − x)2
erhalten wir dann
1 x 1
∐︀Ũ︀ = U eq + 3N ħω ( + ) = U eq + 3N ħω ( + ∐︀ñ︀) . (6.1.25)
2 1−x 2
Wir definieren das Scharmittel ∐︀ñ︀ = ∑ nx n ⇑ ∑ x n = x⇑(1 − x) und erhalten unter Benut-
zung von x ≡ e−ħω⇑k B T

1
∐︀ñ︀ = ħω
e kB T
−1
1
∐︀Ũ︀ = U eq
+ 3N ħω ( + ∐︀ñ︀) . (6.1.26)
2

Das Scharmittel ∐︀ñ︀ gibt die mittlere Anregungszahl des Oszillators bzw. die mittlere Beset-
zungszahl der entsprechenden Phononen im thermischen Gleichgewicht bei der Tempera-
tur T an.
Gleichung (6.1.26) stellt einen Spezialfall der allgemeinen Bose-Einstein-Verteilungsfunkti-
on dar, deren Ableitung in Anhang B gegeben ist. Da bei den Phononen die Teilchenzahl
nicht erhalten bleibt, taucht in der Verteilungsfunktion kein chemisches Potenzial µ auf.
Dies ist völlig analog zu einem Photonengas (siehe hierzu Abschnitt 6.1.7). Der Tempera-
turverlauf der Bose-Einstein-Verteilung ist in Abb. 6.3 grafisch dargestellt. Wir sehen, dass
∐︀ñ︀ ∝ k B T für k B T ≫ ħω, was der klassischen Erwartung entspricht.
6.1 Spezifische Wärme 221

2
<n>

1
Abb. 6.3: Die Bose-Einstein-Verteilungs-
funktion. Bei hohen Temperaturen nimmt
die Besetzungszahl in etwa proportional
0
zur Temperatur zu. Die Funktion (∐︀ñ︀ + 12 )
0 1 2 3 nähert sich für hohe Temperaturen dem
kBT / ћ klassischen Grenzfall (gestrichelt) an.
13

Während wir also für die Phononen die für Bosonen geltende Bose-Einstein-Verteilungs-
funktion verwenden müssen, könnten wir für klassische (unterscheidbare) Teilchen mit der
Energie E n die Maxwell-Boltzmann-Verteilung

e−E n ⇑k B T
∐︀ñ︀ = N (6.1.27)
∑ e−E n ⇑k B T
n

verwenden.

Dreidimensionales Gitter mit mehratomiger Basis: Wir hatten bei unserer obigen Dis-
kussion eine einatomige Basis angenommen. Liegt eine mehratomige Basis mit r ′ Atomen
vor, so haben wir statt 3N jetzt 3N ′ = 3r ′ N Schwingungsmoden vorliegen. Wir müssen dann
die Schwingungsfrequenzen ω qr sowohl mit den erlaubten q-Vektoren als auch den mögli-
chen Polarisationen r durchnummerieren. In Analogie zu (6.1.26) können wir die mittlere
Besetzungszahl von Phononen des Typs q, r bei der Temperatur T zu
1
∐︀n qr ̃︀ = ħω qr
(r = 1, 2, . . . , 3r ′ ) (6.1.28)
e kB T
−1
angeben. Für die mittlere Energie finden wir damit

ħω qr
∐︀Ũ︀ = U eq + ∑ 12 ħω qr + ∑ ħω qr
. (6.1.29)
q,r q,r e kB T
−1
)︁⌊︂⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ]︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂)︂ )︁⌊︂⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ]︂⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ )︂
Nullpunktsschwingungen thermische Anregungen
222 6 Thermische Eigenschaften

Wir sehen, dass sich dieser Ausdruck deutlich vom klassischen Dulong-Petit Resultat un-
terscheidet. Er enthält erstens die Nullpunktschwingungen und der Beitrag der thermisch
angeregten Gitterschwingungen nimmt zu tiefen Temperaturen hin stark ab, da die mittlere
Besetzungszahl ∐︀n(ω, T)̃︀ der Phononen stark abnimmt.
In der Praxis werden die Summen meist durch Integrale ersetzt, indem man die Zustands-
dichte Z(q) im Impulsraum oder D(ω) im Frequenzraum benutzt. Benutzen wir D(ω), so
können wir die mittlere Energie ausdrücken durch
ω D,r ω D,r
ħω
∐︀Ũ︀ = U eq + ∑ ∫ D r (ω)dω + ∑ ∫ ħωD r (ω) ∐︀n(ω, T)̃︀dω . (6.1.30)
r 2 r
0 0

Hierbei gibt der 2. Term auf der rechten Seite wiederum den Beitrag der Nullpunktsschwin-
gungen an. Die charakteristische Abschneidefrequenz ω D werden wir in Abschnitt 6.1.5 bei
der Diskussion des Debye-Modell motivieren. Im 3. Term auf der rechten Seite kann die In-
tegrationsgrenze meist in sehr guter Näherung gegen unendlich verschoben werden, da die
mittlere Besetzungszahl ∐︀n(ω, T)̃︀ für große Frequenzen gegen null geht.

6.1.4 Temperaturverlauf der spezifischen Wärme


Mit der inneren Energie (6.1.29) können wir sofort die Wärmekapazität bei konstantem Vo-
lumen angeben:

∂∐︀Ũ︀ ∂ ħω qr
CV = ⋁︀ = ∑ ħω qr
. (6.1.31)
∂T V q,r ∂T
e kB T
−1

Wir wollen diesen Ausdruck für den Grenzfall hoher und niedriger Temperaturen analysie-
ren.

1. Hohe Temperaturen: k B T ≫ ħω qr
In diesem Grenzfall können wir die Exponentialfunktion entwickeln und erhalten

kB T
∐︀n qr ̃︀ ≃ . (6.1.32)
ħω qr

Damit ergibt sich

∂ kB T
CV = ∑ ħω qr = ∑ k B = 3r ′ N k B . (6.1.33)
q,r ∂T ħω qr q,r

Wir finden also das klassische Dulong-Petit Gesetz. Dies war nach der obigen Diskussi-
on (vergleiche hierzu auch Abb. 6.2) zu erwarten. Für k B T ≫ ħω qr nehmen alle Schwin-
gungsmoden Energie aus dem Wärmebad auf. Es sind keine Freiheitsgrade eingefroren
und das System verhält sich klassisch.
6.1 Spezifische Wärme 223

2. Tiefe Temperaturen: k B T ≪ ħω qr
Die Diskussion des Tieftemperaturverhaltens ist etwas schwieriger. Um einen einfachen
Ausdruck abzuleiten, werden wir einige Näherungen machen. Zunächst nehmen wir an,
dass N groß ist (großer Kristall), so dass die Zustände im q-Raum dicht liegen. Wir kön-
nen dann die Summation über q in eine Integration überführen:
V
∑ → ∑ ∫ d qZ(q) = ∑ ∫ d q
3 3
. (6.1.34)
q,r r r (2π)3
1. BZ 1. BZ

Wir können zusätzlich für tiefe Temperaturen folgende Näherungen machen:


∎ Wir betrachten nur die akustischen Moden, da die optischen Moden hohe Energien
besitzen und deshalb ihre Besetzung vernachlässigbar klein ist. Die Summe ∑r über
alle Phononenzweige können wir dann durch die Summe ∑3i=1 über die drei akusti-
schen Zweige ersetzen.
∎ Für genügend tiefe Temperaturen können wir die Dispersionskurven der akustischen
Zweige durch Geraden ω i (q) = v i q annähern (siehe hierzu Abb. 6.4). Hierbei sind v i
die Schallgeschwindigkeiten der drei akustischen Moden.
∎ Das Integral über die 1. Brillouin-Zone wird durch ein Integral über alle q ersetzt. Da
die Bose-Einstein-Verteilungsfunktion für große q wegen k B T ≪ ħω sehr klein ist,
ist der hierdurch gemachte Fehler vernachlässigbar klein.

1.0

0.8 optische Zweige

0.6

akustische Zweige
0.4
Abb. 6.4: Zur Veranschaulichung der Nä-
0.2 herungen bei der Ableitung des Tieftem-
peraturgrenzfalles der Wärmekapazität.
𝝎 = 𝒌𝐁 𝑻/ℏ Da k B T klein ist, können die optischen
0.0 Moden vernachlässigt und die akustischen
-0.8 -0.4 0.0 0.4 0.8 Zweige durch lineare Dispersionsrelationen
qa / angenähert werden.
16

Mit diesen Näherungen erhalten wir



V ∂ 3 ħv i q
CV = ∑ ∫ d q ħv i q⇑k B T
3
. (6.1.35)
(2π) ∂T i=1
3 e −1
−∞

Wir werten das Integral in Kugelkoordinaten aus. Es gilt d 3 q = q 2 dq sin ϑdϑdφ =


q 2 dqdΩ und das Integral über dΩ = sin ϑdϑdφ ergibt 4π. Mit den Abkürzungen
x ≡ ħv i q⇑k B T bzw. dx ≡ dqħv i ⇑k B T erhalten wir

3V ∂ (k B T)4 x3
CV = 2 ∫ dx , (6.1.36)
2π ∂T (ħv s )3 ex − 1
0
224 6 Thermische Eigenschaften

wobei wir für die mittlere Schallgeschwindigkeit der drei akustischen Moden

1 1 3 dΩ 1
= ∑∫ (6.1.37)
v s3 3 i=1 4π v i3

verwendet haben. Das Integral ∫0 dx(︀x 3 ⇑(ex − 1)⌋︀ ergibt π 4 ⇑15, so dass wir

2π 2 kB T 3
CV = V kB ( ) (6.1.38)
5 ħv s

erhalten. Dieses Ergebnis ist in guter Übereinstimmung mit dem experimentell beobach-
teten T 3 -Verhalten der Wärmekapazität bei tiefen Temperaturen.

6.1.5 Debye- und Einstein-Näherung


Die so genannten Debye- und Einstein-Näherungen waren die ersten quantenmechanischen
Theorien zur Beschreibung der spezifischen Wärme des Kristallgitters. Sie geben eine nähe-
rungsweise Beschreibung der spezifischen Wärme über den gesamten Temperaturbereich
an. Sie sollen deshalb hier kurz vorgestellt werden. Sie unterscheiden sich nur hinsichtlich
der Annahmen, die für die Zustandsdichte D(ω) der Gitterschwingungen gemacht werden.

6.1.5.1 Die Einstein-Näherung


In der Einstein-Näherung3 wird angenommen, dass die 3N-Eigenschwingungen eines Gitter
(einatomige Basis: r ′ = 1, 3N ′ = 3r ′ N = 3N) alle die gleiche Frequenz ω E haben sollen, das
heißt

D(ω) = 3N δ(ω − ω E ) . (6.1.39)

Für die mittlere innere Energie erhalten wir gemäß (6.1.26)


1 1
∐︀Ũ︀ = 3N ħω E ( + ħω ⇑k T ). (6.1.40)
2 e E B −1
Hierbei haben wir U eq = 0 gesetzt. Wir führen noch die charakteristische Einstein-Tempe-
ratur
ħω E
ΘE = (6.1.41)
kB

ein und erhalten damit die Wärmekapazität C VE = ∂∐︀Ũ︀⇑∂T zu

ΘE 2 eΘ E ⇑T
C VE = 3N k B ( ) . (6.1.42)
T (︀eΘ E ⇑T − 1⌋︀2

3
A. Einstein, Die Plancksche Theorie der Strahlung und die Theorie der spezifischen Wärme, Annalen
der Physik 327 (1), 180–190 (1907).
6.1 Spezifische Wärme 225

Als Näherungen für hohe und tiefe Temperaturen erhalten wir


)︀
⌉︀ Θ 2 −Θ ⇑T
⌉︀3N k B ( TE ) e E für T ≪ ΘE
C VE = ⌋︀ (6.1.43)
⌉︀
⌉︀ T ≫ ΘE
]︀3N k B für

Wir erhalten also wiederum das Dulong-Petitsche Gesetz als Hochtemperaturgrenzfall. Fer-
ner erhalten wir eine starke Abnahme der Wärmekapazität zu tiefen Temperaturen hin. Dies
stimmt zwar mit dem Experiment qualitativ überein, das experimentell häufig beobachtete
T 3 -Verhalten bei tiefen Temperaturen wird allerdings nicht beschrieben.
Abb. 6.5 zeigt die molare Wärmekapazität von Diamant zwischen etwa 200 und 1300 K. Wir
sehen, dass das Einstein-Modell in diesem Temperaturbereich die experimentellen Daten
recht gut beschreibt. Bei tieferen Temperaturen treten allerdings starke Abweichungen auf.
Dies ist anschaulich klar, da in diesem Temperaturbereich die akustischen Phononen die do-
minierende Rolle spielen und deren Zustandsdichte sicherlich nicht mit D(ω) = 3N δ(ω −
ω E ) beschrieben werden kann. Die Einstein-Näherung ist immer dann gut, wenn die opti-
schen Phononen dominieren, die wegen ihrer häufig sehr flachen Dispersion gut mit dieser
Zustandsdichte beschrieben werden können.
24
Diamant
20
cp (J / mol K)

16 Einstein-Näherung

12

4
𝚯𝐄 = 𝟏𝟑𝟐𝟎 𝐊
0 Abb. 6.5: Molare Wärmekapazität von Dia-
0.0 0.2 0.4 0.6 0.8 1.0
mant verglichen mit der Einstein-Näherung
T / E unter Benutzung von Θ E = 1320 K.
17

6.1.5.2 Die Debye-Näherung


Bei der Debye-Näherung (einatomige Basis: r ′ = 1, 3N ′ = 3r ′ N = 3N) werden folgende An-
nahmen gemacht:

1. Alle Phononenzweige werden durch 3 Zweige mit linearer Dispersion ω i = v i q angenä-


hert. Diese Näherung ist bei tiefen Temperaturen meist sehr gut, da hier die Besetzung
der optischen Phononen vernachlässigbar klein ist und wir die verbleibenden 3 akusti-
schen Zweige gut mit einer linearen Dispersionsrelation annähern können. Die Summa-
tion ∑r in (6.1.31) geht dann in ∑3i=1 über.
2. Die Summation über alle Wellenvektoren q ersetzen wir durch eine Integration über die
1. Brillouin-Zone. Da für die linearen Dispersionsrelationen die Flächen konstanter Fre-
quenz Kugeloberflächen sind, vereinfachen wir diese Integration weiter, indem wir das
226 6 Thermische Eigenschaften

Peter Joseph Wilhelm Debye (1884–1966), Nobelpreis für Chemie 1936


Peter Joseph Wilhelm Debye wurde am 24. März 1884 in
Maastricht geboren. Nach der Ausbildung zum Elektroinge-
nieur an der Technischen Hochschule Aachen studierte er in
München Physik. Dort wurde er 1908 promoviert und ha-
bilitierte sich im Jahr 1910. 1911 folgte er einem Ruf an die
Universität Zürich als Vertretung Albert Einsteins an den
Lehrstuhl für Theoretische Physik. Bereits 1912 kehrte er in
sein Heimatland zurück. Er wechselte an die Universität Ut-
recht und wurde dort 1913 Professor. Im Jahr 1914 erhielt er
einen Ruf an die Universität Göttingen, wo er bis 1920 lehr-
te. Ab 1915 gab er die „Physikalische Zeitschrift“ heraus, ei-
ne Tätigkeit, die er bis 1940 weiterführte.
Im Jahr 1916 entwickelte Debye zusammen mit Paul Scher- © Museum Boerhaave.
rer eine Methode zur Bestimmung der Atomstruktur von
Kristallen mittels Röntgenstrahlen (Debye-Scherrer-Verfahren). Im Jahr 1920 kehrte er
nach Zürich zurück und wurde Professor an der ETH Zürich und Leiter des dortigen Phy-
sikalischen Instituts. Im Jahr 1922 entwickelte er mit seinem Assistenten Erich Hückel eine
Theorie der starken Elektrolyte in wässriger Lösung, welche später von Onsager verfeinert
und als Debye-Hückel-Onsager-Theorie bekannt wurde. 1923 führte er Wellenlängenmes-
sungen mittels Interferenzversuchen an Kristallen durch und gab eine quantentheoretische
Deutung des Compton-Effekts. Im Jahr 1927 folgte er dann einem Ruf an die Universität
Leipzig. Schließlich übernahm er 1934 den Lehrstuhl für Physik an der Universität Berlin
und wurde 1935 Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Physik. Im Jahr 1936 erhielt er
den Nobelpreis für Chemie für seine Beiträge zur Klärung der Molekularstruktur, die auf
seinen Forschungsarbeiten über die Dipolmomente, die Röntgendiffraktion und die Spek-
troskopie von Gasen basieren. Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten
musste Debye Deutschland verlassen und ging 1940 als Professor für Chemie an die Cor-
nell University in Ithaca. Dort lehrte er bis 1957.
Peter Debye wurde für seine herausragenden Forschungsleistungen mit zahlreichen Aus-
zeichnungen bedacht. Er erhielt die Ehrendoktorwürde zahlreicher Universitäten (u. a. Ox-
ford, Sofia, Mainz, RWTH Aachen, ETH Zürich, Harvard). Er erhielt ferner die Rumford
Medal der Royal Society, London, die Franklin und Faraday Medals, die Lorentz Medaille
der Königlich Niederländischen Akademie, die Max-Planck-Medaille der Deutschen Phy-
sikalischen Gesellschaft (1950), die Willard Gibbs Medal (1949), die Nichols Medal (1961),
den Kendall Preis (1957) und die Priestley Medal der American Chemical Society (1963).
Peter Debye verstarb am 2. November 1966 in Ithaca, USA.

Integral über die 1. Brillouin-Zone durch ein Integral über eine Kugel mit Radius q D
ersetzen. Dabei muss der Debye-Wellenvektor q D gerade so gewählt werden, dass das In-
tegral genau N Wellenvektoren enthält. Dies stellt bei 3 Dispersionszweigen sicher, dass
3N-Schwingungsmoden auftreten.
6.1 Spezifische Wärme 227

Wir müssen zunächst die Länge des Debye-Wellenvektors q D bestimmen. Wir wissen, dass
im q-Raum ein Zustand das Volumen (2π⇑L)3 einnimmt. Da wir pro Dispersionszweig
N Zustände vorliegen haben und diese in einer Kugel mit Radius q D enthalten sein müs-
sen, erhalten wir
2π 3 4 3
N( ) = πq D (6.1.44)
L 3
und damit
N 1⇑3
q D = (6π 2 ) . (6.1.45)
V
Analog erhalten wir für die Debye-Frequenz

N 1⇑3
ω D,i = q D v i = v i (6π 2 ) , (6.1.46)
V
wobei v i die Schallgeschwindigkeit des i-ten Dispersionszweiges ist. Die Zustandsdichte für
q2 2
jeden Dispersionszweig ist laut (5.3.26) durch D i (ω) = 2πV 2 v i = 2πV 2 ωv 3 gegeben. Wir sehen,
i
dass q D und ω D durch die Zellendichte N⇑V bestimmt werden, die wegen r ′ = 1 der Atom-
dichte entspricht. Die durch das Debye-Modell gemachte Vereinfachung der Phononen-
Zustandsdichte ist in Abb. 6.6 veranschaulicht. Während die Zustandsdichte in der Debye-
Näherung einer Parabel folgt, kann die wirkliche Zustandsdichte eine reichhaltige Struktur
zeigen. Insbesondere können scharfe Spitzen durch van Hove-Singularitäten auftreten (siehe
Abschnitt 5.3.3). Die Größe der Debye-Frequenz ω D ist dadurch bestimmt, dass das Integral
∫ D(ω)dω gerade die Anzahl der Schwingungsmoden ergeben muss. Die Fläche unter den
beiden D(ω)-Kurven in Abb. 6.6 muss deshalb genau gleich sein.
Mit den gemachten Näherungen können wir jetzt die Wärmekapazität schreiben als
qD
V ∂ 3 ħv i q
C VD = ∑ ∫ 4πq dq ħv i q⇑k B T
2
. (6.1.47)
(2π) ∂T i=1
3 e −1
0

25

Debye-
D() (109 s/cm3)

20 Näherung

realer
15 Festkörper

10

5
Abb. 6.6: Phononen-Zustandsdichte ei-
nes realen Festkörpers und die Debye-
𝝎𝐃
Näherung. Die Debye-Frequenz ω D bzw.
0 der Debye-Wellenvektor q D ist so gewählt,
0 10 20 30 40
dass die Flächen unter den Kurven gleich
 (1012 s-1) sind.
21
228 6 Thermische Eigenschaften

Verwenden wir wiederum die durch (6.1.37) definierte mittlere Schallgeschwindigkeit v s der
drei Dispersionszweige, so erhalten wir
qD
∂ 3ħv s q 3 dq
C VD =V ∫ ħv s q⇑k B T . (6.1.48)
∂T 2π 2 e −1
0

Führen wir ferner die Debye-Temperatur über

ħω D ħv s q D ħv s N 1⇑3
ΘD ≡ = = (6π 2 ) (6.1.49)
kB kB kB V

ein, so erhalten wir mit der Substitution x ≡ ħv s q⇑k B T bzw. dx ≡ dq kħvB Ts

Θ D ⇑T
T 3 x 4 ex dx
C VD = 9N k B ( ) ∫ . (6.1.50)
ΘD (ex − 1)2
0

Dies ist das berühmte Debye-Resultat für die Wärmekapazität, das in Abb. 6.7 grafisch darge-
stellt ist. Wir sehen, dass die molare Wärmekapazität durch einen materialspezifischen Para-
meter, die Debye-Temperatur Θ D , ausgedrückt werden kann. Das gleiche Ergebnis erhalten
wir, wenn wir die innere Energie gemäß U = ∫0 D ħωD(ω)∐︀n(ω, T)̃︀dω mit der Zustands-
ω

dichte nach (5.3.26) berechnen und nach T ableiten.

24
𝟑𝑵𝒌𝐁
20
cV (J/mol K)

16

12
D

Debye-Modell
8

0
Abb. 6.7: Spezifische Wärme berech- 0.0 0.4 0.8 1.2 1.6 2.0
net mit der Debye-Näherung (6.1.50). T / D
22

Als Näherungen für hohe und tiefe Temperaturen erhalten wir4


)︀
⌉︀ 4 3
⌉︀ 12π N k B ( ΘTD ) für T ≪ ΘD
C VD = ⌋︀ 5 (6.1.51)
⌉︀
⌉︀ T ≫ ΘD
]︀3N k B für

Das Tieftemperaturergebnis erhalten wir dabei wiederum, indem wir die obere Integrati-
onsgrenze gegen Unendlich gehen lassen. Das Integral ergibt in diesem Fall 4π 4 ⇑15. Das
erhaltene Ergebnis ist identisch zu (6.1.38). Wir sehen also, dass die Debye-Näherung das
4
Dabei benutzen wir für T ≫ Θ D , d. h. x ≪ 1, die Näherungen ex ≃ 1 und (ex − 1)2 ≃ x 2 .
6.1 Spezifische Wärme 229

Dulong-Petitsche Gesetz als Hochtemperaturgrenzfall liefert. Ferner erhalten wir aber auch
für tiefe Temperaturen das experimentell häufig beobachtete T 3 -Verhalten.5
Ein typisches experimentelles Ergebnis zum Tieftemperaturverhalten der Wärmekapazität
des Kristallgitters ist in Abb. 6.8 gezeigt, wo die molare Wärmekapazität von festem Argon
gegen die 3. Potenz der Temperatur geplottet ist. Es ergibt sich in sehr guter Näherung eine
Gerade.

20 Argon
cp (mJ/mol K)

16

12

8
Abb. 6.8: Molare Wärmekapazität von fes-
4 tem Argon geplottet gegen T 3 . Das ex-
perimentelle Ergebnis stimmt sehr gut
0
mit dem Debyeschen T 3 -Gesetz überein
0 2 4 6 8 (nach L. Finegold und N. E. Philips, Phys.
3 3
T (K ) Rev. 177, 1383–1391 (1969)).
23

Die Debye-Temperatur spielt eine wichtige Rolle in der Festkörperphysik. Die Debye-Tem-
peraturen der chemischen Elemente sind in Abb. 6.9 zusammengestellt. Die Größe der De-
bye-Temperatur ist ein Maß für die Größe der in einem Material vorkommenden Phononen-
frequenzen. Die Debye-Temperatur gibt auch den Grenzbereich zwischen einer klassischen
und einer quantenmechanischen Beschreibung der thermischen Eigenschaften des Kristall-
gitters an:

T < ΘD quantenmechanisch: Moden frieren aus


(6.1.52)
T > ΘD klassisch: alle Moden sind angeregt

Spezifische Wärme niederdimensionaler Systeme Bei der oben geführten Diskussion


sind wir immer von dreidimensionalen Systemen ausgegangen. Die Diskussion kann aber
leicht auf niederdimensionale Systeme erweitert werden, indem wir im Ausdruck (6.1.30)
für die innere Energie die in Abschnitt 5.3.3 abgeleiteten Zustandsdichten für nieder-
dimensionale Systeme einsetzen. Für ein zweidimensionales System ist D(2) (ω) ∝ ω
(vergleiche (5.3.31)) und die Berechnung der spezifischen Wärme liefert
(2)
C V (T) ∝ T 2 . (6.1.53)
5
Das T 3 -Verhalten kann anschaulich auch durch folgende Argumentation erhalten werden: Bei
tiefen Temperaturen sind alle Zustände bis ħω ≃ k B T besetzt. Eine Temperaturerhöhung liefert
neue Zustände D(ω)ħdω ≃ D(ω)k B dT. Die entsprechende Änderung der inneren Energie ist
dU = D(ω)ħωdω. Mit einer Zustandsdichte D(ω) ∝ ω 2 (vergleiche hierzu Abschnitt 5.3.3) er-
halten wir dU ≃ ω 3 dT und damit C V = dU⇑dT ∝ ω 3 ∝ T 3 . Bei hohen Temperaturen sind dage-
gen alle Zustände bis ω D besetzt, weshalb eine T-Erhöhung keine neuen Zustände mehr liefert. Es
gilt ∐︀ñ︀ ≃ k B T⇑ħω ∝ T und damit C V = dU⇑dT = const.
230 6 Thermische Eigenschaften

Dieses Ergebnis kann experimentell zum Beispiel anhand von nur eine Monolage dicken Ad-
sorbatfilmen von Gasatomen auf Graphitoberflächen beobachtet werden.6 Die adsorbierten
Gasatome werden nur schwach durch Van der Waals-Kräfte an die Unterlage gebunden und
bilden zweidimensionale Kristalle aus. Die gemessene spezifische Wärme verläuft tatsächlich
proportional zu T 2 .

6.1.6 Phononenzahl und Nullpunktsenergie


Mit den im vorangegangenen Abschnitt abgeleiteten Beziehungen können wir noch eini-
ge häufig gebrauchte Zusammenhänge ableiten. Als erstes wollen wir uns überlegen, wie
die Phononenzahl N ph mit steigender Temperatur zunimmt. Die Phononenzahl ist gegeben
durch
ωD
N ph = ∫ D(ω)∐︀n(ω, T)̃︀dω . (6.1.54)
0

2
Im Rahmen des Debye-Modells gilt für 3D-Systeme D(ω) = 2π 3V ω
2 v 3 , wobei v s die mittle-
s
re Schallgeschwindigkeit der akustischen Phononenzweige ist. Mit den Abkürzungen x =
ħω⇑k B T, dx = ħdω⇑k B T und x D = ħω D ⇑k B T = Θ D ⇑T erhalten wir
xD
3V kB T 3 x2
N ph = 2 3( ) ∫ x dx . (6.1.55)
2π v s ħ e −1
0

Für tiefe Temperaturen geht x D → ∞ und das Integral wird konstant. Die Phononenzahl
nimmt folglich proportional zu T 3 zu. Für hohe Temperaturen ist x ≪ 1. Wir können dann
die Exponentialfunktion durch 1 + x annähern und das Integral ergibt 12 (Θ D ⇑T)2 . Die Pho-
nonenzahl nimmt folglich proportional zu T zu. Insgesamt erhalten wir somit das Ergebnis:
)︀
⌉︀
⌉︀T 3 für T ≪ ΘD
N ph ∝ ⌋︀ (6.1.56)
⌉︀
⌉︀ T für T ≫ ΘD .
]︀
Als nächstes wollen wir die innere Energie der Nullpunktsschwingungen abschätzen. Ge-
mäß (6.1.30) gilt
ωD
ħω
U0 = ∫ D(ω)dω . (6.1.57)
2
0

3V ω 2
Setzen wir die Zustandsdichte D(ω) = 2π 2 v s3
ein und benutzen v s3 = ω 3D ⇑q 3D sowie
q 3D = 6π 2 N⇑V , so erhalten wir

U 0 = 98 N k B Θ D . (6.1.58)
6
S. V. Hering, S. W. Sciver and O. E. Vilches, Apparent new phase of monolayer 3 He and 4 He films
adsorbed on grafoil as determined from heat capacity measurements, J. Low Temp. Phys. 25, 793–
805 (1976).
6.1 Spezifische Wärme 231

Thermische Leitfähigkeit und Debye Temperatur

Be B C N O F Ne
1440 Debye Temperatur (K) ... 2230 ... ... ... 75
2.00 Thermische Leitfähigkeit bei 300K (W/cmK) 0.27 1.29 ... ... ... ...
Na Mg Al Si P S Cl Ar
158 400 ... 428 645 ... ... ... 92
1.41 1.56 2.37 1.48 ... ... ... ...
K Ca Sc Ti V Cr Mn Fe Co Ni Cu Zn Ga Ge As Se Br Kr
91 230 360 420 380 630 410 470 445 450 343 327 320 374 282 90 ... 72
1.02 ... 0.16 0.22 0.31 0.94 0.08 0.80 1.00 0.91 4.01 1.16 0.41 0.6 0.50 0.02 ... ...
Rb Sr Y Zr Nb Mo Tc Ru Rh Pd Ag Cd In Sn Sb Te I Xe
56 147 280 291 275 450 ... 600 480 274 225 209 108 200 211 153 ... 64
0.58 ... 0.17 0.23 0.54 1.38 0.51 1.17 1.50 0.72 4.29 0.97 0.82 0.67 0.24 0.02 ... ...
Cs Ba La Hf Ta W Re Os Ir Pt Au Hg Tl Pb Bi Po At Rn
38 110 142 252 240 400 430 500 420 240 165 71.9 78.5 105 119 ... ... 64
0.36 ... 0.14 0.23 0.58 1.74 0.48 0.88 1.47 0.72 3.17 ... 0.46 0.35 0.08 ... ... ...
Fr Ra Ac
... ... ... ...
... ... ...
Ce Pr Nd Pm Sm Eu Gd Tb Dy Ho Er Tm Yb Lu
... ... ... ... ... ... ... 200 ... 210 ... ... ... 120 210 ...
0.11 0.13 0.16 ... 0.13 ... 0.11 0.11 0.11 0.16 0.14 0.17 0.35 0.16
Th Pa U Np Pu Am Cm Bk Cf Es Fm Md No Lr
... 163 ... 207 ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ...
0.54 ... 0.28 0.06 0.07 ... ... ... ... ... ... ... ... ...

Abb. 6.9: Debye-Temperatur und thermische Leitfähigkeit der chemischen Elemente.

Vergleichen wir diese Energie mit der thermischen Energie (3. Term auf der rechten Seite
von (6.1.30))
ωD
1
U th (T) = ∫ ħωD(ω) dω , (6.1.59)
eħω⇑k B T −1
0

so sehen wir, dass U th (T = Θ D ) ≈ 2U 0 . Da die Debye-Temperaturen vieler Substanzen im


Bereich zwischen 100 K und 500 K liegen (siehe Abb. 6.9), bedeutet dies, dass die Nullpunkts-
energie und die thermische Energie vieler Substanzen bei Raumtemperatur in etwa gleich
groß sind.

6.1.7 Vertiefungsthema: Analogie zwischen


Phononen- und Photonengas
Wir wollen in diesem Abschnitt kurz auf die Analogie zwischen der Theorie der elektro-
magnetischen Strahlung im thermischen Gleichgewicht (Schwarzkörperstrahlung) und der
Theorie der Gitterschwingungen eines Festkörpers eingehen. Im ersten Fall betrachten wir
ein Gas von nicht wechselwirkenden Photonen, die in einem Behälter mit Volumen V einge-
schlossen sind. Die Photonen können als Teilchen mit der Energie є = ħω und dem Impuls
p = ħk mit ⋃︀p⋃︀ = ħω⇑c betrachtet werden. Wir können somit die Photonen wie ein ideales Gas
von freien Bosonen (Photonen haben den Spin 1) behandeln, wir sprechen vom Photonen-
gas. In Analogie dazu können wir bei dem System aus nicht wechselwirkenden Gitterschwin-
gungen von einem Phononengas sprechen. Die Phononen können ebenfalls als Teilchen mit
232 6 Thermische Eigenschaften

Impuls p = ħq (= ħω q ⇑v s bei linearer Dispersion ω q = v s q) und Energie E = ħω q aufgefasst


werden.
Die Beschreibung von Photonen- und Phononengasen war zu Beginn des 20. Jahrhunderts
ungeklärt. Die Versuche einer klassischen Beschreibung (Rayleigh-Jeans-Modell für Photo-
nengas und Dulong-Petit-Modell für Phononengas) führten zu völlig falschen Ergebnissen.
Erst die Einführung der Quantenhypothese durch Max Planck führte zu einer richtigen Be-
schreibung. Wir wollen hier kurz aufzeigen, dass die Beschreibung von Photonen- und Pho-
nonengasen völlig analog ist, wenn wir für beide eine lineare Dispersion annehmen. Für Pho-
tonen (ω = ck) liegt diese Dispersion natürlich uneingeschränkt vor, für Phononen (ω = v s q)
stellt sie nur im Tieftemperaturgrenzfall eine gute Näherung dar. Wir sehen, dass die äqui-
valenten Geschwindigkeiten die Lichtgeschwindigkeit und die Schallgeschwindigkeit sind.
Da wir in den vorangegangenen Abschnitten das Phononengas diskutiert haben, wollen wir
die erhaltenen Ergebnisse hier benutzen, um die äquivalenten Ausdrücke für ein Photonen-
gas abzuleiten. Historisch war dies allerdings genau andersherum. Nach (5.3.17) ist die Dich-
te der Zustände im Impulsraum V ⇑(2π)3 . Betrachten wir die mittlere Anzahl η(k)d 3 k von
Photonen pro Volumeneinheit, deren Wellenvektor zwischen k und k + dk liegt, so erhalten
wir
1 d3k
η(k)d 3 k = . (6.1.60)
eħω⇑k B T − 1 (2π)3

Wir können nun diesen Ausdruck benutzen (vergleiche hierzu auch Abschnitt 5.3.3), um die
mittlere Photonenzahl zu bestimmen, deren Frequenz ω = c⋃︀k⋃︀ im Intervall (︀ω, ω + dω⌋︀ liegt.
Diese erhalten wir, indem wir die erlaubten Impulszustände über das gesamte Volumen des
k-Raumes aufsummieren, das in einer Kugelschale mit dem inneren Radius k = ω⇑c und
dem äußeren Radius k + dk = (ω + dω)⇑c enthalten ist. Wir müssen ferner noch berück-
sichtigen, dass es für Photonen zwei Polarisationsrichtungen gibt (es gibt nur transversale
elektromagnetische Wellen), was wir durch einen zusätzlichen Faktor 2 berücksichtigen. Wir
erhalten somit
8π ω 2 dω
2η(k)(4πk 2 dk) = . (6.1.61)
(2πc)3 eħω⇑k B T − 1

Wir wollen nun die mittlere Energiedichte u(ω, T)dω der Photonen beider Polarisations-
richtungen im Frequenzbereich zwischen ω und ω + dω berechnen. Da jedes Photon in die-
sem Intervall die Energie ħω hat, erhalten wir

u(ω, T)dω = 2η(k)(4πk 2 dk)ħω (6.1.62)

und mit k = ω⇑c

ħ ω 3 dω
u(ω, T)dω = . (6.1.63)
π 2 c 3 eħω⇑k B T − 1
Dieser Ausdruck stellt das in Abschnitt 5.4.1 erwähnte Plancksche Strahlungsgesetz dar, das
wir mit den für die Beschreibung des Phononengases eingeführten Konzepten sehr einfach
ableiten können.
6.2 Anharmonische Effekte 233

Integrieren wir (6.1.63) über alle Frequenzen auf, so erhalten wir7



π 2 k B4
U(T) = ∫ u(ω, T)dω = T4 . (6.1.64)
15 (cħ)3
0

Dieses Ergebnis, dass die Dichte U der über alle Frequenzen integrierten Strahlungsenergie
eines Photonengases proportional zu T 4 ist, kennen wir als das Stefan-Boltzmannsche Ge-
setz. Differenzieren wir dieses Ergebnis nach der Temperatur und multiplizieren mit dem
Volumen, so erhalten wir die Wärmekapazität des Photonengases zu

4π 2 kB T 3
=V kB ( ) .
photon
CV (6.1.65)
15 ħc
Um den entsprechenden Ausdruck für das Phononengas zu erhalten, müssen wir nur die
Lichtgeschwindigkeit c durch die Schallgeschwindigkeit v s ersetzen und berücksichtigen,
dass wir beim Licht nur 2 transversale Moden haben, bei den Phononen dagegen 2 trans-
versale und eine longitudinale Mode.8 Wir müssen deshalb noch mit dem Faktor 32 mul-
tiplizieren. Wir sehen sofort, dass wir dann die Tieftemperaturnäherung (6.1.38) der Wär-
mekapazität des Phononengases erhalten. Umgekehrt hätten wir auch Gleichung (6.1.38)
aufintegrieren können und hätten dadurch das Stefan-Boltzmann-Gesetz erhalten.

6.2 Anharmonische Effekte


Die bisherige Behandlung der Gitterschwingungen erfolgte in harmonischer Näherung. In
dieser Näherung hängt die rücktreibende Kraft auf ein Gitteratom linear mit seiner Auslen-
kung aus der Ruhelage zusammen, d. h. F = −kx (Hookescher Bereich), und die potenzielle
Energie U = ∫ −Fdx = 12 kx 2 ist quadratisch in der Auslenkung. Die Vernachlässigung an-
harmonischer Effekte hat folgende Konsequenzen:

1. Es gibt keine thermische Ausdehnung. Dies erkennen wir sofort aus Abb. 6.10. Erhöhen
wir die Temperatur, so werden zwar höhere Schwingungszustände angeregt, der Schwer-
punkt der Schwingungszustände bleibt allerdings bei einem parabelförmigen, harmoni-
schen Potenzial unverändert.
2. Die elastischen Konstanten sind druck- und temperaturunabhängig.
3. Es gilt C p = C V , d. h. die üblicherweise im Experiment gemessene Wärmekapazität C p
ist bei hohen Temperaturen T > Θ D konstant.
4. Es gibt keine Wechselwirkung zwischen den Gitterschwingungen.9
∞ 4 ∞ x3
7
Wir schreiben ∫ u(ω, T)dω = ħ
π2 c 3
( k BħT ) ∫e x −1
dx mit x = ħω⇑k B T. Das Integral ergibt
0 0

x3 π4
∫ e x −1
dx = 15
, womit wir das Ergebnis (6.1.64) erhalten.
0
8
Im Tieftemperaturgrenzfall können wir die optischen Moden vernachlässigen.
9
Dies ist völlig analog zu elektromagnetischen Wellen, bei denen Wechselwirkungen erst dann auf-
treten, wenn die Polarisation P in nichtlinearer Weise mit dem elektrischen Feld zusammenhängt.
234 6 Thermische Eigenschaften

Abb. 6.10: Gleichgewichtsposition für verschiedene


Anregungszustände eines harmonischen Oszillators. 𝒙

In realen Kristallen ist keine dieser Konsequenzen gegeben. Dies zeigt uns, dass die Vernach-
lässigung anharmonischer Effekte zwar eine bequeme aber in vielen Fällen zu grobe Verein-
fachung war. Wir werden deshalb jetzt anharmonische Effekte in unsere Überlegungen mit
einbeziehen. Dabei werden wir die anharmonischen Effekte in zwei Gruppen aufteilen:

∎ Gleichgewichtseigenschaften:
• thermische Ausdehnung
• Druck- und Temperaturabhängigkeit der elastischen Konstanten
∎ Transporteigenschaften:
• Wärmeleitfähigkeit

6.2.1 Anharmonisches Potenzial


Die harmonische Näherung haben wir dadurch erhalten (siehe Abschnitt 5.1.2), dass wir das
Wechselwirkungspotenzial um die Gleichgewichtsposition der Atome in eine Taylor-Reihe
entwickelt haben und nur Terme bis zur quadratischen Ordnung in der Auslenkung u be-
rücksichtigt haben. Wir können unsere bisherige Diskussion jetzt einfach erweitern, indem
wir auch Terme höherer Ordnung berücksichtigen. Dies wollen wir jetzt anhand eines ein-
dimensionalen Potenzials tun:
1 ∂2 U 1 ∂3 U 1 ∂4 U
U = U(x 0 ) + 2
⋁︀ u 2 + 3
⋁︀ u 3 + ⋁︀ u 4 + . . .
2 ∂x x 0 6 ∂x x 0 24 ∂x 4 x 0

= U eq + U harm + U anh . (6.2.1)

Hierbei haben wir bereits berücksichtigt, dass der Term ∂U


⋂︀
∂x x 0
u verschwindet (vergleiche
Abschnitt 5.1.2).
Mit dem u 3 -Term in (6.2.1) berücksichtigen wir die Tatsache, dass das Wechselwirkungs-
potenzial zwischen benachbarten Atomen nicht symmetrisch um die Ruhelage ist, sondern
aufgrund des starken abstoßenden Potenzials für kleine Abstände eine beträchtliche Asym-
metrie zeigt (vergleiche hierzu Kapitel 3). Mit dem u 4 -Term können wir der Tatsache Rech-
nung tragen, dass wir eine Abschwächung der Schwingung bei großen Amplituden erhalten.
Höhere Terme wollen wir der Einfachheit halber vernachlässigen. Insgesamt können wir das
6.2 Anharmonische Effekte 235

Potenzial dann schreiben als


U = U 0 + au 2 − bu 3 − cu 4 mit a, b, c ≥ 0 . (6.2.2)
Das Minuszeichen vor dem u 3 - und u 4 -Term rührt daher, dass wir für negative Auslenkun-
gen (kleine Atomabstände) eine Erhöhung des Potenzials und für große Auslenkungen eine
Abschwächung der Schwingung erreichen wollen.

6.2.1.1 Harmonisches Potenzial – Superpositionsprinzip


Bei einem harmonischen Potenzial erhalten wir die lineare Bewegungsgleichung

∂2 U
mü = − ⋁︀ u = −ku (6.2.3)
∂x 2 x 0

mit der harmonischen Lösung

u = u 0 e ı(qx−ωt) . (6.2.4)
Alle ω und q sind hierbei unabhängig voneinander und es gilt das Superpositionsprinzip.
Das heißt, falls u 1 (x, t) und u 2 (x, t) Lösungen der linearen Differentialgleichung sind, so
ist es auch jede Linearkombination dieser beiden Lösungen.

6.2.1.2 Anharmonisches Potenzial – drei-Phononen-Prozesse


Berücksichtigen wir in (6.2.1) den u 3 -Term, so erhalten wir ein anharmonisches Potenzial
und damit eine nichtlineare Bewegungsgleichung

∂2 U 3 ∂3 U
mü = − ⋁︀ u − ⋁︀ u 2 . (6.2.5)
∂x 2 x 0 6 ∂x 3 x 0

Der letzte Term liefert für eine lineare Kette


3 ∂3 U
⋁︀ )︀(u p+1 − u p )2 − (u p − u p−1 )2 ⌈︀ . (6.2.6)
6 ∂x 3 x 0

Es tauchen also die Terme u 2p+1 , u p+1 u p , u p u p−1 und u 2p−1 auf, die quadratisch in der Aus-
lenkung sind. Aufgrund dieser quadratischen Terme gilt das lineare Superpositionsprinzip
nicht mehr. Dies lässt sich sofort anhand der Linearkombination
u(x, t) = u 01 e ı(q 1 x−ω 1 t) + u 02 e ı(q 2 x−ω 2 t) (6.2.7)
aus zwei ebenen Wellen zeigen. Aufgrund der quadratischen Terme erhalten wir jetzt Terme
der Form
u 01 u 02 e ı(︀(q 1 +q 2 )x−(ω 1 +ω 2 )t⌋︀ . (6.2.8)
Wir sehen, dass wir aufgrund des anharmonischen Potenzials eine Kopplung der beiden
Wellen zu einer neuen Welle mit
ω3 = ω1 + ω2 q3 = q1 + q2 (6.2.9)
236 6 Thermische Eigenschaften

erhalten. Solche Prozesse nennen wir Drei-Phononen-Prozesse. Es lässt sich leicht zeigen,
dass bei Hinzunahme des u 4 -Terms dann auch Vier-Phononen-Prozesse möglich sind. Die-
ser Prozess und solche noch höherer Ordnung sind allerdings wesentlich unwahrscheinli-
cher als der Drei-Phononen-Prozess, da der Betrag der anharmonischen Terme mit zuneh-
mender Ordnung üblicherweise stark abnimmt.
Die Drei-Phononen-Prozesse sind sehr wichtig. Würde es solche Prozesse nicht geben, so
wären die Phononen völlig entkoppelt und eine einmal im Kristall angeregte Gitterschwin-
gung würde für eine unendliche Zeit fortbestehen. Es könnte sich dann in einem Kristall
auch kein thermisches Gleichgewicht einstellen. Durch die Drei-Phononen-Prozesse sind
nun Wechselwirkungen zwischen den Phononen möglich, bei denen entweder zwei Phono-
nen in ein neues umgewandelt werden können oder andersherum ein Phonon in zwei neue
Phononen zerfällt.
Für Drei-Phononen-Prozesse gilt der Energieerhaltungssatz

ħω 3 = ħω 1 + ħω 2 (6.2.10)

und der Erhaltungssatz

q3 + G = q1 + q2 (6.2.11)

für die Wellenvektoren. Diese Gleichung lässt sich auch als Impulserhaltungssatz auffassen,
da ħq als der Quasi-Impuls eines Phonons aufgefasst werden kann. Der reziproke Gitter-
vektor G ist stets so zu wählen, dass sämtliche Wellenvektoren innerhalb der 1. Brillouin-

(a) (b) 𝒒𝟏
𝒒𝟏
𝒒𝟐
𝒒𝟐 𝒒𝟑 𝒒𝟑
𝑮
(c)
1.0 1. Brillouin-Zone
Abb. 6.11: Drei-Phononen-Prozesse in ei-
𝐿
nem zweidimensionalen quadratischen Git- 0.8 𝑮
ter: (a) Normalprozess und (b) Umklappro-
(bel. Einh.)

zess. In (c) ist ein Umklappprozess anhand 0.6


der Phononendispersion veranschaulicht. 𝑇2
Der Summenwellenvektor q1 + q2 der 0.4
𝑇1
stoßenden Phononen liegt außerhalb der
1. Brillouin-Zone. Durch Addition des re-
ziproken Gittervektors −G (⋃︀G⋃︀ = 2π⇑a) 0.2 𝝎𝟏𝝎𝟐 𝝎𝟑
kommt der Wellenvektor q3 wieder in der
1. Brillouin-Zone zu liegen. Das Vorzei- 0.0 𝒒𝟑 𝒒𝟏 𝒒𝟐 𝒒𝟏 + 𝒒𝟐
chen der Gruppengeschwindigkeit dω⇑dq
vor und nach dem Stoß ändert sich. Dies -0.5 0.0 0.5 1.0 1.5
ist für den Wärmewiderstand wichtig. qa /
6.3 Thermische Ausdehnung 237

Zone liegen. Nach Rudolf Ernst Peierls10 bezeichnen wir Drei-Phononen-Prozesse, bei de-
nen G = 0 gilt, als Normalprozesse und solche, bei denen G ≠ 0, als Umklappprozesse.
In Abb. 6.11 sind ein Normalprozess und ein Umklappprozess für ein zweidimensionales
quadratisches Gitter dargestellt. Die 1. Brillouin-Zone ist ein Quadrat mit der Seiten-
länge 2π⇑a. Bei einem Normalprozess liegt der Summenwellenvektor q3 innerhalb der
1. Brillouin-Zone. Bei einem Umklappprozess reicht hingegen der Vektor q1 + q2 über
den Rand der 1. Brillouin-Zone hinaus. Erst durch die Wahl eines geeigneten reziproken
Gittervektors G wird erreicht, dass q3 wieder innerhalb der 1. Brillouin-Zone liegt. Aller-
dings ist jetzt q3 den Wellenvektoren q1 und q2 mehr oder weniger entgegengesetzt. Daher
rührt der Name Umklappprozess. Wir werden bei der Diskussion der Wärmeleitfähigkeit
in Abschnitt 6.4 sehen, dass die Häufigkeit von Umklappprozessen wesentlich für die Größe
des Wärmewiderstands ist.

6.3 Thermische Ausdehnung


Es ist eine wohlbekannte Tatsache, dass Festkörper ihre Länge bzw. ihr Volumen ändern,
wenn wir die Temperatur ändern. Das heißt, die Länge L eines Festkörpers ist eine Funktion
der Temperatur T. Die normierte Steigung der L(T)-Abhängigkeit nennen wir thermische
Ausdehnung:
1 ∂L
αL ≡ ⋀︀ . (6.3.1)
L ∂T p
Der Volumenausdehnungskoeffizient ist durch
1 ∂V
αV ≡ ⋀︀ = 3α L (6.3.2)
V ∂T p
gegeben, wobei das letzte Gleichheitszeichen nur für isotrope Festkörper gilt. Typische ex-
perimentelle Werte für α L liegen bei 10−5 K−1 für Raumtemperatur.

6.3.1 Mittlere Auslenkung


Wir betrachten die mittlere Auslenkung ∐︀ũ︀ für einen eindimensionalen Oszillator. Wir wis-
sen bereits, dass für ein harmonisches Potenzial ∐︀ũ︀ = 0. Mit dem in Abschnitt 6.1.2 einge-
führten thermodynamischen Mittelwert können wir die mittlere Auslenkung schreiben als11

−U(u)⇑k B T
∫ duue
−∞
∐︀ũ︀ = ∞ . (6.3.3)
∫ due−U(u)⇑k B T
−∞
10
Sir Rudolf Ernst Peierls, geboren am 5. Juni 1907 in Berlin, gestorben am 19. September 1995 in
Oxford.
2 2
11
Eigentlich taucht in den Integralen e−H(u)⇑k B T = e−(︀p ⇑2m+U(u)⌋︀⇑k B T auf. Der Term e−p ⇑2m⇑k B T kürzt
sich jedoch heraus.
238 6 Thermische Eigenschaften

Zur Berechnung von ∐︀ũ︀ benutzen wir (6.2.2) und die Tatsache, dass die anharmonischen
Terme −bu 3 und −cu 4 klein sind gegenüber au 2 . Wir entwickeln daher und erhalten mit
β = 1⇑k B T

e−β(au −bu 3 −cu 4 )


= e−βau e β(bu +cu 4 )
= e−βau )︀1 + βbu 3 + βcu 4 + . . .⌈︀ .
2 2 3 2
(6.3.4)

Für den Zähler von (6.3.3) erhalten wir damit


∞ ∞
−βU(u)
= ∫ due−βau )︀u + βbu 4 + βcu 5 + . . .⌈︀
2
∫ duue
−∞ −∞
∞ ∞ ∞
−βau 2 4 −βau 2
+ ∫ duβcu 5 e−βau + . . . .
2
= ∫ duue + ∫ duβbu e
−∞ −∞ −∞
(6.3.5)

Die Integrale mit den ungeraden Potenzen in u verschwinden aus Symmetriegründen, wor-
aus sofort folgt, dass in harmonischer Näherung ∐︀ũ︀ = 0, d. h. die Gleichgewichtsposition
der Atome bleibt gleich und wir haben keine thermische Ausdehnung. Mit den beiden Inte-
gralen
∞ ⌋︂
4 −βau 2 3 π β
∫ duβbu e = b (6.3.6)
4 (βa)5⇑2
−∞
∞ ⌋︂
−βau 2 π
∫ due = (6.3.7)
(βa)1⇑2
−∞

erhalten wir für die mittlere Auslenkung

3b
∐︀ũ︀ = kB T . (6.3.8)
4a 2

Die relative Längenänderung eines Kristalls ist durch ∐︀ũ︀⇑R 0 gegeben, wobei R 0 der Gleich-
gewichtsabstand der Atome ist. Damit ergibt sich für den linearen thermischen Ausdeh-
nungskoeffizienten

1 ∂∐︀ũ︀ 3b k B
αL = ⋁︀ = 2 . (6.3.9)
R 0 ∂T p 4a R 0

Wir sehen, dass die thermische Ausdehnung null wird, wenn b = 0. In diesem Fall haben
wir ein völlig symmetrisches Potenzial vorliegen. Dies ist in Abb. 6.12 veranschaulicht. Mit
zunehmender Temperatur werden höhere Schwingungszustände besetzt. Bei einem asym-
metrischen Potenzial wächst dann der Gleichgewichtsabstand der Atome an, während er bei
einem völlig symmetrischen Potenzial gleich bleibt.
6.3 Thermische Ausdehnung 239

𝑼 𝒖 𝐡𝐚𝐫𝐦 =𝟎 𝑼𝐡𝐚𝐫𝐦
𝒖
𝒙𝟎
𝒙 Abb. 6.12: Zur Veranschaulichung der ther-
mischen Ausdehnung durch anharmonische
U
Effekte. Bei höherer Temperatur werden höhere
Schwingungszustände besetzt, deren Schwer-
punkte für ein anharmonisches Potenzial bei
größeren Gleichgewichtsabständen liegen. Dies
führt im thermischen Mittel zu einem größeren
Atomabstand.

6.3.2 Vertiefungsthema: Zustandsgleichung 28

und thermische Ausdehnung


Der thermische Ausdehnungskoeffizient kann nur dann gemessen werden, wenn sich die
Probe in einem spannungsfreien Zustand befindet. Thermodynamisch bedeutet dies, dass
die Ableitung der freien Energie F nach dem Volumen, d. h. der Druck p, für alle Tempera-
turen verschwinden muss. Wir können die Beziehung12
∂F
p = −( ) (6.3.10)
∂V T
benutzen, um den thermischen Ausdehnungskoeffizienten abzuleiten. Dazu drücken wir
zunächst die freie Energie als Funktion der inneren Energie aus. Mit F = U − T S und
T ( ∂T
∂S
)V = ( ∂U ) folgt13
∂T V

⎨ ⎬
⎝ ′ ⎠
T
p=−
∂ ⎝U − T ∫ dT ∂ U(T ′ , V )⎠ .
⎝ ′ ⎠ (6.3.11)
∂V ⎝ T ∂T ⎠
⎪ 0 ⎮
Mit (vergleiche (6.1.29))
ħω qr
∐︀Ũ︀ = U eq + ∑ 12 ħω qr + ∑ ħω qr
(6.3.12)
q,r e −1
q,r kB T

erhalten wir dann nach einiger Rechnung14


δV ∂ 1 ∂ω q,r 1
p = −B − ∑ ħω qr − ħ ∑ ħω qr
. (6.3.13)
V ∂V q,r 2 q,r ∂V e kB T
−1
12 ∂F
Mit F = U − T S erhalten wir ( ∂V )T = ( ∂U ∂S
) − T ( ∂V
∂V T
)T . Da ferner dQ = dU + pdV = TdS gilt,
∂S ∂U ∂F
folgt T ( ∂V )T = ( ∂V )T + p und damit schließlich p = − ( ∂V )T .
13 ∂S
Es gilt TdS = dQ = dU + pdV und damit T ( ∂T )V = ( ∂U ) .
∂T V
14
Das gleiche Ergebnis erhalten wir, indem wir von der Zustandssumme Z osz = ∑n e−E n ⇑k B T =
−ħω(n+1⇑2)⇑k B T
∑n e = e−ħω⇑2k B T ⇑(︀1 − e−ħω⇑k B T ⌋︀ eines harmonischen Oszillators ausgehen und dar-
aus seine freie Energie Fosc = −k B T ln Z osc = k B T ln(1 − e−ħω⇑k B T ) + 12 ħω berechnen. Die freie
Energie des Festkörpers ergibt sich damit zu F = U eq + ∑q,r Fosc,q,r und der Druck zu p =
−(∂F⇑∂V )T .
240 6 Thermische Eigenschaften

Hierbei ist B = V (∂ 2 U eq ⇑∂V 2 )T der Bulk-Modul (vergleiche (3.2.29)) und δV = V − V0 die


Volumenänderung der Probe mit einem Ausgangsvolumen von V0 . Da wir die Änderung
der elastischen Energie bei Volumenänderung δV durch 12 BV0 (δV ⇑V0 )2 ausdrücken kön-
nen, ergibt sich (∂U eq ⇑∂V )T = B(δV ⇑V0 ) ≃ B(δV ⇑V ). Hierbei haben wir näherungswei-
se V ≃ V0 verwendet, da bei Temperaturänderungen nur kleine Volumenänderungen auf-
treten. Wir sehen, dass der Gleichgewichtsdruck von T abhängt, da die Frequenzen der Nor-
malschwingungen vom Gleichgewichtsvolumen abhängen. Die Anharmonizität macht sich
also in einer Änderung der Schwingungsfrequenzen bei einer Volumenänderung bemerk-
bar.

6.3.2.1 Harmonisches Potenzial


Falls wir ein harmonisches Potenzial vorliegen haben, hängen die Frequenzen der Normal-
moden nicht von V ab. Der Druck p hängt dann nur vom Volumen, nicht aber von der
Temperatur ab. Das heißt, der Druck zum Aufrechterhalten eines bestimmten Volumens
hängt nicht von T ab. Da15

( ∂T )
∂p
∂V
( ) = − ∂p V , (6.3.14)
∂T p ( ∂V )
T

folgt mit ( ∂T ) = 0, dass V unabhängig von T ist und deshalb der thermische Ausdehnungs-
∂p
V
koeffizient verschwindet.

6.3.2.2 Allgemeine Beziehung zwischen Cp und CV

Es ist üblich, die Differenz C p − C V in Termen von ( ∂V ) und ( ∂V


∂T p
) auszudrücken, da
∂p T
diese Ableitungen experimentell leicht gemessen werden können. Um diesen Zusammen-
hang herzustellen, betrachten wir die Entropie als Funktion von T und p und bilden das
Differential
∂S ∂S
dS = ( ) dT + ( ) d p . (6.3.15)
∂T p ∂p T

Wir bilden nun ( ∂T


∂S
)V :

∂S ∂S ∂S ∂p
( ) =( ) +( ) ( ) . (6.3.16)
∂T V ∂T p ∂p T ∂T V

Da C V = ( ∂U ) = T ( ∂T
∂T V
∂S
)V und C p = ( ∂U ) = T ( ∂T
∂T p
∂S
) p erhalten wir durch Multiplikation
von (6.3.16) mit T:
∂S ∂p
CV = C p + T ( ) ( ) . (6.3.17)
∂p T ∂T V
15
Es gilt dV = ( ∂V
∂p
) d p + ( ∂V ) dT. Betrachten wir eine Änderung, die bei konstantem Volumen
∂T p
T
∂p
stattfindet, so ist dV = 0 und wir erhalten ( ∂V ) = − ( ∂V
∂T p ∂p
) ( ∂T ) .
T V
6.3 Thermische Ausdehnung 241

Mit der Maxwell-Relation ( ∂∂Sp ) = − ( ∂V ) erhalten wir dann


∂T p
T

∂V ∂p
CV = C p − T ( ) ( ) . (6.3.18)
∂T p ∂T V
Wir können ferner
∂V ∂V
dV = ( ) dT + ( ) dp (6.3.19)
∂T p ∂p T
bilden und berücksichtigen, dass für einen Prozess bei konstantem Volumen dV = 0. Wir
erhalten somit
∂V ∂V ∂p
0=( ) +( ) ( ) . (6.3.20)
∂T p ∂p T ∂T V
Formen wir diesen Ausdruck um, so ergibt sich

∂p ( ∂V )
∂T p
( ) =− . (6.3.21)
∂T V ( ∂V
∂p
)
T

Verknüpfen wir schließlich (6.3.21) mit (6.3.18), so erhalten wir


2
( ∂V )
∂T p
CV = C p + T . (6.3.22)
( ∂V
∂p
)
T

Diese wichtige Beziehung lässt sich mit Hilfe des thermischen Ausdehnungskoeffizienten
α V = V1 ( ∂V ) und der isothermen Kompressibilitat bzw. des inversen Bulk-Moduls B1 =
∂T p

− V1 ( ∂V
∂p
) ausdrücken. Wir erhalten für die Differenz der Wärmekapazitäten
T

C p − C V = T V Bα V2 . (6.3.23)

Für ein harmonisches Potenzial hängt der Druck zum Aufrechterhalten eines bestimmten
Volumens nicht von T ab. Aus (6.3.22) folgt dann C p = C V und α V = 0.

6.3.2.3 Anharmonisches Potenzial: Grüneisen-Parameter


Für ein anharmonisches Potenzial hängen die Phononenfrequenzen vom Volumen ab. Set-
zen wir den obigen Ausdruck (6.3.13) für p in den Ausdruck für den thermischen Ausdeh-
nungskoeffizienten
1 ∂L 1 ∂V 1 ∂V ∂p 1 ∂p
αL = ( ) = ( ) =− ( ) ( ) = ( ) (6.3.24)
L ∂T p 3V ∂T p 3V ∂p T ∂T V 3B ∂T V
ein, so erhalten wir:
1 ∂ ∂
αL = − ∑ (− ħω qr ) n r (q) . (6.3.25)
3B qr ∂V ∂T
242 6 Thermische Eigenschaften

Hierbei haben wir B = − V1 ∂V ⋃︀ benutzt und n r (q) ist die Planck-Verteilung. Für die spezi-
∂p T
fische Wärme erhielten wir (vergleiche (6.1.31))

1 ∂∐︀Ũ︀ 1 ∂ ħω qr
cV = ⋁︀ = ∑ ħω qr
(6.3.26)
V ∂T V V q,r ∂T
e kB T
−1
oder für den Beitrag der Mode (q, r)

1 ∂
c V ,r (q) = ħω qr n r (q) . (6.3.27)
V ∂T
Man definiert nun den Grüneisen-Parameter

V ∂ω r (q) ∂(ln ω r (q))


γ q,r ≡ − =− (6.3.28)
ω r (q) ∂V ∂(ln V )

und
∑ γ q,r c V ,r (q)
q,r
γ≡ . (6.3.29)
∑ c V ,r (q)
q,r

Mit diesen Definitionen können wir den thermischen Ausdehnungskoeffizienten schreiben


als
γc V γc V
αL = αV = . (6.3.30)
3B B

Setzen wir den Ausdruck (6.3.28) für den Grüneisen-Parameter in (6.3.13) ein, so erhalten
wir nach Multiplikation mit V die Zustandsgleichung

pV = −BδV + γU(T) . (6.3.31)

Hierbei ist U(T) die gesamte innere Energie einschließlich des Beitrags der Nullpunkts-
schwingungen.
Der Grüneisen-Parameter drückt aus, dass die relative Frequenzänderung der Gitterschwin-
gungen proportional zur relativen Volumenänderung ist. Die typischen Werte des Grünei-
sen-Parameters γ liegen bei etwa 2 und sind relativ unabhängig vom Material. Im Ausdruck
für den thermischen Ausdehnungskoeffizienten taucht der Bulk-Modul im Nenner auf. Wir
erwarten deshalb als Faustregel, dass weiche Materialien einen großen thermischen Ausdeh-
nungskoeffizienten besitzen. Da der Bulk-Modul nur schwach von der Temperatur abhängt,
wird der Temperaturverlauf der thermischen Ausdehnung fast ausschließlich von der spezi-
fischen Wärme bestimmt. Dies ist für viele Materialien in sehr guter Übereinstimmung mit
der experimentellen Beobachtung. Bei tiefen Temperaturen besitzt die thermische Ausdeh-
nung aufgrund des T 3 -Verhaltens von c V eine starke Temperaturabhängigkeit, während sie
bei hohen Temperaturen dann fast konstant wird.
6.4 Wärmeleitfähigkeit 243

Im Debye-Modell skalieren die Frequenzen der Normalschwingungen linear mit ω D und


wir erhalten
∂(ln ω D )
γ q,r = − . (6.3.32)
∂(ln V )
Wir weisen schließlich noch darauf hin, dass der Längenausdehnungskoeffizient für be-
stimmte Kristalle ein kompliziertes Verhalten zeigen kann. Die thermischen Ausdehnungs-
koeffizienten in unterschiedliche Kristallrichtungen können unterschiedlich groß sein. Fer-
ner kann der Längenausdehnungskoeffizient als Funktion der Temperatur sein Vorzeichen
wechseln. Als Beispiel ist in Abb. 6.13 die Temperaturabhängigkeit des linearen thermischen
Ausdehnungskoeffizienten von Silizium gezeigt. Er skaliert in diesem Fall natürlich nicht
mehr mit der spezifischen Wärme. Zuletzt sei noch betont, dass das oben abgeleitete Ergeb-
nis streng genommen nur für kubische Systeme gilt.
6

5 Silizium
C
4
L (10 K )
-1
-6

0
Abb. 6.13: Temperaturabhängigkeit des
-1 Längenausdehnungskoeffizienten von Sili-
0 400 800 1200 zium (nach Y. Okada, Y. Tokumaru, J. Appl.
T (K) Phys. 56, 314 (1984)).
33

Das in Abb. 6.13 gezeigte Beispiel macht deutlich, dass es nicht immer möglich ist, den
Grüneisen-Parameter durch Messung der thermischen Ausdehnung und der spezifischen
Wärme zu bestimmen. Besser ist die direkte Messung der Frequenzverschiebung der Gitter-
schwingungen bei Änderung des Volumens. Zum Beispiel kann der Grüneisen-Parameter
der optischen Phononen zuverlässig bestimmt werden, indem man die Druckverschiebung
von Raman-Spektren misst. Ferner erlauben Ultraschallexperimente die Messung der An-
harmonizität der akustischen Phononenzweige.

6.4 Wärmeleitfähigkeit
In Festkörpern wird Wärme sowohl durch Phononen als auch durch Elektronen transpor-
tiert. In Metallen überwiegt üblicherweise der Beitrag der Elektronen. Dies bedeutet aber
nicht, dass Isolatoren schlechte Wärmeleiter sind. So ist bei tiefen Temperaturen die thermi-
sche Leitfähigkeit von einigen kristallinen Isolatoren (z. B. Al2 O3 , SiO2 ) größer als diejenige
von Kupfer.
Im Gegensatz zu den bisher diskutierten thermischen Eigenschaften des Kristallgitters ist
die Wärmeleitfähigkeit keine Gleichgewichtsgröße. Ein Wärmestrom wird von einem Tem-
244 6 Thermische Eigenschaften

peraturgradienten getrieben und der Wärmetransport ist klar ein Nichtgleichgewichtsphä-


nomen.

6.4.1 Definition der Wärmeleitfähigkeit


Wir definieren die Wärmeleitfähigkeit κ eines Festkörpers als Proportionalitätskonstante
zwischen treibendem Temperaturgradient ∇T und resultierender Wärmestromdichte J h :

J h = −κ∇T . (6.4.1)

Dabei sorgt das Minuszeichen dafür, dass die Wärme vom heißen zum kalten Ende der Probe
fließt. Die Einheit der Wärmeleitfähigkeit ist W/m K.
Eine Nebenbedingung zu (6.4.1) ist üblicherweise die Forderung, dass kein Netto-Teilchen-
fluss stattfindet. Das heißt, es fließen genauso viele Teilchen von links nach rechts wie von
rechts nach links: JTl = JrT . Allerdings haben die vom wärmeren Ende kommenden Teilchen
eine höhere mittlere Energie, so dass J hl ≠ Jrh . Im Allgemeinen ist ferner κ wie jeder andere
Transportkoeffizient eines Festkörpers eine tensorielle Größe. Nur in isotropen Festkörpern
ist κ ein Skalar.

6.4.2 Transporttheorie
Bei der Diskussion der spezifischen Wärme waren die Größen ∐︀Ũ︀ und ∐︀ñ︀ thermische
Gleichgewichtsgrößen für eine bestimmte Temperatur. Bei der Diskussion der Wärmeleit-
fähigkeit haben wir es jetzt mit einer räumlich variierenden Temperatur zu tun. Um eine
Beschreibung dieser Situation zu ermöglichen, nehmen wir an, dass die räumliche Variation
der Temperatur klein ist, so dass wir in einem genügend großen Raumgebiet (mit einer ge-
nügend großen Zahl von Atomen) eine in erster Näherung homogene Situation annehmen
können und wir deshalb die mittlere Phononenzahl ∐︀ñ︀ für dieses Gebiet angeben können.
Für benachbarte Gebiete nehmen wir dann leicht unterschiedliche Temperaturen an, wo-
durch ∐︀ñ︀ eine Funktion der Ortskoordinate wird.
Um die Wärmeleitfähigkeit eines Festkörpers zu berechnen, müssen wir den Wärme-
strom J h als Funktion von ∐︀ñ︀ angeben. Wie in Abb. 6.14 skizziert ist, wird die Wärme-
menge Q, die in der Zeit τ in x-Richtung über die Fläche A transportiert wird, durch die
Energiedichte mal das Volumen Av x τ eines Quaders der Querschnittsfläche A und der
Länge v x τ bestimmt, d. h. Q = (U⇑V ) ⋅ Av x τ. Hierbei ist v x die mittlere Geschwindigkeit
der Phononen, die die Energie transportieren. Diese Geschwindigkeit ist durch die Grup-
pengeschwindigkeit ∂ω⇑∂q x der Gitterschwingungen gegeben. Die Wärmestromdichte J h,x
ist die pro Querschnittsfläche A und Zeit τ in x-Richtung transportierte Wärmemenge,
d. h. J h,x = (U⇑V )v x . Mit Hilfe der inneren Energie U des Phononensystems können wir
deshalb die Wärmestromdichte schreiben als
1 1 1 1 ∂ω qr
J h,x = ∑ ħω qr ( + ∐︀n qr ̃︀) v x (q, r) = ∑ ħω qr ( + ∐︀n qr ̃︀) . (6.4.2)
V q,r 2 V q,r 2 ∂q x
6.4 Wärmeleitfähigkeit 245

Abb. 6.14: Schematische Darstellung zum Wär-


mestrom durch eine Querschnittsfläche A. Im
Zeitintervall τ passieren alle Phononen die
Querschnittfläche A, die sich in x-Richtung
𝒙 bewegen und sich innerhalb eines Quaders der
Länge v x τ befinden.

Wir werden im Folgenden aus Gründen der Übersichtlichkeit die Indizes q, r weglassen.
Gleichung (6.4.2) zeigt, dass im thermischen Gleichgewicht J h = 0, da hier die Besetzungs-
zahlen für positive und negative q-Werte gleich sind und aus der Symmetrie der Dispersi-
onskurven v x (q) = −v x (−q) folgt. Hierdurch verschwindet die Summe in (6.4.2).
Ein endlicher Wärmestrom existiert nur dann, wenn die mittlere Phononenzahl ∐︀ñ︀ vom
Gleichgewichtswert ∐︀ñ︀0 abweicht. Wir wollen nun den Wärmestrom
36
als Funktion der Ab-
weichung ∐︀ñ︀ − ∐︀ñ︀0 vom thermischen Gleichgewicht ausdrücken:
1
J h,x = ∑ ħω(∐︀ñ︀ − ∐︀ñ︀ )v x .
0
(6.4.3)
V q,r
Wir müssen uns zunächst die Frage stellen, wie ∐︀ñ︀ sich in einem bestimmten Raumgebiet
ändern kann. Hierzu tragen zwei Prozesse bei: Erstens können mehr oder weniger Phononen
in dieses Gebiet hinein- statt hinausdiffundieren. Zweitens können Phononen durch Drei-
Phononen-Prozesse in andere Phononen zerfallen. Wir können also schreiben:
d∐︀ñ︀ ∂∐︀ñ︀ ∂∐︀ñ︀
= ⋁︀ + ⋁︀ . (6.4.4)
dt ∂t Diffusion ∂t Zerfall
Diese Gleichung stellt einen Spezialfall der Boltzmann-Transportgleichung dar, die wir spä-
ter auch zur Beschreibung des Ladungstransports in Festkörpern verwenden werden (ver-
gleiche Abschnitt 9.4).
Wir werden im Folgenden nur so genannte stationäre Zustände behandeln, bei denen
sich ∐︀ñ︀ zeitlich nicht ändert, d. h. d∐︀ñ︀
dt
= 0. Wir werden ferner für die zeitliche Änderung
der Phononenbesetzungszahl durch Zerfallsprozesse einen einfachen Relaxationsansatz
∂∐︀ñ︀ ∐︀ñ︀ − ∐︀ñ︀0
⋁︀ =− (6.4.5)
∂t Zerfall τ
machen. Das heißt, wir beschreiben den Zerfall der Phononen durch eine einzige mittlere
Zerfallszeit τ, die unabhängig von der Energie ist. Wir sehen, dass die Zerfallsrate propor-
tional zur Abweichung vom thermischen Gleichgewicht ansteigt.
Der Diffusionsterm hängt mit dem Temperaturgradienten zusammen. In einem Zeitinter-
vall ∆t werden alle Phononen, die sich ursprünglich an der Stelle x − v x ∆t befunden haben,
am Ort x ankommen. Wir können deshalb schreiben:
∂∐︀ñ︀ 1 ∂∐︀ñ︀ ∂∐︀ñ︀0 ∂T
⋁︀ = lim (︀∐︀n(x − v x ∆t)̃︀ − ∐︀n(x)̃︀⌋︀ = −v x = −v x
∂t Diffusion ∆t→0 ∆t ∂x ∂T ∂x
246 6 Thermische Eigenschaften

(6.4.6)

Hierbei haben wir ∐︀ñ︀ durch ∐︀ñ︀0 ersetzt, nachdem wir den Temperaturgradienten ∂T
∂x
ein-
geführt haben. Dies ist möglich, da wir einen stationären Zustand und lokales thermisches
Gleichgewicht vorausgesetzt haben. Setzen wir die Ausdrücke (6.4.4) bis (6.4.6) in (6.4.3)
ein, so erhalten wir
0
1 2 ∂∐︀ñ︀ ∂T
J h,x = − ∑ ħωτv x . (6.4.7)
V q,r ∂T ∂x

Für kubische oder isotrope Festkörper können wir ∐︀v x2 ̃︀ = 13 v 2 setzen16 und erhalten dadurch
für die Wärmestrom
0
1 2 ∂∐︀ñ︀ ∂T
J h,x = − ∑ ħωτv . (6.4.8)
3V q,r ∂T ∂x

Benutzen wir ferner c V = 1


V ∑ ħω ∂T

∐︀ñ︀0 (vergleiche (6.1.31)) für die spezifische Wärme
q,r
und führen die mittlere freie Weglänge ℓ = vτ ein, erhalten wir aus unserer Definitionsglei-
chung (6.4.1) folgenden Ausdruck für die Wärmeleitfähigkeit:

1
κ = c V vℓ . (6.4.9)
3
Wir sehen, dass die spezifische Wärme der Phononen und deren Gruppengeschwindigkeit
eine entscheidende Rolle für die Wärmeleitfähigkeit spielen. Phononen nahe am Zonenrand
oder optische Phononen tragen deshalb wenig zum Wärmetransport bei. Eine wichtige Rolle
spielt aber auch die mittlere freie Weglänge der Phononen. Diese wird durch die Streupro-
zesse der Phononen bestimmt, die wir später noch im Detail diskutieren werden.
In der obigen Herleitung haben wir vernachlässigt, dass die Größen in (6.4.9) frequenzab-
hängig sind und dass unterschiedliche Phononenzweige unterschiedlich zum Wärmetrans-
port beitragen. Wir können dieser Tatsache Rechnung tragen, indem wir über die verschie-
denen Phononenzweige r aufsummieren und über die Phononenfrequenz integrieren. Wir
erhalten dann
1 dc V ,r
κ= ∑∫ v r (ω)ℓ r (ω)dω . (6.4.10)
3 r dω
Wir können diese Gleichung in vielen Fällen vereinfachen. Zum Beispiel können wir bei
tiefen Temperaturen die optischen Phononenzweige vernachlässigen und die akustischen
mit einer linearen Dispersion v r = ω⇑q = const annähern.

6.4.2.1 Kinetische Gastheorie


Wir können das Ergebnis (6.4.9) auch sehr einfach aus der kinetischen Gastheorie ableiten,
indem wir die Phononen als Teilchengas betrachten. Der mittlere Teilchenfluss in x-Rich-
̃V ∆T.
tung ist 12 n∐︀⋃︀v x ⋃︀̃︀ und jedes Teilchen transportiert die Wärmemenge (c V ⇑n)∆T = C
16
Es gilt v x2 + v 2y + v z2 = v 2 und außerdem v x2 = v 2y = v z2 . Deshalb können wir v x2 durch 13 v 2 ersetzen.
6.4 Wärmeleitfähigkeit 247

Hierbei ist n = N⇑V die Teilchendichte. Im thermischen Gleichgewicht gibt es natürlich


einen identischen Wärmefluss in entgegengesetzte Richtungen. Nehmen wir an, dass die
mittlere freie Weglänge der Teilchen ℓ ist, so können wir die Temperaturdifferenz zwischen
den Endpunkten der Strecke der Länge ℓ schreiben als ∆T = dd Tx ℓ = dd Tx ∐︀v x ̃︀τ. Der resultieren-
de Wärmefluss ergibt sich dann aus dem Produkt des Teilchenflusses und der pro Teilchen
transportierten Wärmemenge zu

̃V τ dT = − 1 n C
J h,x = −n∐︀v x2 ̃︀C ̃V v 2 τ dT . (6.4.11)
dx 3 dx
Hierbei haben wir berücksichtigt, dass ein Nettoenergiefluss vom Teilchenfluss in beide
Richtungen beigetragen wird und dadurch der Faktor 1⇑2 wieder herausfällt. Teilchen,
die vom wärmeren zum kälteren Teil fließen, transportieren die Wärmemenge +C ̃V ∆T in
die eine Richtung, und solche, die vom kälteren zum wärmeren fließen, die Wärmemen-
ge −C̃V ∆T (Kälte) in die entgegengesetzte. Mit c V = n C
̃V und ℓ = vτ erhalten wir dann
wiederum das Ergebnis (6.4.9)
1
κ = c V vℓ . (6.4.12)
3
Schreiben wir in (6.4.11) den Temperaturgradienten entlang einer Probe der Länge L als
dT⇑dx = −(T2 − T1 )⇑L = −∆T⇑L, so können wir (6.4.11) umschreiben in

1 ℓ
J h,x = (c V ⋅ ∆T) (v ⋅ ) . (6.4.13)
3 L
Wir sehen, dass der Wärmestrom durch die Überschusswärmedichte ∆Q⇑V = c V ⋅ ∆T gege-
ben ist, die mit einer effektiven Geschwindigkeit v ⋅ Lℓ durch die Probe transportiert wird. Für
einen diffusiven Prozess gilt dabei v ⋅ Lℓ ≪ v oder ℓ ≪ L. Anschaulich bedeutet dies, dass ein
Phonon L⇑ℓ Streuprozesse macht, bevor es die Probe durchquert hat. Seine Geschwindigkeit
ist deshalb um den Faktor ℓ⇑L gegenüber einem Phonon, das die Probe ohne Streuprozess
durchqueren kann, heruntergesetzt.

6.4.3 Temperaturabhängigkeit der Wärmeleitfähigkeit


Nachdem wir den Wärmetransport durch Phononen diskutiert haben, wollen wir uns jetzt
überlegen, welche Temperaturabhängigkeit wir für die Wärmeleitfähigkeit erwarten. Be-
trachten wir (6.4.9), so wird sofort klar, dass im Wesentlichen zwei Effekte die Tempera-
turabhängigkeit der Wärmeleitfähigkeit bestimmen werden:

1. Temperaturabhängigkeit der spezifischen Wärme c V .


2. Temperaturabhängigkeit der mittleren freien Weglänge ℓ.

Die Temperaturabhängigkeit der spezifischen Wärme haben wir bereits ausführlich in den
Abschnitten 6.1.4 und 6.1.5 diskutiert. Wir müssen uns hier deshalb noch mit den Streupro-
zessen der Phononen beschäftigen.
248 6 Thermische Eigenschaften

6.4.3.1 Streuprozesse
In Nichtmetallen sind die wichtigsten Streuprozesse für Phononen:

∎ Phonon-Phonon-Streuung
∎ Streuung an Defekten, Oberflächen etc.

In Metallen kommt dann als wichtiger Streuprozess noch die Elektron-Phonon-Streuung


dazu, in magnetischen Materialien die Phonon-Magnon-Streuung. Diese Prozesse werden
wir erst später diskutieren. Sind mehrere Streuprozesse voneinander unabhängig wirksam,
so können wir die gesamte Streurate dadurch erhalten, dass wir die Streuraten 1⇑τ i der ein-
zelnen Streuprozesse addieren. Mit 1⇑ℓ i ∝ 1⇑τ i erhalten wir
1 1 1 1
= + + +... . (6.4.14)
ℓ ℓ1 ℓ2 ℓ3
Diese Beziehung entspricht der Matthiessen-Regel bei der Bestimmung der gesamten elek-
trischen Leitfähigkeit bei Vorliegen mehrerer Streuprozesse für die Ladungsträger [verglei-
che (7.3.18)].

Phonon-Phonon-Streuung: In Abschnitt 6.2 haben wir bereits diskutiert, dass durch an-
harmonische Effekte Wechselwirkungseffekte zwischen Phononen möglich sind. So kann
durch einen Drei-Phonon-Prozess ein Phonon in zwei neue Phononen zerfallen bzw. umge-
kehrt zwei Phononen in ein neues umgewandelt werden. Bezüglich des letzteren Prozesses
könnten wir vermuten, dass dieser umso häufiger vorkommt, je höher die Dichte der Phono-
nen ist. Das heißt, die Streuwahrscheinlichkeit sollte proportional zu n ph sein und deshalb
die mittlere freie Weglänge
1
ℓ∝ . (6.4.15)
n ph (T)
Wir haben aber in Abschnitt 6.2 gelernt, dass wir bei Drei-Phononen-Prozessen in Normal-
prozesse und Umklappprozesse unterscheiden können. Wir müssen deshalb analysieren, wie
diese beiden Streuprozesse zum Wärmewiderstand beitragen.
Betrachten wir zunächst die Normalprozesse. Für diese gilt q1 + q2 = q3 . Das heißt, in einem
Gas von Phononen bleibt bei internen Streuprozessen der Gesamtimpuls Q (und natürlich
auch die Gesamtenergie) erhalten, so dass
Q = ∑ n q,r ħqr = const (6.4.16)
q,r

gilt. Da die Normalprozesse den Gesamtimpuls der Phononen also nicht ändern, kann sich
eine Gleichgewichtsverteilung der Phononen bei der Temperatur T mit einer bestimmten
Driftgeschwindigkeit entlang des Festkörpers bewegen.
Wir sehen, dass Normalprozesse den Wärmetransport überhaupt nicht behindern. Um einen
endlichen Wärmewiderstand zu erhalten, sind also nicht nur Prozesse notwendig, die zu ei-
ner endlichen mittleren freien Weglänge, sondern auch zu einer Thermalisierung der Pho-
nonen führen. Solche Prozesse sind die Umklappprozesse. Da bei Streuprozessen mit Pho-
nonen nur der so genannte Kristallimpuls erhalten bleibt, gilt q1 + q2 = q3 + G, wobei G ein
6.4 Wärmeleitfähigkeit 249

reziproker Gittervektor ist. Der Impuls G wird an das Gitter abgegeben, so dass sich der Ge-
samtimpuls des Phononengases ändern kann. Der Impulsverlust des Phononengases führt
dann zum Wärmewiderstand des Gitters.

Streuung an Defekten: Defekte in Kristallen und deren Oberflächen führen zu Streupro-


zessen von Phononen. Die Wahrscheinlichkeit für solche Streuprozesse hängt nur von der
Dichte n D der Defekte und deren Streuquerschnitt σ ab. Wir erwarten deshalb in erster Nä-
herung einen von der Temperatur völlig unabhängigen Beitrag zum Wärmewiderstand.17
Wie bei der Streuung von Photonen an Teilchen mit Durchmessern kleiner als die Licht-
wellenlänge lässt sich die Streuung von Phononen an Punktdefekten mit Hilfe der Theo-
rie von Lord Rayleigh berechnen. Für den Streuquerschnitt findet man σ ≃ πa 2 (aq)4 , wo-
bei a ≪ λ q der Durchmesser des Streuzentrums ist. Mit ℓ ∝ 1⇑n D σ und mit der Näherung
ω ∝ q erhalten wir
1
ℓ∝ . (6.4.17)
n D ω4
Wir sehen, dass Punktdefekte vor allem hochfrequente Phononen effektiv streuen.

6.4.3.2 Temperaturabhängigkeit von κ


Wir haben bisher gesehen, dass die Wärmeleitfähigkeit des Gitters nur durch Umklapppro-
zesse und Phonon-Defektstreuung bestimmt wird. Da für Umklappprozesse der Summen-
wellenvektor bei der Wechselwirkung zwischen zwei Phononen außerhalb der 1. Brillouin-
Zone liegen muss, müssen wir
⋃︀q1 + q2 ⋃︀ ≥ 12 ⋃︀G⋃︀ (6.4.18)
fordern. Im Rahmen des Debye-Modells ist die mittlere Energie dieser Phononen, für die
Umklappprozesse möglich sind, etwa k B Θ D ⇑2. Damit können wir ihre Besetzungswahr-
scheinlichkeit zu
1
∐︀ñ︀ = Θ ⇑2T (6.4.19)
e D −1
bzw. für hohe und tiefe Temperaturen zu
)︀
⌉︀ −Θ D ⇑2T
T ≪ ΘD
⌉︀e für
∐︀ñ︀ ∝ ⌋︀ T (6.4.20)
⌉︀
⌉︀ T ≫ ΘD
]︀ Θ D für
angeben. Mit ℓ ∝ 1⇑∐︀ñ︀ ergibt sich dann
)︀
⌉︀ Θ ⇑2T
T ≪ ΘD
⌉︀e D für
ℓ ∝ ⌋︀ Θ . (6.4.21)
⌉︀
⌉︀ D
T ≫ ΘD
]︀ T für
17
Dies gilt nur dann, wenn die Dichte der Defekte und deren Streuquerschnitt temperaturunab-
hängig ist. Die Annahme einer temperaturunabhängigen Dichte der Defekte ist für nicht allzu hohe
Temperaturen meist eine gute Näherung (vergleiche hierzu auch Abschnitt 1.4). Der Streuquer-
schnitt kann in manchen Fällen eine beträchtliche Temperaturabhängigkeit besitzen (vergleiche
hierzu Abschnitt 10.1.4 zur Streuung an geladenen Störstellen in Halbleitern).
250 6 Thermische Eigenschaften

Wir sehen, dass für tiefe Temperaturen die mittlere freie Weglänge der Phononen bezüg-
lich der Phonon-Phonon-Streuung exponentiell anwächst. Deshalb wird bei genügend tie-
fen Temperaturen die mittlere freie Weglänge durch die von der Temperatur unabhängige
Defektstreuung bestimmt. Wir erwarten also, dass ℓ von hohen Temperaturen her kommend
zunächst ∝ 1⇑T und dann ∝ eΘ D ⇑T ansteigt und dann unterhalb einer von der Probengröße
und Probenreinheit abhängigen Temperatur sättigt. Bei sehr reinen Proben wird die mittle-
re freie Weglänge größer als der Probendurchmesser d. Streuung findet dann hauptsächlich
an der Probenoberfläche statt und wir können ℓ ≃ d setzen. Die Wärmeleitfähigkeit in die-
sem Temperaturbereich, den man als Casimir-Bereich bezeichnet, hängt damit stark von der
Probengeometrie und der Beschaffenheit der Probenoberfläche ab.
Um die Temperaturabhängigkeit von κ zu erhalten, müssen wir noch die Temperaturabhän-
gigkeit von c V berücksichtigen. Wir haben in Abschnitt 6.1 gesehen, dass c V für T ≫ Θ D in
etwa konstant ist und für T ≪ Θ D proportional zu T 3 verläuft. Für den mittleren Tempera-
turbereich erhalten wir, abhängig vom verwendeten Modell, unterschiedliche T-Abhängig-
keiten für c V . Die Details sind hier allerdings nicht so wichtig, da die exponentielle T-Ab-
hängigkeit der mittleren freien Weglänge das Verhalten dominiert. Insgesamt erwarten wir
folgende Temperaturabhängigkeit der Wärmeleitfähigkeit:

)︀
⌉︀ 1
T ≫ ΘD
⌉︀
⌉︀
⌉︀ T
für (Ph-Ph-Streuung)
⌉︀ n Θ D ⇑T
κ ∝ ⌋︀T e , n ≃ 0 − 3 für T ≪ ΘD (Ph-Ph-Streuung) (6.4.22)
⌉︀
⌉︀
⌉︀
⌉︀
⌉︀ T ⋘ ΘD
]︀T
3
für (Ph-Defekt-Streuung)

In Abb. 6.15 und Abb. 6.16 ist die Temperaturabhängigkeit der thermischen Leitfähigkeit
von hochreinem Si und Ge sowie isotopenreinem (99.7%) 28 Si und isotopenreinem (99.99%)
70
Ge gezeigt. Wir erkennen gut den theoretisch erwarteten Verlauf. Für tiefe Temperaturen
steigt die Wärmeleitfähigkeit zunächst proportional zu etwa T 3 an, hat dann ein Maximum
und fällt zu höheren Temperaturen schnell zunächst etwa proportional zu eΘ D ⇑T und dann
proportional zu 1⇑T ab. Wir sehen, dass dielektrische Kristalle eine sehr hohe thermische
Leitfähigkeit haben können, die so hoch wie diejenige von Metallen ist (vergleiche hierzu
Abschnitt 7.3.2). Für isotopenreines Silizium und Ge erreicht κ Werte bis zu 6 000 W/m K
bzw. bis zu mehr als 10 000 W/m K. Synthetischer Saphir besitzt mit κ max ≃ 20 000 W/m K
bei 30 K eine der höchsten Wärmeleitfähigkeiten. Dieser Wert ist höher als die maximale
Wärmeleitfähigkeit von Kupfer, die etwa 10 000 W/m K beträgt, liegt aber unterhalb des
Wertes für metallisches Ga, dessen Wärmeleitfähigkeit 84 500 W/m K bei 1.8 K beträgt.

Isotopenstreuung: In ansonsten perfekten Kristallen spielt die Verteilung von Isotopen


eine wichtige Rolle bezüglich der Phononenstreuung. Die statistische Anordnung von un-
terschiedlichen Isotopenmassen stört die perfekte Periodizität des Kristalls und führt somit
zu Streuprozessen. In manchen Kristallen ist die Streuung an Isotopen genauso wichtig wie
die Phonon-Phonon-Streuung. Der Effekt der Streuung an Isotopen ist in Abb. 6.15 und
Abb. 6.16 für Si und Ge gezeigt. Wir erkennen, dass das Maximum der Wärmeleitfähigkeit
für isotopenreine Materialien zu erheblich höheren Werten verschoben werden kann. Bei
Ge beträgt der Unterschied zwischen natürlichem Ge und isotopenreinem 70 Ge etwa eine
Größenordnung.
6.4 Wärmeleitfähigkeit 251

4
10
∝ 𝑻𝟑
4
10

3
3 10
10
 (W / m K)

 (W / m K)
2
10
Si Si
∝ 𝟏/𝑻 1
2
10 10

28Si
0
10 natSi

Rechnung für 28Si


Rechnung für natSi
1 -1
10 1 2 3 10 -2 -1 0
10 10 10 10 10 10
T (K) T / D
38

Abb. 6.15: Wärmeleitfähigkeit von Silizium. Links: hochreines Si (nach C. J. Glassbrenner, G. A. Slack,
Phys. Rev. 134, 1058 (1964)). Rechts: Hochreines natürliches Silizium (nach M. G. Holland, Phys.
Rev. 132, 2461 (1963); W. S. Capinski, Appl. Phys. Lett. 71, 2109 (1997)) sowie isotopenreines (99.7%)
28
Si (nach W. S. Capinski, Appl. Phys. Lett. 71, 2109 (1997)).

3
10 𝑱𝒉 ∥ [𝟎𝟎𝟏]
3 (a)
10
(b)
(d)
(a)
2 (e)
 (W / m K)

 (W / m K)

10 (c)
(b)

1 2
10 10
(c)
Ge Ge

0
10 0 1 2 3 0 1 2
10 10 10 10 10 10 10
T (K) T (K)

Abb. 6.16: Wärmeleitfähigkeit von Germanium. Links: hochreines Ge mit unterschiedlicher Akzeptor- 42
Dotierung; (a) 103 , (b) 1015 , (c) 2.3 ⋅ 1016 , (d) 4.2 ⋅ 1018 und (e) 5 ⋅ 1019 cm−3 (nach J. A. Carruthers et al.,
Proc. Royal Soc. 238, 502 (1957)). Rechts: Hochreines natürliches Germanium und isotopenreines
70
Ge; (a) 99.99%, (b) 96.3%, (c) natürliches Ge (nach V. I. Ozhogin et al., Pisma Zh. Eksp. Teor. Fiz. 63,
463–467 (1996)).
252 6 Thermische Eigenschaften

In Abb. 6.17 ist die Wärmeleitfähigkeit von NaF-Kristallen mit unterschiedlicher Defekt-
dichte gezeigt. Die Defekte wurden durch Bestrahlung mit hochenergetischer Röntgenstrah-
lung erzeugt. Wir erkennen wiederum die typische Temperaturabhängigkeit der Wärme-
leitfähigkeit und außerdem die Reduktion der maximalen Wärmeleitfähigkeit durch die
vergrößerte Defektdichte.
4
10
(a)
NaF
(b)
(c)

 (W / m K)
3
10 (d)

Abb. 6.17: Wärmeleitfähigkeit von rei- 2


nem NaF (a) und nach Erzeugung un- 10
terschiedlicher Defektdichten durch
Bestrahlung mit 130 keV Röntgen-
strahlung: 1.2 (b), 2.0 (c) und 5.7 ⋅
101 0
1016 cm−3 (d) (Daten aus Charles T. Wal- 10 10
1
10
2

ker, Phys. Rev. 132, 1963–1975 (1963)). T (K)


46

6.4.4 Spontaner Zerfall von Phononen


Eine interessante Frage betrifft die Lebensdauer von Phononen bei sehr tiefen Temperaturen.
Man könnte vermuten, dass ein Phonon für T → 0 unendlich lange lebt, da keine weiteren
thermischen Phononen vorhanden sind, mit denen es wechselwirken könnte. Diese Über-
legung ist aber nicht richtig, da wir die Nullpunktsschwingungen außer Acht gelassen ha-
ben. Die Wechselwirkung eines Phonons mit den Nullpunktsschwingungen führt zu einem
spontanen Phononenzerfall über einen Drei-Phononen-Prozess. Es lässt sich zeigen, dass
der Wirkungsquerschnitt für diesen Prozess proportional zu ω 3 ist. Da D(ω) ∝ ω 2 nimmt
die Dichte n der Stoßpartner mit ω 2 zu. Insgesamt ergibt sich deshalb
1 1
ℓ∝τ∝ ∝ 5 . (6.4.23)
nσ ω
Dieser Ausdruck zeigt, dass der spontane Zerfall von Phononen nur für hochfrequente Pho-
nonen von Bedeutung ist. Für niederfrequente Phononen wird die Lebensdauer τ sehr groß.

6.4.5 Vertiefungsthema: Wärmetransport in amorphen Festkörpern


Unsere bisherigen Betrachtungen haben sich auf kristalline Festkörper bezogen. Es stellt sich
die Frage, inwieweit wir diese Vorstellungen auch auf stark ungeordnete und amorphe Fest-
körper übertragen können. Experimentell hat man bereits früh festgestellt, dass es starke Un-
terschiede zwischen der Wärmeleitfähigkeit von Quarzglas und Quarzkristallen gibt (siehe
Abb. 6.18). Insgesamt zeigt die Temperaturabhängigkeit der Wärmeleitfähigkeit amorpher
Festkörper drei charakteristische Temperaturbereiche.
6.4 Wärmeleitfähigkeit 253

10
3
SiO2
2
10
kristallin
 (W / m K)

101
I
100 II
∝ 𝑻𝟑 Abb. 6.18: Temperaturabhängigkeit der
-1
10 amorph Wärmeleitfähigkeit in kristallinem (Rau-
-2 III ten) und amorphem Quarz (Dreiecke).
10
Die blauen Linien zeigen das Ergebnis für
10
-3 ∝ 𝑻𝟐 weitere Quarz- und Borsilikat-Gläser, die
alle eine ähnliche Temperaturabhängigkeit
10-4
10
-1
10
0
10
1
10
2 zeigen (nach R. C. Zeller, R. O. Pohl, Phys.
T (K) Rev. B 4, 2029 (1971)).
49

Bei hohen Temperaturen (Bereich I) liegt die Wellenlänge der den Wärmetransport dominie-
renden Phononen bei etwa 1 nm. Schätzen wir aus der gemessenen Wärmeleitfähigkeit einen
groben Wert für die mittlere freie Weglänge ab, so erhalten wir Werte unterhalb von 1 nm.
Das heißt, ℓ ist in der gleichen Größenordnung oder sogar kleiner als die Wellenlänge der
Phononen. Eine Beschreibung des Wärmetransports im Phononenbild erscheint deshalb
nicht mehr sinnvoll. Eine genaue theoretische Erklärung des beobachteten Verhaltens steht
noch aus.
Im Bereich mittlerer Temperaturen (Bereich II) zeigt die Wärmeleitfähigkeit häufig ein Pla-
teau. Da in diesem Temperaturbereich c V mit der Temperatur stark zunimmt, muss ℓ stark
abnehmen, um das beobachtete Plateau zu erklären. Als Mechanismen werden Streuung an
Punktdefekten, die räumliche Lokalisierung von Phononen oder die Streuung an weichen
Phononen (vergleiche hierzu Abschnitt 11.4.1) vorgeschlagen.
Im Bereich tiefer Temperaturen (Bereich III) zeigt die Wärmeleitfähigkeit eine in etwa
quadratische Temperaturabhängigkeit. Ferner beobachtet man, dass der Absolutwert von κ
für unterschiedliche Systeme ähnlich ist. Dieses Verhalten können wir mit der resonanten
Wechselwirkung der in diesem Temperaturbereich dominierenden langwelligen Phononen
mit Zweiniveausystemen erklären. Zum Beispiel können wir uns vorstellen, dass Atome
zwischen zwei Zuständen in der amorphen Struktur hin- und hertunneln und durch diese
Tunnelkopplung ein Zweiniveausystem bilden. Stimmt die Phononenenergie ħω mit der
Energiedifferenz E 12 der Zweiniveausysteme überein, so können die Phononen Über-
gänge zwischen den beiden Niveaus induzieren. Da im thermischen Gleichgewicht für
das Verhältnis der Besetzungszahlen im oberen und unteren Zustand des Zweiniveausys-
tems n 1 ⇑n 2 = exp(−E 12 ⇑k B T) gilt, folgt für die Besetzungszahldifferenz

E 12 ħω
δn = n 2 − n 1 = n tanh ( ) = n tanh ( ) (6.4.24)
2k B T 2k B T
mit n = n 1 + n 2 . Nehmen wir eine breite Verteilung der Energiedifferenzen E 12 und fer-
ner für die Energie der den Wärmetransport dominierenden Phononen ħω ∼ k B T an, so
sehen wir, dass sich δn nicht mit der Temperatur ändert. Für die Streurate erhalten wir
dann 1⇑ℓ ∝ δnσ ∝ nT, da der Streuquerschnitt σ ∝ ω ∝ T. Letzteres folgt aus der Tatsa-
che, dass das mittlere Auslenkungsquadrat einer Gitterschwingung proportional zu ihrer
254 6 Thermische Eigenschaften

Frequenz ist (vergleiche hierzu Abschnitt 9.3.2). Mit 1⇑ℓ ∝ nT und c V ∝ T 3 erhalten wir

κ = 13 c V ℓv ∝ T 2 ⇑n (6.4.25)

in guter Übereinstimmung mit den experimentellen Befunden.

6.4.6 Vertiefungsthema: Wärmetransport


in niederdimensionalen Systemen
Mit den modernen Methoden der Mikro- und Nanostrukturierung können wir die latera-
len Abmessungen von Festkörpern so weit einschränken, dass wir ihre Dimensionalität re-
duzieren. In solchen Systemen können wir dann Transportphänomene bei reduzierter Di-
mensionalität untersuchen. Die charakteristische Längenskala für den Wärmetransport über
Phononen ist die thermische Wellenlänge λ th , die wir aus der Bedingung

2πħv
ħω th = = kB T (6.4.26)
λ th
erhalten. Alle Schwingungsmoden mit λ < λ th können bei der Temperatur T nicht mehr
angeregt werden. Reduzieren wir die Abmessung D einer Probe so weit, dass D ≤ λ th ⇑2, so
sind unterhalb der Temperatur

hv
T∗ = (6.4.27)
2k B D
alle relevanten Schwingungsmoden in dieser Raumrichtung ausgefroren und es liegt effektiv
eine Probe mit reduzierter Dimensionalität vor. Mit einer typischen Phononenausbreitungs-
geschwindigkeit von v = 5 000 m/s und D = 100 nm erhalten wir T ∗ ≃ 1 K.

6.4.6.1 Wärmetransport in einem eindimensionalen Festkörper


Als Beispiel betrachten wir den Wärmetransport in einem Steg der Länge L, dessen Brei-
te W und Dicke d auf etwa 100 nm reduziert sein sollen (siehe Abb. 6.19). Der Steg ist auf
einer Seite mit einem Wärmebad der Temperatur T1 , auf der anderen mit einer Wärmesen-
ke der Temperatur T2 < T1 verbunden. Nach unserer obigen Abschätzung sollte sich diese
Probe unterhalb von etwa 1 K hinsichtlich des Wärmetransports über Phononen als ein-
dimensionale Probe verhalten. Eine analoge Betrachtung des Ladungstransports in einem
eindimensionalen Leiter werden wir in Abschnitt 7.5.1 durchführen.
𝑻2
𝒛
𝑻1 > 𝑻2 𝑾 𝒚
𝒙

Abb. 6.19: Zum Wärmetransport in 𝒅 𝑳


einem eindimensionalen Festkörper.

Übergang zu eindimensionaler Transport für D = 𝑑, 𝑊 = 𝜆𝑝ℎ /2

2𝜋 ℎ𝑣𝑝ℎ ℎ𝑣𝑝ℎ
mit ℏ𝜔𝑝ℎ = ℏ𝑞𝑣𝑝ℎ = ℏ 𝑣𝑝ℎ ⇒ = 𝑘𝐵 𝑇 ⋆ ⇒ 𝑇⋆ =
𝜆𝑝ℎ 2𝐷 2𝑘𝐵 𝐷
6.4 Wärmeleitfähigkeit 255

Der Wärmefluss von der heißen zur kalten Seite des eindimensionalen Stegs ist gegeben
durch (vergleiche (6.4.3))
1
J h,x = ∑ ħω qr (∐︀n 1 ̃︀ − ∐︀n 2 ̃︀)v x,qr . (6.4.28)
L q,r

Hierbei sind ∐︀n 1 ̃︀ und ∐︀n 2 ̃︀ die mittleren thermischen Besetzungszahlen der Gitterschwin-
gungen bei den Temperaturen T1 und T2 und v x,qr = ∂ω qr ⇑∂q ihre Gruppengeschwindigkeit.
Mit der Zustandsdichte Z(q) können wir die Summe über q in ein Integral umwandeln und
erhalten

1
J h,x = ∑ ∫ ħω qr Z(q)(∐︀n 1 ̃︀ − ∐︀n 2 ̃︀)v x,qr dq . (6.4.29)
L r
0

Aus Z(q) ⋅ dq = D(ω) ⋅ dω folgt mit der eindimensionalen Zustandsdichte Z (1) (q) = L⇑2π
die Zustandsdichte im Frequenzraum D(ω) = (L⇑2π)(1⇑v x,qr ) und wir erhalten

1
J h,x = ∑ ∫ ħω r (∐︀n 1 ̃︀ − ∐︀n 2 ̃︀)dω r . (6.4.30)
2π r
0

Bemerkenswert ist dabei, dass die Gruppengeschwindigkeit der Phononen in (6.4.30) gerade
herausfällt.
Um das Integral auszuwerten, müssen wir jetzt noch einen Ausdruck für ∐︀n 1 ̃︀ − ∐︀n 2 ̃︀ finden.
Nach (6.4.5) und (6.4.6) ist
∂∐︀ñ︀ dT
∐︀n 1 ̃︀ − ∐︀n 2 ̃︀ = −v x,qr τ . (6.4.31)
∂T dx
Wir betrachten jetzt den interessanten Fall, dass die mittlere freie Weglänge ℓ = v x,qr τ größer
als die Länge L des Stegs wird. In diesem Fall werden Phononen von einem Wärmereservoir
in den Steg emittiert und wandern ohne Rückstreuung zum anderen. Da ein Wärmereservoir
eine höhere Temperatur besitzt, erhalten wir einen effektiven Wärmestrom vom heißeren
zum kälteren Reservoir. Da ferner die effektive mittlere freie Weglänge gerade der Länge L
des Stegs entspricht, können wir −v x,qr τ ∂T
∂x
durch −L ∂T
∂x
= T1 − T2 = ∆T, also die Tempera-
turdifferenz der beiden Wärmereservoire, ersetzen und erhalten ∐︀n 1 ̃︀ − ∐︀n 2 ̃︀ ≃ ∂∐︀ñ︀
∂T
∆T. Set-
zen wir dies in (6.4.30) ein und benutzen die Abkürzung x ≡ ħω r ⇑k B T, so erhalten wir den
thermischen Leitwert

J h,x k B2 T x 2 ex π 2 k B2 T
G≡ = ∑ 𝒯r ∫ dx = ∑ 𝒯 r = ∑ 𝒯r ⋅ G 0 . (6.4.32)
(ex − 1)
2
∆T h r r 3 h r
0

Hierbei sind 𝒯r ≤ 1 die Transmissionskoeffizienten, welche die Kopplung der im Steg pro-
pagierenden Moden an die Reservoire charakterisieren. Wir sehen, dass im Idealfall 𝒯r = 1
jede Schwingungsmode zum Leitwert den gleichen Beitrag

π 2 k B2 T
G0 ≡ = 9.46 × 10−13 W⇑K2 ⋅ T(︀K⌋︀ (6.4.33)
3h
256 6 Thermische Eigenschaften

liefert. Für den in Abb. 6.19 gezeigten Steg gibt es eine longitudinale Dilatationsschwin-
gung, zwei transversale Biegeschwingungen und eine Torsionsschwingung – also insgesamt
4 Schwingungsmoden.
Der durch (6.4.32) gegebene thermische Leitwert konnte in Experimenten mit vier, nur et-
wa 200 nm breiten Stegen, die in eine 60 nm dicke Siliziumnitridmembran strukturiert wur-
den, beobachtet werden.18 Die verwendete Probe ist im Inset von Abb. 6.20 gezeigt. Auf der
Insel im Zentrum der Probe ist ein Au-Heizer aufgebracht, der über vier auf den Stegen
verlaufenden Nb-Leitungen mit den Zuleitungen verbunden ist. Man verwendet supralei-
tendes Nb für die Zuleitungen, damit es in den Zuleitungen selbst zu keinen Heizeffekten
kommt und da supraleitendes Nb ferner eine sehr kleine thermische Leitfähigkeit besitzt.
Da jeder der vier Stege mit jeweils 4 Schwingungsmoden beiträgt und alle vier Stege parallel
geschaltet sind, erwarten wir bei tiefen Temperaturen einen thermischen Leitwert von 16G 0 .
Dies stimmt mit der experimentellen Beobachtung gut überein. Bei höheren Temperaturen,
T > T ∗ ≃ 0.8 K, verhalten sich die Stege wie dreidimensionale Proben und der Leitwert steigt
proportional zu T 3 an. Die Übergangstemperatur T ∗ ≃ 0.8 K stimmt gut mit dem für eine
Phononengeschwindigkeit v ≃ 6 000 m/s und W ≃ 200 nm erwarteten Wert überein.
Wir haben in unserer obigen Überlegung angenommen, dass die von einem Wärmereservoir
emittierten Phononen mit Wahrscheinlichkeit T = 1 zum anderen Reservoir transmittiert
werden. Liegt eine endliche Rückstreuung der Phononen vor, so können wir dies im Aus-
druck (6.4.32) für den thermischen Leitwert einfach durch eine Transmissionswahrschein-
lichkeit T < 1 berücksichtigen.

100
𝝅𝟐 𝒌𝟐𝐁 𝑻
𝑮𝟎 =
𝟑𝒉
Gth / 16 G0

10

2 µm

Abb. 6.20: Thermischer Leitwert G th ei-


ner eindimensionalen Probe normiert auf 1
das 16-fache des thermischen Leitwerts G 0
als Funktion der Temperatur. Unterhalb
von etwa 1 K sättigt der thermische Leit-
𝑻⋆ ≈ 𝟎. 𝟖 𝐊
wert. Das Inset zeigt ein Mikroskopbild 0.1
der verwendeten Probe (nach K. Schwab 0.1 1
et al., Nature 404, 974–977 (2000)). T (K)
55
Literatur 257

Literatur
A. Einstein, Die Plancksche Theorie der Strahlung und die Theorie der spezifischen Wärme,
Annalen der Physik 327 (1), 180–190 (1907).
R. Berman, Thermal Conduction in Solids, Clarendon Press, Oxford (1976).
H. S. Carslaw, J. C. Jaeger, Conduction of Heat in Solids, Oxford University Press, Oxford
(1959).
H. J. Goldsmid, Introduction to Thermoelectricity, Springer Series in Materials Science,
Springer-Verlag, Berlin (2010).
S. V. Hering, S. W. Sciver and O. E. Vilches, Apparent new phase of monolayer 3 He and 4 He
films adsorbed on grafoil as determined from heat capacity measurements, J. Low Temp.
Phys. 25, 793–805 (1976).
G. S. Nolas, J. Sharp, J. Goldsmid, Thermoelectrics: Basic Principles and New Materials Deve-
lopments, Springer-Verlag, Berlin (2001).
K. Schwab, E. A. Henriksen, J. M. Worlock, M. L. Roukes, Measurement of the quantum of
thermal conductance, Nature 404, 974–977 (2000).
T. M. Tritt (ed.), Thermal Conductivity: Theory, Properties, and Applications, Kluwer Acade-
mic/Plenum Publishers, New York (2004).
J. M. Ziman, Electrons and Phonons: The Theory of Transport Phenomena in Solids, Oxford
Classic Texts in the Physical Sciences, Oxford University Press, Oxford (2001).

18
K. Schwab, E. A. Henriksen, J. M. Worlock, M. L. Roukes, Measurement of the quantum of thermal
conductance, Nature 404, 974–977 (2000).
7 Das freie Elektronengas
In den vorangegangenen Kapiteln haben wir die Eigenschaften von Isolatoren behandelt. Bei
diesen Materialien sind die Elektronen fest an die Gitteratome gebunden, wir sprechen von
lokalisierten Elektronen. Wir wollen uns nun den Eigenschaften von Materialien zuwenden,
bei denen delokalisierte Elektronen vorliegen. Um zunächst ein handhabbares Modell für
solche Systeme zu entwickeln, werden wir zwei grundlegende Annahmen machen:

1. Die Elektronen wechselwirken nicht mit den Atomrümpfen.


2. Die Elektronen wechselwirken nicht miteinander.

Das heißt, wir gehen von völlig freien Elektronen E


aus, die ein Gas von nicht-wechselwirkenden Teil-
chen bilden. Wir sprechen deshalb von einem freien
Elektronengas. Obwohl die obigen Annahmen eine
starke Vereinfachung darstellen, werden wir viele
Eigenschaften von Metallen mit dem System freier
Elektronen beschreiben können. Bei der Diskussi-
on des freien Elektronengases wird allerdings, ge-
nauso wie bei dem Phononengas in Kapitel 6, eine
rein klassische Beschreibung nicht ausreichen. Das kx ky
heißt, wir können das Elektronengas nicht als klas-
sisches Teilchengas auffassen. Wir müssen vielmehr
eine quantenmechanische Beschreibung vornehmen. Eine wichtige Rolle wird dabei spielen,
dass Elektronen Spin- 21 -Teilchen sind, die im Gegensatz zu den Phononen der Fermi-Dirac-
Statistik folgen. Das heißt, wir müssen für sie das Pauli-Prinzip beachten.
Selbst in einfachen Metallen wie z. B. Li, Na oder K, für die das Modell des freien Elektronen-
gases am besten funktioniert, liegt ein periodisches Potenzial der positiven Ionenrümpfe vor,
das die Ladungsverteilung der Elektronen beeinflusst. Wir werden deshalb später das Modell
des freien Elektronengases in Kapitel 8 erweitern, um die Wechselwirkung der Elektronen
mit den Ionen des Gitters zu berücksichtigen. Generell kann man sagen, dass das Modell
der völlig freien Elektronen immer dann gut für die Beschreibung von Festkörpern funk-
tioniert, wenn die diskutierten Eigenschaften im Wesentlichen durch die kinetische Energie
bestimmt werden.
Historisch betrachtet wurde die Beschreibung von Metallen im Rahmen der Bewegung von
völlig freien Elektronen lange vor der Entwicklung der Quantenmechanik vorgenommen.
Bereits um 1900, kurz nach der Entdeckung des Elektrons durch Joseph John Thomson im
260 7 Das freie Elektronengas

Jahr 1897, wurde von Paul Drude1 eine klassische Modellvorstellung für ein Gas freier Elek-
tronen entwickelt.2 Diese klassische Theorie basierte zwar auf der falschen Annahme, dass
die Geschwindigkeitsverteilung der Elektronen im freien Elektronengas durch die klassi-
sche Maxwell-Boltzmann-Verteilung beschrieben werden kann, hatte aber trotzdem eini-
ge eher zufällige Erfolge wie die Ableitung des Ohmschen Gesetzes oder des Verhältnisses
zwischen elektrischer und thermischer Leitfähigkeit. Diese klassische Theorie konnte aber
nicht die spezifische Wärme, die Thermokraft oder die magnetische Suszeptibilität von Me-
tallen erklären. Nach der Entwicklung der Quantenmechanik hat dann Arnold Sommerfeld3
die Drudesche Theorie auf eine quantenmechanische Basis gestellt. Wir sprechen deshalb
heute oft vom Drude-Sommerfeld-Modell des freien Elektronengases. Sommerfeld hat das
Paulische Ausschließungsprinzip auf die freien Elektronen angewendet und ihre Geschwin-
digkeitsverteilung mit der richtigen Quantenstatistik, nämlich der Fermi-Dirac-Statistik be-
schrieben (Übergang vom klassischen zum Quantengas).

1
Paul Drude, geboren am 12. Juli 1863 in Braunschweig, gestorben am 5. Juli 1906 in Berlin.
2
Paul Drude, Zur Elektronentheorie der Metalle, I. Teil, II. Teil, und Berichtigung, Annalen der Physik
1, 556–613 (1900); ibid 3, 369–402 (1900); ibid 7, 687–692 (1902).
3
Arnold Sommerfeld, siehe Kasten auf Seite 262.
7.1 Modell des freien Elektronengases 261

7.1 Modell des freien Elektronengases


7.1.1 Grundzustand
Wir betrachten N freie, nicht-wechselwirkende Elektronen, die in einem Volumen V = L 3
durch unendlich hohe Potenzialwände eingeschlossen sind. Wir analysieren zunächst den
Grundzustand dieses Systems bei T = 0. Da die Elektronen nicht wechselwirken, genügt es,
das quantenmechanische Problem für ein Elektron zu lösen. Das Elektron im Potenzialkas-
ten beschreiben wir durch eine Wellenfunktion Ψ(r, σ), wobei σ den Spin des Elektrons
bezeichnet. Die Energieeigenzustände für dieses freie Elektron erhalten wir durch Lösen der
Schrödinger-Gleichung
ħ2 2
−∇ Ψ(r, σ) = E Ψ(r, σ) . (7.1.1)
2m
Lösungen sind ebene Elektronenwellen
1
Ψk (r) = ⌋︂ e ık⋅r (7.1.2)
V
mit Wellenvektor k und de Broglie Wellenlänge λ = 2π⇑⋃︀k⋃︀ sowie der Normierung

∫ d r ⋃︀Ψk (r)⋃︀ = 1 .
3 2
(7.1.3)
V

Das heißt, die Wahrscheinlichkeit, das Elektron irgendwo innerhalb des Potenzialkastens
mit Volumen V zu finden ist eins. Einsetzen in die Schrödiger-Gleichung ergibt die Disper-
sionsrelation für die freien Elektronen
ħ2 k 2
E(k) = . (7.1.4)
2m
Die ebenen Wellen Ψk (r) sind Eigenfunktionen des Impulsoperators ħı ∇. Es gilt nämlich
ħ
∇Ψk (r) = ħkΨk (r) . (7.1.5)
ı
Wir sehen, dass die Zustände Ψk (r) einen wohldefinierten Impuls
p = ħk (7.1.6)
haben. Mit der Impuls-Orts-Unschärferelation bedeutet dies, dass die Ortsunschärfe beliebig
groß ist, wir haben es mit vollkommen delokalisierten Elektronen zu tun.

7.1.1.1 Randbedingungen
Als Randbedingung haben wir vorgegeben, dass sich die Elektronen in einem Kristall mit
Volumen V = L x ⋅ L y ⋅ L z aufhalten sollen. Wir berücksichtigen dies über die periodischen
Randbedingungen
Ψk (x, y, z) = Ψk (x + L x , y, z) = Ψk (x, y + L y , z) = Ψk (x, y, z + L z ) , (7.1.7)
262 7 Das freie Elektronengas

Arnold Sommerfeld (1868–1951)


Arnold Johannes Wilhelm Sommerfeld wurde am 5. De-
zember 1868 in Königsberg geboren. Er begann 1886 ein
Studium der Mathematik und Physik an der Universität Kö-
nigsberg, wo er bereits im Jahr 1891 über Die willkürlichen
Funktionen in der mathematischen Physik promovierte. Er
legte dann 1892 die staatliche Prüfung für das Lehramt ab
und musste anschließend seinen Militärdienst ableisten. Im
Jahr 1893 wurde er zunächst Assistent bei dem Mineralogen
Theodor Liebisch und später (1894–1896) Assistent bei dem
Mathematiker Felix Klein an der Universität Göttingen. Im
Jahr 1895 habilitierte er sich in Göttingen mit einer Arbeit
zur Mathematischen Theorie der Beugung. Er wurde wenig Photo: LRZ München
später (1897) Professor für Mathematik an der Bergakade-
mie Clausthal, wo er bis 1900 blieb. Anschließend wurde er Professor für Mechanik an der
TH Aachen (1900–1906) und schließlich im Jahr 1906 ordentlicher Professor für theoreti-
sche Physik an der Universität München.
In der Zeit zwischen 1897 und 1910 beschäftigte sich Sommerfeld u. a. mit der Theorie
des Kreisels (vier Bände mit Felix Klein). Er war ferner zwischen 1898 und 1926 Redak-
teur der Physikbände der Enzyklopädie der Mathematischen Wissenschaften. In die Jah-
re 1904/05 fallen seine Untersuchungen zur Schmiermittelreibung und Elektronentheorie.
Besonders bedeutend sind seine Arbeiten zur Atomtheorie (Bohr-Sommerfeldsches Atom-
modell, Feinstrukturkonstante, 1915/16) und zur Elektronentheorie der Metalle (1927).
Bereits in das Jahr 1919 fällt die erste Auflage des Buchs Atombau und Spektrallinien. Im
Jahr 1942 erschien sein Lehrbuch Die Mechanik als erster Band seiner sechsbändigen Lehr-
buchreihe Vorlesungen über theoretische Physik, die erst posthum abgeschlossen wurde.
Arnold Sommerfeld war Vorsitzender der Deutschen Physikalischen Gesellschaft (1918).
Er erhielt im Jahr 1922/23 die Carl-Schurz-Gedächtnisprofessur in Madison, Wisconsin.
In den Jahren 1928/29 führte er eine Weltreise durch, während der er Indien, China, Japan
und die USA besuchte. In den Jahren 1935–1940 führte Sommerfeld eine heftige Ausein-
andersetzung um seinen Nachfolger. Er konnte allerdings nicht verhindern, dass sich die
so genannte „Deutsche Physik“ mit ihrem Vertreter W. Müller durchsetzte.
Arnold Sommerfeld starb am 26. April 1951 in München an den Folgen eines Unfalls.

die auf die Bedingung e ı k x L x = e ı k y L y = e ı k z L z = 1 führen. Aufgrund der Randbedingungen


ergeben sich damit die zulässigen Wellenzahlen:
2π 2π 2π
kx = nx , ky = ny , kz = nz , mit n x, y,z = 0, ±1, ±2, ±3, . . . (7.1.8)
Lx Ly Lz

Im Gegensatz zu den Gitterschwingungen, die wir in Abschnitt 5.3 behandelt haben, gibt es
hier keinen maximalen Wellenvektor bzw. minimale Wellenlänge. Bei den Gitterschwingun-
gen wurde der maximale Wellenvektor π⇑a durch den Rand der 1. Brillouin-Zone gegeben
und resultierte aus der periodischen Anordnung der Gitteratome mit Abstand a. Hier be-
7.1 Modell des freien Elektronengases 263

trachten wir ein in ein Volumen eingesperrtes Teilchengas ohne jegliche periodische Struk-
tur. Es existiert deshalb hier kein maximaler Wellenvektor.
Einen bestimmten Elektronenzustand können wir durch die Angabe der drei Zahlen n x , n y
und n z sowie durch Angabe des Spin-Index σ = ± 12 spezifizieren. Aufgrund der zwei mögli-
chen Spin-Stellungen gibt es also zu jedem Wellenvektor k genau zwei Elektronenzustände
mit unterschiedlicher Spin-Richtung. Die Energieeigenwerte dieser Zustände lauten

ħ 2 (2π)2 2 (2π)2 2 (2π)2 2


En = ⌊︀ 2 n x + ny + n }︀ . (7.1.9)
2m Lx L 2y L 2z z

7.1.1.2 Zustandsdichte im k-Raum


Wie Abb. 7.1 zeigt, liegen die erlaubten Zustände im k-Raum in jeder Richtung äquidistant.
Teilen wir den k-Raum in gleiche Teile auf, die alle jeweils nur einen Zustand enthalten, so
erhalten wir für die Strecke, Fläche bzw. Volumen pro Zustand im 1D-, 2D- bzw 3D-Impuls-
raum

1D: (7.1.10)
Lx
(2π)2 (2π)2
2D: = (7.1.11)
Lx L y A

(2π)3 (2π)3
3D: = (7.1.12)
Lx L y Lz V

Für die dreidimensionale Zustandsdichte Z(k) für beide Spin-Richtungen erhalten wir in
Analogie zu (5.3.17)

V
Z(k) = 2 . (7.1.13)
(2π)3

𝒌𝒚

𝟐𝝅/𝑳𝒚
𝟐𝝅/𝑳𝒙
𝑨 = (𝟐𝝅)²/𝑳𝒙𝑳𝒚

𝒌𝒙 Abb. 7.1: Erlaubte Zustän-


de im zweidimensionalen
k-Raum und k-Raumfläche
pro Zustand (schraffiert).
𝑬(𝒌) = 𝒄𝒐𝒏𝒔𝒕 Die Fläche konstanter Ener-
gie ist
⌈︂ein Kreis mit Radius
k = k x2 + k 2y .

6
264 7 Das freie Elektronengas

Entsprechende Ausdrücke ergeben sich für den 1D- oder 2D-Fall. Wir erhalten bis auf den
Faktor 2 durch die beiden möglichen Spin-Richtungen das gleiche Ergebnis wie für die Pho-
nonen. Wird V groß, so liegen die Zustände im k-Raum sehr dicht und wir können ∑k durch
∫ d k Z(k) ersetzen.
3

7.1.1.3 Zustandsdichte im Energieraum


Die Zustandsdichte D(E) im Energieraum erhalten wir mit Hilfe der Dispersionsrela-
tion (7.1.4) und der Beziehung (vergleiche (5.3.21))

Z(k) d 3 k = D(E) dE . (7.1.14)

Wir bestimmen zunächst die Zahl der Zustände im k-Raum, indem wir über eine Schale
(︀E(k), E(k) + ∆E⌋︀ im k-Raum integrieren. Wir erhalten
k(E+∆E) k(E+∆E)
V
∫ Z(k) d k = 2
3
∫ d3k , (7.1.15)
(2π)3
k(E) k(E)

V
wobei (2π) 3 die Dichte der Zustände im k-Raum ist und der Faktor 2 aus der Spin-Entartung

resultiert. Die Zustandsdichte im Energieraum ergibt sich dann aus der Bedingung, dass die
Zahl der Zustände erhalten bleibt,
k(E+∆E) E(k)+∆E
V
2 ∫ d3k = ∫ D(E) dE ≃ D(E)∆E (7.1.16)
(2π)3
k(E) E(k)

und der bekannten Dispersion E(k) = ħ 2 k 2 ⇑2m in Analogie zu (5.3.25). Da die Flächen kon-
stanter Energie im k-Raum Kugeloberflächen sind, erhalten wir für einen dreidimensionalen
Festkörper
k(E+∆E)
V
∫ Z(k) d 3 k = 2 4πk 2 ∆k = D(E)∆E . (7.1.17)
(2π)3
k(E)

ħ2 k
Mit ∆E = m
∆k ergibt sich daraus die Zustandsdichte für beide Spin-Richtungen zu

V 2m 3⇑2 1⇑2
D(E) = ( ) E (3D-Elektronengas) . (7.1.18)
2π 2 ħ 2

Die Zustandsdichte D(E) gibt die Zahl der Zustände pro Energieintervall für beide Spin-
Richtungen an. In vielen Lehrbüchern wird die Zustandsdichte für eine Spin-Richtung oder
pro Energieintervall und Volumen angegeben. Diese können aus (7.1.18) leicht erhalten wer-
den, indem wir durch 2 bzw. das Volumen teilen.
Entsprechende Beziehungen können wir für ein- und zweidimensionale Elektronengassys-
teme ableiten, wie sie heute häufig in Halbleiterheterostrukturen realisiert werden. Für ein
7.1 Modell des freien Elektronengases 265

zweidimensionales Elektronengas gilt


k(E+∆E)
A
∫ Z(k) d 2 k = 2 2πk∆k = D(E)∆E (7.1.19)
(2π)2
k(E)

und wir erhalten

A 2m 0
D(E) = ( ) E = const (2D-Elektronengas) . (7.1.20)
2π ħ 2

Für ein eindimensionales Elektronengas gilt


k(E+∆E)
L
∫ Z(k) dk = 2 2∆k = D(E)∆E (7.1.21)
(2π)
k(E)

und wir erhalten

L 2m 1⇑2 −1⇑2
D(E) = ( ) E (1D-Elektronengas) . (7.1.22)
π ħ2
⌋︂
Wir sehen, dass die Zustandsdichte für ein 3D-Elektronengas proportional zu⌋︂ E, für ein
2D-Elektronengas konstant und für ein 1D-Elektronengas proportional zu 1⇑ E ist (siehe
Abb. 7.2).

3D 2D 1D
D (E)
D (E)

D (E)

E E E

Abb. 7.2: Zustandsdichte für ein 1D-, 2D- und 3D-Elektronengas.

7.1.1.4 Die Fermi-Energie


Wir haben in den vorangegangenen Abschnitten die Eigenzustände und möglichen Wellen-
vektoren für ein einzelnes Elektron bestimmt. Wir wollen jetzt den Grundzustand eines
7
Systems aus N nicht-wechselwirkenden Elektronen betrachten. Da für Elektronen das Pauli-
Prinzip gilt, können jeweils nur zwei Elektronen mit entgegengesetztem Spin die Eigenzu-
stände besetzen. Das bedeutet, dass wir die Eigenzustände von niedrigen Energien her kom-
mend auffüllen müssen, bis wir alle N Elektronen untergebracht haben. Die höchste Energie,
266 7 Das freie Elektronengas

Vakuum Metall Vakuum


𝑉

Φ
Abb. 7.3: Potenzialverlauf im Modell frei-
er Elektronen. Im Inneren des Potenzialtopfs 𝐻
verschwindet die potenzielle Energie, da wir
freie Teilchen angenommen haben. Die Po- 𝐸F
tenzialtiefe ergibt sich aus der Summe der
Austrittsarbeit Φ und der Fermi-Energie E F . − 𝐿/2 0 +𝐿/2 𝑥

die wir dabei erreichen, ist die Fermi-Energie E F .4 Die Fermi-Energie trennt bei T = 0 die
besetzten Zustände (E ≤ E F ) von den unbesetzten Zuständen (E > E F ). Das daraus resul-
tierende Potenzialbild ist in Abb. 7.3 skizziert. Innerhalb des Potenzialtopfs verschwindet
die potenzielle Energie. Alle Elektronenzustände sind bis zur Fermi-Energie besetzt. Um ein
Elektron aus dem Metall zu entfernen, müssen wir die Austrittsarbeit Φ aufbringen. Die Aus-
trittsarbeiten von Metallen liegen im Bereich von 2 bis 6 eV (z. B. Kupfer: Φ = 4.3 . . . 4.5 eV),
so dass unsere obige Annahme eines unendlich hohen Potenzialwalls gut gerechtfertigt ist.
Die Tiefe des Potenzialwalls ergibt sich zu H = Φ + E F . Da E F ebenfalls einige eV beträgt
(siehe Tabelle 7.1), liegt H typischerweise im 10 eV Bereich.
Da die Flächen konstanter Energie für ein 3D-Elektronengas Kugeloberflächen sind, ergibt
sich bei T = 0 im k-Raum eine Kugel mit Radius k F , die alle besetzten Zustände enthält. Wir
nennen diese Kugel Fermi-Kugel (siehe Abb. 7.4). Ihr Radius ist durch die Fermi-Wellen-
zahl k F gegeben, ihre Oberfläche bezeichnen wir als Fermi-Fläche. Die Größe der Fermi-
Wellenzahl können wir leicht bestimmen, indem wir die Anzahl der möglichen Zustände
innerhalb der Fermi-Kugel gleich der Elektronenzahl N setzen:

V 4
N = 2( ) ⋅ ( πk F3 ) . (7.1.23)
(2π) 3 3
)︁⌊︂⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂]︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ )︂ )︁⌊︂⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ]︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ )︂
Zustandsdichte Volumen
im k-Raum im k-Raum

Hierbei haben wir die Dichte Z(k) der Zustände im k-Raum benutzt, in der der Faktor 2
auftaucht, da ja jeder Zustand mit zwei Elektronen entgegengesetzten Spins besetzt werden
kann. Lösen wir nach k F auf und benutzen die Teilchendichte n 3D = N⇑V in einem 3D-
Elektronengas, so erhalten wir5

k F,3D = (3π 2 n 3D )1⇑3 (3D-Elektronengas) . (7.1.24)

4
Benannt nach Enrico Fermi, geboren am 29. September 1901 in Rom, gestorben am 29. November
1945 in Chicago, Nobelpreis für Physik 1938.
5
Vergleiche hierzu die analoge Ableitung des Debye-Wellenvektors (6.1.45) in Abschnitt 6.1.5. Beide
Ausdrücke unterscheiden sich um den Faktor 21⇑3 , da wir bei dem Elektronensystem die Spin-
Entartung vorliegen haben.
7.1 Modell des freien Elektronengases 267

𝒌𝒛

𝒌𝑭

D (E)
Fermi-Kante

𝒌𝒚 besetzt unbesetzt
𝒌𝒙
0.0 0.4 0.8 1.2 1.6
E / EF

Abb. 7.4: Fermi-Kugel und Zustandsdichte für ein 3D-Elektronengas bei T = 0. Die besetzten und
unbesetzten Zustände sind durch eine scharfe Fermi-Kante getrennt.
𝜆F

Analog erhalten wir für 2D- und 1D-Elektronengase mit den Ladungsträgerdichten n 2D =
N⇑A und n 1D = N⇑L

k F,2D = (2πn 2D )1⇑2 (2D-Elektronengas) . (7.1.25)


11

k F,1D = (πn 1D ⇑2) 1


(1D-Elektronengas) . (7.1.26)

Mit (7.1.24) können wir für 3D-Elektronengase die folgenden Größen angeben:

ħ 2 k F2 ħ2
EF = = (3π 2 n)2⇑3 Fermi-Energie (7.1.27)
2m 2m
EF
TF = Fermi-Temperatur (7.1.28)
kB

λF = Fermi-Wellenlänge (7.1.29)
kF
p F ħk F
vF = = Fermi-Geschwindigkeit (7.1.30)
m m
Wir sehen, dass die Fermi-Energie E F bzw. die Fermi-Temperatur TF nur von der Teilchen-
dichte n 3D abhängt. Dies gilt auch für 2D- und 1D-Elektronengase, für die leicht analoge
Ausdrücke angeleitet werden können.6

Größenordnungen: Wir wollen kurz die Größenordnung der gerade eingeführten Größen
abschätzen. In typischen Metallen ist die Elektronendichte n ∼ 5 ⋅ 1022 cm−3 . Damit erhalten

6
Die Teilchendichte in Atomkernen (Protonen, Neutronen) ist wesentlich größer als die Elektro-
nendichte in Festkörpern, deshalb ist die Fermi-Energie dort auch wesentlich höher.
268 7 Das freie Elektronengas

Tabelle 7.1: Elektronendichte, Fermi-Energie, Fermi-Temperatur, Fermi-Wellenvektor und Fermi-Ge-


schwindigkeit für einige Metalle. Die Elektronendichte wurde hierbei über n = N A Zρ m ⇑A abgeschätzt,
wobei N A = 6.022 × 1023 die Avogadro-Konstante, ρ m die Massendichte, A die Massenzahl und Z die
Ladungszahl des Elements sind.

Metall n (1022 cm−3 ) E F (eV) TF (K) k F (108 cm−1 ) v F (108 cm/s)


Li 4.70 4.72 54 800 1.11 1.27
Na 2.54 3.16 36 700 0.91 1.05
Rb 1.15 1.85 21 500 0.69 0.79
Cu 8.45 7.00 81 200 1.35 1.55
Au 5.90 5.51 63 900 1.20 1.38
Ag 5.86 5.49 63 700 1.20 1.39
Be 24.2 14.14 164 100 1.92 2.21
Zn 13.10 9.39 109 000 1.56 1.79
Al 18.06 11.63 134 900 1.74 2.00
Pb 13.20 9.37 108 700 1.57 1.81

wir folgende Größenordnungen:

k F ≃ 108 cm−1 (7.1.31)


λF ≃ 1 Å (7.1.32)
v F ≃ 108 cm⇑s (7.1.33)
E F ≃ 4 eV (7.1.34)
TF ≃ 50 000 K . (7.1.35)

Zu beachten ist hierbei, dass die Wellenlänge der Elektronenwellen im Bereich von 1 Å liegt
und damit in der gleichen Größenordnung wie der Atomabstand im Festkörper liegt. Auf-
grund unserer Diskussion in Kapitel 2 erwarten wir deshalb starke Beugungseffekte der Elek-
tronenwellen im Festkörper. Ferner ist TF wesentlich größer als die typischen Schmelztem-
peraturen von Festkörpern. Wir haben also in der Praxis immer den Fall T ≪ TF vorliegen.
In Tabelle 7.1 sind die Werte von E F und TF für einige Metalle angegeben.
Die Fermi-Geschwindigkeit spielt für ein Elektronengas eine ähnliche Rolle wie die thermi-
sche Geschwindigkeit der Teilchen in einem klassischen Gas. Da T ≪ TF bzw. E th = k B T ≪
E F ist allerdings die thermische Geschwindigkeit eines „klassischen⌈︂ Elektronengases“
wesentlich kleiner als die Fermi-Geschwindigkeit. Während v F = 2E F ⇑m ≃ 108 cm⇑s,
würde⌈︂die thermische Geschwindigkeit eines klassischen Elektronengases bei 300 K nur
v th = 2k B T⇑m ≃ 107 cm⇑s betragen.
Wir wollen zuletzt noch die Zustandsdichte bei der Fermi-Energie angeben. Mit (7.1.18)
und (7.1.27) erhalten wir
3 n 3 N
D(E F ) = V = . (7.1.36)
2 EF 2 EF
7.1 Modell des freien Elektronengases 269

Häufig wird die Zustandsdichte auch pro Einheitsvolumen angegeben, so dass sie dann nur
durch den Quotienten von Elektronendichte n und Fermi-Energie E F bestimmt ist.

7.1.1.5 Gesamtenergie, Druck und Kompressibilität


Gesamtenergie: Die Gesamtenergie des Elektronensystems erhalten wir, indem wir die
Energien der einzelnen Elektronen aufsummieren:

ħ2 k 2
E ges = 2 ∑ . (7.1.37)
k≤k F 2m

Der Faktor 2 berücksichtigt hierbei wiederum die Spinentartung. Ähnlich wie wir es für die
Gitterschwingungen getan haben, nehmen wir an, dass das Volumen V groß ist und deshalb
die Zustände im k-Raum sehr dicht liegen. Wir können dann die Summation durch eine
Integration ersetzen, ∑ k E(k) → ∫ k Z(k)E(k) d 3 k, und erhalten

kF kF
V ħ2 k 2 3 V ħ2 k 2 V ħ2 5
E ges =2 ∫ d k = 2 ∫ 4πk 2
dk = k . (7.1.38)
(2π)3 2m (2π)3 2m 10π 2 m F
0 0

Mit n = N⇑V = k F3 ⇑3π 2 erhalten wir für die Gesamtenergie pro Teilchen

E ges 3 3
= E F = k B TF . (7.1.39)
N 5 5

Im Gegensatz zu einem Gas klassischer Teilchen, für das die Energie pro Teilchen 32 k B T
beträgt und damit für T → 0 verschwindet, besitzt das Fermi-Gas selbst bei T = 0 eine große
Energie pro Teilchen. Dies ist eine direkte Folge des Pauli-Verbots.

Druck: Der Druck, der von dem Elektronengas ausgeübt wird, ist

∂E ges 2 E ges
p = −( ) = . (7.1.40)
∂V N=const 3 V

Hierbei haben wir den Ausdruck (7.1.27) für die Fermi-Energie verwendet. Da in die Fermi-
Energie n = N⇑V eingeht, ist diese vom Volumen abhängig. Gleichung (7.1.40) bedeutet,
dass wir zum Komprimieren eines völlig wechselwirkungsfreien Teilchengases eine Kraft
aufwenden müssen. Dies erscheint zunächst ungewöhnlich, da die Teilchen ja keine ab-
stoßenden Kräfte aufeinander auswirken. Allerdings ändern wir bei der Komprimierung
die Abmessungen des Potenzialtopfes, in dem die Teilchen eingesperrt sind, und damit ih-
re Energien. Bei einer Verringerung des Volumens vergrößern wir die möglichen Wellen-
vektoren (k ∝ 2π⇑L) und damit die Teilchenenergien (E ∝ k 2 ). Dies führt insgesamt zu ei-
ner Erhöhung der Gesamtenergie des Teilchensystems. Diese Energieerhöhung müssen wir
über die Arbeit ∫ p dV aufbringen.
270 7 Das freie Elektronengas

Kompressibilität: Für die Kompressibilität κ bzw. den Bulk-Modul B = 1⇑κ erhalten wir
(vergleiche (3.2.27))7

1 ∂p 2
= B = −V ( ) = n EF . (7.1.41)
κ ∂V T=const 3

7.1.2 Fermi-Gas bei endlicher Temperatur


Wir haben das freie Elektronengas bisher nur für den Fall T = 0 betrachtet. Dabei waren
alle Zustände bis k = k F besetzt und alle Zustände mit k > k F unbesetzt. Die besetzten und
unbesetzten Zustände waren durch eine scharfe Fermi-Kante getrennt. Bei T > 0 erwarten
wir thermische Anregungen, so dass einige Zustände für k < k F leer und einige für k > k F
besetzt sein werden. Wir erwarten deshalb ein Aufweichen der scharfen Fermi-Kante. Wir
müssen uns jetzt überlegen, wie sich die Elektronen auf die verfügbaren Zustände verteilen.
Diese Frage müssen wir mit Hilfe der statistischen Physik beantworten. Die Vorgehensweise
ist dabei ähnlich zu Kapitel 6. Dort haben wir die Besetzungswahrscheinlichkeit der Schwin-
gungszustände (Phononen) mit der Bose-Einstein-Statistik beschrieben. Wir haben es jetzt
allerdings nicht mehr mit Phononen, d. h. mit Bosonen (Teilchen mit ganzzahligem Spin)
zu tun, für die diese Verteilungsfunktion adäquat ist. Elektronen besitzen einen halbzahligen
Spin und sind deshalb Fermionen. Wir müssen deshalb ihre statistischen Eigenschaften mit
der Fermi-Dirac-Statistik8 beschreiben.

7.1.2.1 Fermi-Dirac-Verteilung
Die Besetzungswahrscheinlichkeit der für die Teilchen eines Elektronengases zur Verfügung
stehenden Zustände ist durch die Fermi-Dirac-Verteilung

1
f (E) = E−µ (7.1.42)
e kB T
+1

gegeben. Hierbei ist µ das so genannte chemische Potenzial, dessen Bedeutung wir weiter
unten noch genauer diskutieren werden. Eine Ableitung der Fermi-Dirac-Verteilung ist in
Anhang B gegeben.
Die Fermi-Dirac-Verteilungsfunktion gibt an, mit welcher Wahrscheinlichkeit ein Zustand
mit der Energie E bei der Temperatur T besetzt ist. Sie ist in Abb. 7.5 grafisch dargestellt. Wir
sehen, dass mit zunehmender Temperatur eine Umverteilung der Besetzung der Elektronen-
zustände von E < E F nach E > E F erfolgt. Da aber k B T ≪ E F , ist der Anteil der Elektronen,
die an dieser Umverteilung teilnehmen, üblicherweise sehr klein. Bei Raumtemperatur ist
für typische Metalle k B T⇑E F ∼ 10−2 und es nimmt nur etwa 1% aller Elektronen an der Um-
verteilung teil. Dies wird bei der späteren Diskussion der thermischen Eigenschaften oder
der Transporteigenschaften des Elektronengases eine große Rolle spielen. In Abb. 7.5 gibt

7 ∂p E ges 2 ∂E ges 2 E ges 2 E ges 10 E ges


Es gilt B = −V ( ∂V )T=const = −V (− 23 V2
+ 3V ∂V
)= 3 V
+ ( 23 ) V
= 9 V
= 23 nE F .
8
Paul Adrien Maurice Dirac, geboren am 8. August 1902 in Bristol, England, gestorben am 20. Ok-
tober 1984 in Tallahassee, USA, Nobelpreis für Physik 1933.
7.1 Modell des freien Elektronengases 271

1.0

0.8  / kBT = 10
Abb. 7.5: Grafische Darstellung der
0.6 Fermi-Dirac Verteilungsfunktion in
Abhängigkeit von der reduzierten
f (E)

0.4 Energie E⇑µ für µ⇑k B T = 10 und 200.


Für Metalle ist µ ≃ E F ∼ 5 eV bzw.
TF ∼ 50 000 K, so dass µ⇑k B T = 200
0.2
 / kBT = 200 etwa den Verhältnissen bei Raumtem-
peratur entspricht. Erwärmt man das
0.0 System, so werden die Zustände in
0.0 0.2 0.4 0.6 0.8 1.0 1.2 1.4 den farbig markierten Bereichen von
E/ E⇑µ < 1 nach E⇑µ > 1 umverlagert.

die rote Kurve (µ⇑k B T = 200) die Situation bei Raumtemperatur realistisch wieder. Die Auf-
weichung der Fermi-Funktion ist kaum zu erkennen, da der Bereich der Breite k B T, über
den die Aufweichung stattfindet, in diesem Fall nur 0.005 ⋅ E⇑µ beträgt.
Abb. 7.6 zeigt das Produkt aus Zustandsdichte und Fermi-Verteilungsfunktion für T = 0
und T > 0. Wir sehen wiederum, dass sich die Anzahl der besetzten Zustände nur inner-
halb eines schmalen Intervalls der Breite k B T um E⇑µ = 1 ändert. Bei T = 0 fällt D(E) f (E)
bei E = µ abrupt auf null ab, während dieser Abfall bei endlichen Temperaturen über ein
Energieintervall der Breite ∼ k B T verschmiert ist.

1.8
1.0
0.8
1.5 0.6
f(E)

0.4 2kBT
1.2 0.2
0.0
0.0 0.2 0.4 0.6 0.8 1.0 1.2
E/
D(E) f(E)

0.9
T=0
0.6

0.3
T>0
0.0
0.0 0.2 0.4 0.6 0.8 1.0 1.2 1.4
E/
Abb. 7.6: Zustandsdichte mal Besetzungswahrscheinlichkeit als Funktion der reduzierten Energie E⇑µ
für T = 0 und T > 0. Beim Übergang von T = 0 zu T > 0 ändert sich die Besetzung der Zustände nur
innerhalb eines Energieintervalls der Breite k B T um E⇑µ = 1. Das Inset zeigt die Fermi-Dirac-Vertei-
lungsfunktionen für T = 0 und T > 0.
272 7 Das freie Elektronengas

7.1.3 Das chemische Potenzial


Im Gegensatz zum in Kapitel 6 behandelten Phononengas, bei dem die Teilchenzahl nicht
erhalten war, haben wir es beim Elektronengas mit einer festen Teilchenzahl N zu tun. Des-
halb taucht in der Verteilungsfunktion ein neuer Parameter, nämlich das chemische Poten-
zial µ auf. Für T = 0 erkennen wir aus (7.1.42) sofort, dass f (E) = 0 für E > µ und f (E) = 1
für E ≤ µ. Das heißt, es gilt

µ(T = 0) = E F . (7.1.43)

Für beliebige Temperaturen können wir den Wert des chemischen Potenzials bestimmen,
indem wir berücksichtigen, dass die Summe über alle Besetzungswahrscheinlichkeiten aller
Elektronen gerade die Elektronenzahl N ergeben muss. Es muss also gelten

N = ∫ Z(k) f (E k ) d 3 k = ∫ D(E) f (E) dE . (7.1.44)

Bei der Lösung dieses Integrals verwendet man meist die Sommerfeld-Entwicklung. Der
Grundgedanke ist dabei der, dass wegen k B T ≪ µ die Verteilungsfunktion f (E) nur in ei-
nem schmalen Bereich der Breite k B T um E ≃ µ von der Verteilungsfunktion für T = 0 ab-

weicht. Das Integral ∫0 D(E) f (E) dE weicht also vom Integral ∫0 D(E) dE bei T = 0 nur
µ

wenig ab, da sich die Integranden nur in der Nähe von E = µ unterscheiden und f (E) ober-
halb von E = µ schnell auf Null abfällt. Wir können deshalb eine Taylor-Entwicklung der
Stammfunktion um E = µ vornehmen (Sommerfeld-Entwicklung) und erhalten:9

N = ∫ D(E) f (E) dE
0
µ

d 2n−1 D(E)
= ∫ D(E) dE + ∑ (k B T)2n a n ( ) . (7.1.45)
n=1 dE 2n−1 E=µ
0

Hierbei sind a n ∼ 1 dimensionslose Konstanten. Brechen wir die Reihenentwicklung nach


dem 1. Glied ab, so erhalten wir
µ 4
π 2 dD(E) kB T
N = ∫ D(E) dE + (k B T)2 ( ) +O( ) . (7.1.46)
6 dE E=µ
µ
0

Mit
µ EF µ

∫ D(E)dE = ∫ D(E) dE + ∫ D(E) dE


0 0 EF
EF
≃ ∫ D(E) dE + D(E F )(µ − E F ) (7.1.47)
0

9
siehe hierzu Anhang C oder Festkörperphysik, N. W. Ashcroft, N. D. Mermin, Oldenbourg Verlag,
München (2012).
7.1 Modell des freien Elektronengases 273

erhalten wir
⎨ ⎬
⎝ ⎠
EF 2

N = ∫ D(E) dE + ⎝(µ − E F )D(E F ) + (k B T) 2π
(
dD(E)
) ⎠⎠
⎝ 6 dE E=µ ⎠
0 ⎪ ⎮
̃.
= N(T = 0) + N (7.1.48)

Da die Teilchenzahl temperaturunabhängig sein muss, folgt sofort dass


⎨ ⎬
⎝ 2 ⎠
̃ = 0 = ⎝(µ − E F )D(E F ) + (k B T)2 π ( dD(E) ) ⎠ .
N ⎝ ⎠ (7.1.49)
⎝ 6 dE E=µ ⎠
⎪ ⎮
Damit erhalten wir die Temperaturabhängigkeit des chemischen Potenzials zu

2 ( d D(E)
dE
)

µ(T) = E F − (k B T)
E=µ
(7.1.50)
6 D(E F )
⌋︂
Mit D(E) = ( )
V 2m 3⇑2
2π 2 ħ 2
E erhalten wir schließlich

π2 T 2
µ(T) = E F ⌊︀1 − ( ) }︀ (7.1.51)
12 TF

Diese Abhängigkeit ist in Abb. 7.7 gezeigt. Da bei Raumtemperatur für typische Metalle
T⇑TF ∼ 10−2 , können wir auch bei Raumtemperatur in guter Näherung µ(300 K) ≃ E F
schreiben.

Anmerkung: Das chemische Potenzial stellt eine wichtige thermodynamische Größe dar.
Es ist allgemein definiert durch die Gibbssche Fundamentalgleichung der inneren Energie U:

dU = T dS − p dV + ∑ µ i dn i . (7.1.52)
i

1.00

Raumtemperatur:
/ EF

𝝁 ≃ 𝑬𝐅

Abb. 7.7: Temperaturabhängigkeit des che-


0.99 mischen Potenzials eines Elektronengases.
Bei Raumtemperatur ist für typische Metal-
0.00 0.02 0.04 0.06 0.08 0.10 le T⇑T ≃ 10−2 , so dass in guter Näherung
F
T / TF µ ≃ EF .
22
274 7 Das freie Elektronengas

Dabei ist T die absolute Temperatur, S ist die Entropie, p der Druck, V das Volumen
und n i ist die Stoffmenge der Systemkomponente i. Bringen wir zwei thermodynamische
Systeme in Kontakt und lassen Wärme und Teilchenaustausch zu, so befinden sich diese
beiden Systeme genau dann im thermodynamischen Gleichgewicht, wenn T1 = T2 , p 1 = p 2
und µ 1 = µ 2 gilt. Das chemische Potenzial spielt also insbesondere bei Kontaktphänomenen
(z. B. Diode, Halbleiterheterostrukturen, Metall-Halbleiter-Kontakt) eine wichtige Rolle.
Der Wert von µ entspricht immer derjenigen mittleren Energie, die man aufbringen muss,
um dem System ein weiteres Teilchen hinzuzufügen.

7.2 Spezifische Wärme


7.2.1 Theorie
Um die spezifische Wärme bei konstantem Volumen zu erhalten, müssen wir die innere
Energie (entspricht Gesamtenergie) des Elektronengases als Funktion der Temperatur be-
stimmen (vergleiche hierzu Abschnitt 6.1.1). Für ein klassisches Elektronengas aus N Elek-
tronen erwarten wir gemäß dem Gleichverteilungssatz pro kinetischem Freiheitsgrad den
Beitrag 12 k B T. Berücksichtigen wir noch die Spin-Entartung, so erwarten wir für die Wärme-
kapazität

∂∐︀Ũ︀
C Vklassisch = ⋁︀ = 2 ⋅ N ⋅ 3 ⋅ 12 k B = 3N k B . (7.2.1)
∂T V

Dieser klassische Wert, den wir nach dem Drude-Modell erwarten, ist jedoch um etwa den
Faktor 100 größer als der gemessene Wert. Dies war einer der ersten Hinweise darauf, dass
das klassische Drude-Modell die Situation nicht richtig beschreibt. Um das richtige Ergebnis
zu erhalten, müssen wir eine quantenmechanische Beschreibung vornehmen und das Pauli-
Prinzip berücksichtigen.
Die innere Energie eines Elektronengases erhalten wir ganz allgemein, indem wir über alle
Energiezustände multipliziert mit deren Besetzungswahrscheinlichkeit aufsummieren:

U = ∑ E(k) f (E k ) . (7.2.2)
k,σ

Mit Hilfe der Zustandsdichte D(E) können wir die Summation über alle k durch eine Inte-
gration über die Energie ersetzen:
∞ ∞
V 2m 3⇑2 E 3⇑2
U = ∫ dE E D(E) f (E) = ( ) ∫ (E−µ)⇑k B T dE . (7.2.3)
2π 2 ħ 2 e +1
0 0
7.2 Spezifische Wärme 275

Die Auswertung dieses Integrals ist leider schwierig, da es nicht analytisch lösbar ist. Man
verwendet deshalb die Sommerfeld-Entwicklung (siehe Anhang C)

µ
π2 d
U ≃ ∫ E D(E) dE + (k B T)2 ( )︀ED(E)⌈︀) +...
6 dE E≃E F
0
EF µ
π2 dD(E F )
≃ ∫ E D(E) dE + ∫ E D(E) dE + (k B T)2 ⌊︀E F + D(E F )}︀
6 dE
0 EF

π2 dD(E F )
≃ U(T = 0) + E F D(E F )(µ − E F ) + (k B T)2 ⌊︀E F + D(E F )}︀
6 dE

π 2 dD(E F ) π2
≃ U(T = 0) + E F ⌊︀D(E F )(µ − E F ) + (k B T)2 }︀ + (k B T)2 D(E F ) .
6 dE 6
(7.2.4)
̃ in (7.1.49) und muss deshalb ver-
Der Term in eckigen Klammern entspricht gerade N
schwinden. Somit erhalten wir

π2
U = U(T = 0) + (k B T)2 D(E F ) . (7.2.5)
6

Für die Wärmekapazität erhalten wir damit

∂U π2 2
CV = ⋀︀ = k T D(E F ) . (7.2.6)
∂T V 3 B
F)
Mit der Zustandsdichte D(E
V
= 32 ENF V = 3 n
2 EF
erhalten wir schließlich die auf das Volumen
bezogene spezifische Wärmekapazität

π 2 2 D(E F ) π 2 nk B2
cV = kB T= T =γT (7.2.7)
3 V 2 EF

mit dem Sommerfeld-Koeffizienten

π 2 2 D(E F ) π 2 nk B2
γ= k = , (7.2.8)
3 B V 2 EF

der durch D(E F ) und damit durch die Dichte und Masse der Ladungsträger bestimmt wird.

Plausibilitätsbetrachtung: Um uns das obige Ergebnis anschaulich klar zu machen, be-


trachten wir Abb. 7.8. Erhöhen wir die Temperatur von T = 0 auf die Temperatur T, so er-
zeugen wir eine Umbesetzung der Elektronenzustände. An dieser Umbesetzung kann aller-
dings nur ein ganz kleiner Bruchteil der Elektronen mit Energien im Intervall k B T um die
276 7 Das freie Elektronengas

1.2

𝑻 = 𝟎
1.0

0.8

f (E)
0.6
𝜹𝑬 ∼ 𝒌𝐁𝑻
Abb. 7.8: Plausibilitätsbetrachtung zur
0.4
Wärmekapazität des Elektronengases. Ge-
zeigt ist eine Fermi-Dirac-Verteilungsfunk- 0.2
tion bei T = 0 (rot) und T > 0 (blau). Der 𝑻 > 𝟎
schattierte Bereich zeigt den Energiebereich 0.0
der Breite k B T, aus dem die Elektronen 0.0 0.2 0.4 0.6 0.8 1.0 1.2 1.4
zur Wärmekapazität beitragen können. E / EF
23

Fermi-Energie teilnehmen. Die Anzahl dieser Elektronen ist N th ≃ D(E F )k B T. Jedes dieser
Elektronen trägt etwa die Energie k B T zu U bei. Wir erwarten deshalb
U ≃ U(T = 0) + D(E F )(k B T)2 (7.2.9)

3N k B2
C V = 2D(E F )k B2 T = T. (7.2.10)
EF
Daraus ergibt sich eine spezifische Wärmekapazität c V = C V ⇑V , die bis auf den Faktor π 2 ⇑6
mit dem Ergebnis (7.2.7) übereinstimmt.
Wir sehen, dass die Wärmekapazität des Elektronengases proportional zu T zunimmt. Im
Vergleich zum klassischen Ergebnis C Vklass = 3N k B taucht in (7.2.7) bzw. (7.2.10) noch der
Faktor T⇑TF auf. Das heißt, dass wir wegen T ≪ TF nur einen kleinen Bruchteil der klas-
sisch erwarteten Wärmekapazität erhalten. Die Ursache dafür ist das Pauli-Prinzip, das bei
der klassischen Betrachtung natürlich außer Acht gelassen wurde. Es führt dazu, dass ein
Großteil der Elektronen nicht zur Wärmekapazität beitragen kann. Ihre Freiheitsgrade sind
quasi „eingefroren“.

7.2.2 Experimentelle Ergebnisse


Messen wir die Wärmekapazität eines Metalls (gemessen wird immer C p ), so messen wir
immer die Summe aus den Beiträgen des Gitters und des Elektronengassystems. Bei tiefen
Temperaturen variiert der Gitteranteil mit T 3 und wir erwarten deshalb eine Temperaturab-
hängigkeit
Cp = γ ⋅ T + A ⋅ T3 . (7.2.11)
Bei der Darstellung der experimentellen Daten wird deshalb häufig C⇑T gegen T 2 geplottet.
Man erhält dann eine Gerade mit der Steigung A und dem Achsenabschnitt γ. Ein typisches
Beispiel ist in Abb. 7.9 gezeigt, wo die spezifische Wärme von Kalium in einer C p ⇑T versus T 2
Auftragung gezeigt ist.
Der experimentell bestimmte Wert γ exp stimmt für einige Metalle, insbesondere die Alkali-
Metalle, gut mit dem nach (7.2.8) theoretisch erwarteten Wert γ theor überein. Wie Tabelle 7.2
7.2 Spezifische Wärme 277

Kalium
6
cp / T (mJ/mol K )
2

𝒄𝒎
𝒑
4 = 𝟐. 𝟎𝟖 + 𝟐. 𝟓𝟕 𝑻𝟐
𝑻
m

3
Abb. 7.9: Molare spezifische Wärme
von Kalium bei tiefen Temperaturen.
2
2 Geplottet ist c m
p ⇑T gegen T (Daten
0.0 0.3 0.6 0.9 1.2 1.5 1.8
aus W. H. Lien, N. E. Phillips, Phys.
2 2
T (K ) Rev. 133, A1370 (1964)).

zeigt, gibt es aber vor allem für die 3d-Übergangsmetalle große Abweichungen zwischen
Theorie und Experiment. Dies zeigt, dass das Modell der freien Elektronen für diese Metalle
wohl zu einfach ist. Für die 3d-Übergangsmetalle tragen die 3d-Elektronen zwar wesentlich
zur Zustandsdichte beim Fermi-Niveau bei, diese Elektronen sind aber stark lokalisiert und
können deshalb schlecht mit völlig delokalisierten, freien Elektronen beschrieben werden.

Tabelle 7.2: Vergleich zwischen experimentellem und nach (7.2.8) berechneten Wert des Sommerfeld-
Koeffizienten γ der elektronischen spezifischen Wärme.

Metall γ exp (10−3 J/mol K2 ) γ theor (10−3 J/mol K2 ) γ exp ⇑γ theor


Li 1.63 0.749 2.18
Na 1.38 1.094 1.26
K 2.08 1.668 1.25
Rb 2.41 1.911 1.26
Cs 3.20 2.238 1.43
Fe 4.98 0.498 10
Co 4.98 0.483 10.3
Ni 7.02 0.458 15.3
Cu 0.695 0.505 1.38
Ag 0.646 0.645 1.00
Au 0.729 0.642 1.14
Sn 1.78 1.41 1.26
Pb 2.98 1.509 1.97
278 7 Das freie Elektronengas

Die beobachteten Abweichungen zwischen γ exp und γ theor haben im Allgemeinen folgende
Ursachen:

∎ Die Wechselwirkung der Elektronen mit dem durch die positiven Ionen gebildeten Kris-
tallpotenzial. Wir werden in Kapitel 8 sehen, dass dies zu einer Bandmasse m∗ der Elek-
tronen führt, die wesentlich größer als m sein kann. Deshalb kann γ ∝ m∗ auch wesent-
lich größer werden als der Wert, den wir mit der Masse m des freien Elektrons berechnen.
∎ Die Wechselwirkung der Elektronen mit den Phononen. Diese Wechselwirkung führt
auch zu einer erhöhten effektiven Masse. Anschaulich können wir argumentieren, dass
die Elektronen bei ihrer Bewegung durch das Kristallgitter dieses verformen. Sie müssen
dann eine Deformation mitschleppen, die zu einer erhöhten effektiven Masse führt.
∎ Die Wechselwirkung der Elektronen untereinander führt in ähnlicher Weise zu einer
erhöhten effektiven Masse.

7.2.2.1 Vertiefungsthema: Schwere Fermionen


Mehrere intermetallische Verbindungen mit 4 f - oder 5 f -Elementen (z. B. UBe13 , UPt3 ,
CeAl3 , CeCu2 Si2 ) zeigen γ-Werte, die mehrere Größenordnungen größer sind, als der
nach (7.2.8) mit der freien Elektronenmasse m erwartete Wert. Die Ursache für diese
extrem hohen Werte sind die f -Elektronen in diesen Substanzen. Da der Überlapp der
Wellenfunktionen der f -Elektronen benachbarter Atome sehr gering ist, sind diese Elek-
tronen stark lokalisiert. Bei tiefen Temperaturen stehen die üblicherweise lokalisierten
f -Elektronen an der Schwelle zur Delokalisierung. Die Elektronen sind dann aber nicht
frei beweglich wie die s-Elektronen der Alkalimetalle, sondern spüren immer noch stark
ihre Lokalisierungstendenz. Dieser Tatsache kann durch eine hohe effektive Masse m∗ ≫ m
Rechnung getragen werden. Typischerweise ist m∗ ⇑m ∼ 100–1000. Man nennt diese Sub-
stanzen deshalb Schwere Fermionen.10 , 11 , 12
In dem Schwere-Fermionen-System CeCu2 Si2 wurde im Jahre 1979 von Frank Steglich13
Supraleitung entdeckt. Supraleiter zeichnen sich dadurch aus, dass sie den elektrischen Strom
ohne Energieverlust tragen können. Diese Eigenschaft entsteht durch die koordinierte Be-
wegung zweier Elektronen, welche ein so genanntes Cooper-Paar bilden. In klassischen Su-
praleitern entsteht diese Koordination durch die elastische Kopplung der Elektronen an die
Bewegung der Atome im Kristallgitter. Bei Schwere-Fermionen-Supraleitern vermutet man
hingegen, dass die Bewegung der „schweren Elektronen“ durch ihre Kopplung an die Bewe-

10
Z. Fisk, H. R. Ott, T. M. Rice, J. L. Smith, Heavy-elctron metals, Nature 20 124–129 (1986).
11
M. B. Maple, Novel Types of Superconductivity in f-Electron Systems, Phys. Today 39(3), 72 (1986).
12
F. Steglich, Schwere-Fermionen-Supraleitung, Physik Journal, Nr. 8/9 (2004).
13
Frank Steglich, geboren am 14. März 1941 in Dresden. Steglich studierte von 1960 bis 1966 Physik
in Münster und Göttingen. 1969 promovierte er in Göttingen mit einer Arbeit zur thermischen
Leitfähigkeit in stark fehlgeordneten dünnen metallischen Filmen. 1976 habilitierte er sich an der
Universität zu Köln im Fach Physik. Von 1978 bis 1998 war er Professor für Experimentalphy-
sik am Institut für Festkörperphysik der Technischen Hochschule/Technischen Universität Darm-
stadt. 1996 war er Gründungsdirektor des Max-Planck-Instituts für chemische Physik fester Stoffe
in Dresden und übernahm dort die Abteilung Festkörperphysik. Steglich gilt als der Entdecker der
Schwere-Fermionen-Supraleitung (1979).
7.3 Transporteigenschaften 279

gung der magnetischen Momente koordiniert wird. Dieser Mechanismus scheint nicht nur
der Supraleitung in Metallen mit schweren Fermionen zugrunde zu liegen. Man vermutet
vielmehr, dass in ihm auch der Schlüssel zum Verständnis der Hochtemperatur-Supralei-
ter zu finden ist. Deshalb werden heute Schwere-Fermionen-Systeme immer noch intensiv
erforscht.

7.3 Transporteigenschaften
Wir werden uns in diesem Abschnitt mit den Transporteigenschaften des freien Elektro-
nengases beschäftigen. Dabei werden wir die Konzepte verwenden, die wir bereits in Ab-
schnitt 6.4 bei der Behandlung des Wärmetransports durch die Phononen eingeführt haben.
Eine genauere Diskussion der Transporteigenschaften von Festkörpern folgt in Kapitel 9,
nachdem wir das Modell freier Elektronen durch Berücksichtigung der periodischen Struk-
tur von kristallinen Festkörpern verfeinert haben und die daraus resultierende Bandstruktur
eingeführt haben.

7.3.1 Elektrische Leitfähigkeit


7.3.1.1 Definition der elektrischen Leitfähigkeit
Die elektrische Leitfähigkeit σ eines Festkörpers ist definiert als Proportionalitätskonstante
zwischen treibendem elektrischem Feld E und resultierender elektrischer Stromdichte Jq :

Jq = σ E = −σ∇ϕ el . (7.3.1)

Hierbei haben wir verwendet, dass wir die elektrische Feldstärke E als Gradienten eines elek-
trischen Potenzials ϕ el schreiben können. Wir erkennen dann sofort die Analogie zum Aus-
druck (6.4.1) für die Wärmestromdichte Jh . Die Einheit der elektrischen Leitfähigkeit ist
1⇑Ωm oder A⇑Vm.

7.3.1.2 Drude-Modell
Aus historischen Gründen diskutieren wir zunächst das bereits im Jahr 1900 von Paul Drude
eingeführte Modell.14 Obwohl dieses Modell von falschen Annahmen ausging, konnte es den
linearen Zusammenhang zwischen elektrischer Stromdichte und elektrischem Feld (Ohm-
sches Gesetz) und auch den Zusammenhang zwischen elektrischer und thermischer Leit-
fähigkeit (Wiedemann-Franz-Gesetz) richtig erklären.
Drude ging von der Annahme aus, dass die Elektronen in einem Metall mit einem klassi-
schen Teilchengas beschrieben werden können. Die Elektronen bewegen sich mit der mittle-
ren thermischen Geschwindigkeit v th und stoßen ständig mit den Atomrümpfen. Die Elek-
tronen werden durch die Wirkung des elektrischen Feldes E beschleunigt und durch Stöße
14
Paul Drude, Zur Elektronentheorie der Metalle, I. Teil, II. Teil, und Berichtigung, Annalen der Physik
1, 556–613 (1900); ibid 3, 369–402 (1900); ibid 7, 687–692 (1902).
280 7 Das freie Elektronengas

mit den Atomrümpfen abgebremst. Daraus ergibt sich die Bewegungsgleichung

dv vD
m = −eE − m . (7.3.2)
dt τ
Der Term m vτD hat die Form einer Reibungskraft und berücksichtigt die Stöße. Die Driftge-
schwindigkeit vD = v − vth gibt die vom elektrischen Feld zusätzlich bewirkte Geschwindig-
keitskomponente wider. Diese relaxiert durch Stöße innerhalb der charakteristischen Stoß-
zeit τ. Im stationären Fall ist dv⇑dt = 0 und wir erhalten

vD = − E = −µE . (7.3.3)
m
Hierbei haben wir die Beweglichkeit 15
⋃︀v D ⋃︀ eτ
µ≡ ⋃︀E⋃︀
= (7.3.4)
m
eingeführt. Die Beweglichkeit gibt an, welche Driftgeschwindigkeit vD der Ladungsträger pro
elektrische Feldstärke E erzeugt wird. Mit der Elektronendichte n erhalten wir die elektrische
Stromdichte zu
ne 2 τ
Jq = −envD = E = ne µE (7.3.5)
m
und damit die elektrische Leitfähigkeit

J q ne 2 τ
σ= = = ne µ . (7.3.6)
E m
Aus den bei Raumtemperatur gemessenen Leitfähigkeiten von Metallen ergeben sich Streu-
zeiten in der Größenordnung von 10−14 s, was zusammen mit der thermischen Geschwin-
digkeit von etwa 105 m⇑s zu mittleren freien Weglängen im Å-Bereich führt. Drude ging
deshalb davon aus, dass die Elektronen an den Atomrümpfen gestreut werden, da ja deren
Abstand gerade im Å-Bereich liegt. Eine offensichtlich falsche Annahme des Drude-Modells
ist, dass alle Elektronen beschleunigt und gestreut werden, da dies ja nicht mit der Fermi-
Dirac-Verteilung der Leitungselektronen vereinbar ist.

7.3.1.3 Sommerfeld-Modell
Die falschen Annahmen von Drude wurden von Arnold Sommerfeld korrigiert. Zur Be-
schreibung des elektrischen Transports in Metallen ging er von einem Gas freier Fermionen
aus, die der Schrödinger-Gleichung gehorchen und dem Pauli-Prinzip unterliegen. Mit
diesen Grundannahmen können wir mit Hilfe von einfachen Überlegungen einen Aus-
druck für die elektrische Leitfähigkeit ableiten, der das Verhalten von einfachen Metallen
15
Man beachte: Aufgrund ihrer negativen Ladung q = −e ist die Driftgeschwindigkeit vD der Elek-
tronen antiparallel zu E. Die Bewegung von Ladungsträgern mit Ladung q = −e antiparallel zu E ist
allerdings gleichbedeutend zu einer Bewegung von Ladungsträgern mit Ladung q = +e parallel zu
E. Die Beweglichkeit wird als Verhältnis der Beträge der Driftgeschwindigkeit und des elektrischen
Feldes, also als positive Größe definiert.
7.3 Transporteigenschaften 281

gut beschreibt. Eine ausführlichere Diskussion der Transporteigenschaften erfolgt in den


Abschnitten 9.4 und 9.5.
Um die elektrische Leitfähigkeit eines Festkörpers zu berechnen, müssen wir die elektri-
sche Stromdichte Jq als Funktion der mittleren Geschwindigkeit ∐︀ṽ︀ = ∐︀ħk⇑m̃︀ angeben. Die
Stromdichte ergibt sich aus ∐︀ṽ︀ durch Multiplikation mit der Elektronendichte n und der
Ladung q = −e:16

ħ 1 ħk
Jq = −e n ∐︀ṽ︀ = −e n ∐︀k̃︀ = −e ∑ . (7.3.7)
m V k,σ m

Im thermischen Gleichgewicht ist ∐︀k̃︀ = 0 und es fließt kein elektrischer Strom. Eine endliche
elektrische Stromdichte erhalten wir nur in einer Nichtgleichgewichtssituation. In Analogie
zu (6.4.3) können wir schreiben:
enħ enħ
Jq = − )︀∐︀k̃︀ − ∐︀k̃︀0 ⌈︀ = − δk . (7.3.8)
m m
Wir sehen, dass wir nur dann eine endliche Stromdichte erhalten, wenn die Impulsverteilung
der Elektronen von der Gleichgewichtsverteilung abweicht.
Wir müssen jetzt klären, wie sich die Impulsverteilung der Elektronen in einem bestimmten
Raumgebiet ändern kann. Hierzu tragen erstens von außen wirkende Kräfte und zweitens
Streuprozesse der Elektronen bei. Wir können also schreiben:

d∐︀k̃︀ ∂∐︀k̃︀ ∂∐︀k̃︀


= ⋁︀ + ⋁︀ . (7.3.9)
dt ∂t Kraft ∂t Streu

Wir werden im Folgenden nur stationäre Prozesse behandeln, d. h. Prozesse bei denen
d∐︀k̃︀
dt
= 0. Wir werden ferner für die zeitliche Änderung des mittleren Elektronenimpulses
durch Streuprozesse wie beim Drude-Modell einen einfachen Relaxationsansatz

∂∐︀k̃︀ ∐︀k̃︀ − ∐︀k̃︀0 δk


⋁︀ =− =− (7.3.10)
∂t Streu τ τ

machen. Das heißt, wir beschreiben die Änderung des mittleren Elektronenimpulses durch
eine mittlere Streuzeit τ. Die Änderung von ∐︀k̃︀ durch eine äußere Kraft F erhalten wir aus
der Bewegungsgleichung

∂∐︀ṽ︀ ∂∐︀k̃︀
F = −e E = m =ħ (7.3.11)
∂t ∂t
zu
∂∐︀k̃︀ eE
⋁︀ =− (7.3.12)
∂t Kraft ħ

16
Wir werden im Folgenden positive Elementarladungen mit e und negative mit −e bezeichnen. Die
Richtung der Stromdichte Jq = nev stimmt dann mit der technischen Stromrichtung überein.
282 7 Das freie Elektronengas

(a) ky (b) ky

kF
kF
kx kx
dkx

Abb. 7.10: Die Fermi-Kugel umschließt alle besetzten Elektronenzustände im k-Raum. (a) Für F =
0 ist der Gesamtimpuls null, da es zu jedem Wellenvektor k einen entsprechenden Wellenvektor −k
gibt. (b) Für F ≠ 0 wächst jeder Wellenvektor im Zeitinterval t um δk = Ftħ an. Dies entspricht einer
Verschiebung der Fermi-Kugel um δk. Die Zustände im hellblauen Bereich auf der linken Seite werden
in den dunkelblauen Bereich auf der rechten Seite umverlagert.

Durch Integration erhalten wir daraus

eEt
∐︀k̃︀(t) − ∐︀k̃︀0 = δk = − . (7.3.13)
ħ
Das bedeutet, dass durch die Kraft F der mittlere Impuls aller Elektronen innerhalb der Zeit t
um ħδk geändert wird. Dies entspricht der Verschiebung der gesamtem Fermi-Kugel um δk
innerhalb der Zeit t (siehe hierzu Abb. 7.10). Schalten wir die äußere Kraft ab, so relaxiert
δk ∝ e−t⇑τ aufgrund von Streuprozessen wieder gegen null.
Mit der Bedingung d∐︀k̃︀
dt
= 0 folgt aus (7.3.9)

eE
δk = − τ (7.3.14)
ħ
und wir erhalten damit aus (7.3.8) das Ohmsche Gesetz

ne 2 τ
Jq = E = ne µ E = −ne vD (7.3.15)
m
mit der Beweglichkeit [vergleiche (7.3.4)]

µ= . (7.3.16)
m
Wie beim Drude-Modell gibt die Beweglichkeit an, welche mittlere Driftgeschwindigkeit
vD = ħδk⇑m der Ladungsträger pro elektrische Feldstärke erzeugt wird. Für die elektrische
Leitfähigkeit ergibt sich mit der Definition (7.3.1)

ne 2 τ ne 2 ℓ
σ = ne µ = = . (7.3.17)
m mv F

Hierbei haben wir die mittlere freie Weglänge ℓ = v F τ benutzt. Die mittlere freie Weglänge
ist die Strecke, die ein Elektron innerhalb der mittleren Zeit τ zwischen zwei Streuprozessen
7.3 Transporteigenschaften 283

𝒌𝒚
erlaubt

verboten 𝒌𝑭

𝒌𝒙
Abb. 7.11: Zur Veranschaulichung des Ener-
giebereichs derjenigen Elektronen, für die
Streuprozesse möglich sind. Streuprozesse weit
innerhalb der Fermi-Kugel sind durch das Pauli-
Prinzip verboten. Nur Elektronen im Energie-
bereich der Breite ∼ k B T um die Fermi-Energie
𝒌 𝑩 𝑻 ≪ 𝑬𝑭 können an Streuprozessen teilnehmen.

32

zurücklegen kann. Zu beachten ist, dass zur Berechnung von ℓ die tatsächliche Geschwindig-
keit der Elektronen, d. h. die Fermi-Geschwindigkeit vF = ħkF ⇑m verwendet werden muss,
und nicht etwa die mittlere Driftgeschwindigkeit vD der Elektronen. Dies liegt daran, dass
nur Elektronen in einem schmalen Energieintervall der Breite ∼ k B T um die Fermi-Energie
an Streuprozessen teilnehmen können (siehe Abb. 7.11). Da der maximale Energieübertrag
bei einem Stoßprozess in der Größenordnung k B T ≪ E F liegt, können Elektronen weit un-
terhalb der Fermi-Energie keine Streuprozesse machen, da es keine freien Zustände gibt,
in die sie gestreut werden könnten. Das Pauli-Prinzip verbietet ja eine Doppelbesetzung.
Nur die Elektronen in dem Aufweichungsbereich der Breite ∼ k B T der Fermi-Kugel, al-
so diejenigen mit v ≃ v F , finden freie Zustände und können gestreut werden. Wir wollen
schließlich noch darauf hinweisen, dass die in Abb. 7.10 gezeigte Verschiebung δk der Fermi-
Kugel bei moderaten Feldstärken sehr klein ist. Für E = 102 V⇑m und τ = 10−14 s erhalten wir
δk ≃ 103 cm−1 , was verschwindend klein gegenüber k F ≃ 108 cm−1 ist (in Abb. 7.10 ist die
Verschiebung also viel zu groß dargestellt). Dies zeigt uns, dass der Stromfluss aufgrund des
angelegten elektrischen Feldes durch die Umverlagerung eines nur sehr kleinen Bruchteils
der Elektronen zustande kommt. Im Gegensatz zum Drude-Modell, wo sich alle Elektronen
mit v D bewegen und alle zum Stromfluss beitragen, sind dies beim Sommerfeld-Modell nur
die wenigen, aber wesentlich schnelleren Elektronen an der Fermi-Fläche.
Die Interpretation des Ergebnisses (7.3.17) für die elektrische Leitfähigkeit ist evident.
Wir erwarten natürlich, dass die transportierte Ladungsmenge proportional zu ne ist. Der
Faktor e⇑m muss auftauchen, da die Beschleunigung eines Elektrons im elektrischen Feld
proportional zu e⇑m ist. Die Zeit τ bzw. die mittlere freie Weglänge ℓ = v F τ beschreibt
schließlich das Zeit- bzw. Längenintervall, in dem ein Elektron durch das elektrische Feld
beschleunigt werden kann, bevor es durch einen Streuprozess wieder abgebremst wird. Die
mittlere freie Weglänge der Elektronen beträgt typischerweise einige 10 bis 100 nm, kann
aber bei tiefen Temperaturen und sehr reinen Materialien bis in den cm-Bereich ansteigen.
Streuprozesse werden wir im Detail erst in Abschnitt 9.3 diskutieren.
284 7 Das freie Elektronengas

Anmerkung zum Drude-Modell: Drude ging ursprünglich von einem klassischen freien
Elektronengas aus und erhielt für dieses⌈︂System ebenfalls das Ergebnis (7.3.17). Die mitt-
lere thermische Geschwindigkeit v th = 2k B T⇑m in einem solchen klassischen Gas ist bei
Raumtemperatur allerdings nur etwa 105 m⇑s und damit um mehr als eine Größenordnung
kleiner als die Fermi-Geschwindigkeit. Da man durch Messung von σ die Streuzeit τ be-
stimmt, berechnet man mit ℓ = v th τ im Rahmen des Drude-Modells eine sehr kleine mittlere
freie Weglänge im Bereich von nur 1 bis 10 Å. Drude nahm deshalb an, dass die Elektronen
an den positiven Atomrümpfen gestreut werden. Diese Vorstellung ist natürlich falsch. Wir
werden in Kapitel 8 sehen, dass die freie Weglänge für Elektronen (bei T = 0) in einem per-
fekten Kristallgitter unendlich groß wird. Streuprozesse kommen nur aufgrund von Abwei-
chungen von der perfekten periodischen Struktur zustande. Wir wollen schließlich darauf
hinweisen, dass im Rahmen des Drude-Modells (kein Pauli-Prinzip) alle Elektronen gestreut
werden können, während bei Berücksichtigung des Pauli-Prinzips nur ein kleiner Teil T⇑TF
der Elektronen nahe an der Fermi-Kante streuen kann.

7.3.1.4 Temperaturabhängigkeit der elektrischen Leitfähigkeit


Die typische Temperaturabhängigkeit des spezifischen elektrischen Widerstands ρ = 1⇑σ
von Metallen ist in Abb. 7.12 skizziert. Die einzige temperaturabhängige Größe in (7.3.17)
ist die Streuzeit τ bzw. die mittlere freie Weglänge ℓ. Um die beobachtete Temperaturab-
hängigkeit von ρ zu verstehen, müssen wir die Streuprozesse der Elektronen betrachten. In
einfachen Metallen dominieren folgende Streuprozesse:

1. Streuung an Phononen,
2. Streuung an Defekten und Verunreinigungen,
3. Streuung an der Probenoberfläche.

Wirken in einem Material mehrere Streuprozesse parallel, so kann die gesamte Streuzeit mit
Hilfe der empirischen Matthiessen-Regel bestimmt werden, nach der sich die Streuraten ad-
dieren:
1 1 1 1
= + + +... . (7.3.18)
τ τ1 τ2 τ3

𝝆
Streuung an Defekten,

Streuung an
Phononen
Verunreinigungen

𝝆𝐏𝐡 ∝ 𝑻

Abb. 7.12: Temperaturabhängigkeit des elek-


trischen Widerstands. Bei tiefen Tempera- 𝝆𝟎
turen dominiert üblicherweise die Streuung 𝝆𝐩𝐡 ∝ 𝑻𝟓
an Verunreinigungen und Defekten, bei ho-
hen Temperaturen die Streuung an Phononen. 𝑻
7.3 Transporteigenschaften 285

Elektron-Phonon-Streuung: Die Streurate der Elektron-Phonon-Streuung ist proportio-


nal zur mittleren Anzahl ∐︀ñ︀ der Phononen. Diese ist proportional zu T 3 bei tiefen Tempe-
raturen (T ≪ Θ D ) und proportional zu T für hohe Temperaturen (T ≫ Θ D ). Wir erwarten
deshalb folgende Temperaturabhängigkeit des elektrischen Widerstands:

1. Hohe Temperaturen: T ≫ Θ D :
Wegen τ1ph ∝ ∐︀ñ︀ ∝ ΘTD erwarten wir

ρ ph ∝ T . (7.3.19)

2. Tiefe Temperaturen: T ≪ Θ D :
Innerhalb eines Debye-Modells (Zustandsdichte D(ω q ) ∝ ω 2q ) erhalten wir für die
ω∗
Zahl der Phononen ∫0 D(ω q )dω q ∝ ω∗ 3 . Mit ħω∗ ≃ k B T erhalten wir ∐︀ñ︀ ∝ T 3 . Wir
erwarten deshalb τ1ph ∝ ∐︀ñ︀ ∝ T 3 und damit ρ ph ∝ T 3 . Im Experiment beobachtet
man allerdings ρ ph ∝ T 5 . Dies liegt daran, dass wir zusätzlich noch einen Gewichts-
faktor zur Bewertung der Streuprozesse berücksichtigen müssen. Betrachten wir die
Streuung um einen Winkel ϑ zwischen den Wellenvektoren k und k′ vor und nach
der Streuung, so sehen wir aus Abb. 7.13, dass die Geschwindigkeitskomponente in
der ursprünglichen Richtung v − δv = v cos ϑ ist. Die verlorene relative Driftgeschwin-
digkeit ist also δv⇑v = 1 − cos ϑ. Da die Streuung um kleine Winkel nur kleine relative
Impulsüberträge liefert, muss der zusätzliche Gewichtsfaktor (1 − cos ϑ) berücksichtigt
werden. Für kleine ϑ (tiefe Temperaturen) gilt (1 − cos ϑ) ≃ 12 ϑ 2 ∝ q 2 = ω 2q ⇑v s2 , wobei v s
die Schallgeschwindigkeit ist. Wegen ω q = k B T⇑ħ ist (1 − cos ϑ) ∝ T 2 und wir erhalten
insgesamt

ρ ph ∝ T 5 . (7.3.20)

Eine genauere Diskussion erfolgt später in Abschnitt 9.3.2.

𝒌′
𝒒
𝜗 𝜹𝒗 𝜗 Abb. 7.13: Zur Veranschaulichung des
Gewichtsfaktors bei der Bewertung von
𝒗 𝐜𝐨𝐬𝝑 𝒌 Streuprozessen.

Streuung
1.0 an+ Defektenoptischer
undZweig Verunreinigungen: Die Anzahl der Defekte und Verunreini-

gungen in einer Probe ist temperaturunabhängig. Deshalb erwarten wir einen temperatur-
1/2

0.8 (2f/M ) 1/2


/ (2f(1/M1+1/M2))

2
unabhängigen Beitrag
1. Brillouin-Zone

0.6 ρ0 = (2f/M1 )1/2


- const
M >M
(7.3.21)
1 2

zum0.4elektrischen Widerstand. Diesen Beitrag können wir bei sehr tiefen Temperaturen
beobachten,
0.2 wenn der akustischer
Beitrag Zweig
durch die Elektron-Phonon-Streuung sehr klein wird. Man
nennt diesen temperaturunabhängigen Beitrag auch den Restwiderstand. In sehr reinen
0.0
einkristallinen Proben kann die mittlere freie Weglänge aufgrund von Defekten und
-1.0 -0.5 0.0 0.5
Verunreinigungen größer als1.0 1.5 2.0
die Probengröße werden. In diesem Fall müssen wir einen
qa /
34
286 7 Das freie Elektronengas

6 6 0.3
Ag, rein
D
Ag + 0.02 at % Sn
5 5 Au: 175 K
Ag + 0.5 at % Au
Cu + 3.32 at% Ni Na: 202 K
Cu: 303 K

 (10 cm)
4 4 0.2
 (10 cm)

Al: 395 K

 / (D)
Cu + 2.16 at% Ni Ni: 472 K

-6
3 3
-6

Cu + 1.12 at% Ni
2 2 0.1

1 1
Cu, rein

0 0 0.0
100 150 200 250 300 100 150 200 250 300 0.0 0.1 0.2 0.3 0.4 0.5

(a) T (K) (b) T (K) (c) T / D

Abb. 7.14: Temperaturabhängigkeit des spezifischen elektrischen Widerstands von verschiedenen Me-
tallen: (a) Ag mit unterschiedlichen Verunreinigungskonzentrationen, (b) Cu mit Ni-Verunreinigung
(nach J. Linde, Ann. Phys. 5, 15 (1932)) und (c) reduzierter spezifischer Widerstand gegen reduzierte
Temperatur für unterschiedliche reine Metalle (nach D. K. C. MacDonald, in Handbuch der Physik XIV,
S. Flügge, Hrsg., Springer Verlag (1956)).
35

weiteren, temperaturunabhängigen Streuprozess berücksichtigen, nämlich die Streuung an


der Probenoberfläche.
In Abb. 7.14 sind einige experimentelle Daten zur Temperaturabhängigkeit des elektrischen
Widerstands gezeigt. Fügt man einem reinen Metall Verunreinigungen hinzu, so nimmt der
Restwiderstand etwa proportional zum Verunreinigungsgrad zu (siehe Abb. 7.14a und b).
Die beobachteten ρ(T) Kurven werden dann einfach um den höheren Restwiderstand ρ 0
nach oben verschoben. Als Funktion der Temperatur erkennt man den Übergang von ρ = ρ 0
bei tiefen Temperaturen über einen ρ ∝ T 5 Bereich zur linearen Temperaturabhängigkeit
bei hohen Temperaturen. Normiert man die Temperaturachse auf die Debye-Temperatur Θ D
und die Widerstandsachse auf ρ(Θ D ), so erhält man für unterschiedliche Metalle das in
Abb. 7.14c gezeigte universelle Temperaturverhalten.
Eine Größe, die sich gut für die Charakterisierung der Reinheit eines elektrisch leitenden
Materials eignet, ist das so genannte Restwiderstandsverhältnis RRR (residual resistance
ratio):

ρ(300 K)
RRR = . (7.3.22)
ρ0

Für reine Materialien wird der Widerstand bei 300 K durch die Elektron-Phonon-Streuung
dominiert. Gleichzeitig wird der Restwiderstand ρ 0 sehr klein und man erhält sehr hohe
RRR-Werte von bis zu 106 . Bei Legierungen wird dagegen auch bei 300 K der Widerstand
durch die Verunreinigungsstreuung dominiert und man erhält RRR ≃ 1. Eine weitergehende
Diskussion von Streuprozessen und die daraus resultierende Temperaturabhängigkeit des
elektrischen Widerstandes erfolgt in Abschnitt 9.3.
7.3 Transporteigenschaften 287

7.3.2 Thermische Leitfähigkeit


Wie bei der Diskussion des Wärmetransports im Kristallgitter in Abschnitt 6.4 definieren
wir die Wärmeleitfähigkeit κ des Elektronengases als Proportionalitätskonstante zwischen
treibendem Temperaturgradient ∇T und resultierender Wärmestromdichte J h :
J h = −κ ∇T . (7.3.23)
In völliger Analogie zur thermischen Leitfähigkeit des Phononengases erhalten wir für das
Elektronengas die thermische Leitfähigkeit (vergleiche (6.4.9))
κ= 1
3
cV v 2 τ . (7.3.24)
2
Setzen wir den Ausdruck c V = π2 nk B TTF (vergleiche (7.2.7), n = N⇑V ) für die spezifische
Wärme und v 2 = v F2 = 2E F ⇑m = 2k B TF ⇑m für die Geschwindigkeit ein, so erhalten wir

π 2 nk B2 τ
κ= T. (7.3.25)
3 m
In Metallen überwiegt die thermische Leitfähigkeit der Elektronen üblicherweise die ther-
mische Leitfähigkeit des Kristallgitters deutlich. Nur in stark verunreinigten oder ungeord-
neten Metallen wird die Streuzeit τ sehr klein und die Wärmeleitfähigkeit des Gitters kann
in die gleiche Größenordnung kommen wie diejenige des Elektronensystems. In Tabelle 7.3
sind die experimentellen Werte von κ(272 K) für einige Metalle aufgelistet.

7.3.2.1 Das Wiedemann-Franz-Gesetz


Vergleichen wir das Ergebnis (7.3.25) mit demjenigen für die elektrische Leitfähigkeit, so
sehen wir, dass das Verhältnis von thermischer und elektrischer Leitfähigkeit des Elektro-
nensystems direkt proportional zur Temperatur ist:
κ π2 kB 2
= ( ) T. (7.3.26)
σ 3 e
Diesen Zusammenhang bezeichnet man als Wiedemann-Franz-Gesetz.17 , 18 Voraussetzung
ist, dass die gleichen Streuprozess zum elektrischen und thermischen Widerstand beitragen.
Wäre dies nicht der Fall, so würde in den Ausdrücken für κ und σ eine unterschiedliche
Streuzeit eingehen.
Die Größe κ⇑σ T ist nach (7.3.26) temperaturunabhängig. Sie wird als Lorenz-Zahl19 be-
zeichnet:
κ π2 kB 2
L≡ = ( ) = 2.44 × 10−8 WΩ⇑K2 . (7.3.27)
σ ⋅T 3 e
17
Gustav Heinrich Wiedemann, deutscher Physiker, geboren am 2. Oktober 1826 in Berlin; gestor-
ben am 23. März 1899 in Leipzig.
18
Rudolph Franz, deutscher Physiker, geboren am 16. Dezember 1826 in Berlin; gestorben am
31. Dezember 1902 in Berlin.
19
Ludvig Valentin Lorenz, dänischer Physiker, geboren am 18. Januar 1829 in Helsingør, gestorben
am 09. Juni 1891 in Frederiksberg.
288 7 Das freie Elektronengas

Tabelle 7.3: Experimentelle Werte der thermischen Leitfähigkeit und der Lorenz-Zahl von Metallen bei
272 K (Quelle: G. W. C. Kaye, T. H. Laby, Table of Physical and Chemical Constants, Langmans Green,
London (1966)).

Metall κ (W/cm K) L (10−8 W Ω⇑K 2 ) Metall κ (W/cm K) L (10−8 W Ω⇑K 2 )


Al 2.38 2.14 Na 1.38 2.12
Ag 4.18 2.31 Pb 0.38 2.47
Au 3.10 2.35 Pt 0.72 2.51
Cd 1.00 2.42 Sn 0.64 2.52
Cu 3.85 2.23 Nb 0.52 2.90
Fe 0.80 2.61 Sb 0.64 2.57
In 0.88 2.58 W 1.70 3.04
Mo 1.39 2.61 Zn 1.13 2.31

Wir sehen, dass gute elektrische Leiter auch gute Wärmeleiter und umgekehrt sind. In Ta-
belle 7.3 sind die Lorenz-Zahlen einiger Metalle aufgelistet. Sie stimmen gut mit dem theo-
retischen Wert überein.
Experimentell findet man, dass das Wiedemann-Franz-Gesetz immer nur bei hohen Tem-
peraturen (größenordnungsmäßig etwa 100 K) gut erfüllt ist und auch der nach (7.3.27)
erwartete Wert der Lorenz-Zahl gemessen wird. Zu tiefen Temperaturen hin nimmt dann
allerdings der Wert der Lorenz-Zahl ab und wird bei tiefen Temperaturen wieder konstant.
Grund für diese Temperaturabhängigkeit ist eine unterschiedliche Wichtung der Streu-
prozesse beim elektrischen und thermischen Transport. Für den elektrischen Widerstand
kommt es vor allem auf eine effektive Impulsrelaxation der Elektronen an, da der durch das
elektrische Feld erzeugte Zusatzimpuls δk abgegeben werden muss. Dies ist am effektivsten
durch Prozesse möglich, bei denen der Impuls von k ≃ +k nach k ≃ −k geändert wird.
Diese Prozesse führen zwar auch zu einem thermischen Widerstand, für den thermischen
Widerstand kommt es allerdings vor allem auf eine effektive Energierelaxation an. Ein
Temperaturgradient erzeugt nämlich keinen Zusatzimpuls der Elektronen, sondern eine
Zusatzenergie. Für eine Energierelaxtion sind aber auch Prozesse mit kleiner Impulsände-
rung (z. B. von k F + δk nach k F − δk mit δk ≪ k F ) effektiv. Diese Prozesse, die vor allem bei
tiefen Temperaturen wichtig sind, da die Phononenzustände mit hohen Impulsen ausfrieren,
tragen wenig zum elektrischen Widerstand bei. Dies erklärt die Abnahme der Lorenz-Zahl
mit abnehmender Temperatur.

Anmerkung zum Drude-Modell: Wir wollen hier nochmals eine Anmerkung zum
klassischen Drude-Modell machen. Ein großer Erfolg dieses Modells war, dass es das
Wiedemann-Franz-Gesetz richtig vorhersagte. Dies basierte allerdings auf dem Zufall, dass
sich zwei fehlerhafte Annahmen gerade gegenseitig kompensiert haben. Im Drude-Modell
wird im Ausdruck2κ = 13 c V v 2 τ der klassische Dulong-Petit-Wert c V = 3nk B anstelle des rich-
tigen Werts cv = π2 nk B TTF eingesetzt, d. h. ein um etwa den Faktor T⇑TF zu großer Wert. Dies
wird aber wiederum kompensiert, indem die thermische Geschwindigkeit v th 2
= 2k B T⇑m
anstelle der richtigen Fermi-Geschwindigkeit v F = 2k B TF ⇑m, also ein um etwa T⇑TF zu
2

niedriger Wert verwendet wird. Dadurch wird im Drude-Modell durch Zufall der richtige
7.3 Transporteigenschaften 289

4
10
hochreines Kupfer (99.999%)

3
10 Kupfer
 (W / m K)

Aluminium
2
10 Konstantan

Messing
1
10
Edelstahl

0
10
Abb. 7.15: Temperaturabhängigkeit
0 1 2 3 der Wärmeleitfähigkeit von reinen
10 10 10 10
Metallen (Cu, Al) und Legierungen
T (K) (Messing, Konstantan, Edelstahl).

Ausdruck für die thermische Leitfähigkeit und somit auch das Wiedemann-Franz-Gesetz
erhalten.

7.3.2.2 Temperaturabhängigkeit der thermischen Leitfähigkeit


Wir wollen kurz die Temperaturabhängigkeit der elektronischen thermischen Leitfähigkeit
diskutieren. Mit Hilfe des Wiedemann-Franz-Gesetzes folgt diese sofort aus der Temperatur-
abhängigkeit der elektrischen Leitfähigkeit. Mit ρ = ρ 0 = const bei sehr tiefen Temperaturen,
ρ ∝ T 5 für T ≪ Θ D und ρ ∝ T für T ≫ Θ D erhalten wir
)︀
⌉︀ für T ⋘ Θ D
⌉︀
⌉︀
⌉︀
T
1 ⌉︀ −4
κ ∝ T ∝ ⌋︀T für T ≪ Θ D . (7.3.28)
ρ ⌉︀
⌉︀
⌉︀
⌉︀
⌉︀
]︀const für T ≫ Θ D
Wir erwarten also, dass κ von hohen Temperaturen kommend zunächst konstant ist und
dann genügend weit unterhalb von Θ D mit abnehmender Temperatur stark ansteigt, ein
Maximum durchläuft und bei sehr tiefen Temperaturen, bei denen die Verunreinigungs-
streuung dominiert, proportional zu T abnimmt. Wir erhalten wie bei der Wärmeleitfähig-
keit des Gitters ein Maximum der thermischen Leitfähigkeit, dessen Höhe und Temperatur
von der Reinheit der Probe abhängt. Dieses Verhalten ist in Abb. 7.15 für reine Metalle wie
Kupfer oder Aluminium zu sehen. Sehr reine Proben (z. B. hochreines Kupfer) haben ein
sehr ausgeprägtes Maximum bei tieferen, sehr verunreinigte Proben ein flaches bei höhe-
ren Temperaturen. Für Legierungen wird das Maximum völlig unterdrückt, da die mittle-
re freie Weglänge für den gesamten Temperaturbereich durch die temperaturunabhängige
Verunreinigungsstreuung dominiert wird und sehr klein ist. Für sehr reine Proben werden
maximale Werte für κ von mehr als 10 000 W⇑m K erreicht.
Die elektronische Wärmeleitfähigkeit von Metallen ist im Allgemeinen um etwa den Fak-
tor 100 größer als die Wärmeleitfähigkeit des Gitters, so dass letztere experimentell schwierig
zu beobachten ist. Der Grund dafür liegt in der sehr effektiven Elektron-Phonon-Streuung.
290 7 Das freie Elektronengas

Diese führt in Metallen zu einer im Vergleich mit Isolatoren viel kleineren mittleren freien
Weglänge und damit zu einem sehr kleinen Beitrag der Phononen zur Wärmeleitfähigkeit.
Die in Isolatoren dominierende Phonon-Phonon-Streuung ist in Metallen im Vergleich zur
Elektron-Phonon-Streuung vernachlässigbar klein. Der Beitrag des Gitters zur Wärmeleit-
fähigkeit von Metallen kann nur dann beobachtet werden, wenn der elektronische Beitrag
stark unterdrückt wird. Dies ist z. B. in Legierungen der Fall, in denen die Elektronen stark
an Fremdatomen und Defekten gestreut werden, so dass sie wenig zur Wärmeleitfähigkeit
beitragen können.

7.3.3 Thermokraft
Bei der Herleitung der Wärmeleitfähigkeit haben wir angenommen, dass kein Ladungstrans-
port stattfindet. Betrachten wir den in Abb. 7.16 gezeigten eindimensionalen metallischen
Leiter, dessen Temperatur T1 am einen Ende größer ist als die Temperatur T2 am anderen,
so erhalten wir im Mittel eine Elektronenbewegung von T1 nach T2 . Da die Elektronen aber
den Leiter nicht verlassen können, sammeln sie sich bei T2 an, was zu einem elektrischen
Feld E x parallel zum Temperaturgradienten dT⇑dx führt. Wir definieren nun

E ≡ S ∇T . (7.3.29)

Die Größe S bezeichnen wir als Thermokraft oder Seebeck-Koeffizienten.20 , 21


Wir leiten im Folgenden einen Ausdruck für die Thermokraft basierend auf dem einfachen
Modell freier Elektronen ab. Eine tiefergehende Diskussion folgt in Kapitel 9, nachdem wir
in Kapitel 8 das Bändermodell entwickelt haben. Um einen Ausdruck für die Thermokraft
abzuleiten, betrachten wir unser eindimensionales Modell in Abb. 7.16. Offensichtlich ist
wegen v 1 ≠ v 2 der Mittelwert der Teilchengeschwindigkeit bei x 0 nicht mehr null. Aufgrund
des Temperaturgradienten erhalten wir eine mittlere Diffusionsgeschwindigkeit in x-Rich-
tung:
v1 − v2 1
v diff = = )︀v(x 0 − vτ) − v(x 0 + vτ)⌈︀ . (7.3.30)
2 2
Entwickeln wir v(︀T(x)⌋︀ um x 0 und berücksichtigen nur den Term erster Ordnung, d. h.
v(︀T(x)⌋︀ ≃ v(x 0 ) + ddvx (x − x 0 ), so erhalten wir

1 dv dv
v diff = ]︀v(x 0 ) + (−vτ) − v(x 0 ) − (vτ){︀
2 dx dx
dv d v2 τ dv 2 dT
= −τv = −τ ( )=− . (7.3.31)
dx dx 2 2 dT dx

20
Thomas Johann Seebeck, deutsch-baltischer Physiker, geboren am 9. April 1770 in Reval (heute
Tallinn), gestorben am 10. Dezember 1831 in Berlin.
21
Th. J. Seebeck, Magnetische Polarisation der Metalle und Erze durch Temperaturdifferenz (1822–23),
in Ostwald’s Klassiker der Exakten Wissenschaften Nr. 70, Verlag von Wilhelm Engelmann, Leipzig
(1895).
7.3 Transporteigenschaften 291

𝒅𝑻/𝒅𝒙 𝑬 𝒙

+ 𝒗𝟏 𝒗𝟐
+ e e
+
+
𝑻𝟏 𝒙𝒐 − 𝒗𝝉 𝒙𝒐 𝒙𝒐 + 𝒗𝝉 𝑻𝟐
heiß kalt
𝒗𝐝𝐢𝐟𝐟 𝒗𝐝𝐫𝐢𝐟𝐭
Abb. 7.16:eindimensionales
Zur Entstehung der Thermokraft. Als Ladungsträger werden Elektronen mit Ladung −e an-
Modell:
genommen, so dass sich am kalten (heißen) Ende eine Anhäufung
𝑣1 − 𝑣2 1 negativer (positiver) Ladung ergibt.
mittlere Teilchengeschwindigkeit bei 𝑥0 : 𝑣diff = = 𝑣 𝑥0 − 𝑣𝜏 − 𝑣 𝑥0 + 𝑣𝜏
2 2
1 𝑑𝑣 𝑑𝑣
Taylor-Entwicklung um 𝑥 = 𝑥0 : 𝑣diff = 𝑣 𝑥0 + −𝑣𝜏 − 𝑣 𝑥0 − (𝑣𝜏)
2 𝑑𝑥
Wir können dieses Ergebnis auf drei Dimensionen erweitern, indem𝑑𝑥 wir v x2 durch 13 v 2 er-
22 𝑑𝑣 𝑑 𝑣2 𝜏 𝑑𝑣 2 𝑑𝑇
setzen und erhalten 𝑣diff = −𝜏𝑣 = −𝜏 = −
𝑑𝑥 𝑑𝑥 2 2 𝑑𝑇 𝑑𝑥

τ dv 2 Ersetzen von 𝑣𝑥2 durch 1 𝑣 2 : 𝝉 𝒅𝒗𝟐


vdiff = − auf 3D:∇T
Erweiterung . 3
𝒗𝐝𝐢𝐟𝐟 = −
𝟔 𝒅𝑻
𝛁𝑻
(7.3.32)
6 dT
41
Durch den Diffusionsstrom baut sich ein elektrisches Feld auf, das einen Driftstrom

vdrift = − E = −µ E (7.3.33)
m
zur Folge hat. Das Minuszeichen resultiert dabei aus der Ladung q = −e der betrachteten
Ladungsträger (Elektronen). Im stationären Zustand müssen sich der Diffusions- und Drift-
strom gerade kompensieren, woraus sich

1 d mv 2
( ) ∇T + e E = 0 (7.3.34)
3 dT 2
2
ergibt. Wir benutzen jetzt noch, dass d
dT
( mv2 ) = c V ⇑n, also gleich der Wärmekapazität pro
Teilchen entspricht, und erhalten
1
E=− c V ∇T . (7.3.35)
3ne
Mit der Definition (7.3.29) der Thermokraft ergibt sich

1 π2 kB kB T π2 kB T
S=− cV = − =− . (7.3.36)
3ne 6 e EF 6 e TF

Hierbei haben wir den Ausdruck (7.2.7) für die spezifische Wärme des freien Elektronen-
gases benutzt. Wir erhalten für die Thermokraft S ≃ −142 µV⇑K ⋅ TTF . Mit TTF ≃ 10−2 erhalten
wir also Werte im Bereich von −1 µV⇑K. Dieser Wert wird in einfachen Metallen in der Tat

22
Es gilt v x2 + v 2y + v z2 = v 2 und außerdem v x2 = v 2y = v z2 für ein isotropes Medium. Deshalb können
wir v x2 durch 13 v 2 ersetzen.
292 7 Das freie Elektronengas

beobachtet. Allerdings wird die beobachtete Temperaturabhängigkeit und auch das Vorzei-
chen der Thermokraft im Modell des freien Elektronengases häufig nicht richtig wiederge-
geben. Experimentell findet man für einige Metalle sogar eine positive Thermokraft. Eine
Erklärung dieser Tatsache erfordert die Einbeziehung des Gitterpotenzials in die Transport-
theorie (siehe hierzu Kapitel 8). Die im Ausdruck für die Thermokraft auftretenden Terme
können wir anschaulich interpretieren. Der Faktor T⇑TF trägt der Tatsache Rechnung, dass
nur ein kleiner Bruchteile T⇑TF der Elektronen zu dem Prozess beitragen kann, der zur Ther-
mokraft führt. Der Faktor k B ⇑e gibt gerade das Verhältnis der von den einzelnen Elektronen
im Mittel transportierten Entropie und Ladungsmenge an. Erstere resultiert aus dem ange-
legten Temperaturgradienten ∇T, letztere führt zu einem elektrischen Feld E ∝ −∇ϕ el .

Anmerkung zum Drude-Modell: Das klassische Drude-Modell liefert einen viel zu hohen
Wert für die Thermokraft. Dies resultiert daher, dass man in (7.3.36) den um etwa den Fak-
tor T⇑TF ∼ 100 zu großen klassischen Wert c V = 3k B für die Wärmekapazität pro Teilchen
einsetzt. Im Rahmen des klassischen Modells tragen alle Elektronen zur Thermokraft bei. In
Wirklichkeit ist es aber aufgrund des Pauli-Prinzips nur ein kleiner Anteil T⇑TF .

7.3.4 Bewegung im Magnetfeld


In Abschnitt 7.3.1 haben wir die Bewegung von Elektronen23 unter der Wirkung eines elek-
trischen Feldes E diskutiert. Wir wollen diesen Fall nun erweitern, indem wir auch Magnet-
felder B berücksichtigen. Die auf die Elektronen wirkende Kraft ist dann durch

F = −e (︀E + v × B⌋︀ (7.3.37)

gegeben. Zusätzlich zur Kraft FE = −eE durch das elektrische Feld müssen wir die Lorentz-
Kraft FL = −e v × B berücksichtigen. Für die zeitliche Änderung des mittleren Wellen-
vektors ∐︀k̃︀ aufgrund der wirkenden Kräfte und von Streuprozessen erhalten wir dann
(vergleiche (7.3.12))

d∐︀k̃︀ F δk e (︀E + ∐︀ṽ︀ × B⌋︀ δk


= − =− − (7.3.38)
dt ħ τ ħ τ

Im stationären Zustand muss diese Änderung verschwinden. Mit der mittleren Drift-
geschwindigkeit δv = ∐︀ṽ︀ = ħδk
m
erhalten wir also

δv = − (︀E + δv × B⌋︀ . (7.3.39)
m
Hierbei erscheint in der Lorentz-Kraft nur die mittlere Zusatzgeschwindigkeit δv, da diese
ja eine mittlere Kraft auf alle Elektronen darstellt. Für E = 0 können wir im Kristall zu je-
dem Elektron mit Geschwindigkeit v auch ein Elektron mit Geschwindigkeit −v finden, so
dass die mittlere Lorentz-Kraft verschwindet. Wir weisen darauf hin, dass die eben gemachte
23
Wir benutzen im Folgenden wiederum die Elementarladung e als positive Größe, die Ladung eines
Elektrons beträgt also q = −e.
7.3 Transporteigenschaften 293

Betrachtung nur zur Abschätzung der mittleren Driftgeschwindigkeit und damit des mitt-
leren Driftstromes verwendet werden kann. Eine detaillierte Beschreibung der Bewegung
einzelner Elektronen in einem Kristallgitter werden wir erst in Kapitel 9 diskutieren.
Wir nehmen im Folgenden an, dass das Magnetfeld parallel zur z-Achse ausgerichtet ist. Wir
erhalten dann aus Gleichung (7.3.39) für die kartesischen Komponenten von δv:
Ex
δv x = −ω c τ ( + δv y ) (7.3.40)
B
Ey
δv y = −ω c τ ( − δv x ) (7.3.41)
B
Ez
δv z = −ω c τ ( ). (7.3.42)
B
Hierbei haben wir die Zyklotronfrequenz

eB
ωc ≡ = 1.76 × 1011 s−1 ⋅ B (︀T⌋︀ (7.3.43)
m
verwendet.24 Lösen wir das Gleichungssystem (7.3.40)–(7.3.42) nach δv x , δv y und δv z auf
und führen die Stromdichte Jq = −neδv ein, so erhalten wir

⎛ J q,x ⎞ σ0 ⎛ 1 −ω c τ 0 ⎞ ⎛E x ⎞
⎜ J q, y ⎟ = ⎜+ω τ 1 0 ⎟ ⎜E y ⎟ . (7.3.44)
⎝ J q,z ⎠ 1 + ω c τ ⎝ 0
c
0 1 + ω 2c τ 2 ⎠ ⎝ E z ⎠
2 2

Hierbei ist
ne 2 τ
σ0 = . (7.3.45)
m

7.3.4.1 Hall-Effekt
Wir betrachten nun die in Abb. 7.17 gezeigte Probenform. Das von außen angelegte elektri-
sche Feld soll in x-Richtung zeigen, das Magnetfeld in z-Richtung. Ein Ladungsfluss soll nur
24
Für τ → ∞ ergibt sich aus (7.3.38) d∐︀k̃︀
dt
= Fħ = −eE
ħ
− e δv×B
ħ
und somit δv̇ = mħ d∐︀k̃︀
dt
= − eE
m
− e δv×B
m
.
Wir erhalten damit
e
δv̇ x = − E x − ω c δv y
m
e
δv̇ y = − E y + ω c δv x
m
e
δv̇ z = − E z .
m
Die Lösung dieses Gleichungssystems ist eine Kreisbewegung in der x y-Ebene mit der Kreisfre-
quenz ω c . Den Fall ω c τ ≫ 1 werden wir aber erst später in Kapitel 9 diskutieren. In diesem Fall
sind die ebenen Elektronenwellen keine guten Eigenzustände mehr. Wir müssen den Effekt des
Magnetfeldes gleich von Anfang an berücksichtigen und neue Eigenzustände berechnen. Für Me-
talle ist ℓ ≃ 100 nm bzw. τ = ℓ⇑v F ≃ 10−13 s. Mit ω c ≃ 1011 s−1 bei B = 1 T ist für Metalle üblicher-
weise ω c τ ≪ 1. Dies ändert sich nur bei sehr hohen Magnetfeldern und sehr reinen Proben bei
sehr tiefen Temperaturen.
294 7 Das freie Elektronengas

𝑬𝒙 𝑩𝒛
𝑬𝒚
- 𝑭𝐄
𝑭𝐋 𝑱𝒒, 𝒙
𝒛
𝒚
𝒙

Abb. 7.17: Zur Veranschaulichung des Hall-Effekts. Die Elektronen bewegen sich entgegen der tech-
nischen Stromrichtung Jq in die negative x-Richtung. Sie werden dabei durch die Lorentz-Kraft in die
negative y-Richtung abgelenkt und bauen ein elektrisches Querfeld E y auf. Im stationären Zustand
kompensiert die Kraft FE = −eE y durch das Hall-Feld die Lorentz-Kraft FL = −eδv × B.

in x-Richtung möglich sein. Aus der Bedingung J q, y = 0 erhalten wir dann aus (7.3.44)
ω c τE x + E y = 0 48
(7.3.46)
oder
eBτ
E y = −ω c τ E x = − E x = −µBE x . (7.3.47)
m
Wir sehen also, dass sich in der Probe ein elektrisches Querfeld in y-Richtung aufbaut. Die-
se Erscheinung bezeichnen wir als Hall-Effekt.25 Das transversale elektrische Feld nennen
wir Hall-Feld. Das Hall-Feld kommt dadurch zustande, dass die Elektronen aufgrund der
Lorentz-Kraft eine Ablenkung in y-Richtung erfahren und sich dadurch auf der einen Stirn-
fläche der Probe ansammeln und von der gegenüberliegenden abwandern. Dieser Prozess
hält solange an, bis das entstandene elektrische Feld die Ablenkung der Elektronen im Ma-
gnetfeld gerade kompensiert.
Wir können in (7.3.47) mit Hilfe von (7.3.44) das elektrische Feld E x auch durch J q,x aus-
drücken und erhalten:
eBτ eBτ J q,x
Ey = − E x = −µBE x = − = R H BJ q,x . (7.3.49)
m m σ0
Die Größe
1
RH = − (7.3.50)
ne
bezeichnen wir als Hall-Koeffizienten und

Ey
ρx y = = RH B (7.3.51)
J q,x
25
Edwin Herbert Hall, geboren am 7. November 1855 in Great Falls, Maine; gestorben am 20. No-
vember 1938 in Cambridge, Massachusetts. 1879 entdeckte Hall im Alter von 24 Jahren den später
nach ihm benannten Hall-Effekt. Diese Entdeckung geschah im Zusammenhang mit seiner Dok-
torarbeit unter Henry Augustus Rowland (1848–1901). Von 1881 bis 1921 forschte er an der Har-
vard Universität auf dem Gebiet der Thermoelektrizität.
7.3 Transporteigenschaften 295

Messung des Hall-Effekts


Für die Messung des Hall-Effekts verwendet man üblicherweise die in Abb. 7.18 gezeig-
te Probengeometrie. Man erhält mit obigen Gleichungen sofort, dass die gemessene Hall-
Spannung durch

ρH I
U H = R H BJ q b = ρ H J q b = (7.3.48)
d
gegeben ist. Das heißt, U H steigt mit zunehmender elektrischer Stromdichte J q und zu-
nehmendem Magnetfeld B sowie mit zunehmender Probenbreite b an. Da man im Ex-
periment B und J q (z. B. wegen Heizeffekten) nicht beliebig erhöhen kann, muss man die
Probenbreite erhöhen, um eine genügend große Hall-Spannung zu erzielen. Dabei muss al-
lerdings beachtet werden, dass man nicht durch eine gegenseitige Verschiebung der Span-
nungsabgriffe für U H einen longitudinalen Spannungsanteil mitmisst.

Abb. 7.18: Typische Probengeometrie zur Messung des Hall-Effekts: Hall-Barren mit Länge L,
Breite b und Dicke d, das Magnetfeld steht senkrecht auf der Probenebene.

als spezifischen Hall-Widerstand. Den Winkel


Ey eBτ
tan θ H = =− = σ0 R H B (7.3.52)
Ex m
nennen wir Hall-Winkel.
Durch Messung der Hall-Konstanten erhalten wir also das Vorzeichen und die Dichte der
Ladungsträger im untersuchten Festkörper. Um das Vorzeichen des Hall-Effekts im Detail
zu verstehen, müssen wir aber, ähnlich wie bei der Thermokraft, die Bandstruktur des Fest-
körpers berücksichtigen (siehe hierzu Kapitel 8 und 9).
Das Ergebnis, dass der Hall-Koeffizient proportional zu 1⇑ne ist, kann mit kinetischen Vor-
stellungen verstanden werden, wenn wir annehmen, dass die Ladungsträger mit der Ge-
schwindigkeit δv driften und dabei die Lorentz-Kraft −eδv × B senkrecht zum Magnetfeld
erfahren. Das transversale elektrische Feld EH = −δv × B = ne
1
Jq × B wird gerade zur Kom-
pensation dieser Ablenkkraft benötigt. Die Proportionalität zu 1⇑n ergibt sich dabei gerade
deshalb, da sich bei einer gegebenen Stromstärke die Ladungsträger umso schneller bewegen
müssen, je kleiner die Ladungsdichte ist und daher umso stärker im Magnetfeld abgelenkt
werden.
296 7 Das freie Elektronengas

7.3.4.2 Vertiefungsthema: Magnetwiderstand


Als Magnetwiderstand bezeichnen wir den magnetfeldabhängigen spezifischen Widerstand
ρ = ρ(B) eines Festkörpers. Je nach relativer Orientierung von Strom- und Magnetfeldrich-
tung unterscheiden wir zwischen:

longitudinaler Magnetwiderstand ρ∥ B ∥ Jq
(7.3.53)
transversaler Magnetwiderstand ρ⊥ B ⊥ Jq .

Die relative Änderung des elektrischen Widerstands als Funktion des angelegten Magnet-
feldes
ρ(B) − ρ(0) ∆ρ
MR = = (7.3.54)
ρ(0) ρ

wird als Magnetowiderstandseffekt oder kurz als MR-Effekt (MR: Magneto Resistance) be-
zeichnet.

Transversaler Magnetwiderstand: Wir betrachten wieder die in Abb. 7.17 gezeigte Geo-
metrie. Der von außen aufgeprägte Strom soll in x-Richtung fließen und das Magnetfeld soll
in z-Richtung angelegt sein. Mit der Bedingung J q,y = 0 folgt aus (7.3.44)

ω c τE x + E y = 0 . (7.3.55)

Setzen wir den daraus folgenden Ausdruck für E y in (7.3.44) ein, so erhalten wir
σ0 σ0
J q,x = (E x − ω c τE y ) = (E x + ω 2c τ 2 E x )
1 + ωc τ
2 2 1 + ω 2c τ 2
σ0
= (1 + ω 2c τ 2 )E x = σ0 E x . (7.3.56)
1 + ω 2c τ 2

Wir sehen also, dass ρ(B) = 1⇑σ0 = const ist. In der gezeigten Konfiguration verschwindet al-
so der transversale Magnetwiderstand.26 Die Ursache dafür ist, dass die aus dem Hall-Feld E y
resultierende Kraft −eE y die Lorentz-Kraft −eδv × B = eδv x B z ŷ gerade kompensiert. Die
Ladungsträger können sich somit mit der Driftgeschwindigkeit δv x in x-Richtung bewegen,
ohne dass sie die Lorentz-Kraft aufgrund des anliegenden Magnetfeldes spüren. In Experi-
menten beobachtet man allerdings für alle nicht-magnetischen Metalle immer einen endli-
chen Magnetwiderstand. Dies zeigt, dass das Bild der freien Elektronen zu einfach ist und
wir für die Erklärung des transversalen Magnetwiderstands unser Modell erweitern müs-
sen. Dies können wir z. B. im Rahmen des Modells freier Elektronen durch ein so genanntes
Zweiband-Modell tun, das wir später in Abschnitt 9.9.2 vorstellen werden. Wir werden in

26
Man beachte, dass die Randbedingung J q,y = 0 nur für die in Abb. 7.18 gezeigte Probengeometrie
erfüllt ist. Wir können aber auch eine andere Konfiguration wählen (z. B. eine Corbino-Scheibe,
siehe The Hall and Corbino Effects, E. P. Adams, Proc. Am. Phil. Soc. 54, 47–51 (1915)), für wel-
che die Randbedingung E y = 0 vorliegt. In diesem Fall folgt aus (7.3.44) J q,x = 1+ωσ02 τ 2 E x , d.h ein
c
endlicher Magnetwiderstand ∆ρ⇑ρ ∝ B 2 .
7.3 Transporteigenschaften 297

Kapitel 9 aber auch sehen, dass wir bei Berücksichtigung des periodischen Gitterpotenzi-
als und des damit verbundenen Übergangs von freien Elektronen zu Kristallelektronen eine
starke Modifikation der Bewegung von Elektronen in elektrischen und magnetischen Fel-
dern erhalten. Dies werden wir in Kapitel 9 genauer diskutieren.
Anschaulich können wir uns den positiven Magnetwiderstand durch eine Verkleinerung der
effektiven freien Weglänge ℓ zwischen zwei Stoßereignissen erklären. Die Elektronen bewe-
gen sich nämlich zwischen zwei Stößen (z. B. mit Verunreinigungen oder Phononen) auf
gekrümmten Bahnen. Nur die langsame Driftgeschwindigkeit erfolgt geradlinig, da sich die
Lorentz-Kraft aufgrund des B-Feldes und die Kraft aufgrund des Hall-Feldes gerade kom-
pensieren. Wichtig ist, dass die Bewegungsgeschwindigkeit zwischen zwei Stößen der Fermi-
Geschwindigkeit entspricht, die wesentlich größer ist als die mittlere Driftgeschwindigkeit
der Elektronen und folglich in einer wesentlich größeren Lorentz-Kraft resultiert. Eine Plau-
sibilitätsbetrachtung zur Verkürzung der mittleren freien Weglänge durch ein transversales
Magnetfeld wird im nachfolgenden Kasten gemacht.
Der beobachtete positive Magnetwiderstand folgt der so genannten Kohler-Regel27 , 28 , 29

∆ρ ρ(B) − ρ(0) B
= =F( ) = F (ω c τ) . (7.3.57)
ρ0 ρ(0) ρ(0)

Hierbei ist F eine Funktion, die von der Art des jeweiligen Metalls abhängt. Da der Magnet-
widerstand nicht vom Vorzeichen von B abhängen darf, kann die Funktion F keine lineare
Funktion in B sein. Experimentell beobachtet man in kleinen Feldern meist eine quadrati-
sche Abhängigkeit. Eine Plausibilitätsbetrachtung dafür ist im nachfolgenden Kasten gege-
ben, eine tiefer gehende Diskussion folgt später in Kapitel 9.
Der positive Magnetwiderstand tritt auch in magnetischen Metallen auf, auch wenn er dort
teilweise von wesentlich größeren negativen Magnetowiderstandseffekten (der Widerstand
nimmt mit zunehmendem Feld ab) überlagert wird. Gleichung (7.3.57) zeigt, dass der posi-
tive Magnetwiderstand sehr groß werden kann, wenn ρ 0 sehr klein bzw. die Streuzeit τ sehr
groß ist. Dies ist in sehr reinen Metallen bei sehr tiefen Temperaturen der Fall.30 So nimmt
z. B. in reinem Cu oder Ag der Widerstand in angelegten Feldern von etwa 10 T bei niedrigen
Temperaturen um bis zu 100% zu.31 Bei Raumtemperatur ist der positive Magnetwiderstand
aber generell klein und deshalb nicht für Anwendungen nutzbar.

Longitudinaler Magnetwiderstand: Im Modell der freien Elektronen erwarten wir weder


für das Einbandmodell noch für das Zweibandmodell (siehe Abschnitt 9.9.2) einen endli-
chen longitudinalen Magnetwiderstand, da die Driftbewegung der Ladungsträger ja paral-
27
Kohler, Theorie der magnetischen Widerstandseffekte in Metallen, Annalen der Physik 32, 211
(1938).
28
J. M. Ziman, Electrons and Phonons, Clarendon Press (1963), p. 491.
29
Es gilt B⇑ρ(0) = ne emB τ = neω c τ. Da der Zyklotron-Radius durch R c = v F ⇑ω c und die mittlere freie
Weglänge durch ℓ = v F τ gegeben ist, können wir auch B⇑ρ(0) = ne Rℓc schreiben.
30
E. Fawcett, High-field galvanomagnetic properties of metals, Advances in Physics 13, 139 (1964).
31
F. R. Fickett, Transverse magnetoresistance of oxygen-free copper, IEEE Trans. Magn. 24, 1156 (1988).
298 7 Das freie Elektronengas

Plausibilitätserklärung für den Magnetwiderstand:


Wir gehen davon aus, dass die Ladungsträger nach der mittleren Zeit τ elastisch gestreut
werden. Die Leitfähigkeit ist proportional zur mittleren freien Weglänge ℓ = v F τ. Die La-
dungsträger bewegen sich zwischen den Streuprozessen auf Landau-Bahnen mit Radi-
us R c = v F m⇑eB, wobei die Umlauffrequenz durch die Zyklotron-Frequenz ω c = eB⇑m ge-
geben ist (siehe Abb. 7.19)
Mit den Bezeichnungen ℓ 0 = τv F , ℓ 0 ⇑R c = φ und R c = v F ⇑ω c ergibt sich aus Abb. 7.19c für
den Grenzfall niedriger Magnetfelder (ℓ 0 ≪ R c )

ℓ⇑2 φ φ 1 φ 3
= sin ( ) ≃ − ( ) (7.3.58)
Rc 2 2 6 2
und damit
1 2 2
ℓ = ℓ 0 (1 − τ ωc ) . (7.3.59)
24
Der spezifische Widerstand ρ ist reziprok zur effektiven mittleren freien Weglänge ℓ und
damit ergibt sich

−1 1 2 2 −1
∆ρ ℓ 0 (1 − τ ωc ) − ℓ−1
= 24 0
. (7.3.60)
ρ0 ℓ−1
0
2
Mit σ = ne 2 τ⇑m und ω c = eB⇑m folgt dann = ( ρB0 ) , was der Kohler-Regel ent-
∆ρ 1
ρ0 24n 2 e 2
spricht.

(a) (b) (c) ℓ𝟎


𝝋/𝟐 𝝋/𝟐
𝑹𝒄

𝑹𝒄

Abb. 7.19: Driftbewegung von Elektronen ohne (a) und mit (b) Magnetfeld. Vollständige Umläufe
auf Landau-Bahnen sind nur bei sehr niedrigen Temperaturen, sehr reinen Proben und hohen Ma-
gnetfeldern zu erwarten.

lel zum Magnetfeld erfolgt. Dies steht im Widerspruch zu den experimentellen Befunden.
Da die Bewegung zwischen den einzelnen Streuprozessen aber in beliebige Richtungen er-
folgt und ja nur die mittlere Driftgeschwindigkeit parallel zu B ist, können wir die gleiche
54
Plausibilitätsbetrachtung wie beim transversalen Magnetwiderstand machen und damit eine
effektive Verkürzung von ℓ und somit endlichen positiven Magnetwiderstand ableiten.
Für das detaillierte Verständnis des longitudinalen Magnetwiderstands benötigen wir die
Kenntnis der E(k)-Abhängigkeiten von Elektronen unter dem Einfluss des periodischen
7.3 Transporteigenschaften 299

Gitterpotenzials. Wir werden in Kapitel 8 sehen, dass die Flächen konstanter Energie für
solche Elektronen eine komplizierte Form annehmen können. Einen longitudinalen Ma-
gnetwiderstand erwarten wir nur dann, wenn die Flächen konstanter Energie nicht mehr
wie für freie Elektronen kugelsymmetrisch sind. Generell ist die Abhängigkeit des Magnet-
widerstands einer einkristallinen Probe eine komplizierte Funktion der Richtung von Strom
und Magnetfeld relativ zu den Kristallachsen. Diesen komplexen Zusammenhang wollen
wir hier nicht diskutieren.

7.3.4.3 Vertiefungsthema: Magnetowiderstandseffekte


Eine Vielzahl weiterer, meist negativer magnetoresistiver Effekte tritt in ferromagnetischen
Metallen und Schichtstrukturen aus solchen Metallen auf:32

∎ AMR (Anisotropic MagnetoResistance)


∎ GMR (Giant MagnetoResistance)
∎ CMR (Colossal MagnetoResistance)
∎ TMR (Tunneling MagnetoResistance)
∎ BMR (Ballistic MagnetoResistance)
∎ EMR (Extraordinary MagnetoResistance)
∎ GMI (Giant MagnetoImpedance)

Lange bekannt ist der „anisotrope magnetoresistive Effekt“ (AMR), der bereits 1857 durch
Thomson entdeckt wurde und in ferromagnetischen Materialien auftritt. Deren spezifischer
Widerstand ist parallel zur Magnetisierung einige Prozent größer als senkrecht dazu. Der
AMR ist allerdings erst über 100 Jahre nach seiner Entdeckung in die erste technische
Anwendung eingeflossen. Dabei handelte es sich um die Leseeinheit in Bubblespeichern
Ende der 1960er Jahre. Um 1980 wurde mit der Entwicklung der ersten AMR-Sensoren
begonnen. In dünnen Schichten aus weichen ferromagnetischen Materialien ist die Magne-
tisierung leicht drehbar, so dass mit Hilfe des AMR Magnetfeldsensoren realisiert werden
können.
Eine rasante Entwicklung der Untersuchung und auch der technischen Nutzung magnetore-
sistiver Effekte setzte Ende der 1980er Jahre ein, als Peter Grünberg und Albert Fert fast zeit-
gleich entdeckten, dass der elektrische Strom in Schichtsystemen, die aus ferromagnetischen
und nicht-magnetischen, metallischen Schichten bestehen, stark von der relativen Orientie-
rung der Magnetisierung in den ferromagnetischen Schichten abhängt.33 , 34 , 35 Es wurde fest-
gestellt, dass der elektrische Widerstand der Vielschichtsysteme groß bzw. klein ist, wenn
in benachbarten ferromagnetischen Schichten die Magnetisierungsrichtungen antiparallel
32
siehe z. B. Spinelektronik, R. Gross und A. Marx, Vorlesungsskript, Technische Universität Mün-
chen (2004).
33
P. Grünberg, R. Schreiber, Y. Pang, M. B. Brodsky, H. Sower, Layered Magnetic Structures: Evidence
for Antiferromagnetic Coupling of Fe Layers across Cr Interlayers, Phys. Rev. Lett. 57, 2442 (1986).
34
G. Binasch, P. Grünberg, F. Saurenbach, W. Zinn, Enhanced magnetoresistance in layered magnetic
structures with antiferromagnetic interlayer exchange, Phys. Rev. B 39, 4828 (1989).
35
M. N. Baibich, J. M. Broto, A. Fert, Van Dau Nguyen, F. Petroff, P. Etienne, G. Creuset, A. Friedrich,
J. Chazelas, Giant Magnetoresistance of (001)Fe/(001)Cr Magnetic Superlattices, Phys. Rev. Lett. 61,
2472 (1988).
300 7 Das freie Elektronengas

Peter Grünberg und Albert Fert, Nobelpreis für Physik 2007


Der Physiker Peter Grünberg vom For-
schungszentrum Jülich und sein französi-
scher Kollege Albert Fert von der Univer-
sität Paris-Süd erhielten den Nobelpreis
für Physik 2007 für ihre Arbeiten zum
Riesenmagnetowiderstand (GMR: giant
magneto resistance). Ihre Grundlagenfor-
schung legte die Basis für die Entwick-
lung von leistungsfähigen Lese-Schreib-
Köpfen und damit für die Realisierung
Albert Louis Francois Fert Peter Andreas Grünberg
von Giga-Byte-Festplatten. Bereits 1997 © The Nobel Foundation. Photo: Ulla Montan.
kam der erste GMR-Lesekopf für Com-
puterfestplatten auf den Markt. Längst hat der GMR-Effekt in verbesserten Leseköpfen für
Festplatten, Videobänder sowie in MP3-Playern weltweite Verbreitung gefunden. Ihre For-
schung legte den Grundstein für den Forschungsbereich Spintronik, der den quantenme-
chanischen Spin der Elektronen für die Mikro- und Nanoelektronik nutzbar macht.
Albert Louis François Fert wurde am 7. März 1938 in Carcassonne, Frankreich gebo-
ren. Von 1962 bis 1964 war er Assistent an der Universität Grenoble und fertigte seine
Abschlussarbeit Résonance magnétique nucléaire de l’hydrogène absorbé par le palladium
(Kernspinresonanz von auf Palladium absorbiertem Wasserstoff) an. Von 1964 bis 1965 leis-
tete er Wehrdienst, um dann als Oberassistent an die Universität Paris-Süd zu gehen. Dort
wurde er 1970 mit einer Arbeit über die Transporteigenschaften von Eisen und Nickel pro-
moviert und übernahm die Leitung einer Forschungsgruppe. Seit 1976 lehrt er dort als Pro-
fessor. Seit 1995 ist er zusätzlich wissenschaftlicher Direktor des von ihm mitbegründeten
gemeinsamen Labors Unité Mixte de Physique seiner Universität und des Centre National
de la Recherche Scientifique (CNRS).
Peter Andreas Grünberg wurde am 18. Mai 1939 in Pilsen geboren. Der Schwerpunkt sei-
ner Forschungen liegt auf dem Gebiet der Festkörperforschung. Ab 1962 studierte er an
der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main und an der Technischen
Universität Darmstadt. Von 1966 bis 1969 war er dort Doktorand und wurde 1969 bei Ste-
fan Hüfner mit der Arbeit Spektroskopische Untersuchungen an einigen Selten-Erd-Granaten
promoviert. Er verbrachte drei Jahre an der Carleton University in Ottawa, Kanada. Seit
1972 war er Mitarbeiter des Forschungszentrums Jülich und habilitierte sich in Köln. Par-
allel dazu war er ab 1984 als Privatdozent und ab 1992 als außerplanmäßiger Professor an
der Universität zu Köln tätig. Seit seiner Pensionierung im Jahr 2004 arbeitet Grünberg als
Gast im Forschungszentrum Jülich im Institut für Festkörperforschung (IFF).

bzw. parallel ausgerichtet sind (siehe Abb. 7.20). Der damit verbundene, sehr große magne-
toresistive Effekt (typischerweise einige 10%) wurde Giant MagnetoResistance (GMR) Effekt
genannt. Ein solcher Effekt ist genau das, was gebraucht wird, um die Daten aus Festplatten
auszulesen, wobei magnetisch gespeicherte Information in einen elektrischen Strom umge-
wandelt werden muss. Daher gingen sehr schnell Wissenschaftler und Techniker daran, den
GMR-Effekt für einen Lesekopf auszunützen. Bereits 1997, also nur etwa 10 Jahre nach der
7.3 Transporteigenschaften 301

Fe Fe
1.1 Cr Cr
Fe Fe
Cr Cr
Fe Fe
1.0
Aufhängung
0.9 GMR Kopf
(Fe 30Å/Cr 18Å)30
0.8
R / R(0)

0.7
(Fe 30Å/Cr 12Å)35 Verdrahtung 1 mm
0.6

0.5 (Fe 30Å/Cr 9Å)40

-4 -3 -2 -1 0 1 2 3 4
0H (T)
Abb. 7.20: Magnetwiderstand von Fe/Cr-Schichtstrukturen bei 4.2 K. Es wird ein maximaler Magnet-
widerstand bei einer Cr-Schichtdicke von 0.9 nm beobachtet. Für diese Schichtdicke liegt im feld-
freien Fall eine antiparallele Kopplung der Magnetisierungsrichtungen der Fe-Schichten vor (nach
M. N. Baibich et al., Phys. Rev. Lett. 61, 2472 (1988)). Rechts ist ein GMR-Lesekopf gezeigt (Quelle:
IBM Deutschland).

Entdeckung des GMR-Effekts, wurde der erste auf diesem Effekt beruhende Lesekopf von
der Firma IBM vorgestellt. Diese Konstruktion wurde sehr schnell Stand der Technik und
auch viele andere Entwicklungen bauen auf den GMR. Die Entdeckung des GMR-Effekts
hat also in kurzer Zeit zu einem großen wirtschaftlichen Erfolg geführt.36 Für die Entde-
ckung des Riesenmagnetowiderstands wurde der Nobelpreis für Physik im Jahr 2007 an den
Deutschen Peter Grünberg und den Franzosen Albert Fert verliehen.
Weitere magnetoresistive Effekte wie der Colossal MagnetoResistance (CMR) Effekt37 , 38 , 39
oder der Tunneling MagnetoResistance (TMR) Effekt40 , 41 werden heute intensiv erforscht.
Der TMR kommt bereits heute bei der Realisierung von so genannten Magnetic Random
Access Memories (MRAM) zum Einsatz. Hierbei handelt es sich um nichtflüchtige Spei-
cherelemente mit Zugriffszeiten im ns-Bereich.42 , 43

36
P. Grünberg, Magnetfeldsensor mit ferromagnetischer dünner Schicht, Patent-Nr.: P 3820475 (1988).
37
R. von Helmholt, J. Wecker, B. Holzapfel, L. Schultz, and K. Samwer, Giant negative magnetoresist-
ance in perovskite like La2⇑3 Ba1⇑3 MnOx ferromagnetic films, Phys. Rev. Lett. 71, 2331 (1993).
38
J. M. D. Coey, M. Viret, S. von Molnar, Mixed-valence manganites, Adv. Phys. 48, 167 (1999).
39
Y. Tokura (Ed.), Colossal Magnetoresistive Oxides, Gordon and Breach Science Publishers, London
(1999).
40
J. S. Moodera, L. R. Kinder, T. M. Wong, R. Meservey, Large Magnetoresistance at Room Tempera-
ture in Ferromagnetic Thin Film Tunnel Junctions, Phys. Rev. Lett. 74, 3273 (1995).
41
T. Miyazaki et al., Spin polarized tunneling in ferromagnet/insulator/ferromagnet junctions, J. Magn.
Magn. Mat. 151, 403 (1995).
42
Spin Electronics, M. Ziese and M. J. Thornton eds., Springer Berlin (2001).
43
Magnetische Schichtsysteme, 30. Ferienkurs des Instituts für Festkörperforschung, FZ-Jülich
GmbH, Schriften des Forschungszentrums Jülich (1999).
302 7 Das freie Elektronengas

7.4 Niedrigdimensionale Elektronengassysteme


Niedrigdimensionale Elektronengassysteme erhalten wir dadurch, dass wir ein dreidimen-
sionales Elektronengas durch Potenzialwälle in einer, zwei oder allen drei Raumrichtungen
geometrisch einschränken. Wir sprechen in diesem Zusammenhang von Quantum Confine-
ment. Für die Realisierung von niedrigdimensionalen Elektronengassystemen werden häufig
Halbleiter-Heterostrukturen und -Übergitter verwendet, die aus unterschiedlich dotierten
Halbleitern oder aus Halbleitern mit unterschiedlicher Energielücke aufgebaut sind (ver-
gleiche hierzu Abschnitt 10.4.1). Sie spielen heute in der Halbleiterphysik eine bedeutende
Rolle. Wir wollen im Folgenden die physikalischen Grundlagen des Quantum Confinements
und einige Eigenschaften der damit realisierten niedrigdimensionalen Elektronengassyste-
me diskutieren.

7.4.1 Zweidimensionales Elektronengas


Wir betrachten ein dreidimensionales Elektronengas, das in einer Richtung, in unserem Fall
in z-Richtung, durch zwei unendlich hohe Potenzialwälle bei z = ±L⇑2 auf einen engen Be-
reich der Breite L eingeschränkt wird. Wir schränken also die Wellenfunktion der Elektro-
nen in z-Richtung stark ein, wogegen die Wellenfunktionen senkrecht zur Einschränkungs-
richtung, d. h. in der x y-Ebene, nach wie vor Bloch-Charakter (vergleiche Kapitel 8) haben
sollen.
Das Verschwinden der Wellenfunktion bei ±L⇑2 impliziert sofort, dass die möglichen Wel-
lenlängen bzw. k-Vektoren in z-Richtung gegeben sind durch

2L
λn = , n = 1, 2, 3, . . . , (7.4.1)
n
2π π
k z,n = = n, n = 1, 2, 3, . . . . (7.4.2)
λn L
Die zugehörigen Energieeigenwerte lauten

ħ 2 k z,n
2
ħ2 π2 2
єn = = n . (7.4.3)
2m 2m L 2
Wir sehen, dass wir im Vergleich zum Fall ohne Einschränkung in z-Richtung eine Erhöhung

ħ 2 k z,1
2
ħ2 π2
∆E = = (7.4.4)
2m 2m L 2
der Grundzustandsenergie erhalten. Wir nennen diese Energieerhöhung Confinement-
Energie. Sie wächst proportional zu 1⇑L 2 an und ist eine direkte Folge der Einschränkung
der Wellenfunktion auf den Bereich ∆z ≤ L. Diese Einschränkung im Ortsraum erhöht die
Impulsunschärfe auf ∆p z ≥ ħ⇑L. Die damit verbundene Energieerhöhung ist durch (7.4.4)
gegeben.
7.4 Niedrigdimensionale Elektronengassysteme 303

Um die entsprechenden Wellenfunktionen abzuleiten, benutzen wir die zeitunabhängige


Schrödinger-Gleichung

ħ2 2
⌊︀− ∇ + V (z)}︀ Ψ(r) = E Ψ(r) (7.4.5)
2m

mit
)︀
⌉︀
⌉︀0 für − 2 ≤ z ≤ + 2
⌉︀
L L
V (z) = ⌋︀ . (7.4.6)
⌉︀
⌉︀
⌉︀ ∞ ⋃︀z⋃︀ > L
]︀ für 2

Mit dem Ansatz

Ψ(r) = ϕ n (z) e ı(k x x+k y y) = ϕ n (z) e ık∥ ⋅r (7.4.7)

können wir die Schrödinger-Gleichung in zwei unabhängige Anteile aufspalten:

ħ2 ∂2 ∂2
⌊︀− ( 2 + 2 )}︀ e ık∥ ⋅r = E∥ e ık∥ ⋅r (7.4.8)
2m ∂x ∂y

ħ2 ∂2
⌊︀− + V (z)}︀ ϕ n (z) = є n ϕ n (z) . (7.4.9)
2m ∂z 2

Für die x y-Richtung erhalten wir ebene Wellen mit den bekannten Energieeigenwerten

ħ 2 k∥2
E∥ = . (7.4.10)
2m
Für die z-Richtung erhalten wir die Lösung
)︀
⌉︀
⌉︀
⌉︀ ⌋︂ e
1 ı k z,n z
für − L2 ≤ z ≤ + L2
ϕ n (z) = ⌋︀ L . (7.4.11)
⌉︀
⌉︀
⌉︀ für ⋃︀z⋃︀ > L
]︀0 2

mit den Energieeigenwerten (7.4.3). Für die Gesamtenergie erhalten wir somit

ħ 2 k∥2 ħ2 π2 2
E n = E∥ + є n = + n . (7.4.12)
2m 2m L 2

Wir erhalten also für die Eigenenergien Parabeln entlang von k x und k y (siehe Abb. 7.21b).
Wir bezeichnen diese Parabeln, die für k∥ = 0 die Werte є n besitzen, als 2D-Subbänder. Falls
L sehr klein wird, wird der Abstand der Subbänder wegen є n ∝ 1⇑L 2 sehr groß. Die 2D-Sub-
bänder besitzen eine konstante Zustandsdichte (vergleiche (7.1.20) und Abb. 7.2)
)︀
⌉︀
⌉︀ 2 = const für E ≥ є n
A 2m
(2D)
D n (E) = ⌋︀ 2π ħ . (7.4.13)
⌉︀
⌉︀
]︀0 sonst
304 7 Das freie Elektronengas
zweidimensionales Elektronengas

(a) (b) 𝑬 𝑬𝟒 (𝒌║) (c) 𝑬


𝑬 𝑬𝟑 (𝒌║)
𝜺𝟒
𝜺𝟒 𝜺𝟒
𝑬𝟐 (𝒌║)
𝝁 𝝁 𝝁
𝑬𝟏 (𝒌║)
𝜺𝟑
𝜺𝟑 𝜺𝟑

𝜺𝟐
𝜺𝟐 𝜺𝟐
𝜺𝟏
𝜺𝟏 𝜺𝟏
−𝑳/𝟐 𝟎 𝑳/𝟐 𝒛 𝟎 𝒌║ 0 1 2 3 4
𝑫 / (𝑨 𝒎/𝝅ℏ𝟐 )

Abb. 7.21: Quantisierung der Energiezustände eines zweidimensionalen Elektronengases in einem


Rechteckpotenzial. (a) Potenzialverlauf und resultierende Energieniveaus. (b) Energieparabeln der
2D-Subbänder. (c) Zustandsdichte des zweidimensionalen Elektronengases. Die Zustandsdichte ist die
Summe der konstanten
⌋︂ Zustandsdichten der einzelnen Subbänder. Die gestrichelte Kurve gibt den Ver-
lauf D(E) ∝ E eines dreidimensionalen Elektronengases wieder.

67
Die gesamte Zustandsdichte in allen Subbändern ist gegeben durch

D(E) = ∑ D(2D)
n (E) . (7.4.14)
n

Sie ist eine Überlagerung von konstanten Beiträgen, was in der in Abb. 7.21c gezeigten Stu-
fenfunktion resultiert.
Wir möchten darauf hinweisen, dass für die Bestimmung der Eigenenergien є n die exak-
te Form des Potenzials V (z) notwendig ist. Bei Halbleitern muss dabei die Existenz von
Raumladungen berücksichtigt werden. Das bedeutet, dass V (z) von der Dichte der freien
Elektronen und der ionisierten Dotieratome abhängt und deshalb die Wahrscheinlichkeits-
dichte ⋃︀ϕ n (z)⋃︀2 in das Potenzial über die Elektronendichte eingeht. Man muss deshalb (7.4.9)
selbstkonsistent lösen. In einfachster Näherung können wir jedoch V (z) durch ein Recht-
eckpotenzial oder, wie wir später in Abschnitt 10.4.1 für den Fall von modulationsdotierten
Heterostrukturen sehen werden, durch ein Dreieckspotenzial annähern. Ferner ist die An-
nahme unendlich hoher Potenzialwälle nur eine grobe Näherung. Bei endlicher Höhe V0 des
Potenzialwalls erhalten wir Lösungen
)︀
⌉︀
⌉︀
⌉︀a e
κz
für z < − L2
ϕ n (z) = ⌋︀ , (7.4.15)
⌉︀
⌉︀
⌉︀ −κz
für z > + L2
]︀a e
wobei die charakteristische Abklinglänge 1⇑κ gegeben ist durch:
2m
κ2 = (E − E∥ + V0 ) . (7.4.16)
ħ2
Die Lösung Ψ = ϕ n (z)e ık∥ ⋅r beschreibt eine Welle, die sich parallel zum Potenzialwall frei
ausbreitet und senkrecht dazu exponentiell abklingt. Solche Wellen, deren Wellenvektor in
z-Richtung rein imaginär ist, werden als evaneszente Wellen bezeichnet.
7.4 Niedrigdimensionale Elektronengassysteme 305

7.4.2 Eindimensionales Elektronengas


Ein eindimensionales Elektronengassystem können wir durch weitere Einschränkung des
zweidimensionalen Elektronengases in der zweiten Dimension, z. B. in y-Richtung, erhal-
ten. Ein solches Elektronengassystem wird als Quantendraht bezeichnet. Mit dem zu (7.4.7)
analogen Ansatz

Ψ(r) = ϕ n 1 ,n 2 (y, z) e ı k x x (7.4.17)

erhalten wir die Eigenenergien

ħ 2 k x2 ħ 2 k x2 ħ2 π2 2 ħ2 π2 2
E n 1 ,n 2 = + є n 1 ,n 2 = + n + n , (7.4.18)
2m 2m 2m L 2z 1 2m L 2y 2

wobei die beiden Quantenzahlen n 1 und n 2 die Eigenzustände in der yz-Ebene charakteri-
sieren. Wir erhalten also parabelförmige 1D-Subbänder, die wir durch die beiden Quanten-
zahlen n 1 und n 2 klassifizieren können. Für die Zustandsdichte gilt jetzt

D(E) = ∑ D(1D)
n 1 ,n 2 (E) (7.4.19)
n 1 ,n 2

mit
)︀
⌉︀
⌉︀ π ( ħ 2 ) (E − є n 1 ,n 2 )−1⇑2
L 2m 1⇑2
für E ≥ є n 1 ,n 2
n 1 ,n 2 (E)
D(1D) = ⌋︀ . (7.4.20)
⌉︀
⌉︀
]︀0 sonst

Der Verlauf der 1D-Subbänder und der zugehörigen Zustandsdichte ist in Abb. 7.22 gezeigt.
Wir sehen, dass die Zustandsdichte Singularitäten aufweist, wo die Ableitung der Disper-
sionskurven E(k x ) verschwindet
eindimensionales Elektronengas
(vergleiche hierzu auch (5.3.25) in Abschnitt 5.3.3).

(a) 𝑬 𝑬𝟐,𝟏 (𝒌║)


𝑬𝟏,𝟑 (𝒌║)
(b) 𝑬
𝜺𝟐,𝟏
𝜺𝟐,𝟏
𝑬𝟏,𝟐 (𝒌║)
𝝁 𝑬𝟏,𝟏 (𝒌║)
𝝁
𝜺𝟏,𝟑
𝜺𝟏,𝟑

𝜺𝟏,𝟐
𝜺𝟏,𝟐
𝜺𝟏,𝟏
𝜺𝟏,𝟏
𝟎 𝒌𝒙 𝟎 𝟏 𝟐 𝟑 𝟒
𝑫/ 𝟐𝑳𝟐 𝒎/𝝅𝟐 ℏ𝟐

Abb. 7.22: Quantisierung der Energiezustände eines eindimensionalen Elektronengases. (a) Energie-
parabeln der 1D-Subbänder. ⌈︂
(b) Zustandsdichte des eindimensionalen Elektronengases. Die Zustands-
dichte ist die Summe der 1⇑ E − E n 1 ,n 2 -Zustandsdichten der einzelnen Subbänder. Die gestrichelte
⌋︂
Kurve gibt den Verlauf D(E) ∝ E eines dreidimensionalen Elektronengases wieder.

68
306 7 Das freie Elektronengas

7.4.3 Nulldimensionales Elektronengas


Ein nulldimensionales Elektronengassystem können wir durch Einschränkung eines zu-
nächst dreidimensionalen Elektronengases in alle drei Raumrichtungen erhalten. Ein
solches Elektronengassystem wird als Quantenpunkt bezeichnet. Sein Energiespektrum
besteht aus diskreten Niveaus ähnlich zu dem von Atomen und hängt von der detaillierten
Form des einschließenden Potenzials ab. Man spricht in diesem Zusammenhang deshalb
auch von künstlichen Atomen. Die Zustandsdichte ist ebenfalls diskret und kann durch eine
Summe von δ-Funktionen beschrieben werden.

7.5 Transporteigenschaften von


niederdimensionalen Elektronengasen
Mit Hilfe des Quantum Confinements können in kontrollierter Weise niedrigdimensionale
Elektronengase hergestellt werden. Wir diskutieren im Folgenden den Ladungstransport in
null- und eindimensionalen Elektronengasen. Die Transporteigenschaften von zweidimen-
sionalen Elektronengassystemen werden wir erst später in Abschnitt 10.5 im Zusammen-
hang mit dem Quanten-Hall-Effekt diskutieren.

7.5.1 Eindimensionales Elektronengas: Leitwertquantisierung


Die Diskussion des Ladungstransports in eindimensionalen elektrischen Leitern erfolgt in
weiten Teilen analog zum Wärmetransport in eindimensionalen Wärmeleitern (vergleiche
Abschnitt 6.4.6). Als Hauptergebnis werden wir erhalten, dass der Leitwert solcher Struk-
turen quantisiert ist. Wir betrachten den in Abb. 7.23 gezeigten eindimensionalen Trans-
portkanal zwischen zwei Elektronenreservoiren mit chemischen Potenzialen µ 1 und µ 2 . Wir
können einen solchen Kanal z. B. dadurch erzeugen, indem wir ein zweidimensionales Elek-
tronengas lateral einschränken, so dass die Breite des Transportkanals kleiner als die Fermi-
Wellenlänge wird. Für zweidimensionale Elektronengase in Halbleitern ist dies technisch
einfach realisierbar, da hier die Fermi-Wellenlänge aufgrund der geringen Ladungsträger-
dichte relativ groß ist. Für Metalle ist dies dagegen sehr schwierig, da die Fermi-Wellenlänge
hier im Bereich unterhalb von 1 nm liegt.
Wir nehmen nun an, dass die mittlere freie Weglänge wesentlich größer als die Kanallän-
ge sein soll, so dass in dem Transportkanal keine Streuprozesse stattfinden. Das bedeutet,
dass alle Elektronen, die von links oder rechts mit Wellenvektor k l oder k r in den Kanal ein-
treten, mit der Wahrscheinlichkeit T = 1 durch den Kanal transmittiert werden. Im Draht
treten also keine Streuprozesse auf, die Bewegung der Elektronen erfolgt ballistisch. Wir
wollen ferner annehmen, dass die Einschnürung des Kanals in y- und z-Richtung so stark
ist, dass nur, wie in Abb. 7.23 dargestellt ist, das unterste Subband mit Energieeigenwert є 1
zum Transport beiträgt. Der Ladungstransport erfolgt dann nur in einem einzigen Trans-
portkanal. Abb. 7.23 verdeutlicht ferner, dass eine zwischen den beiden Kontaktreservoiren
7.5 Transporteigenschaften von niederdimensionalen Elektronengasen 307

angelegte Potenzialdifferenz ∆µ = µ 1 − µ 2 wegen der ballistischen Ausbreitung der Elektro-


nen im Transportkanal nicht längs des Kanals abfällt, sondern an der Kontaktfläche zu den
Reservoiren. Sie kann deshalb als Kontaktspannung aufgefasst werden. Dadurch besitzen
die nach links und rechts laufenden Elektronen unterschiedliche chemische Potenziale, die
wir als Quasi-Potenziale bezeichnen. Dies ist anschaulich klar, da die nach links und rechts
laufenden Elektronen aufgrund fehlender Streuprozess im Transportkanal nicht im thermi-
schen Gleichgewicht sind.
Nach (7.3.7) ist der Ladungsstrom I q durch den eindimensionalen Transportkanal gegeben
durch
1 ħ(k l − k r )
I q = −e ∑ . (7.5.1)
L k,σ m

Hierbei sind k l und k r die Wellenvektoren der nach links und rechts laufenden Elektro-
nen. Für µ 1 = µ 2 ergibt die Summe exakt null und wir erhalten keinen Nettostrom. Die
Summation über den Spin-Freiheitsgrad ergibt einen Faktor 2 und wir ersetzen ∑k durch
∫ Z
(1D)
(k) dk. Mit Z (1D) = L⇑2π erhalten wir

2e ħk l
Iq = − ∫ )︀ f (k) − f r (k)⌈︀ dk . (7.5.2)
2π m
0

Hierbei haben wir die Differenz k l − k r durch die Differenz der Besetzungzahlen ausge-
drückt. Wir ersetzen nun dk durch dE⇑ħv k und erhalten

2e
Iq = − ∫ ( f (E − µ 1 ) − f (E − µ 2 )) dE . (7.5.3)
2πħ
0

Hierbei haben wir die Besetzungszahlen f l und f r durch f (E − µ 1 ) und f (E − µ 2 ) ersetzt.


Interessant ist hierbei, dass die Gruppengeschwindigkeit der Elektronen vk = ħk⇑m gerade

𝑧
𝑦
𝑥 1D-Kanal

𝝁𝟏 𝝁𝟐
𝑬

𝑬
𝜺𝟐
𝝁𝟏 𝑬 Abb. 7.23: Eindimensionaler
𝒆𝑼 Transportkanal zwischen zwei
𝝁𝟐 Ladungsträgerreservoiren mit
chemischen Potenzialen µ 1
𝜺𝟏 und µ 2 . In den dreidimensio-
𝒌
𝒌𝒙 nalen Reservoiren liegt eine pa-
𝒌 rabelförmige Dispersion vor. In
𝑬 𝒌𝒍 Zustände (Quasi-Fermi-Niveau) dem eindimensionalen Kanal lie-
𝝁𝟏 Mittelwert der gen aufgrund der Einschnürung
Quasi-Fermi-Niveaus in y- und z-Richtung Subbänder
𝒌𝒓 Zustände
𝝁𝟐 vor, von denen im gezeigten Fall
𝒙 nur das unterste beitragen kann.
70
308 7 Das freie Elektronengas

Ug Gate-Elektrode
Isolator
10

Jx
8
2D-Elektronengas
Abb. 7.24: Leitwertquantisierung

G (2e /h)
6
in einem ballistischen-Quanten-

2
Punktkontakt bei T = 0.6 K. Der
Quanten-Punkt-Kontakt wurde in 4
einem zweidimensionalen Elektro-
nengas in einer GaAs/AlGaAs-He- 2
terostruktur erzeugt (nach B. J. van
Wees, H. van Houten, C. W. J. Beenak-
ker, J. G. Williamson, L. P. Kouwen- 0
-2.0 -1.8 -1.6 -1.4 -1.2 -1.0
hoven, D. van der Marel, C. T. Foxon,
Phys. Rev. Lett. 60, 848–850 (1988)). Ug (V)

herausfällt. Dies ist völlig analog zum thermischen Transport (vergleiche (6.4.30)), bei dem
die Gruppengeschwindigkeit der Phononen herausfällt. Das Integral über die Differenz der
Fermi-Funktionen ergibt gerade ∆µ = µ 1 − µ 2 = (−e)U und wir erhalten

e2 1 h
Iq = 2 U bzw. R= . (7.5.4)
h 2 e2

Wir sehen, dass der perfekt durchlässige eindimensionale Transportkanal


2
(Transmissions-
wahrscheinlichkeit T = 1) den endlichen Leitwert G = 2 eh = 2G Q bzw. den Widerstand
R = 12 eh2 = 12 R Q besitzt, wobei der Faktor 2 im Leitwert bzw. der Faktor 1⇑2 im Widerstand
aus der Spin-Entartung resultiert. Die Größe

R Q = 25 812.807 4555(59) Ω (7.5.5)

bezeichnen wir als Widerstandsquantum. Da diese Größe erstmals im Zusammenhang mit


dem Quanten-Hall-Effekt von Klaus von Klitzing mit großer Genauigkeit gemessen wur-
de, wird sie auch von Klitzing Konstante genannt. Bei endlicher Rückstreuwahrscheinlich-
keit ℛ > 0 bzw. Transmissionswahrscheinlichkeit 𝒯 < 1 erhalten wir
e2 1 h 1
G=2 𝒯 bzw. R= . (7.5.6)
h 2 e2 𝒯
Die durch (7.5.6) gegebene Leitwertquantisierung wurde erstmals in so genannten Quanten-
punktkontakten beobachtet, die eindimensionale Elektronengase in Halbleiter-Heterostruk-
turen darstellen (siehe Abb. 7.24). Dabei wird das eindimensionale Elektronengas durch late-
rale Einschnürung eines zweidimensionalen Systems in einer GaAs/AlGaAs-Heterostruktur
mittels in der Mitte aufgetrennten Gate-Elektroden (Split-Gate) erzeugt. Unter der Gate-
Elektrode wird durch Anlegen einer negativen Gate-Spannung das Elektronengas unter-
drückt, so dass der Stromfluss auf einen eindimensionalen Kanal eingeschränkt wird. Bei der
Messtemperatur von 0.6 K ist die mittlere freie Weglänge von etwa 8 µm wesentlich größer als
die Länge des Kanals, so dass die Elektronen ohne Stöße den Kanal durchqueren können. Die
7.5 Transporteigenschaften von niederdimensionalen Elektronengasen 309

Fermi-Wellenlänge beträgt aufgrund der geringen Ladungsträgerdichte des zweidimensio-


nalen Elektronengases etwa 40 nm. Die Breite des Kanals kann durch Variation der negativen
Gate-Spannung verändert werden. Bei U g ≤ −2.2 V ist der Kanal vollkommen geschlossen,
so dass kein Stromfluss stattfinden kann. Wird nun U g reduziert, so wird ein Leitungskanal
nach dem anderen geöffnet und der gemessene Leitwert steigt in Stufen an. Aufgrund der
Spin-Entartung im Nullfeld werden Leitwertstufen mit Abstand 2e 2 ⇑h beobachtet. Das suk-
zessive Öffnen der Leitungskanäle kann leicht in Rahmen von Abb. 7.23 verstanden werden.
Wird die negative Gate-Spannung reduziert, so wird der Kanal breiter, wodurch die Energie-
werte є i der Subbänder nach unten verschoben werden. Somit tragen nach und nach immer
mehr Subbänder zum Transport bei, jedes beitragende Subband entspricht einem offenen
Leitungskanal.

7.5.2 Vertiefungsthema: Nulldimensionales Elektronengas:


Coulomb-Blockade
Abschließend wollen wir noch den Transport über eine nulldimensionale Struktur, einen
so genannten Quantenpunkt, betrachten. Bevor wir das tun, müssen wir uns aber zuerst
mit Ladungseffekten beschäftigen, deren Ursache rein klassischer Natur ist. Diese Effekte
treten auch beim Transport über kleine dreidimensionale Elektronensysteme auf. Um uns
die Ursache von Ladungseffekten klar zu machen, betrachten wir die in Abb. 7.25 gezeig-
te Konfiguration. Hier ist eine kleine metallische Insel (diese soll zunächst dreidimensional
sein) über große Widerstände R (üblicherweise verwendet man Tunnelbarrieren) an zwei
metallische Kontakte, die wir Quelle S (Source) und Senke D (Drain) nennen, angekoppelt.
Ferner können wir die Insel über eine kapazitiv gekoppelte Steuerelektrode G (Gate) be-
einflussen. Legen wir eine Spannung U SD an und messen den resultierenden Strom I SD als
Funktion der Steuerspannung U G , so stellen wir fest, dass der Leitwert G = I SD ⇑U SD scharfe
Maxima aufweist, die einen etwa konstanten Abstand besitzen. Die Ursache für diesen Ef-
fekt ist rein klassischer Natur und beruht auf der Tatsache, dass jedes Elektron die diskrete
Ladung q = −e transportiert.

N
Abb. 7.25: Äquivalenter Schaltkreis für die Un-
tersuchung des Ladungstransports über eine
C kleine metallische Insel. Die Insel ist über die
Steuerelektrode Widerstände R an die Quelle S und Senke D und
G kapazitiv an eine Steuerelektrode G angekoppelt.
+𝑼𝑺𝑫 /𝟐 Die Spannung U zwischen Quelle und Senke
SD
𝑼𝑮 ist symmetrisch angelegt. Mit der Steuerspan-
−𝑼𝑺𝑫 /𝟐
nung U G kann die potenzielle Energie der Insel
verschoben werden.

Um die experimentelle Beobachtung zu verstehen, betrachten wir zuerst die elektrostatische


Energie der Insel. Sie ist gegeben durch
Q2 (Ne)2 72

E el = − QU G = − NeU G . (7.5.7)
2C 2C
310 7 Das freie Elektronengas

1.5

1.0

Eel / EC
Abb. 7.26: Elektrostatische Energie
einer kapazitiv an eine Steuerelektro-
de gekoppelten metallischen Insel als
0.5
Funktion der Steuerspannung U G EC EC EC
und der Elektronenzahl N auf N=-2 N=+2
der Insel. Zwei benachbarte Para-
beln E el (N + 1) und E el (N) schnei- N=-1 N=0 N=1
den sich bei U G = (N + 1⇑2)e⇑C. 0.0
Bei U G = Ne⇑C beträgt der -1.5 -1.0 -0.5 0.0 0.5 1.0 1.5
energetische Abstand E C .
CUG / e

Hierbei ist N eine ganze Zahl und Q = Ne die bezüglich des ladungsneutralen Zustands
fehlende oder überschüssige Ladung auf der Insel. Wichtig ist, dass aufgrund der diskreten
Natur der Elementarladung die Ladung Q auf der Insel nur diskrete Werte annehmen kann.
Der erste Term in (7.5.7) gibt die kapazitive Ladungsenergie an und der zweite die potenzi-
elle Energie durch die Steuerspannung U G . Wir nehmen der Einfachheit halber an, dass die
gesamte kapazitive Kopplung der Insel an die Umgebung durch die Kapazität C der Steuer-
elektrode erfolgt. Wir können Gleichung (7.5.7) durch Ausklammern von e 2 ⇑2C umformen
und erhalten

e2 CU G 2 CU G 2
E el = ⌊︀(N − ) −( ) }︀ . (7.5.8)
2C e e

Lassen wir den letzten Term, der unabhängig von N ist weg, so erhalten wir die elektrosta-
tische Energie

CU G 2
E el (N) = E C (N − ) (7.5.9)
e

mit der charakteristischen Energie E C = e 2 ⇑2C, die gerade der Ladungsenergie einer Ele-
mentarladung auf der Kapazität C entspricht. Tragen wir E el (N) gegen CU G ⇑e auf, so
erhalten wir, wie in Abb. 7.26 gezeigt ist, für jedes N eine Parabel. Wir sehen, dass sich
benachbarte Parabeln E el (N) und E el (N + 1) bei U G = (N + 1⇑2)e⇑C schneiden. Bei die-
ser Steuerspannung kann folglich die Ladung der Insel ohne Energieaufwand um eine
Elementarladung geändert werden. Dagegen müssen wir bei der Spannung U G = Ne⇑C
die Energie E C aufbringen, um die Inselladung um eine Elementarladung zu ändern.
Für eU SD ≪ E C wird deshalb kein Ladungsfluss über die Insel möglich sein, da die hohe
Coulomb-Energie Änderungen des Ladungszustandes unterdrückt. Wir nennen diesen
Effekt Coulomb-Blockade. Den Energieunterschied benachbarter Parabeln können wir
aus (7.5.9) zu
1 CU G
E el (N ± 1) − E el (N) = 2 (±N + ∓ ) EC (7.5.10)
2 e
7.5 Transporteigenschaften von niederdimensionalen Elektronengasen 311

berechnen.
Um den Coulomb-Blockade-Effekt beobachten zu können, müssen wir sicherstellen, dass
Änderungen des Ladungszustandes nicht durch thermische oder Quantenfluktuationen er-
möglicht werden. Thermische Fluktuationen spielen dann keine Rolle, wenn k B T ≪ E C ist.
Dies ist gleichbedeutend mit

e2 e2
T≪ oder C≪ . (7.5.11)
2k B C 2k B T
Setzen wir Zahlen ein, so sehen wir, dass C = 1 fF einer Temperatur von 1 K entspricht. Selbst
wenn wir extrem kleine Kapazitäten verwenden, müssen wir die Probe also noch auf tiefe
Temperaturen abkühlen. Wenn es uns aber gelingt, Kapazitäten im aF-Bereich zu realisieren,
können wir den Coulomb-Blockade-Effekt auch bei Raumtemperatur beobachten. Um eine
obere Grenze für die Größe der in Abb. 7.25 gezeigten Insel abzuschätzen, können wir die po-
tenzielle Energie ausrechnen, die wir aufbringen müssen, um eine Elementarladung aus dem
Unendlichen auf eine Kugel mit Radius R zu bringen. Diese Energie beträgt e 2 ⇑є 0 R, die äqui-
valente Kapazität C = є 0 R⇑2. Damit diese Energie groß gegen k B T wird, muss R ≪ e 2 ⇑є 0 k B T
sein. Für T = 1 K erhalten wir R ≪ 100 µm. In der Praxis müssen allerdings metallische In-
seln üblicherweise Abmessungen im 100 nm-Bereich haben, um C = 1 fF zu erreichen. Da
die Fermi-Wellenlänge von Metallen im Å-Bereich liegt, stellt eine metallische Insel mit
diesen Abmessungen aber immer noch ein dreidimensionales Elektronensystem dar. Der
Niveauabstand ∆E ∼ E F ⇑n el V der Elektronenzustände liegt aufgrund der hohen Elektro-
nendichte n el in Metallen bei einem würfelförmigen Volumen mit Kantenlänge 100 nm im
µeV-Bereich und ist somit wesentlich kleiner als E C ∼ 0.1–1 meV oder k B T ∼ 100 µV bei 1 K.
Wir können deshalb in guter Näherung von einem kontinuierlichen Energiespektrum aus-
gehen. Das zeigt uns, dass der hier betrachtete Coulomb-Blockade-Effekt nichts mit Quan-
tum-Confinement zu tun hat und ein rein klassischer Effekt aufgrund des diskreten Werts
der Elementarladung ist.
Selbst bei T = 0 führt die Tatsache, dass die Ladung im Mittel nur eine Zeit ∆t = R g C⇑2π
auf der Insel bleibt, zu einer Energieunschärfe Γ = h⇑R g C der Ladungsenergie. Hierbei ist
R g = R⇑2 der gesamte Widerstand, mit dem die Insel an die Umgebung gekoppelt ist. Diese
Unschärfe muss klein gegen E C sein, was gleichbedeutend mit

h
Rg ≫ = RQ (7.5.12)
e2
ist. Der Widerstand R g muss also groß gegenüber dem Quantenwiderstand R Q sein, um zu
vermeiden, dass Quantenfluktuationen die Beobachtbarkeit des Coulomb-Blockade-Effekts
verhindern.
Wir wollen nun im Detail diskutieren, was bei einer Variation der Steuerspannung U G = 0
passiert. Variieren wir die Steuerspannung beginnend von U G = 0 in positive oder negative
Richtung, so wandern wir zunächst auf der N = 0 Parabel nach oben, bis wir den Schnitt-
punkt mit der N = +1 oder N = −1 Parabel erreichen. Die Ladung auf der Insel ändert sich
dann sprunghaft um ±e und wir wandern auf der N = +1 bzw. N = −1 Parabel wieder nach
unten. Bei einer Variation von U G folgen wir also der in Abb. 7.26 rot gestrichelten Kurve,
312 7 Das freie Elektronengas

(a) 2↔1 𝑬 (b) 𝑬


Insel
Insel 1↔0
S S
1↔0 D 𝟐𝑬𝑪
D
𝒆𝑼𝑺𝑫 𝑬𝑪 𝒆𝑼𝑺𝑫
+ 𝒆𝑼𝑺𝑫 + 𝒆𝑼𝑺𝑫
𝟐 − 𝟐 0 ↔ -1 −
𝑬𝑪 𝟐 𝟐
0 ↔ -1

𝒆𝑼𝑮 = 𝟎 -1 ↔ -2
-1 ↔ -2 𝒆𝑼𝑮

-2 ↔ -3

(c) 3 (d)
2

1 GSD (bel. Einh.)


N

0
𝑻 > 𝟎 74
-1
𝑻 = 𝟎
-2

-3
-2 -1 0 1 2 -2 -1 0 1 2
CUG / e CUG / e

Abb. 7.27: Plausibilitätsbetrachtung zum Ladungstransport über eine metallische Insel für (a) U G = 0
und (b) U G = e⇑2C. Die blauen Linien im Bereich der Insel markieren die Änderung der potenzi-
ellen Energie bei der durch die Zahlen bezeichneten Änderung der Ladungszahl. Durch Variation
von U G werden diese Linien entsprechend (7.5.10) nach oben oder unten verschoben. Die gestrichelten
75
Pfeile markieren verbotene, die durchgezogenen erlaubte Transportprozesse. In (c) ist die Änderung
der Ladungszahl N auf der Insel bei Variation der Steuerspannung U G gezeigt. In (d) ist der Leit-
wert G SD = I SD ⇑U SD als Funktion der Steuerspannung U G bei einer konstanten Spannung U SD ≪ E C ⇑e
aufgetragen.

die den Grundzustand des Systems darstellt. Die Ladung auf der Insel ändert sich dabei je-
weils bei U G = (N + 1⇑2)e⇑C sprunghaft um ±e und bleibt dazwischen konstant. Dies ist
in Abb. 7.27(c) gezeigt. Aufgrund von thermischen und Quantenfluktuationen sind die im
Experiment beobachteten Sprünge immer mehr oder weniger stark verrundet.
Wir müssen jetzt noch den Ladungstransport zwischen Quelle und Senke diskutieren. Hier-
bei wollen wir annehmen, dass eU SD ≪ E C . Bei T = 0 kann Ladungstransport nur dann
stattfinden, wenn beim Transport auf die Insel und von der Insel keine Energie benötigt wird.
In Abb. 7.27(a) ist die Situation für U G = 0 gezeigt. Die Insel befindet sich im ladungsneu-
tralen Zustand (N = 0). Die Änderung dieses Ladungszustandes nach N = +1 oder N = −1
verschiebt die potenzielle Energie der Insel gemäß (7.5.10) um +E C bzw. −E C . Die entspre-
chenden Niveaus sind in Abb. 7.27(a) und (b) durch die waagrechten blauen Linien markiert.
Literatur 313

Alle durch die gestrichelten Pfeile angedeuteten Transportprozesse auf die oder von der Insel
kosten Energie und sind energetisch nicht möglich. Es findet kein Ladungstransport statt,
wir befinden uns also im Bereich der Coulomb-Blockade. Ladungstransport würde erst dann

einsetzen, wenn wir die Spannung U SD auf den Schwellwert U SD = 2E C ⇑e = e⇑C erhöhen
würden. Nehmen wir eine I SD (U SD )-Kennlinie für U G = 0 auf, so findet im gesamten Be-
∗ ∗
reich zwischen −U SD und +U SD kein Ladungstransport statt. Dieser Spannungsbereich stellt
den Blockade-Bereich dar.
In Abb. 7.27(b) ist die Situation für U G = e⇑2C gezeigt. Für diese Steuerspannung be-
wirkt gemäß (7.5.10) die Änderung des Ladungszustandes von N = 0 nach N = −1 keine
Verschiebung der potenziellen Energie. Das entsprechende Niveau liegt deshalb bei der
Fermi-Energie. Wie Abb. 7.27(b) zeigt, können in diesem Fall Elektronen für beliebig kleine
U SD von der Insel in die Senke wandern und von links aus der Quelle wieder nachgefüllt
werden (durchgezogene rote Pfeile). Das heißt, für diese Steuerspannung verschwindet
der Blockade-Bereich vollkommen und wir erwarten ein scharfes Maximum für den Leit-
wert G SD = I SD ⇑U SD . Äquivalente Maxima erhalten wir für U G = (N + 1⇑2)e⇑C. Dies ist
in Abb. 7.27(d) gezeigt. Das Auftreten der äquidistanten Leitwertmaxima können wir uns
anschaulich so erklären, dass wir mit der Steuerspannung die in Abb. 7.27(b) eingezeich-
neten Energieniveaus vertikal verschieben können. Einen Leitwertpeak erhalten wir immer
dann, wenn ein Niveau zwischen den chemischen Potenzialen von Quelle und Senke zu
liegen kommt. Es sei noch angemerkt, dass durch die endlichen Energien k B T, eU SD und Γ
die scharfen Maxima je nach experimentellen Begebenheiten mehr oder weniger stark
verrundet werden.
Wir müssen uns jetzt noch fragen, was passiert, wenn wir die Insel so klein machen, dass
wir aufgrund von Quanten-Confinement einen Übergang zu einem quasi-nulldimensiona-
len Elektronensystem mit einem diskreten Energiespektrum erhalten. Der Niveauabstand
der Elektronenzustände kommt dann bei genügend kleinen Systemen in den Bereich der
Ladungsenergie E C und wir können bei der Diskussion der Ladungseffekte nicht mehr von
einem kontinuierlichen Energiespektrum ausgehen. Dies manifestiert sich darin, dass die
Maxima in der gemessenen I SD (U SD )-Kennlinie nicht mehr äquidistant sind. Sie zeigen viel-
mehr für jede Probe charakteristische Abstände, die das Niveauschema der untersuchten
Probe widerspiegeln. Weitere interessante Effekte kommen durch den Spin der Elektronen
und angelegte Magnetfelder zustande, die wir aber hier nicht diskutieren wollen.

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314 7 Das freie Elektronengas

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8 Energiebänder
Das bisher betrachtete Modell des freien Elektronengases
konnte, wie wir in Kapitel 7 gesehen haben, einige Fest-
körpereigenschaften wie die spezifische Wärme oder die
Transporteigenschaften von einfachen Metallen ganz gut
beschreiben. Wir haben aber bereits an einigen Stellen dar-
auf hingewiesen, dass Abweichungen zwischen Modellvor-
hersagen und Experiment wohl auf die stark vereinfachen-
den Annahmen dieses Modells zurückzuführen sind. Es
gibt aber auch Festkörpereigenschaften, die im Rahmen des
freien Elektronengasmodells völlig unverstanden bleiben.
Insbesondere bleiben folgende Fragen offen:

∎ Warum sind manche Festkörper Metalle mit guter elektrischer Leitfähigkeit (ρ ∼


10−6 Ωcm) und andere Isolatoren (ρ > 106 Ωcm)? Warum ist z. B. Diamant ein sehr
guter Isolator, obwohl die äußerste Elektronenschale von Kohlenstoff nur halb gefüllt ist
und wir vier frei bewegliche Valenzelektronen erwarten?
∎ Was bestimmt die Anzahl der Leitungselektronen? Beim freien Elektronengasmodell ha-
ben wir die Zahl der Leitungselektronen mit der Zahl der Valenzelektronen gleichgesetzt.
Was macht man allerdings bei Metallen, die unterschiedliche Valenz besitzen können?
∎ Wieso werden positive Werte für die Hall-Konstante und die Thermokraft gemessen?
Wieso zeigt die Hall-Konstante eine mehr oder weniger starke Magnetfeld- und Tempe-
raturabhängigkeit?
∎ Wie können die beobachteten optischen oder Magnetotransporteigenschaften erklärt
werden? Im optischen Bereich treten starke Abweichungen der beobachteten Leitfähig-
keit σ(ω) von dem nach dem freien Elektronengasmodell erwarteten Verhalten auf.

Um diese Eigenschaften erklären zu können, müssen wir das bisherige Modell erweitern, in-
dem wir das periodische Kristallpotenzial V (r) der positiven Atomrümpfe berücksichtigen.
Von den beiden in Kapitel 7 gemachten Annahmen

∎ völlig freie Elektronen


∎ völlig unabhängige Elektronen

lassen wir also die erste fallen. An der zweiten Annahme, dass die Elektronen nicht mitein-
ander korreliert sein sollen, halten wir aber nach wie vor fest. Wir beschreiben den Fest-
körper als ein Gitter von starren positiven Atomrümpfen, durch das sich die Elektronen
völlig unkorreliert (quasi wie Skifahrer in einer Buckelpiste) bewegen können. Greifen wir
316 8 Energiebänder

uns ein Elektron heraus, so bewegt sich dieses in einem zeitlich konstanten und räumlich
periodischen Potenzial V (r), das von allen anderen Elektronen und den Atomkernen her-
vorgerufen wird. Der Vorteil dieser Einelektron-Näherung ist, dass wir das Verhalten von
nur einem Elektron untersuchen müssen. Die quantenmechanische Behandlung dieses Pro-
blems wurde sehr bald nach der Entwicklung der Quantenmechanik angegangen. Wichtige
Beiträge kamen von Felix Bloch1 in seiner Doktorarbeit (1928), sowie von Arnold Sommer-
feld2 und Hans Bethe3 (um 1930) und N. F. Mott4 . In der quantenmechanischen Behandlung
müssen wir für ein Elektron die Schrödinger-Gleichung lösen. Den N-Elektronenzustand
erhalten wir dann durch Auffüllen der Einelektronenzustände unter Berücksichtigung des
Pauli-Prinzips.
Um das beschriebene Problem zu lösen, werden wir zwei Betrachtungsweisen heranziehen:

1. Näherung für quasi-freie Elektronen:


Wir werden hier vom Modell des völlig freien Elektronengases (V (r) = 0) starten und
das zusätzliche periodische Potenzial durch die positiven Atomrümpfe als kleine Störung
berücksichtigen. Diese Vorgehensweise ist für die Beschreibung von Metallen mit stark
delokalisierten Elektronen ein guter Ansatz.
2. Näherung für quasi-gebundene Elektronen:
Wir werden hier von an die einzelnen Atome gebundenen, also lokalisierten Elektronen
ausgehen. Für diese sind die Atomorbitale gute Näherungen. Ähnlich wie bei der ko-
valenten Bindung können wir dann die durch die endliche Wechselwirkung der Atome
entstehenden neuen Orbitale in erster Näherung durch Linearkombinationen der ato-
maren Orbitale beschreiben (Linear Combination of Atomic Orbitals: LCAO-Methode).
Dies führt uns dann zur Näherung der quasi-gebundenen Elektronen oder so genannten
Tight-Binding Methode.

Beide Näherungen werden uns qualitativ zum gleichen Ergebnis führen: Im Festkörper ent-
stehen so genannte Energiebänder, die durch verbotene Bereiche, so genannte Energielücken
voneinander getrennt sind. Schließlich werden wir Grenzen der Einelektron-Näherung dis-
kutieren und uns mit wechselwirkenden Vielelektronensystemen beschäftigen.

1
siehe Kasten auf Seite 318.
2
siehe Kasten auf Seite 262.
3
Hans Albrecht Bethe, geboren am 2. Juli 1906 in Straßburg, gestorben am 6. März 2005 in Ithaca,
New York. Er erhielt den Nobelpreis für Physik 1967 für „seine Beiträge zur Theorie der Kernre-
aktionen, insbesondere seine Entdeckungen bezüglich der Energieerzeugung in Sternen“.
4
Sir Nevill Francis Mott, geboren am 30. September 1905 in Leeds, gestorben am 08. August 1996
in Milton Keynes, Buckinghamshire, war britischer Physiker. Er erhielt den Nobelpreis für Physik
1977 für „die grundlegenden theoretischen Leistungen zur Elektronenstruktur in magnetischen
und ungeordneten Systemen“ (gemeinsam mit Philip Warren Anderson und John Hasbrouck van
Vleck).
8.1 Bloch-Elektronen 317

8.1 Bloch-Elektronen
Wir wissen, dass ein idealer Festkörper eine streng periodische Anordnung von Atomen
darstellt. Es stellt sich dann die Frage, wie sich Elektronen in diesem Festkörper bewegen
können, ohne dass sie dabei von den positiven Atomrümpfen beeinträchtigt werden. Diese
Frage wurde von Felix Bloch in seiner Doktorarbeit (1928) beantwortet.5 Die Elektronenwel-
len unterscheiden sich von ebenen Wellen durch eine gitterperiodische Modulation. Diese
nach Felix Bloch benannten Bloch-Wellen werden in einem perfekt periodischen Festkörper
nicht gestreut. Nur Abweichungen von der strengen Periodizität führen zu Streuprozessen.
Wir wollen in diesem Abschnitt die Lösungen der zeitunabhängigen Schrödinger-Gleichung

ħ2 2
ℋΨ(r) = ⌊︀− ∇ + V (r)}︀ Ψ(r) = EΨ(r) (8.1.1)
2m

für ein einzelnes Elektron in Gegenwart eines gitterperiodischen Potenzials

V (r) = V (r + R) (8.1.2)

betrachten, wobei

R = n 1 a1 + n 2 a2 + n 3 a3 n 1 , n 2 , n 3 = ganzzahlig (8.1.3)

ein beliebiger Translationsvektor des dreidimensionalen Bravais-Gitters ist (vergleiche Ab-


schnitt 1.1.1). Die Vektoren a1 , a2 und a3 sind die primitiven Gittervektoren. In den nach-
folgenden Abschnitten 8.2 und 8.3 werden wir dann mit Hilfe der Näherungen quasi-freier
und quasi-gebundener Elektronen die Bandstruktur E(k) von Festkörpern bestimmen.
Da das Potenzial V (r) die gleiche Periodizität wie das Raumgitter besitzt, können wir es in
eine Fourier-Reihe

V (r) = ∑ VG e ıG⋅r (8.1.4)


G

entwickeln. Hierbei muss G ein reziproker Gittervektor (vergleiche Abschnitt 2.1.3)

G = hb1 + kb2 + ℓb3 h, k, ℓ = ganzzahlig (8.1.5)

sein. Die Koeffizienten VG der Fourier-Reihe nehmen für ein Coulomb-Potenzial mit 1⇑G 2
ab, weshalb in der Reihenentwicklung meist nach wenigen Termen abgebrochen werden
kann. Der allgemeinste Lösungsansatz für die gesuchte Wellenfunktion Ψ(r) ist durch ei-
ne Linearkombination ebener Wellen

Ψ(r) = ∑ C k e ık⋅r (8.1.6)


k

5
Felix Bloch, Über die Quantenmechanik der Elektronen in Kristallgittern, Doktorarbeit, Universität
Leipzig (1928).
318 8 Energiebänder

Felix Bloch (1905–1983), Nobelpreis für Physik 1952


Felix Bloch wurde 1905 in Zürich geboren. Er war entschei-
dend an der Entwicklung der modernen Festkörperphy-
sik beteiligt, widmete sich grundlegenden Problemen der
Hochenergiephysik und befasste sich mit den magnetischen
Eigenschaften von Atomkernen. Von 1924 bis 1927 studierte
er an der ETH Zürich Mathematik und Physik. Er wechselte
dann an die Universität Leipzig und setzte dort sein Studium
unter Anleitung von Werner Heisenberg fort. In seiner Di-
plomarbeit befasste er sich mit der Schrödinger-Gleichung.
Auf der Basis der Quantenmechanik beschrieb Bloch 1928
in seiner Doktorarbeit das Verhalten von Elektronen in
Kristallgittern. In seiner bahnbrechenden Arbeit entwickel-
te er u. a. die Ableitung der Eigenfunktion Ψ der Elektronen.
Nur kurze Zeit später gelang ihm die Bestimmung der nach © The Nobel Foundation.
ihm benannten Bloch-Summe. Mit Hilfe dieser Summe las-
sen sich die Bandstruktur und die Energiespektren von Elektronen in einem idealen Kris-
tall berechnen. Nach Abschluss seiner Promotion arbeitete Bloch zunächst als Assistent
bei Wolfgang Pauli in Zürich. Weitere Stationen waren die Niederlande (1929), Kopen-
hagen (1931) – hier arbeitete er unter der Anleitung von Niels Bohr – und die damalige
Sowjetunion (1931). Im selben Jahr habilitierte sich Bloch und wurde Assistent bei Werner
Heisenberg in Leipzig. Als 1933 die Nationalsozialisten an die Macht kamen, emigrierte
Bloch aus Deutschland zunächst in die Schweiz. Er machte anschließend in verschiedenen
europäischen Ländern Station bevor er 1934 in die USA auswanderte und einem Ruf an
die Stanford University in Kalifornien folgte. Dort wirkte Bloch bis 1971.
Während des 2. Weltkrieges war Bloch am Manhattan-Projekt beteiligt und beschäftigte
sich ebenfalls mit Radar-Technik am Radio Research Laboratory in Cambridge. Nach dem
Krieg lieferte er grundlegende Arbeiten zum Ferromagnetismus, und es gelang ihm die
Messung magnetischer Momente von Atomkernen.
Im Jahr 1946 machte Bloch zusammen mit W. W. Hansen und M. E. Packard die Entde-
ckung der kernmagnetischen Resonanz (NMR: Nuclear Magnetic Resonance). Diese weit-
reichende Entdeckung führte zu einer wichtigen Methode der Hochfrequenzspektrosko-
pie, mit der man Zusammensetzungen, Strukturen und das mikrodynamische Verhalten
von flüssigen und auch festen Substanzen (z. B. Metallen) untersuchen und aufklären kann.
Für seine Arbeiten über die kernmagnetische Resonanz und die damit verbundenen Ent-
deckungen erhielt er 1952 zusammen mit Edward Mills Purcell den Nobelpreis für Physik.
In den Jahren 1954/1955 war er der erste Generaldirektor des CERN, des europäischen
Kernforschungszentrums in Genf.
Felix Bloch starb am 10. September 1983 in Zürich.

gegeben, wobei die Wellenvektoren k die Randbedingungen erfüllen müssen, die aus
den endlichen Probenabmessungen L x , L y , L z resultieren (vergleiche hierzu (7.1.8) in
8.1 Bloch-Elektronen 319

Abschnitt 7.1 und Abb. 8.1):


2π 2π 2π
kx = nx ky = ny kz = nz
Lx Ly Lz
mit n x, y,z = 0, ±1, ±2, ±3, . . . (8.1.7)

Substituieren wir diesen Ansatz in die Schrödinger-Gleichung, so erhalten wir

ħ2 k 2
∑ C k e ık⋅r + ∑ C k VG e ı(k+G)⋅r = E ∑ C k e ık⋅r . (8.1.8)
k 2m k,G k

Nach einer Umbenennung der Summationsindizes (k → k − G) im 2. Term auf der linken


Seite erhalten wir daraus
ħ2 k 2
∑e
ık⋅r
⌊︀( − E) C k + ∑ VG C k−G }︀ = 0 . (8.1.9)
k 2m G

Die Umbenennung des Summationsindex ist erlaubt, da wir ja über alle Werte der Wellen-
vektoren k und alle reziproken Gittervektoren aufsummieren. Die Umbenennung ändert
deshalb nicht den Wert der Summationsglieder, sondern nur ihre Reihenfolge. Da (8.1.9)
für jeden Ortsvektor r erfüllt sein muss, muss der Ausdruck in den rechteckigen Klammern,
der unabhängig von r ist, für jeden Wellenvektor k separat verschwinden. Das heißt,

ħ2 k 2
( − E) C k + ∑ VG C k−G = 0 . (8.1.10)
2m G

Dieser Satz von algebraischen Gleichungen ist nichts anderes als eine Darstellung der
Schrödinger-Gleichung im reziproken Raum. Sie liefern für jedes k eine Lösung Ψk mit
zugehörigem Eigenwert E k . Auf den ersten Blick erscheint der Satz von algebraischen
Gleichungen unhandlich zu sein, da wir im Prinzip unendlich viele Koeffizienten C k−G
bestimmen müssen. In der Praxis stellt sich allerdings heraus, dass bereits eine kleine Zahl
ausreichend ist, um die Situation richtig zu beschreiben.
Wir sehen, dass die Gleichungen (8.1.10) nur diejenigen Entwicklungskoeffizienten C k
von Ψk (r) koppeln, deren k-Werte sich um einen reziproken Gittervektor G unterscheiden.
Das heißt, es werden die Koeffizienten

Ck , C k−G , C k−G′ , C k−G′′ , . . . (8.1.11)

gekoppelt, wobei k in der 1. Brillouin-Zone liegt (siehe Abb. 8.1). Damit zerfällt das Glei-
chungssystem (8.1.10) in N unabhängige Gleichungssysteme, und zwar jeweils eines für je-
den erlaubten k-Vektor aus der 1. Brillouin-Zone. Die Anzahl N der möglichen Wellenvekto-
ren in der 1. Brillouin-Zone wird durch die Randbedingungen gegeben. Für den in Abb. 8.1
gezeigten eindimensionalen Fall gilt
VBZ 2π⇑a Lx
N= = = , (8.1.12)
2π⇑L x 2π⇑L x a
das heißt, N entspricht der Anzahl von Einheitszellen des betrachteten Festkörpers.
320 8 Energiebänder

𝒌−𝑮 𝒌 2𝜋 𝒌+𝑮
𝐿𝑥

2𝜋 𝜋 𝟎 𝜋 2𝜋 𝒌𝒙
− − + +
𝑎 𝑎 𝑎 𝑎
𝑮
1. Brillouin-Zone

Abb. 8.1: Überlagerung von k-Werten zur Konstruktion einer Bloch-Welle. Die Punkte stellen die auf-
grund der Randbedingungen erlaubten k-Zustände im eindimensionalen k-Raum dar.

Wir sehen, dass jedes der N Gleichungssysteme eine Lösung liefert, die eine Superposition
von ebenen Wellen mit Wellenvektoren k darstellt, die sich nur um reziproke Gittervekto-
ren G unterscheiden. Das bedeutet, dass sich auch die Wellenfunktion Ψk (r) in unserem
Ansatz (8.1.6) nur aus Wellenvektoren zusammensetzt, die sich um reziproke Gittervekto-
ren unterscheiden. Wir können deshalb die Summe über alle k in (8.1.6) durch eine Summe
über alle reziproken Gittervektoren G ersetzen und erhalten
Ψk (r) = ∑ C k−G e ı(k−G)⋅r , (8.1.13)
G

wobei jetzt k ein Wellenvektor aus der 1. Brillouin-Zone ist. Wir können deshalb Folgendes8
festhalten:

∎ Die Eigenwerte E der Schrödinger-Gleichung können durch die möglichen Wellenvek-


toren k aus der 1. Brillouin-Zone indiziert werden: E k = E(k).
∎ Da es zu jedem k-Vektor aus der 1. Brillouin-Zone aber unendlich viele Lösun-
gen E n (k) = E(k + Gn ) gibt, wobei Gn der zum Energieeigenwert E n gehörige reziproke
Gittervektor ist, brauchen wir eine weitere Zahl zur Klassifizierung, nämlich den Band-
index n, um diese Lösungen durchzunummerieren. Die Durchnummerierung wird
üblicherweise nach der Größe vorgenommen:
E 1 (k) ≤ E 2 (k) ≤ E 3 (k) ≤ . . . ≤ E n (k) ≤ E n+1 (k) ≤ . . . (8.1.14)

8.1.1 Bloch-Wellen im Ortsraum


Gleichung (8.1.10) liefert uns einen Satz von Koeffizienten C k , für welche die Schrödin-
ger-Gleichung erfüllt ist. Mit diesem Satz erhalten wir die zu E k gehörige Wellenfunktion
aus (8.1.6) zu
Ψk (r) = ∑ C k−G e ı(k−G)⋅r (8.1.15)
G

oder
Ψk (r) = ∑ C k−G e−ıG⋅r ⋅ e ık⋅r = u k (r)e ık⋅r . (8.1.16)
G

Dies ist eine von insgesamt N Lösungen der Schrödinger-Gleichung. In Abb. 8.1 ist gezeigt,
welche Wellenvektoren zu dieser Lösung überlagert werden. Die Funktion u k (r), die wir
8.1 Bloch-Elektronen 321

in (8.1.16) eingeführt haben, ist eine Fourier-Reihe über reziproke Gittervektoren G und
besitzt damit die Periodizität des Gitters.
Wir haben also gezeigt, dass die Lösung der Einelektronen-Schrödinger-Gleichung für ein
periodisches Potenzial als eine gitterperiodisch modulierte ebene Welle

Ψk (r) = u k (r)e ık⋅r mit u k (r) = u k (r + R) . (8.1.17)


geschrieben werden kann. Dieses Ergebnis ist als Bloch-Theorem bekannt:

Die Eigenfunktionen der Schrödinger-Gleichung für ein periodisches Potenzial sind durch
das Produkt von ebenen Wellen e ık⋅r mit einer gitterperiodischen Funktion u k (r) = u k (r +
R) gegeben.

Die Wellenfunktionen (8.1.17) werden als Bloch-Wellen bezeichnet. Die Konstruktion einer
Bloch-Welle aus einer ebenen Welle, die durch eine gitterperiodische Funktion moduliert
wird, ist in Abb. 8.2 gezeigt.
𝒖𝒌 𝒙

𝒙
𝐑𝐞 𝐞𝒊𝒌𝒙

𝒙
𝐑𝐞 𝚿 𝒙

Abb. 8.2: Konstruktion einer Blochwelle


Ψk (x) = u k (x)e ı k x für ein eindimensio-
ıkx
𝒙 nales Gitter aus einer ebenen Welle e ,
die mit einer gitterperiodischen Funkti-
on u k (x) moduliert ist.

8.1.2 Bloch-Wellen im k-Raum 10

Anstatt die Bloch-Welle als eine Funktion im Ortsraum aufzufassen, können wir sie wegen
ihrer Abhängigkeit vom Wellenvektor k auch als eine Funktion im Impulsraum ansehen.
Sie ist dann allerdings nur innerhalb der ersten Brillouin-Zone definiert. Analog zu (8.1.15)
können wir die Bloch-Welle als eine Fourier-Reihe
1
Ψ(k, r) = ⌋︂ ∑ c R (r)e ıR⋅k (8.1.18)
N R
schreiben, wobei die Summation jetzt über alle Gittervektoren R erfolgt und der Faktor ⌋︂1N
zur Normierung dient. Für die Fourier-Koeffizienten c R gilt wegen des diskreten Charakters
der erlaubten k Werte
1
c R (r) = ⌋︂ ∑ Ψ(k, r)e−ık⋅R (8.1.19)
N k
322 8 Energiebänder

oder mit Hilfe von Ψk (r) = Ψ(k, r) = u k (r)e ık⋅r


1
c R (r) = ⌋︂ ∑ u k (r)e ık⋅(r−R) . (8.1.20)
N k

Wir sehen, dass die Koeffizienten c R von der relativen Lage (r − R) der Elektronen zu den
einzelnen Gitteratomen abhängen. Man bezeichnet die Funktionen
1
w(r − R) = c R (r) = ⌋︂ ∑ u k (r)e ık⋅(r−R) (8.1.21)
N k

als Wannier-Funktionen und erhält mit ihnen

1
Ψ(k, r) = ⌋︂ ∑ e ık⋅R w(r − R) . (8.1.22)
N R

Während also die Eigenfunktionen Ψk (r) in Blochscher Darstellung an eine Beschreibung


der Kristallelektronen durch ebene Wellen angelehnt ist, wird bei einer Darstellung unter
Benutzung der Wannier-Funktionen die Wellenfunktion Ψ(k, r) aus Funktionen aufgebaut,
die den einzelnen Gitteratomen zugeordnet sind und nur an der Position dieser Gitteratome
große Werte annehmen. In manchen Fällen kann man für die Wannier-Funktionen in guter
Näherung die Eigenfunktionen der Elektronen von isolierten Atomen verwenden.

8.1.3 Der Kristallimpuls


Die Periodizität des Gitterpotenzials hat weitere Konsequenzen, die direkt aus den Eigen-
schaften der Bloch-Wellen abgeleitet werden können. Aus (8.1.17) und (8.1.16) folgt mit ei-
ner Umbenennung G′′ = G′ − G der reziproken Gittervektoren:

′ ′′
Ψk+G (r) = ∑ C k+G−G′ e−ıG ⋅r e ı(k+G)⋅r = (∑ C k−G′′ e−ıG ⋅r ) e ık⋅r = Ψk (r) . (8.1.23)
G′ G′′

Das heißt, es gilt

Ψk+G (r) = Ψk (r) . (8.1.24)

Bloch-Wellen, deren Wellenvektoren sich also um einen reziproken Gittervektor G unter-


scheiden, sind identisch. Dieser Sachverhalt zeigt, dass ħk nicht wie bei ebenen Wellen als
Impuls p aufgefasst werden kann, da die Wellenzahl offensichtlich nicht eindeutig definiert
ist.
Da k nicht eindeutig definiert ist, bedarf es einer weiteren Konvention, um den Index k ei-
ner Bloch-Welle festzulegen. Es liegt nahe, k immer aus der ersten Brillouin-Zone zu wählen.
Sollte k′ nicht in der 1. Brillouin-Zone liegen, so gibt es immer einen reziproken Gittervek-
tor G, so dass

k = k′ + G (8.1.25)
8.1 Bloch-Elektronen 323

in der 1. Brillouin-Zone liegt. Die zugehörigen Bloch-Wellen sind nach (8.1.24) identisch. Es
ist allerdings zu beachten, dass durch die Reduktion der Wellenvektoren auf die 1. Brillouin-
Zone einem bestimmten k-Wert mehrere Energiewerte zugeordnet werden (siehe hierzu
Abb. 8.4 und 8.5).
Um den Unterschied zwischen freien Elektronen, die wir mit ebenen Wellen beschreiben
können, und Kristallelektronen, die wir mit Bloch-Wellen beschreiben, zu verdeutlichen,
lassen wir den Impulsoperator ⧹︂
p = ħı ∇ auf beide Wellenfunktionen wirken. Für freie Elek-
tronen erhalten wir
ħ
⧹︂
pΨ = ∇ (e ık⋅r ) = ħke ık⋅r = ħkΨ . (8.1.26)
ı
Wir sehen also, dass p = ħk der Eigenwert des Impulsoperators ist, die ebenen Wellen sind
also Impulseigenzustände.
Für Bloch-Elektronen erhalten wir
ħ ħ
⧹︂
pΨ = ∇ (u k (r)e ık⋅r ) = ħkΨk + e ık⋅r ∇u k (r) ≠ const ⋅ Ψk . (8.1.27)
ı ı
Die Bloch-Wellen sind also keine Eigenzustände des Impulsoperators.
Wir müssen also den Wellenvektor k als Kristallimpuls, also einen verallgemeinerten Im-
puls im periodischen Medium auffassen, ähnlich wie wir es bei den Phononen getan haben
(vergleiche Abschnitt 5.4.3). Dies trägt der Tatsache Rechnung, dass der Kristall keine allge-
meine, sondern nur eine diskrete Translationsinvarianz besitzt. Der Impuls ist deshalb nicht
streng, sondern nur bis auf einen reziproken Gittervektor erhalten. Mit dem Kristallimpuls
können wir die Gruppengeschwindigkeit einer Welle Ψn,k angeben. Während diese für freie
Elektronen durch vk = ħkm
gegeben war, erhalten wir für die Kristallelektronen

1 ∂E n (k) ∂ω n (k)
vn,k = = . (8.1.28)
ħ ∂k ∂k

Die Geschwindigkeit der Bloch-Elektronen wird also durch die k-Abhängigkeit der Energie-
eigenwerte E n (Dispersionsrelation) bestimmt, deren Eigenschaften wir im Folgenden näher
diskutieren.

8.1.4 Dispersionsrelation und Bandstruktur


Die Schrödinger-Gleichung liefert für jeden erlaubten k-Wert (innerhalb der 1. Brillouin-
Zone) einen Satz von Eigenenergien E n (k), die wir mit dem Bandindex n durchnumme-
rieren. Da wir für jedes k einen anderen Satz von E n (k) erhalten, ergeben sich aus der Schrö-
dinger-Gleichung Funktionen E n (k), welche die Energieeigenwerte repräsentieren. Ein Bei-
spiel ist in Abb. 8.3 gezeigt. Wir wollen im Folgenden einige allgemeine Eigenschaften der
Funktionen E n (k) diskutieren, die wir als Bandstruktur bezeichnen.
324 8 Energiebänder

𝑬𝟑 𝒌 𝒏=𝟑
3. Band

Bandlücke
Abb. 8.3: Qualitatives Bild der Ener- 𝑬𝟐 𝒌
2. Band 𝒏=𝟐
giebänder E n (k) für eine bestimmte
Kristallrichtung. Die Energiebänder sind Bandlücke
durch Energielücken getrennt (Hinweis:
Das Auftreten von Minima oder Maxi- 1. Band 𝑬 𝒌 𝒏=𝟏
𝟏
ma an Stellen k ≠ 0 oder k ≠ π⇑a ist im
eindimensionalen Fall nicht möglich). −𝝅/𝒂 𝟎 +𝝅/𝒂 𝒌𝒙

8.1.4.1 Allgemeine Eigenschaften von En (k)


Für die Funktionen E n (k) können wir einige allgemeine Eigenschaften angeben, die alleine
aus der Periodizität des Gitterpotenzials folgen. Aus der Schrödinger-Gleichung erhalten wir
für die Zustände k und k + Gn :

ℋΨk (r) = E n (k)Ψk (r) (8.1.29) 11

ℋΨk+G n (r) = E(k + Gn )Ψk+G n (r) . (8.1.30)

Zusammen mit (8.1.24) erhalten wir dann

ℋΨk (r) = E(k + Gn )Ψk (r) (8.1.31)

und somit durch Vergleich mit (8.1.29)

E n (k) = E(k + Gn ) . (8.1.32)

Wir sehen also Folgendes:

∎ Die Energieeigenwerte E n (k) sind periodische Funktionen der Quantenzahlen k, also


der Wellenvektoren der Bloch-Wellen. Es ist ausreichend, sich auf den Bereich der
1. Brillouin-Zone zu beschränken.
∎ Aus Gleichung (8.1.32) folgt außerdem, dass die Funktion E n (k) beschränkt ist. Die
Energien der Funktion E n (k) für einen bestimmten Index n überdecken also nur einen
endlichen Bereich, wir sprechen von einer endlichen Bandbreite und bezeichnen E n (k)
als Energieband. Dadurch wird auch klar, wieso wir den Index n als Bandindex bezeich-
net haben.
∎ Die verschiedenen Bänder sind durch verbotene Bereiche, die Energie- oder Bandlücken
voneinander getrennt.6

Ohne Beweis wollen wir zwei weitere Eigenschaften von E n (k) angeben (siehe hierzu An-
hang E):

6
Es kann aber auch ein Überlapp der Energiebänder auftreten: E n (k) = E n+1 (k′ ), k ≠ k′ .
8.1 Bloch-Elektronen 325

∎ Falls das Potenzial Inversionssymmetrie besitzt, d. h. V (r) = V (−r), so gilt

E n (k) = E n (−k) . (8.1.33)

n (k)
Hieraus folgt sofort ∂E∂k ⨄︀ = 0 falls E n (k) bei k = 0 differenzierbar ist. Wir erhalten
k=0
also für jede Richtung von k ein Minimum oder Maximum.
∎ Für ein allgemeines Potenzial gilt

E n (k, ↑) = E n (−k, ↓) . (8.1.34)

Dies ist die so genannte Kramers-Entartung. Sie folgt aus der Zeitumkehrinvarianz des
Hamilton-Operators (ohne Magnetfeld).7

Wir sehen, dass wir durch die Berücksichtigung eines periodischen Gitterpotenzials Ener-
giebänder erhalten. Der genaue funktionale Verlauf der Dispersion E n (k) in diesen Bändern
bestimmt zusammen mit der Phononen-Dispersion und der Elektron-Phononwechselwir-
kung maßgeblich die physikalischen Eigenschaften von Festkörpern. Ähnlich zur Spektro-
skopie der Energieniveaus einzelner Atome kann man die elektronische Bandstruktur von
Festkörpern mit Hilfe von spektroskopischen Methoden bestimmen. Die theoretische Be-
rechnung und experimentelle Bestimmung der Bandstruktur nimmt in der modernen Fest-
körperphysik breiten Raum ein.

8.1.5 Reduziertes Zonenschema


Um sich das allgemeine Konzept von elektronischen Bändern klar zu machen, ist es instruk-
tiv, den Fall eines verschwindend kleinen periodischen Potenzials, also völlig freier Elektro-
nen zu betrachten. In diesem Fall verschwinden in (8.1.4) alle Fourier-Koeffizienten VG , wir
müssen aber trotzdem die oben diskutieren Symmetrieanforderungen berücksichtigen. Die
allgemeine Forderung nach räumlicher Periodizität erfordert gemäß (8.1.32), dass die mög-
lichen Elektronenzustände nicht auf eine einzige Parabel im k-Raum beschränkt sind, son-
dern mit gleicher Wahrscheinlichkeit auf Parabeln gefunden werden können, die um einen
beliebigen reziproken Gittervektor Gn verschoben sind. Es gilt:

ħ2 k 2 ħ2
E n (k) = = E(k + Gn ) = ⋃︀k + Gn ⋃︀2 . (8.1.35)
2m 2m
Für den eindimensionalen Fall, für den Gn = G = h ⋅ 2π a
(h = ganze Zahl) gilt, ist dieser Sach-
verhalt in Abb. 8.4a dargestellt. Da E n (k) periodisch im k-Raum ist, ist es ausreichend, diese
Abhängigkeit in der ersten Brillouin-Zone darzustellen. Dies können wir einfach dadurch er-
halten, indem wir die interessierende Parabel um ein geeignetes Vielfaches von 2π a
verschie-
ben. Wir gelangen auf diese Weise zum reduzierten Zonenschema, das in Abb. 8.4b gezeigt
ist. In Abb. 8.4b erhalten wir den Kurventeil 3, indem wir 3′ um G 3 = +2π⇑a verschieben.
Den Kurventeil 2 erhalten wir, indem wir 2′ um G 2 = −2π⇑a verschieben.

7
Zeitumkehrtransformation: t → −t, p → −p, ↑→↓, siehe Anhang E.2.
326 8 Energiebänder

(a) 𝑬

−𝟒𝝅/𝒂 −𝟐𝝅/𝒂 𝟎 +𝟐𝝅/𝒂 +𝟒𝝅/𝒂 𝒌𝒙

𝑬
(b)
𝑮𝟑 𝑮𝟐
Abb. 8.4: (a) Parabolische
Energiebänder für ein freies 𝟑′ → 𝟑
Elektron in einer Dimen- 𝟑′ 𝟐 𝟑 𝟐′
sion. Die Gitterperiode im 𝟐′ → 𝟐
realen Raum ist a. (b) Re-
duziertes Zonenschema. 𝑬𝟐 𝒌 𝑬𝟏 𝒌 𝑬𝟑 𝒌
Die 1. Brillouin-Zone 𝟏
ist blau hinterlegt. −𝟐𝝅/𝒂 −𝝅/𝒂 𝟎 +𝝅/𝒂 +𝟐𝝅/𝒂 𝒌𝒙
14

Es ist wichtig festzuhalten, dass bei Elektronenwellen im Festkörper kein Grund dafür be-
steht, den Wellenvektor auf die 1. Brillouin-Zone zu beschränken. Im Gegensatz zu den Git-
terschwingungen, bei denen wir die Bewegung diskreter Gitterpunkte beschrieben haben
und deshalb Wellenvektoren außerhalb der ersten Brillouin-Zone physikalisch nicht sinnvoll
waren, sind Elektronenwellen überall im Festkörper definiert. Trotzdem ist es oft zweckmä-
ßig, auch bei Elektronenwellen für die Wellenvektoren nur Werte aus der 1. Brillouin-Zone
zu verwenden, da wir ja zu einem k′ außerhalb der 1. Brillouin-Zone immer einen rezipro-
ken Gittervektor G finden können, so dass k = k′ + Gn wieder in der 1. Brillouin-Zone liegt
und Ψ(k′ ) = Ψ(k) gilt.
Wir wollen nun noch den dreidimensionalen Fall für ein einfach kubisches Gitter mit Git-
terkonstante a betrachten. Für die reziproken Gittervektoren schreiben wir:
2π 2π 2π
Gn = h ⧹︂
x + k ⧹︂y + ℓ ⧹︂z, (8.1.36)
a a a
wobei h, k, ℓ die Millerschen Indizes sind. Für die Dispersion ergibt sich

ħ2 ħ2 2π 2 2π 2 2π 2
E n (k) = ⋃︀k + Gn ⋃︀ = ⌊︀(k x + h ) + (k y + k ) + (k z + ℓ ) }︀ ,
2
2m 2m a a a
(8.1.37)

wobei k + Gn innerhalb der 1. Brillouin-Zone liegen muss. Wir berechnen nun E(k) in
ħ2
[100]-Richtung in Einheiten von 2m . Das Ergebnis ist in Tabelle 8.1 dargestellt.
Tragen wir die Dispersion E n (k x , 0, 0) auf, so erhalten wir das in Abb. 8.5 gezeigte redu-
zierte Zonenschema. In drei Dimensionen sind die E n (k) Bänder bereits komplexer als in
einer Dimension. Dies liegt daran, dass wir jetzt reziproke Gittervektoren Gn in alle drei
Koordinatenrichtungen berücksichtigen müssen.
8.1 Bloch-Elektronen 327

Tabelle 8.1: Dispersionsrelation in [100] Richtung jeweils in Einheiten von ħ 2 ⇑2m.

Bandindex (h, k, ℓ) E n (0, 0, 0) E n (k x , 0, 0)


1 000 0 k x2
( 2π ) (k x + )
2 2π 2
2 100 a a
(a)2π 2
(k x − 2π )
2
3 100 a
( 2π ) k x2 + ( 2π )
2 2
4,5,6,7 010, 010, 001, 001 a a
2 ⋅ ( 2π ) (k x + 2π ) + ( 2π )
2 2 2
8,9,10,11 110, 110, 101, 101 a a a
12,13,14,15 110, 110, 101, 101 2⋅( a )
2π 2
(k x − a ) + ( a )
2π 2 2π 2

2 ⋅ ( 2π ) k x2 + 2 ⋅ ( 2π )
2 2
16,17,18,19 011, 011, 011, 011 a a

𝑬 16,17,18,19

8,9,10,11 12,13,14,15

4,5,6,7

2 3

Abb. 8.5: Reduziertes Zonenschema für ein freies Elektronengas in


1
einem einfach kubischen Gitter mit Gitterkonstante a. Dargestellt
−𝝅/𝒂 𝟎 +𝝅/𝒂 𝒌𝒙 ist E n (k) nur entlang k x innerhalb der 1. Brillouin-Zone.

In Abb. 8.6 sind die verschiedenen Darstellungen der Dispersion E n (k) nochmals neben-
einander gezeigt. Wir unterscheiden zwischen dem ausgedehnten Zonenschema, dem redu-
zierten Zonenschema und dem periodischen Zonenschema.
16

(a) 𝑬 (b) 𝑬 (c) 𝑬

𝟐𝝅 𝝅 𝟎 + 𝝅 + 𝟐𝝅 𝝅 𝟎 + 𝝅 − 𝟑𝝅 𝝅 𝟎 +𝝅 𝟑𝝅
− − − − +
𝒂 𝒂 𝒂 𝒂 𝒂 𝒂 𝒂 𝒂 𝒂 𝒂
𝒌𝒙 𝒌𝒙 𝒌𝒙

Abb. 8.6: Ausgedehntes


ausgedehntes reduziertes
(a), reduziertes (b) periodisches(c) freier Elektronen in
und periodisches Zonenschema
einer Dimension. Zonenschema Zonenschema Zonenschema

17
328 8 Energiebänder

8.2 Die Näherung fast freier Elektronen


Wir wollen nun die Diskussion aus Abschnitt 8.1.5, wo wir ein gitterperiodisches Potenzial
mit verschwindender Amplitude angenommen haben, auf den Fall eines schwachen periodi-
schen Potenzials ausdehnen. In diesem Fall können wir von einem konstanten Potenzial V0
für alle Kristallelektronen ausgehen (wir werden dies im Folgenden gleich null setzen, da es
nur eine Verschiebung des Energienullpunkts bewirkt) und die durch die Gitterperiodizi-
tät bedingten Abweichungen als Störung betrachten. Es ist dann nach wie vor sinnvoll, von
ebenen Wellen auszugehen und den Effekt des periodischen Gitterpotenzials störungstheo-
retisch zu behandeln. Wir wollen zunächst mit einer qualitativen Diskussion des Problems
beginnen, um die zugrundeliegende Physik zu verstehen. Dazu schalten wir das gitterperi-
odische Potenzial V beginnend von V = 0 langsam ein und untersuchen, wie sich die Di-
spersion E = ħ 2 k 2 ⇑2m freier Elektronen dabei ändert.

8.2.1 Qualitative Diskussion


Wir haben gesehen (siehe Abb. 8.4), dass wir für das oben diskutierte eindimensionale Pro-
blem für V = 0 eine Entartung der Energieeigenwerte an den Rändern der 1. Brillouin-Zone,
d. h. bei k = k x = ± 12 G 1 = ± πa erhalten, wo sich die Parabeln schneiden. Wir bezeichnen im
Folgenden den kürzesten reziproken Gittervektor G1 mit g. Am Rand der 1. Brillouin-Zone
gilt
2 2 2
k 2 = ( 12 g) (k − g)2 = ( 12 g − g) = (− 12 g) . (8.2.1)

Falls also C k= 12 g ein wichtiger Koeffizient in der Reihenentwicklung (8.1.15) ist, so ist es
auch C k−g = C k=− 12 g . Die Beschreibung der Elektronenzustände als Summe von ebenen Wel-
len ist dann notwendigerweise mindestens eine Überlagerung von zwei ebenen Wellen mit
diesen beiden k-Werten:

Ψ1 (x) = e+ı gx⇑2 = e+ı πx⇑a (8.2.2)


Ψ2 (x) = e−ı gx⇑2 = e−ı πx⇑a . (8.2.3)

Gleichung (8.1.10) impliziert natürlich, dass wir auch G-Werte größer als g = 2π⇑a berück-
2 2
sichtigen müssen. Teilen wir allerdings (8.1.10) durch ( ħ2mk − E), so erhalten wir

∑G VG C k−G
Ck = − . (8.2.4)
( ħ2mk − E)
2 2

Wir sehen also, dass der Koeffizient C k besonders groß wird, wenn E k und E k−G in etwa
gleich ħ 2 k 2 ⇑2m sind, d. h. wenn

ħ2 k 2 ħ2
= (k − G)2 oder k 2 = (k − G)2 (8.2.5)
2m 2m
8.2 Die Näherung fast freier Elektronen 329

gilt. Dies entspricht aber genau der in Kapitel 2 abgeleiteten Laueschen Beugungsbedin-
gung,8 die für alle Elektronenwellen mit Wellenvektoren k auf dem Rand der Brillouin-Zone
erfüllt ist. Der Koeffizient C k−G hat dann etwa die gleiche Größe wie C k . Für k = g⇑2 = π⇑a
entspricht dies dann aber genau dem Fall (8.2.2) und (8.2.3) von zwei ebenen Wellen mit
Wellenvektoren auf dem Rand der 1. Brillouin-Zone. Für Wellenvektoren weit weg vom
Rand der Brillouin-Zonen werden die Entwicklungskoeffizienten C k vernachlässigbar klein.
Physikalisch bedeutet dies, dass für k = ±G⇑2 die von benachbarten Atomen reflektierten
Elektronenwellen konstruktiv interferieren. Wir erhalten dadurch eine in positive x-Rich-
tung laufende Elektronenwelle und eine in negative x-Richtung laufende Bragg-reflektierte
Welle.
Beschränken wir uns wieder auf den kürzesten reziproken Gittervektor G1 = g, so erhal-
ten wir durch symmetrische und antisymmetrische Überlagerung der beiden Wellen (8.2.2)
und (8.2.3) in erster Näherung stehende Wellen
x
Ψ s ∝ (e ı gx⇑2 + e−ı gx⇑2 ) ∝ cos (π ) (8.2.6)
a
−ı gx⇑2 x
Ψ ∝ (e
a ı gx⇑2
−e ) ∝ sin (π ) (8.2.7)
a
mit Nullstellen an bestimmten Raumpositionen. Die zu den stehenden Wellen gehörenden
Wahrscheinlichkeitsdichten sind
x
⋃︀Ψ s ⋃︀2 ∝ cos2 (π ) (8.2.8)
a
x
⋃︀Ψ ⋃︀ ∝ sin (π ) .
a 2 2
(8.2.9)
a
Diese Wahrscheinlichkeitsdichten, die die Elektronendichte im Festkörper angeben, sind in
Abb. 8.7 zusammen mit dem qualitativen Verlauf des Gitterpotenzials dargestellt. Wir sehen,
dass ⋃︀Ψ s ⋃︀2 ein Maximum am Ort der positiven Atomrümpfe besitzt, während ⋃︀Ψ a ⋃︀2 dort gera-
de minimal ist. Im Gegensatz zu einer ebenen Welle, die einer homogenen Elektronendichte

(a) 𝚿𝐬 𝟐

𝒙
(b) 𝚿𝐚 𝟐

Abb. 8.7: Wahrscheinlichkeitsdichte


𝒙 (a) ⋃︀Ψ s ⋃︀2 und (b) ⋃︀Ψ a ⋃︀2 für zwei stehende
(c) 𝑽 Elektronenwellen. In (c) ist die qualitative
𝒙 Form der potenziellen Energie V (x) eines
Elektrons in einem eindimensionalen Gitter
gezeigt.

8
Wir haben in Abschnitt 2.2.3 allgemein hergeleitet, dass jeder Wellenvektor vom Zentrum zum
Rand einer Brillouin-Zone die Beugungsbedingung erfüllt.19 Wir können unsere qualitative Diskus-
sion deshalb auch auf den Rand höherer Brillouin-Zonen ausdehnen.
330 8 Energiebänder

(a) 𝑬 (b) 𝑬

2. Band
freie
Elektronen
Bandlücke

Band-
Elektronen 1. Band

−𝝅/𝒂 𝟎 +𝝅/𝒂 𝒌𝒙 −𝝅/𝒂 𝟎 +𝝅/𝒂 𝒌𝒙

Abb. 8.8: Zur Entstehung der Energielücke am Rand der Brillouin-Zone durch stehende Elektronen-
wellen. Die erste Brillouin-Zone ist farbig hinterlegt. (a) ausgedehntes Zonenschema, (b) reduziertes
Zonenschema. Die E(k)-Beziehung für freie Elektronen ist gestrichelt eingezeichnet.

entspricht, besitzt somit Ψ s eine niedrigere potenzielle Energie, da die bevorzugte Aufent-
20

haltswahrscheinlichkeit am Ort der positiven Atomrümpfe in einer verstärkten attraktiven


Wechselwirkung mit den positiven Atomrümpfen resultiert. Für Ψ a ist dies gerade umge-
kehrt. Diese Erhöhung und Erniedrigung der potenziellen Energie der beiden Zustände Ψ s
und Ψ a am Zonenrand führt zu einer Energielücke (siehe Abb. 8.8). Da die Ausbreitungsge-
schwindigkeit der stehenden Wellen verschwindet, muss am Zonenrand ∂E ∂k
= 0 gelten, das
heißt, die Funktion E(k) muss am Zonenrand eine waagrechte Tangente besitzen, wie es in
Abb. 8.8 gezeigt ist.
Wir können die zugrundeliegende Physik wie folgt zusammenfassen: Bragg-Reflexion von
Elektronenwellen mit Wellenvektoren auf dem Rand der Brillouin-Zonen führt zur Ausbil-
dung von stehenden Wellen. Die beiden möglichen Lösungen haben unterschiedliche Ener-
gie, je nachdem ob die Elektronendichte an der Position der positiven Atomrümpfe oder
dazwischen maximal ist. Nach dieser qualitativen Diskussion wollen wir im nächsten Ab-
schnitt die Energieaufspaltung nahe am Zonenrand quantitativ berechnen.

8.2.2 Quantitative Diskussion


Für unsere Rechnung beginnen wir mit der Schrödinger-Gleichung im k-Raum (8.1.10).
In (8.1.10) kann ein Wellenvektor k′ beliebige durch die Randbedingungen erlaubte Werte
annehmen. Wir können aber immer einen reziproken Gittervektor G finden, so dass der
Wellenvektor k = k′ + G wieder in der 1. Brillouin-Zone liegt. Mit dieser Translation um
den reziproken Gittervektor G ergibt sich aus (8.1.10)

ħ2
(E − ⋃︀k − G⋃︀2 ) C k−G = ∑ VG′ C k−G−G′ = ∑ VG′′ −G C k−G′′ , (8.2.10)
2m G′ G′′

wobei wir k′ = k − G benutzt haben und die Umbenennung G′′ = G′ + G vorgenommen ha-
ben. Falls das Gitterpotenzial verschwindet, erhalten wir daraus

ħ2
(E − ⋃︀k − G⋃︀2 ) C k−G = 0 . (8.2.11)
2m
8.2 Die Näherung fast freier Elektronen 331

Das heißt, es muss entweder die Klammer null sein, was nur für ein bestimmtes G mög-
lich ist, oder es müssten alle C k−G = 0 sein. Aus (8.1.15) erhalten wir dann Ψk−G (r) =
C k−G e ı(k−G)⋅r , also wie erwartet eine ebene Welle.
Wir wollen hier keine ausführliche Analyse von Gleichung (8.2.10) vornehmen.9 Wir wollen
zunächst einen Teil des Gleichungssystems (8.2.10) explizit für ein eindimensionales System
ausschreiben. Wir können hier die reziproken Gittervektoren als ein Vielfaches eines kür-
ħ2
zesten Vektors g schreiben. Mit der Abkürzung λ k−g = 2m ⋃︀k − g⋃︀2 erhalten wir dann

... +... +... +... +... +... +... +... =0


(λ k−2g − E) C k−2g +... +V−2g C k +V−g C k−g +V0 C k−2g +Vg C k−3g +V2g C k−4g +... =0
(λ k−g − E) C k−g +... +V−2g C k+g +V−g C k +V0 C k−g +Vg C k−2g +V2g C k−3g +... =0
(λ k − E) C k +... +V−2g C k+2g +V−g C k+g +V0 C k +Vg C k−g +V2g C k−2g +... =0
(λ k+g − E) C k+g +... +V−2g C k+3g +V−g C k+2g +V0 C k+g +Vg C k +V2g C k−g +... =0
(λ k+2g − E) C k+2g +... +V−2g C k+4g +V−g C k+3g +V0 C k+2g +Vg C k+g +V2g C k +... =0
... +... +... +... +... +... +... +... =0
(8.2.12)
Ein Block der Determinante der Koeffizienten sieht dann wie folgt aus

(λ k−2g + V0 − E) V−g V−2g V−3g V−4g


Vg (λ k−g + V0 − E) V−g V−2g V−3g
V2g Vg (λ k + V0 − E) V−g V−2g .
V3g V2g Vg (λ k+g + V0 − E) V−g
V4g V3g V2g Vg (λ k+2g + V0 − E)
(8.2.13)
Die Koeffizienten Vg der Fourier-Reihe nehmen für ein Coulomb-Potenzial mit 1⇑G 2
ab, weshalb in der Reihenentwicklung meist nach wenigen Termen abgebrochen werden
kann. Wir wollen in unserer Näherungsbetrachtung vereinfachend annehmen, dass wir
das periodische Potenzial mit nur einer einzigen Fourier-Komponente Vg gut beschreiben
können und berücksichtigen ferner in der Summe ∑G′′ nur die größten Koeffizienten C k
und C k−g . Schließlich können wir für kleine Störungen für die Berechnung der Koef-
fizienten C k und C k−g zunächst den wahren Eigenwert E durch die Energie des freien
Elektrons V0 + ħ 2 k 2 ⇑2m annähern. Wir erhalten dann nur zwei Gleichungen
ħ2 2
( k − E) C k + V0 C k + Vg C k−g = 0 (8.2.14)
2m

ħ2
( ⋃︀k − g⋃︀2 − E) C k−g + V0 C k−g + V−g C k = 0 . (8.2.15)
2m
ħ2 k 2
Aus (8.2.15) folgt mit E ≃ V0 + 2m

V−g C k
C k−g = . (8.2.16)
ħ2
2m
(k 2 − ⋃︀k − g⋃︀2 )
9
siehe hierzu z. B. Festkörperphysik, N. W. Ashcroft, N. D. Mermin, Oldenbourg Verlag, München
(2012).
332 8 Energiebänder

3 3
2 G2

3 k G1 3

2 -G1 2
1 G3
Abb. 8.9: Zur Konstruktion der ersten
3 k-G1 3
drei Brillouin-Zonen eines quadrati-
schen Gitters im zweidimensionalen k- 2
Raum. Die gestrichelten Vektoren verdeut- 3 3
lichen die Beugungsbedingung (8.2.18).

Wir sehen, dass C k−g nur dann große Werte annimmt, wenn der Nenner in (8.2.16) sehr
klein wird, das heißt für

k 2 ≃ ⋃︀k − g⋃︀2 . (8.2.17)

Wie oben bereits erwähnt, ist diese Bedingung identisch zur Bragg-Bedingung. Wir erhalten
also die stärkste Störung der Flächen konstanter Energie (Kugeln im k-Raum für freie Elek-
tronen) durch das gitterperiodische Potenzial an den Stellen, an denen die Bragg-Bedingung
erfüllt ist. Wie wir bereits in Abschnitt 2.2.3 diskutiert haben, ist dies genau für k-Vektoren
vom Zentrum zum Rand der Brillouin-Zonen der Fall, die zum Vektor −Gn gehören. Dies
ist in Abb. 8.9 für ein quadratisches zweidimensionales Gitter veranschaulicht. Bei der Kon-
struktion der Brillouin-Zonen wird jedem Vektor des reziproken Gitters eine Ebene zuge-
ordnet, die in der Mitte des betreffenden Vektors senkrecht auf ihm steht und eine Begren-
zungsfläche einer Brillouin-Zone bildet. Sämtliche Brillouin-Zonen haben das gleiche Vo-
lumen. Durch eine einfache Umformung erhalten wir aus (8.2.17) für die 1. Brillouin-Zone
(G1 = g)

g g 2
k⋅ = ⋀︀ ⋀︀ . (8.2.18)
2 2
Wir sehen also, dass nur für k-Werte auf dem Rand der 1. Brillouin-Zone und ihrer un-
mittelbaren Umgebung außer dem Koeffizienten C k noch ein weiterer Koeffizient C k−g hin-
reichend groß wird. Für alle anderen k-Werte können wir dagegen sämtliche Koeffizien-
ten C k−G n für Gn ≠ 0 vernachlässigen.
Das Gleichungssystem (8.2.14) und (8.2.15) besitzt genau dann Lösungen, wenn die Deter-
minante
∫︀∫︀∫︀ ħ 2 2 ∫︀∫︀∫︀
∫︀∫︀∫︀( 2m k + V0 − E) Vg ∫︀∫︀∫︀
∫︀∫︀∫︀ ∫︀∫︀ = 0 (8.2.19)
∫︀∫︀∫︀ ( 2m ⋃︀k − g⋃︀ + V0 − E)∫︀∫︀∫︀∫︀
2
ħ 2
V−g
∫︀ ∫︀
8.2 Die Näherung fast freier Elektronen 333

2.0
2. Band

1.5 𝑬𝒂

1. Brillouin-Zone
1.0 Abb. 8.10: Verlauf der Dispersion am
𝟐 𝑽𝒈
E

freies Rand der 1. Brillouin-Zone. Ebenfalls


Elektron eingezeichnet ist die Dispersion freier
0.5 𝑬𝒔 Elektronen. Der Abstand des oberen
1. Band und unteren Bandes an der Zonen-
grenze beträgt 2⋃︀Vg ⋃︀. Der Wert von
0.0
⋃︀Vg ⋃︀ wurde übertrieben groß gewählt,
0.0 0.5 1.0 1.5 um die Darstellung übersichtlich zu
2k / g machen.
23

2
ħ2
verschwindet. Mit der Energie E k0 = V0 + 2m
ħ
k 2 und E k−g
0
= V0 + 2m
⋃︀k − g⋃︀2 der freien Elek-
tronen können wir die beiden Lösungen wie folgt ausdrücken:10
}︂
1 0 1 0 2
E = (E k−g + E k ) ±
a,s 0
(E − E k0 ) + ⋃︀Vg ⋃︀2 . (8.2.20)
2 4 k−g
Jede der beiden Wurzeln beschreibt ein Energieband. Dies ist analog zum bindenden und
anti-bindenden Orbital bei der kovalenten Bindung. Die beiden Bänder sind in Abb. 8.10
2 2
geplottet. Am Rand der ersten Brillouin-Zone, wo E k−g 0
= E k0 = ħ2mk + V0 und der Beitrag
der beiden Wellen mit C k und C k−g gleich ist, erhalten wir die Energielücke
E g = E a − E s = 2⋃︀Vg ⋃︀ . (8.2.21)
Die Energielücke ist also durch das Zweifache der Fourier-Komponente Vg des Gitterpoten-
zials gegeben.
Wir wollen jetzt noch überlegen, wie die Wellenfunktion Ψ = C k e ık⋅r + C k−g e ı(k−g)⋅r in der
Nähe des Zonenrandes aussieht. Hierzu setzen wir die beiden Energieeigenwerte E ± in Glei-
chung (8.2.14) und (8.2.15) ein, um die Koeffizienten C k und C k−g zu bestimmen. Auf dem
Rand der 1. Brillouin-Zone, also für k = 12 g, erhalten wir
C k−g E 0 ± ⋃︀Vg ⋃︀ − E k0
⋀︀ = k = ±1 , (8.2.22)
C k k=g⇑2 Vg
so dass die Fourier-Entwicklung von Ψ(x) durch
Ψ a,s (x) = (e ı gx⇑2 ± e−ı gx⇑2 ) (8.2.23)
gegeben ist, was identisch zu (8.2.6) und (8.2.7) ist. Am Rand der Brillouin-Zone ist die
Wellenfunktion also eine symmetrische oder antisymmetrische Überlagerung der ungekop-
pelten Wellenfunktionen. Welche Überlagerung die niedrigere Energie hat, hängt vom Vor-
zeichen von Vg ab. Ist Vg negativ (attraktive Wechselwirkung zwischen Elektronen und po-
sitiven Atomrümpfen), so ist C k−g ⇑C k für das unten liegende Band mit dem Eigenwert E s
10
Da das Potenzial V (r) reell ist, muss für die Fourier-Koeffizienten V−g = Vg∗ gelten und wir erhal-
ten Vg V−g = Vg Vg∗ = ⋃︀Vg ⋃︀2 .
334 8 Energiebänder

𝑬
4. Band

freie
1. Brillouin Bandlücke
Elektronen
Zone

3. Band

Abb. 8.11: Dispersionskur- Bandlücke


ven E(k) für ein eindimen-
sionales Gitter mit Gitter- 2. Band
konstante a im periodischen Bandlücke
Zonenschema. Gestrichelt ein- 1. Band
gezeichnet ist die Dispersions- -6 -4 -2 0 2 4 6
kurve von freien Elektronen. k (/a)
25

positiv. Das heißt, die Wellenfunktion zu diesem Eigenwert ist die symmetrische Überlage-
rung (wir haben diesem Energieeigenwert deshalb den Index s gegeben). Wir wollen noch
darauf hinweisen, dass C k−g ⇑C k = ±1 nur auf dem Zonenrand gilt. Nur hier tragen beide
ungekoppelten Wellenfunktionen mit gleichem Gewicht zur Wellenfunktion bei. Entfernen
wir uns vom Zonenrand, so ändert sich das Verhältnis rasch. Ein Entwicklungskoeffizient
nimmt auf eins zu, der andere auf null ab. Im benachbarten Band ist das Verhalten der Ent-
wicklungskoeffizienten genau gegenläufig.
Wir können die Energie E a,s nach dem Wellenvektor Q = k − 12 g entwickeln, der die Diffe-
renz des Wellenvektors k von der Zonengrenze angibt. Wir erhalten

⧸︂ ħ 2 ( 1 g)2 2 2
ħ 2
1 2
⧸︂
⟩ ħ Q
E (Q) =
a,s
(( g) + Q ) ±
2
4 2
+ ⋃︀Vg ⋃︀2
2m 2 2m 2m
⎨ 2 ⎬
ħ2 1 2 ⎝ ħ 2 ( 12 g) ħ 2 Q 2 ⎠
≃ (( g) + Q 2 ) ± ⋃︀Vg ⋃︀ ⎝⎝1 + 2 ⎠
2m⋃︀Vg ⋃︀2 2m ⎠⎠
(8.2.24)
2m 2 ⎝
⎪ ⎮
für den Bereich, in dem ħ 2 gQ⇑2m ≪ ⋃︀Vg ⋃︀. Bezeichnen wir die beiden Energiewerte
ħ2 2
2m
( 12 g) ± ⋃︀Vg ⋃︀ für Q = 0, also am Zonenrand, mit E 0a,s , so können wir schreiben
ħ ( 2 g) ⎞
ħ2 Q 2 ⎛
2 1 2
2 2m
E (Q) =
a,s
E 0a,s + ⎜1 ± ⎟. (8.2.25)
2m ⎝ ⋃︀Vg ⋃︀ ⎠

Wir sehen, dass die Energien E a,s (Q) quadratisch von Q abhängen. Die Ableitung ∂E⇑∂Q
verschwindet am Zonenrand (Q = 0), das heißt, wir erhalten am Zonenrand stehende Wellen
in Übereinstimmung mit unserer qualitativen Diskussion.
In Abb. 8.11 ist die Bandstruktur für ein eindimensionales Gitter im periodischen Zonen-
schema gezeigt. Wir sehen, dass durch das periodische Potenzial für Wellenvektoren, die
Vielfachen von π⇑a entsprechen, Energielücken entstehen. In den Bereichen dazwischen
verläuft die Dispersionskurve nahe an derjenigen von freien Elektronen.
8.3 Die Näherung stark gebundener Elektronen 335

Die bis jetzt diskutierte Situation fast freier Elektronen ist sehr gut für die Beschreibung von
Metallen geeignet. Ausgehend von freien Elektronen können wir eine quantitativ immer bes-
sere Beschreibung durch Berücksichtigung einer zunehmenden Zahl von Fourier-Koeffizi-
enten VG in der Entwicklung des periodischen Gitterpotenzials erzielen. Für Isolatoren, in
denen an die Atome gebundene Elektronen vorliegen, ist es allerdings nicht sinnvoll, von
freien Elektronen auszugehen. Diesen Fall werden wir im folgenden Abschnitt diskutieren.

8.3 Die Näherung stark gebundener Elektronen


Wir wollen jetzt den Fall betrachten, dass die Elektronen stark an die einzelnen Atome ge-
bunden sind („tight binding“) und nur wenig von den übrigen Atomen im Kristall beeinflusst
werden. Dies trifft vor allem auf tief liegende Elektronenniveaus (Rumpfelektronen) zu. Für
diese Elektronen spielt das atomare Potenzial die entscheidende Rolle. Deshalb ist es hier
sinnvoll, zunächst von atomaren Wellenfunktionen ϕ A (r) auszugehen, und nicht mehr von
ebenen Wellen e ık⋅r , wie wir dies bei der Näherung quasi-freier Elektronen getan haben. Die
atomaren Wellenfunktionen sind Lösungen der Schrödinger-Gleichung

ℋA (r − R)ϕ Ai (r − R) = E Ai ϕ Ai (r − R) . (8.3.1)

Hierbei ist ϕ Ai (r − R) die atomare Wellenfunktion des i-ten Niveaus des Atoms am Gitter-
platz R, E Ai der zugehörige Energieeigenwert und ℋA ist der Hamilton-Operator

ħ2 2
ℋA (r − R) = − ∇ + VA (r − R) , (8.3.2)
2m
wobei VA (r − R) das atomare Potenzial des Atoms am Gitterplatz R ist. Im Festkörper wer-
den durch Wechselwirkung der Atome untereinander die atomaren Energieniveaus beein-
flusst. Dies ist ähnlich zur kovalenten Bindung (vergleiche Kapitel 3.4), wo die Wechselwir-
kung von zwei atomaren Niveaus zu einer Aufspaltung in ein bindendes und anti-bindendes
Molekülorbital führte. Im Festkörper wechselwirken im Prinzip die atomaren Niveaus von
N Atomen. Diese Wechselwirkung führt zu einem Energieband mit N Zuständen. Da N
üblicherweise sehr groß ist, liegen die Zustände in dem Energieband so dicht, dass wir von
einem Kontinuum ausgehen können.
Ein adäquater Ansatz für die Kristallelektronen im Fall stark gebundener Elektronen ist eine
lineare Superposition von atomaren Eigenfunktionen
1
Ψki (r) = ⌋︂ ∑ e ık⋅R ϕ Ai (r − R) . (8.3.3)
N R
Diese Wellenfunktion entspricht (8.1.22), wobei wir die Wannier-Funktionen w(r − R) jetzt
durch die atomaren Eigenfunktionen ϕ Ai (r − R) ersetzt haben. Sie ist also eine Bloch-Welle
mit Wellenvektor k, enthält aber immer noch den lokalen Charakter der atomaren Wellen-
funktionen (siehe hierzu Abb. 8.12). Die Wellenfunktion ist aus atomaren Wellenfunktio-
nen aufgebaut. Die Aufenthaltswahrscheinlichkeit ist an jeder Atomposition die gleiche, da
die Wellenfunktion von Atomposition zu Atomposition nur um einen Phasenfaktor e ık⋅R
336 8 Energiebänder

𝝓𝑨 𝒙 − 𝑿
𝒙

𝐑𝐞 𝐞𝒊𝒌⋅𝒙
𝒙
Abb. 8.12: Räumliche Variation des
Realteils der Wellenfunktion in der

𝐑𝐞 𝚿 𝒙
tight-binding Näherung. Die Wel-
lenfunktion ist aus atomaren Wel-
lenfunktionen (oben) und einer 𝒙
ebenen Welle (Mitte) aufgebaut.

(siehe Abb. 8.12, Mitte) variiert. Die Energiebänder E n (k), die man mit diesem Ansatz er-
26
hält, zeigen allerdings wenig Struktur. Ein besserer Ansatz ist, in (8.3.3) nicht eine atoma-
re Wellenfunktion ϕ Ai (r − R) zu benutzen, sondern eine Linearkombination aus atomaren
Wellenfunktionen (LCAO-Methode: Linear Combination of Atomic Orbitals). Die weitere
Vorgehensweise bei der Berechnung von E n (k) ist ähnlich zur Behandlung der kovalenten
Bindung in Abschnitt 3.4.
Wir berechnen nun die Energie E(k) des Kristallelektrons mit der Wellenzahl k, indem wir
den Ansatz (8.3.3) in die Schrödinger-Gleichung

ħ2 2
ℋΨk (r) = ⌊︀− ∇ + V (r)}︀ Ψk (r) = E(k)Ψk (r) (8.3.4)
2m

einsetzen. Wir erhalten


ħ2 2
⌊︀− ∇ + V (r)}︀ ∑ e ı(k⋅R) ϕ Ai (r − R) = E(k) ∑ e ı(k⋅R) ϕ Ai (r − R) . (8.3.5)
2m R R

Hierbei ist V (r) die potenzielle Energie des Kristallelektrons. Sie ist durch die Summe über
alle atomaren Potenziale11 gegeben:

V (r) = ∑ VA (r − R) = VA (r − R) + ∑ VA (r − R′ )
R R′ ≠R
̃ (r − R) .
= VA (r − R) + V (8.3.6)

Die Bedeutung der verschiedenen Potenziale ist in Abb. 8.13 veranschaulicht. Wir haben
̃ (r − R) vorgenommen, weil wir damit den Hamilton-
die Aufspaltung in VA (r − R) und V
Operator als
̃
ℋ = ℋA + V (8.3.7)

schreiben können. Da die Elektronen ja stark an der Position der einzelnen Atome lokalisiert
sind, sehen sie im Wesentlichen nur das atomare Potenzial VA an dem Ort, an dem sie sich
11
Die atomaren Potenziale sind natürlich keine reinen 1⇑r Potenziale wie bei freien Atomen, sondern
abgeschirmte Potenziale.
8.3 Die Näherung stark gebundener Elektronen 337

0
𝑽𝑨 𝒓
𝑽𝑨 𝒓 , 𝑽 𝒓

𝑽 𝒓

-3 -2 -1 0 1 2 3
0
෩ 𝒓

෩ 𝒓
𝑽 Abb. 8.13: Verlauf der potenziellen Ener-
𝑽

gie V (r) eines Kristallelektrons und der


Energie VA (r) eines an ein freies Atom
-3 -2 -1 0 1 2 3
gebundenen Elektrons. Unten ist das Stör-
r/a potenzial Ṽ (r) gezeigt.
27

befinden. Alle anderen atomaren Potenziale können wir in V ̃ zusammenfassen und können
dieses als Störpotenzial auffassen. Der Vorteil dieser Vorgehensweise besteht darin, dass wir
unser Problem auf ein Einelektronen-Problem reduzieren. Man spricht deshalb auch von
der Einelektronen-Näherung.
̃ (r − R) setzen und unter Be-
Wir können nun in Gleichung (8.3.5) V (r) = VA (r − R) + V
nutzung von (8.3.1) und (8.3.2) umformen. Wir erhalten

ħ2 2
⌊︀− ∇ + VA (r − R) − E Ai }︀ ∑ e ık⋅R ϕ Ai (r − R)
2m R

̃ (r − R)ϕ Ai (r − R) + )︀E(k) − E Ai ⌈︀ ∑ e ık⋅R ϕ Ai (r − R) .


= − ∑ e ık⋅R V (8.3.8)
R R

Die linke Seite ist nach (8.3.1) gleich null und es ergibt sich somit
̃ (r − R)ϕ Ai (r − R) .
)︀E(k) − E Ai ⌈︀ ∑ e ık⋅R ϕ Ai (r − R) = ∑ e ık⋅R V (8.3.9)
R R

Multiplizieren wir diese Gleichung mit


1 ′ ∗
Ψk∗ (r) = ⌋︂ ∑ e−ık⋅R ϕ Ai (r − R′ ) (8.3.10)
N R′
und integrieren über das gesamte Kristallvolumen, so erhalten wir
′ ∗
)︀E(k) − E Ai ⌈︀ ∑ ∑ e ık⋅(R−R ) ∫ dV ϕ Ai (r − R′ )ϕ Ai (r − R)
R R′

′ ∗
̃ (r − R)ϕ Ai (r − R) .
= ∑ ∑ e ık⋅(R−R ) ∫ dV ϕ Ai (r − R′ )V (8.3.11)
R R′


Die Funktionen ϕ Ai (r − R) und ϕ Ai (r − R′ ) überlappen sich nun selbst für unmittelbar be-
nachbarte Atome nur sehr wenig. Deshalb können wir in erster Näherung auf der linken
Seite von (8.3.11) alle Glieder mit R ≠ R′ vernachlässigen. Die Summe auf der linken Sei-
te ist dann gleich der Anzahl N der Gitterzellen in dem betrachteten Festkörper. Auf der
338 8 Energiebänder

rechten Seite von (8.3.11) dürfen wir diese Näherung allerdings nicht machen, da das Stör-
̃ (r − R) am Ort des Gitteratoms R′ wesentlich größere Werte besitzt als am Ort
potenzial V

des Atoms R (siehe Abb. 8.13). Wegen des raschen Abfalls von ϕ Ai (r − R) und ϕ Ai (r − R′ )

brauchen wir für R ≠ R in der Doppelsumme auf der rechten Seite von (8.3.11) nur diejeni-
gen Terme berücksichtigen, die unmittelbar benachbarten Gitteratomen entsprechen. Damit
erhalten wir aus (8.3.11)


̃ (r − R)ϕ Ai (r − R)
N )︀E(k) − E Ai ⌈︀ = N ∫ dV ϕ Ai (r − R)V

′ ∗
̃ (r − R)ϕ Ai (r − R) ,
+ N ∑ e ık⋅(R−R ) ∫ dV ϕ Ai (r − R′ )V
NN
(8.3.12)

wobei ∑ N N die Summe über die nächsten Nachbarn des Atoms am Ort R bedeutet.
Wir nehmen nun zusätzlich an, dass die betrachtete Eigenfunktion ein s-Zustand und somit
kugelsymmetrisch ist. Damit erhalten wir


E(k) = E Ai − α i − β i ∑ e ık⋅(R−R ) (8.3.13)
NN

mit dem Coulomb-Integral



̃ (r − R)ϕ Ai (r − R)
α i = − ∫ dV ϕ Ai (r − R)V (8.3.14)

und dem Transfer-Integral



̃ (r − R)ϕ Ai (r − R) .
β i = − ∫ dV ϕ Ai (r − R′ )V (8.3.15)

Das Coulomb-Integral α i ist wegen V ̃ < 0 positiv und führt in (8.3.14) zu einer Energieab-
senkung. Dies können wir leicht verstehen: das Elektron am Ort R sieht zu einem gewissen
Anteil die attraktiven Coulomb-Potenziale der Nachbaratome und wird dadurch im Mittel
energetisch abgesenkt. Das Transfer-Integral β i kann sowohl positiv als auch negativ sein.
Das Transfer-Integral führt in (8.3.15) offensichtlich zu einer k-Abhängigkeit der Eigenener-
gie des Kristallelektrons und damit zu einer endlichen Dispersion und Ausbildung eines
Bandes. Das heißt, durch den endlichen Überlapp der fast gebundenen Elektronen kommt
es zur Ausbildung eines Bandes, dessen Breite von der Stärke des Überlapps abhängt.
Zusammenfassend können wir festhalten, dass im Vergleich zum Energieniveau E Ai eines
freien Atoms der Zusammenbau der Atome zu einem Kristallgitter zu einer Absenkung der
Energie um α und einer Aufspaltung des Niveaus entsprechend der Mannigfaltigkeit des
Wellenvektors k führt.
8.3 Die Näherung stark gebundener Elektronen 339

8.3.1 Beispiele: kubische Gitter


Wir wollen nun den Verlauf von E(k) anhand von einfachen Beispielen diskutieren.

1. einfach kubische Struktur, 6 nächste Nachbarn:


Wir betrachten zuerst ein einfach kubisches Gitter mit Gitterkonstante a, in dem jedes
Atom sechs nächste Nachbarn besitzt. Sie haben bezüglich des Bezugsatoms die kartesi-
schen Koordinaten
R1,2 = (±a, 0, 0) R3,4 = (0, ±a, 0) R5,6 = (0, 0, ±a) . (8.3.16)
Für die Energieeigenwerte erhalten wir damit aus (8.3.13)
E(k) = E A − α − 2β )︀cos(k x a) + cos(k y a) + cos(k z a)⌈︀ . (8.3.17)
Dabei haben wir den oberen Index weggelassen. Den minimalen und maximalen Wert
erhalten wir für k x = k y = k z = 0 und k x = k y = k z = ± πa zu

E min = E(0,0,0) = E A − α − 6β (8.3.18)

E max = E(± πa ,± πa ,± πa ) = E A − α + 6β . (8.3.19)


Die Bandbreite beträgt somit
W = E max − E min = 12β . (8.3.20)
Die Bandbreite ist also umso größer, je größer das Transfer-Integral β ist. Die Elektro-
nen der inneren Schalen (niedrig liegende Energieniveaus) resultieren aufgrund ihres
schwachen Überlapps in nur schmalen Bändern. Die Bandbreiten der Elektronen aus
den äußeren Schalen sind entsprechend größer. Hier kann es zu einer Überlappung der
Energiebänder, die zu verschiedenen E Ai gehören, kommen. Das Verhalten dieser Elek-
tronen kann allerdings mit der Näherung quasi-gebundener Elektronen nur schlecht be-
schrieben werden. Wir sehen ferner, dass der Wert des Transfer-Integrals und damit der
Bandbreite auch von der Zahl der nächsten Nachbarn abhängt.
Abb. 8.14 zeigt das Energiespektrum von stark gebundenen Elektronen auf einem zwei-
dimensionalen quadratischen Gitter mit Gitterkonstante a, das durch
E(k) = E A − α − 2β )︀cos(k x a) + cos(k y a)⌈︀ (8.3.21)
gegeben ist. Die Bandbreite W beträgt in diesem Fall also 8β. Die 1. Brillouin-Zone ei-
nes einfachen quadratischen Gitters mit Gitterkonstante a ist wiederum ein Quadrat mit
Seitenlänge 2π⇑a. Wir erkennen, dass die Höhenlinie für die Bandmitte (halbe Füllung)
ein gegen die Brillouin-Zone um 45○ gedrehtes Quadrat ist. Wir sehen ferner, dass die
Energieeigenwerte in den Ecken des Quadrats bezogen auf das Minimum im Zentrum
der Brillouin-Zone um den Faktor 2 höher sind als in der Mitte der Seiten.
2. bcc-Struktur, 8 nächste Nachbarn:
Die 8 nächsten Nachbaratome haben die Koordinaten
R1,2 = (± a2 , a2 , a2 ) R3,4 = (± a2 , − a2 , a2 )
(8.3.22)
R5,6 = (± a2 , a2 , − a2 ) R7,8 = (± a2 , − a2 , − a2 ) .
340 8 Energiebänder

1.0

0.5

ky (π/a)
0.0
2 1
(β)

0
E -α

-0.5
E- A

-2

/a)
0

y π
k (
-4 1
-1.0
0 -1.0 -0.5 0.0 0.5 1.0
k (π
/a) kx (π/a)
-1 -1
x

Abb. 8.14: Energiespektrum von stark gebundenen Elektronen auf einem einfachen zweidimensiona-
len quadratischen Gitter mit Gitterkonstante a. Rechts sind die Höhenlinien konstanter Energie ge-
zeigt. Die rote Linie markiert die Bandmitte.

Für die Energieeigenwerte erhalten wir damit aus (8.3.13)

E(k) = E A − α − 8β )︀cos ( 12 k x a) cos ( 12 k y a) cos ( 12 k z a)⌈︀ . (8.3.23)

Die Bandbreite beträgt hier W = 16β.


3. fcc-Struktur, 12 nächste Nachbarn:
Die 12 nächsten Nachbaratome haben die Koordinaten

R1,2,3,4 = (± a2 , ± a2 , 0) R5,6,7,8 = (± a2 , 0, ± a2 )
(8.3.24)
R9,10,11,12 = (0, ± a2 , ± a2 ) .

Für die Energieeigenwerte erhalten wir damit aus (8.3.13)

E(k) = E A − α − 4β )︀cos ( 12 k y a) cos ( 12 k z a) + cos ( 12 k z a) cos ( 12 k x a)

+ cos ( 12 k x a) cos ( 12 k y a)⌈︀ . (8.3.25)

Die Bandbreite beträgt hier W = 24β.

Für kleine k-Werte können wir die Kosinus-Funktion entwickeln, so dass wir in der Nähe
des Γ-Punktes (Zentrum der 1. Brillouin-Zone) für ein einfach kubisches Gitter folgende
Dispersion erhalten:

E(k) = E A − α − 6β + βa 2 k 2 = E u + βa 2 k 2 . (8.3.26)

Wir sehen, dass die Energie E(k) bezogen auf die Bandunterkante E u = E A − α − 6β propor-
tional zu k 2 ist, wie es auch für freie Elektronen der Fall ist. Wir können deshalb die Kristall-
elektronen als freie Teilchen auffassen, wenn wir ihnen eine effektive Masse m∗ (verglei-
che hierzu Abschnitt 9.2.3) zuordnen. Durch Vergleich der Dispersion ħ 2 k 2 ⇑2m der freien
8.3 Die Näherung stark gebundener Elektronen 341

𝑬, 𝑽 𝑬 𝑬
r
𝑬𝟐𝑨
𝜶𝟐 𝟏𝟐𝜷𝟐
𝑽𝑨 𝒓

𝑬𝟏𝑨 𝜶𝟏
𝟏𝟐𝜷𝟏

𝟎 𝒂−𝟏 𝟏/𝒓 𝟎 𝝅/𝒂 𝟐𝝅/𝒂 𝟑𝝅/𝒂 𝒌𝟏𝟏𝟏

Abb. 8.15: Schematische Darstellung der Aufspaltung von atomaren Niveaus E Ai in Energiebänder für
ein einfach kubisches Gitter. Links: Lage der atomaren Energieniveaus E Ai . Mitte: Änderung der Band-
breite durch Variation des Transfer-Integrals mit sich änderndem Abstand der Atome im Gitter. Rechts:
Abhängigkeit der Energie E eines Kristallelektrons vom Wellenvektor k in [111] Richtung.
36

Elektronen mit βa 2 k 2 der Kristallelektronen erhalten wir

ħ2
m∗ = . (8.3.27)
2βa 2
Die effektive Masse kann also positive und negative Werte annehmen, je nachdem ob der
Beitrag durch das Transfer-Integral positiv oder negativ ist. Die physikalische Bedeutung
der effektiven Masse werden wir später noch ausführlich diskutieren.
Für k-Werte um die Eckpunkte der 1. Brillouin-Zone bei k x = k y = k z = π
a
erhalten wir für
ein einfach kubisches Gitter

E(k) = E A − α + 6β − βa 2 Q 2 = E o − βa 2 Q 2 , (8.3.28)

wobei Q 2 = (k x − πa )2 + (k y − πa )2 + (k z − πa )2 . Wir sehen, dass die Energie E(k) bezogen


auf die Bandoberkante E o = E A − α + 6β proportional zu −Q 2 ist und die effektive Masse
entsprechend negativ ist:

ħ2
m∗ = − . (8.3.29)
2βa 2
In Abb. 8.15 ist die Aufspaltung der atomaren Niveaus in Energiebänder durch den end-
lichen Überlapp der atomaren Wellenfunktionen nochmals schematisch gezeigt. Wir kön-
nen anhand von Abb. 8.15 Folgendes festhalten: Sind die Atome weit voneinander entfernt,
so ist der Überlapp der atomaren Wellenfunktionen vernachlässigbar klein und in jedem
Atom liegt ein Ensemble von atomaren Zuständen (z. B. 1s, 2s, 2p, etc.) vor. Im gesamten
Ensemble von N Atomen sind dies N-fach entartete Zustände für die einzelnen Elektronen.
Verringern wir den Abstand benachbarter Atome, so resultiert ein endlicher Überlapp der
atomaren Wellenfunktionen. Aus jedem atomaren Niveau entsteht dadurch ein Band mit
N Zuständen, das wir entsprechend der ursprünglichen atomaren Zustände als 1s-, 2s-, 2p-,
etc. Band bezeichnen können. Mit geringer werdendem Abstand der Atome, d. h. mit wach-
sendem Überlapp der Wellenfunktionen wächst die Bandbreite des resultierenden Bandes.
Die Bandbreite nimmt auch mit wachsender Zahl von nächsten Nachbarn zu. In vielen Fäl-
342 8 Energiebänder

len werden die einzelnen Bänder so breit, dass sie sich überlappen. Dies trifft vor allem für
die s- und p-Bänder, weniger für die d- und f -Bänder zu, da für letztere der Überlapp der
Wellenfunktionen auch bei kleinen Atomabständen immer noch gering ist. Im Falle einer
Überlappung können wir nicht mehr von wohldefinierten s- oder p-Bändern sprechen. Wie
oben bereits erwähnt wurde, ist es dann sinnvoller, in dem Ansatz (8.3.3) nicht mehr von
atomaren Wellenfunktionen auszugehen, sondern bereits eine Linearkombination der ato-
maren Wellenfunktionen zu benutzen (LCAO-Methode). Als Beispiel ist in Abb. 8.19 die
Ausbildung von sp3 -Bändern in Diamant gezeigt.

8.3.2 Weitere Methoden zur Bandstrukturberechnung


Wir haben in den vorangegangenen Abschnitten zwei einfache Näherungsmethoden disku-
tiert, die zur groben Berechnung der Bandstruktur von Festkörpern herangezogen werden
können. Bis heute wurden zahlreiche verfeinerte Methoden entwickelt, die zu einer wesentli-
chen Verbesserung der Situation geführt haben. Die verschiedenen Methoden unterscheiden
sich hinsichtlich der Wahl der verwendeten Basisfunktionen und der Form des effektiven
Kristallpotenzials. Zu nennen sind hier das Konzept der orthogonalisierten ebenen Wel-
len (OPW: orthogonal plane wave),12 die Methode der fortgesetzten ebenen Wellen (APW:
augmented plane wave), verschiedene Methoden der Greenschen Funktionen wie z. B. die
Korringa-Kohn-Rostokker (KKR) Methode,13 , 14 die LCAO-Methode (LCAO: Linear Combi-
nation of Atomic Orbitals), die LMTO-Methode (LMTO: Linear Muffin-Tin Orbital),15 oder
die Pseudopotenzial-Methode.16 , 17 Wir wollen diese Methoden hier nicht im Einzelnen dis-
kutieren.

8.3.2.1 Pseudopotenziale
Bei vielen Verfahren zur Bandstrukturberechnung spielt die Verwendung von Pseudopo-
tenzialen eine wichtige Rolle. Hierbei wird das Coulomb-Potenzial in Kernnähe durch ein
effektives Potenzial angenähert. Die Grundidee dieser Methode können wir uns anhand von
Abb. 8.16 am Beispiel von Al klar machen. Die radiale Aufenthaltwahrscheinlichkeit r 2 R 3s
2

des 3s-Valenzelektrons (vergleiche Abb. 3.3) variiert stark im Rumpfbereich, da hier wegen
E = E kin + E pot = const und des stark anziehenden Kernpotenzials die kinetische Energie
hoch ist. Dabei hat die 3s-Wellenfunktion zwei Knoten, da sie zur 2s- und 1s-Wellenfunktion
orthogonal sein muss. Wir können nun die 3s-Wellenfunktion im kernnahen Bereich, der
kaum zur chemischen Bindung beiträgt, durch eine möglichst glatte Pseudowellenfunkti-
on ersetzen, ohne sie im äußeren Bereich, der für die chemische Bindung maßgebend ist,

12
J. Callaway, Orthogonalized Plane Wave Method, Phys. Rev. 97, 933-936 (1955).
13
J. Korringa, On the calculation of the energy of a Bloch wave in a metal, Physica XIII, 392-400 (1947)
14
W. Kohn, N. Rostoker, Solution of the Schrödinger Equation in Periodic Lattices with an Application
to Metallic Lithium, Phys. Rev. 94, 1111-1120 (1954).
15
H. L. Skriver, The LMTO Method, Springer, Ser. Solid State Science, Vol. 41, Springer Heidelberg,
Berlin (1984).
16
W. A. Harrison, Pseudopotenzials in the Theory of Metals, Benjamin, New York (1966).
17
J. Callaway, Energy Band Theory, Academic, New York (1964).
8.3 Die Näherung stark gebundener Elektronen 343

0.10

𝜓pseudo
r2R3s2

0.05

𝜓3𝑠
0.00 Abb. 8.16: Vergleich der radialen Aufent-
0 haltswahrscheinlichkeit r 2 R 3s einer 3s-
Epot (bel. Einh.)

𝑉pseudo Wellenfunktion im Coulomb-Potenzial des


-5
Kerns (rot) mit einer im Pseudopotenzi-
al (blau). Die wirkliche und die Pseudo-
𝑉Coulomb 𝑟𝑐
Wellenfunktion sowie die Potenziale selbst
-10 stimmen außerhalb des Abschneideradius
0 6 12 18 24 30
r / (aB/Z) r c überein.
37

zu verändern. Die kinetische Energie wird dadurch im Rumpfbereich minimal und das ent-
sprechende Pseudopotenzial ist im kernnahen Bereich stark abgeschwächt (siehe Abb. 8.16).
Für einfache Metalle sind die Pseudopotenziale so schwach, dass sie störungstheoretisch be-
handelt werden können. Insbesondere konvergieren dann wegen der relativen Glattheit der
Psudowellenfunktion Entwicklungen nach ebenen Wellen sehr schnell. Da für Al der Durch-
messer der K-Schale nur a B ⇑Z ≃ 0.025 Å beträgt, müsste man bei einem Gitterabstand von
etwa 4 Å bei der Entwicklung der wirklichen Wellenfunktion etwa (102 )3 ebene Wellen be-
rücksichtigen. Durch geschickte Wahl eines empirischen Pseudopotenzials lässt sich deshalb
der Aufwand zum Lösen der Schrödinger-Gleichung massiv reduzieren.

8.3.3 Vertiefungsthema: Spin-Bahn-Kopplung


Bei der Berechnung von E(k) haben wir bisher angenommen, dass der Spin der Elektro-
nen keinen Einfluss auf die Energieeigenwerte hat. Wir haben mit einer reinen Ortsfunktion
gearbeitet und angenommen, dass jeder Zustand Ψk (r) zwei Elektronen mit entgegenge-
setztem Spin aufnehmen kann. Wir wissen aber, dass in schweren Atomen eine starke Spin-
Bahn-Kopplung auftritt, die mit einem Operator der Form ℋso = λℓ ⋅ s beschrieben werden
kann (vergleiche hierzu Abschnitt 12.5.4). Hierbei ist s der Spin- und ℓ der Bahndrehimpuls-
Operator des Elektrons. Im freien Atom bewirkt die Spin-Bahn-Kopplung eine Aufhebung
der Entartung von Zuständen gleicher räumlicher Wellenfunktion aber entgegengesetzter
Spin-Richtung. Zum Beispiel spaltet ein atomarer p-Zustand in die beiden Zustände p 3⇑2
und p 1⇑2 , die zum Gesamtdrehimpuls j = 3⇑2 und j = 1⇑2 gehören, auf. Im Festkörper kann
die Spin-Bahn-Kopplung zur Aufhebung der Entartung der beiden Zustände Ψk (r) mit un-
terschiedlicher Spinrichtung führen. Hierbei müssen wir aber berücksichtigen, dass durch
das fundamentale Prinzip der Zeitumkehr-Invarianz elektrischer Felder immer die Kra-
mers-Entartung 18 zwischen einem Zustand Ψk (r) und seinem konjugiert komplexen Ψk∗ (r)
erhalten bleiben muss. Hierbei beschreibt Ψk∗ (r) einen Zustand, in dem sowohl der Wellen-
vektor als auch der Spin des Elektrons umgekehrt wurde. Für spinlose Teilchen führt dies
direkt auf E(k) = E(−k), unabhängig von den Details der Kristallsymmetrie.

18
H. Kramers, Proc. Acad. Sci. Amsterdam 33, 959 (1930).
Spin-Bahn-Kopplung
344 8 Energiebänder

(a) 𝑬 (b) 𝑬 (c) 𝑬

𝟎 𝒌 𝟎 𝒌 𝟎 𝒌

Abb. 8.17: Einfluss der Spin-Bahn-Kopplung auf p-Typ Bandniveaus in der Nähe des Zentrums der
Brillouin-Zone. (a) Sechs entartete Niveaus bei k = 0, (b) Spin-Bahn-Aufspaltung in ein vierfach und
ein zweifach entartetes Niveau bei k = 0 in einem Kristall mit Inversionssymmetrie, (c) Aufhebung der
Kramers-Entartung in einem Kristall ohne Inversionssymmetrie.

Für Kristalle, die ein Inversionszentrum besitzen, trennt die Spin-Bahn-Kopplung ansons-
ten nichtentartete Zustände Ψk (r) mit entgegengesetzter Spin-Richtung nicht. Die Spin-
Umkehr im Zustand Ψk (r) ist mit der Betrachtung des Zustands Ψk (−r) gleichbedeutend,
der bei Vorliegen eines Inversionszentrums aber die gleiche Energie besitzt. Die Kramers-
38
Entartung bleibt also hier erhalten.
Die Spin-Bahn-Kopplung kann aber einen wesentlichen Effekt an bestimmten Punkten
der Brillouin-Zone haben, an denen entartete Zustände Ψk (r) vorliegen. Um dies zu
veranschaulichen, betrachten wir einen Punkt mit kubischer Symmetrie im Zentrum der
Brillouin-Zone. Im Rahmen des Tight-Binding-Modells können wir z. B. ein p-Band aus
den p-Zuständen der Atome aufbauen. Da die p-Zustände dreifach entartet sind, erhalten
wir im Kristall drei Bänder, die den Zuständen p x , p y und p z des Atoms entsprechen.
Diese drei Bänder sind bei k = 0 entartet. Sie können ja durch die kubische Symmetrie
des betrachteten Punkts leicht ineinander transformiert werden. Jeder Bandzustand kann
zusätzlich mit Elektronen entgegengesetzten Spins besetzt werden, so dass wir insgesamt
eine sechsfache Entartung bei k = 0 erhalten (siehe Abb. 8.17a). Berücksichtigen wir jetzt
die Spin-Bahn-Kopplung, so erhalten wir eine Aufspaltung in ein vierfach und ein zweifach
entartetes Niveau. Wir müssen nämlich jetzt unsere Bänder aus den vierfach entarteten
atomaren p 3⇑2 - und den zweifach entarteten p 1⇑2 -Zuständen aufbauen.
Bewegen wir uns vom Zentrum der Brillouin-Zone weg, dann bleibt jedes Niveau zweifach
entartet, falls Inversionssymmetrie vorliegt. Das vierfach entartete Band mit j = 3⇑2 spaltet in
zwei zweifach entartete Bänder m j = ±3⇑2 und m j = ±1⇑2 auf (siehe Abb. 8.17b). Liegt keine
Inversionssymmetrie vor, so spalten für k ≠ 0 auch noch die zweifach entarteten Bänder auf
(siehe Abb. 8.17c). Das in Abb. 8.17 gezeigte Verhalten liegt in vielen Halbleitern an der
Oberkante des Valenzbandes vor (vergleiche hierzu Abschnitt 10.1), das aus atomaren p-
Zuständen aufgebaut ist. Für Ge trifft die in Abb. 8.17b, für InSb die in Abb. 8.17c gezeigte
Situation zu.
8.4 Metalle, Halbmetalle, Halbleiter, Isolatoren 345

8.4 Metalle, Halbmetalle, Halbleiter, Isolatoren


Wir haben in den beiden vorangegangenen Abschnitten die Eigenenergien von Kristallelek-
tronen in der Ein-Elektronen-Näherung bestimmt. Unabhängig von der Näherungsmetho-
de haben wir Energiebänder erhalten, die durch verbotene Bereiche (Bandlücken) getrennt
sind. Wie im Fall des freien Elektronengases erhalten wir den Grundzustand des Kristalls
mit N Elektronen bei T = 0 dadurch, indem wir die Eigenenergien unter Berücksichtigung
des Pauli-Prinzips von niedrigen zu hohen Energien auffüllen. Die höchste Energie, die wir
dabei erreichen, ist die Fermi-Energie E F . Wir können hierbei zwei prinzipiell unterschied-
liche Fälle unterscheiden:

1. Beim Besetzen der Einelektronenzustände füllen wir einige Bänder vollständig, alle üb-
rigen sind vollkommen leer. Zwischen dem obersten besetzten und dem untersten unbe-
setzten Zustand existiert somit für alle k-Vektoren eine Energielücke. Die Fermi-Energie
liegt dabei für T = 0 etwa in der Mitte zwischen dem obersten besetzten und dem un-
tersten leeren Band. Der Kristall ist dadurch ein Isolator bzw. ein Halbleiter. Legen wir
z. B. ein elektrisches Feld an, so kann dieses keinen mittleren Zusatzimpuls δk erzeu-
gen, da ja alle Zustände im Band besetzt sind und dadurch keine Impulsänderung er-
zielt werden kann. Um einen endlichen Stromfluss zu erzielen, müssten Ladungsträger
ins nächste Band angeregt werden. Hierzu sind allerdings Energien im eV-Bereich not-
wendig, die durch elektrische Felder in der üblichen Größenordnung nicht aufgebracht
werden können.
2. Beim Besetzen der Einelektronenzustände füllen wir das oberste Band nicht vollständig
auf. Die Fermi-Energie liegt nun innerhalb eines Bandes. Wie beim freien Elektronengas
bezeichnen wir die Fläche konstanter Energie E = E F , die bei T = 0 die besetzten von den
unbesetzten Zuständen trennt, als Fermi-Fläche. Wie wir in Abschnitt 8.6 sehen werden,
ist die Fermi-Fläche jetzt aber nicht mehr wie bei freien Elektronen eine einfache Kugel.
Legen wir ein elektrisches Feld an, so kann dieses jetzt, da im Band ja freie Zustände
vorhanden sind, zu einem Zusatzimpuls δk führen und wir erhalten einen metallischen
Leiter.

In Abb. 8.18 ist die Lage des Fermi-Niveaus und die Besetzung der verschiedenen Bänder
schematisch dargestellt. Bei Isolatoren oder Halbleitern liegt das Fermi-Niveau innerhalb
der Bandlücke. Das oberste besetzte Band nennen wir das Valenzband, das unterste unbe-
setzte Band das Leitungsband. Bei Metallen liegt das Fermi-Niveau dagegen innerhalb eines
Bandes. In Abb. 8.18 ist auch die Situation für Halbmetalle gezeigt. Hier liegt eine Bandüber-
lappung vor, die dazu führt, dass das Fermi-Niveau ebenfalls in einem nicht vollständig ge-
füllten Band liegt. Ist der Überlapp allerdings gering, so ist die elektrische Leitfähigkeit klein,
weshalb man von Halbmetallen spricht. Die Bandüberlappung resultiert üblicherweise aus
einem unterschiedlichen Verlauf der E(k)-Kurven in unterschiedliche Kristallrichtungen.
Dies können wir uns anhand von Abb. 8.14 klarmachen, welche das Energiespektrum für
ein zweidimensionales quadratisches Gitter zeigt. Ist die Bandlücke zwischen dem gezeig-
ten Band und dem darüber liegenden Band in der Mitte der Seitenlinie der quadratischen
Brillouin-Zone geringer als die Energiedifferenz zwischen diesem Punkt und der Ecke, so
346 8 Energiebänder

𝑬 (a) 𝑬 (b) (c) 𝑬

𝑬𝐅
EF 𝑬𝐅

𝝅 𝝅 [100] 𝒌
𝟎 𝒌𝟎 𝒌 [110] 𝟎
𝒂 𝒂
Leitungsband
Leitungsband 𝑬𝐅
Leitungsband
Abb. 8.18: Lage des Fermi- 𝑬𝐅
𝑬𝐅
Niveaus im Bänderschema Valenzband Valenzband Valenzband
für (a) Isolatoren, (b) Me-
talle und (c) Halbmetalle. Isolator Metall Halbmetall
40

kommt es zu einer Bandüberschneidung. Das Minimum des nächst höheren Bandes liegt
dann nämlich unterhalb des Maximums des betrachteten Bandes.
Zwischen Halbleitern und Isolatoren besteht kein prinzipieller Unterschied. Bei Halbleitern
liegt allerdings im Allgemeinen eine kleinere Bandlücke vor, so dass bei Raumtemperatur
einige Ladungsträger in das unbesetzte Leitungsband thermisch angeregt werden können.
Dadurch resultiert eine kleine elektrische Leitfähigkeit und man spricht von Halbleitern. Bei
Isolatoren ist die Bandlücke wesentlich größer, so dass dieser Prozess sehr unwahrscheinlich
ist. Der Übergang zwischen Halbleitern und Isolatoren ist allerdings fließend.19 Halbmetalle
haben wie Halbleiter nur eine geringe elektrische Leitfähigkeit. Während für Halbleiter die
elektrische Leitfähigkeit für T → 0 verschwindet, bleibt sie aber bei Halbmetallen endlich.

8.4.1 Anzahl der Zustände pro Band


Um eine allgemeine Regel dafür abzuleiten, welche Kristalle Isolatoren und welche Metalle
sind, müssen wir uns überlegen, wie viele Zustände wir pro Band haben. Wir müssen dies
für die Näherung fast freier und stark gebundener Elektronen tun:
1. Näherung fast freier Elektronen:
Wir betrachten einen Kristall mit Volumen V und einer monoatomaren Basis. Wir neh-
men ferner an, dass der Kristall N Atome also N = V ⇑VZelle Einheitszellen mit Volu-
men VZelle enthält. Da ein Elektronenzustand im k-Raum das Volumen (2π)3 ⇑V ein-
nimmt und das Volumen der Brillouin-Zone (2π)3 ⇑VZelle ist, ist die Anzahl der Zustände
in der Brillouin-Zone gerade N = V ⇑VZelle . Das bedeutet, dass wir in jedem Band N ver-
schiedene k-Werte zur Verfügung haben. Unter Berücksichtigung des Spins können wir
diese N Zustände mit 2N Elektronen besetzen.
19
Heute bezeichnet man als Halbleiter solche Materialien, die eine endliche Bandlücke besitzen und
deren elektrische Eigenschaften sich durch das Einbringen von Störatomen (Dotierung) über einen
weiten Bereich verändern lassen. Die Dotieratome bilden dabei Niveaus, die in der Bandlücke rela-
tiv nahe beim Valenzband (Akzeptoren) oder Leitungsband (Donatoren) liegen. Eine ausführliche
Diskussion folgt in Kapitel 10.
8.4 Metalle, Halbmetalle, Halbleiter, Isolatoren 347

2. Näherung stark gebundener Elektronen:


Wir betrachten denselben Kristall. Die N atomaren Energieniveaus E Ai der N Atome des
Festkörpers spalten durch die Wechselwirkung zwischen den Atomen des Kristalls in
Bänder auf, wobei jedes Band dann N Zustände enthält. Dies ist evident, da die Wech-
selwirkung der Elektronen untereinander oder mit dem Gitter weder Zustände erzeugt
noch vernichtet, und ist z. B. auch aus Gleichung (8.3.13) ersichtlich. Da wir N mög-
liche k-Werte in der ersten Brillouin-Zone haben, enthält das durch (8.3.13) gegebene
Band E(k) genau N Zustände, die wir wegen der Spinentartung mit 2N Elektronen be-
setzen können.

Wir können daraus eine wichtige Schlussfolgerung ziehen:

∎ Kristalle mit einer ungeraden Zahl von Elektronen pro Einheitszelle sind Metalle. In das
oberste Band müssen N Elektronen in die 2N verfügbaren Zustände eingefüllt werden,
so dass dieses nur halb gefüllt ist.
∎ Kristalle mit einer geraden Zahl von Elektronen pro Einheitszelle sind Isolatoren bzw.
Halbleiter, falls eine Bandlücke zwischen dem obersten gefüllten und untersten nicht ge-
füllten Band existiert, oder Halbmetalle, falls in diesem Bereich eine Bandüberlappung
existiert.

Wir betrachten als Beispiel Natrium mit der atomaren Elektronenkonfiguration 1s 2 , 2s 2 , 2p6 ,
3s 1 . Während die 1s, 2s und 2p Niveaus jeweils voll besetzte Bänder generieren, resultiert
aus dem nur mit einem Elektron besetzten 3s-Niveau ein halbgefülltes Band. Natrium sollte
deshalb (selbst wenn wir den 3s-3p-Überlapp vernachlässigen) ein Metall sein. In ähnlicher
Weise erwarten wir für alle Elemente der 1. Hauptgruppe metallisches Verhalten (Alkali-
Metalle). Ähnlich verhalten sich auch Cu (4s 1 ), Ag (5s 1 ) oder Au (6s 1 ), deren Eigenschaften
aber wegen der besetzten d-Zustände komplizierter sind.
Kohlenstoff hat dagegen die Elektronenkonfiguration 1s 2 , 2s 2 , 2p2 und wir würden naiv er-
warten, dass wegen der überlappenden 2p-Bänder (diese können insgesamt mit 6N Elek-
tronen besetzt werden) ein teilweise gefülltes Band und damit ein Metall resultiert. Diamant
ist aber bekanntermaßen ein Isolator. Die Situation ist hier etwas komplizierter, da eine sp3 -
Hybridisierung (vergleiche Abschnitt 3.4.3) vorliegt, die in einem in zwei Teile aufgespalte-
nen sp3 -Band resultiert. Beide sp3 -Hybridbänder können jeweils 4 Elektronen aufnehmen.
Die 4 Elektronen des 2s- und des 2p-Niveaus besetzten das untere sp3 -Band, so dass ein
vollbesetztes Band und damit in der Tat ein Isolator resultiert. Dies ist in Abb. 8.19 skizziert.
Verringern wir den Atomabstand kontinuierlich, so spalten zunächst die atomaren 2p- und
2s-Niveaus in Bänder auf, die mit insgesamt 6N bzw. 2N Elektronen besetzt werden könnten.
Bei einem Atomabstand von etwa 8 Å würden wir deshalb ein teilweise besetztes 2p-Band
und damit metallisches Verhalten erwarten. Bei noch kleineren Atomabständen führt aber
die Hybridisierung der 2p- und 2s-Niveaus zu zwei sp3 -Bändern, die mit jeweils 4N Elektro-
nen besetzt werden können. Wir erhalten deshalb beim Gleichgewichtsabstand R 0 = 3.57 Å
ein vollkommen gefülltes unteres und ein vollkommen leeres oberes sp3 -Band, die durch
eine Energielücke E g = 5.5 eV getrennt sind.
348 8 Energiebänder
Verlauf der Energiebänder in Diamant als Funktion von Atomabstand
0
Leitungsband

-2 𝟐𝒑𝟔

E (will. Einheiten)
𝑬𝒈
𝟐𝒔𝟐
-4

Valenzband
Abb. 8.19: Verlauf der Energiebän-
der in Diamant als Funktion des -6
Gleichgewichtsabstands der Ato- 𝑹𝟎
me. Beim Gleichgewichtsabstand
R 0 = 3.57 Å stellt sich in Diamant 0 4 8 12 16
eine Energielücke E g = 5.5 eV ein. Abstand (Å) 43

8.4.2 Halbmetalle
Wie Abb. 8.18 schematisch zeigt, liegt bei Halbmetallen eine geringe Überlappung des Va-
lenzbandes und des Leitungsbandes vor. Dadurch liegt auch bei gerader Elektronenzahl kei-
ne komplette Bandfüllung vor. Das Valenzband enthält eine kleine Konzentration n h von
Löchern und das Leitungsband eine geringe Elektronenkonzentration n e . Drei der in Tabel-
le 8.2 aufgelisteten Halbmetalle sind Elemente der V. Hauptgruppe des Periodensystems. Die
Gitterzellen dieser Elemente enthalten zwei Atome mit jeweils 5 Elektronen, so dass 10 Elek-
tronen pro Einheitszelle vorliegen. Demnach müsste ein Isolator oder Halbleiter vorliegen.
Aufgrund der Bandüberlappung erhalten wir aber Halbmetalle. Wie Abb. 8.18(c) zeigt, führt
die Bandüberlappung zu einer Dichte n h von Löchern im unteren und einer Dichte n e von
Elektronen im überlappenden oberen Band. Für den Fall dass die Gesamtzahl der Elek-
tronen ohne Bandüberlappung gerade zu einem vollständig gefüllten Band führen würde,
gilt n h ≃ n e . Wir sprechen dann von einem kompensierten Metall.

Tabelle 8.2: Ladungsträger- Halbmetall n h (cm−3 ) n e (cm−3 )


2.12 × 10 2.12 × 1020
dichte von Halbmetallen. 20
Arsen
Antimon 5.54 × 10 19
5.49 × 1019
Bismut 2.88 × 10 17
3.00 × 1017
Graphit 2.72 × 1018 2.04 × 1018

8.4.3 Isolatoren
Wir haben in Abschnitt 8.4.1 gesehen, dass wir Isolatoren immer dann erhalten, wenn das
chemische Potenzial in der Energielücke zwischen einem vollständig gefüllten und einem
vollkommen leeren Band liegt. Solche Isolatoren werden als Band-Isolatoren bezeichnet.
Wir erhalten sie immer dann, wenn eine gerade Anzahl von Ladungsträgern pro Einheitszel-
le und keine Bandüberlappung vorliegt. Es gibt aber auch noch andere Typen von Isolatoren,
die wir hier kurz erwähnen wollen.
8.4 Metalle, Halbmetalle, Halbleiter, Isolatoren 349

1. Anderson-Isolatoren:
In einem metallischen System werden die Elektronenwellen an Verunreinigungen ge-
streut. Die Überlagerung von fortlaufenden und rückgetreuten Wellen führt zu einer
nach Philip Warren Anderson benannten Lokalisierung der Ladungsträger, welche de-
ren Diffusion unterdrückt.20 Falls der Grad der Unordnung eine bestimmte Schwelle
überschreitet, verschwindet am absoluten Temperaturnullpunkt die elektrische Leitfä-
higkeit und alle anderen mit der Diffusivität zusammenhängenden Größen. Wir spre-
chen dann von einem Andersonschen Metall-Isolator-Übergang.
2. Mott-Isolatoren:
Als Mott-Isolatoren bezeichnen wir solche Materialien, die nach dem Bändermodell ei-
gentlich metallisch leitend sein sollten, aufgrund von starken Korrelationseffekten aber
isolierend sind. Die Bezeichnung geht auf den britischen Physiker Sir Nevill F. Mott zu-
rück, der 1974 vorhersagte, dass die Coulomb-Wechselwirkung zwischen den Ladungs-
trägern zu einem isolierenden Zustand in Metallen führen kann.21 Anschaulich können
wir dies so verstehen, dass ein Elektron beim Hüpfen auf einen bereits mit einem Elektron
besetzten Nachbarplatz aufgrund der Coulomb-Wechselwirkung eine hohe Energie U
aufbringen muss. Falls diese wesentlich größer als die verfügbare kinetische Energie t des
Elektrons ist, wird das Hüpfen stark unterdrückt. Es resultiert dann ein Zustand mit loka-
lisierten Elektronen, der elektrisch isolierend ist. Im umgekehrten Fall, t ≫ U, erhalten
wir einen metallisch leitenden Zustand. Eine einfache Beschreibung dieses Sachverhalts
kann mit dem Hubbard-Modell erfolgen [vergleiche hierzu (8.7.7) und Abschnitt 8.7.3]
3. Peierls-Isolatoren:
Peierls-Isolatoren treten in niedrigdimensionalen Metallen auf, die eine Instabilität ge-
genüber der Ausbildung von so genannten Ladungsdichtewellen besitzen.22 Die Peierls-
Instabilität können wir am einfachsten durch die Betrachtung eines eindimensionalen
Metalls mit einem Elektron pro Gitterplatz verstehen. Da wir in diesem Fall halbe Band-
füllung vorliegen haben, erwarten wir einen metallischen Zustand. Gehen wir von ei-
nem Zustand mit konstantem Gitterabstand a der Atome zu einem Zustand über, bei
dem der Abstand abwechselnd um δa verkleinert und vergrößert ist, so entspricht dies
einer räumlichen Modulation der Ladungsdichte. Da die betrachtete Verzerrung insge-
samt zu einer Energieabsenkung führt, ist das betrachtete System instabil gegenüber der
Ausbildung einer Ladungsdichtewelle (Peierls-Instabilität). Diese Modulation resultiert
im Realraum in einer Verdopplung der Gitterkonstante auf 2a und entsprechend im re-
ziproken Raum einer Halbierung des Durchmessers der Brillouin-Zone auf π⇑a. Da jetzt
bei halber Füllung der Fermi-Wellenvektor k F = π⇑2a genau mit dem Rand ±π⇑2a der
Brillouin-Zone zusammenfällt, entsteht eine Bandlücke 2∆ bei der Fermi-Energie. Wir
erhalten somit einen Metall-Isolator-Übergang. In zwei- und dreidimensionalen Syste-
men ist die Peierls-Instabilität allerdings meist stark unterdrückt.

20
P. W. Anderson, Absence of Diffusion in Certain Random Lattices, Phys. Rev. 109, 1492 (1958).
21
N. F. Mott, Metal-Insulator Transitions, Taylor & Francis, London (1974).
22
R. E. Peierls, Quantum Theory of Solids, Oxford University Press, Oxford (1955).
350 8 Energiebänder

4. Topologische Isolatoren:
Die erst vor wenigen Jahren entdeckte Materialklasse der topologischen Isolatoren23 , 24
zeichnet sich dadurch aus, dass sie im Innern elektrisch isolierend sind, an ihren Ober-
flächen jedoch eine ultradünne, weniger als einen Nanometer dicke Schicht ausbilden,
die den elektrischen Strom besonders gut leitet. Die Ursache für diese außerordentliche
Leitfähigkeit sind elektronische Oberflächenzustände. Solche Zustände gibt es bei den
meisten Materialien und sind deshalb nichts Ungewöhnliches. Das Besondere an den to-
pologischen Isolatoren ist, dass die leitenden Oberflächenzustände durch die fundamen-
tale Symmetrie (Topologie) der Bandstruktur im Innern des Materials aufgezwungen
werden. Diese Eigenschaft macht die metallischen Oberflächenzustände quasi immun
(topologisch geschützt) gegen Verunreinigungen oder Störungen. Im Zusammenspiel
mit der Spin-Bahn-Kopplung führt dies dazu, dass die sich an der Oberfläche bewe-
genden Elektronen nicht zurückgestreut werden können und sich somit dissipations-
los bewegen. Diese Eigenschaft hat viel Aufsehen erregt, da dadurch u.U. elektronische
Bauelemente mit geringerem Leistungsbedarf realisiert werden können. Zu der Klasse
der Topologischen Isolatoren werden heute auch Quanten-Hall-Systeme gerechnet (sie-
he Abschnitt 10.5). Eine weitergehende Diskussion von topologischen Isolatoren folgt in
Kapitel 14.

8.5 Zustandsdichte und Bandstrukturen


Wir wollen in diesem Abschnitt die Zustandsdichte der Elektronenzustände diskutieren und
einige Beispiele für Bandstrukturen vorstellen. Hinsichtlich der Zustandsdichte werden wir
auf die in Abschnitt 5.3 im Zusammenhang mit der Zustandsdichte der Phononen geführte
allgemeine Diskussion zurückgreifen. Bezüglich der Bandstruktur werden wir uns auf ei-
ne qualitative Diskussion beschränken, ohne auf die Details von Bandstrukturrechnungen
einzugehen.

8.5.1 Zustandsdichte
In Analogie zur Zustandsdichte der Phononen, die wir bei der Behandlung der thermi-
schen Eigenschaften des Gitters eingeführt haben (vergleiche Abschnitt 5.3), führen wir
die Zustandsdichte D(E) der elektronischen Zustände ein. Wir erweitern dabei die in Ab-
schnitt 7.1.1 für das freie Elektronengas geführte Diskussion auf Systeme mit einer kompli-
zierteren Form der Flächen konstanter Energie E(k) = const. Sobald diese Energieflächen
bekannt sind, können wir in völliger Analogie zu Abschnitt 5.3 die Zustandsdichte D(E)

23
Ch. L. Kane, E. J. Mele, A New Spin on the Insulating State, Science 314, 1692-1693 (2006).
24
B. A. Bernevig, T. L. Hughes, Shou-Cheng Zhang, Quantum Spin Hall Effect and Topological Phase
Transition in HgTe Quantum Wells, Science 314, 1757-1761 (2006).
8.5 Zustandsdichte und Bandstrukturen 351

ermitteln. Die Zustandsdichte im Energieraum erhalten wir mit [vergleiche hierzu (7.1.16)]
k(E+∆E) k(E+∆E) E(k)+∆E
V
∫ Z(k)d k = 2 3
∫ d k=3
∫ D(E)dE ≃ D(E)∆E (8.5.1)
(2π)3
k(E) k(E) E(k)

und der bekannten Dispersion E(k) in Analogie zu (5.3.25) mit d 3 k = dS E dk⊥ zu

V dS E
D(E) = 2 ∫ . (8.5.2)
(2π)3 ⋃︀∇k E(k)⋃︀
E(k)=const

Hierbei ist dS E ein Flächenelement der Fläche konstanter Energie E(k) = E und ∇k E(k) =
dE(k)⇑dk⊥ , wobei dk⊥ senkrecht auf dS E steht. Wir können in (8.5.2) noch durch das Vo-
lumen teilen, um die Zahl der Zustände pro Volumen und Energie zu erhalten.
Für freie Elektronen sind die Flächen konstanter Energie Kugeloberflächen und die Disper-
sion ist durch E(k) ∝ k 2 gegeben, so dass wir das Ergebnis (7.1.18) erhalten (vergleiche
Abschnitt 7.1.1). Für Kristallelektronen können die Flächen konstanter Energie (siehe Ab-
schnitt 8.6) wesentlich komplizierter aussehen. Die Zustandsdichte D(E) erhält insbeson-
dere durch diejenigen k-Raumpunkte, für die ⋃︀∇k E(k)⋃︀ = 0, d. h. für welche die Dispersi-
onskurve E(k) flach verläuft, eine reichhaltige Struktur. Diese Punkte nennen wir kritische
Punkte, sie resultieren in so genannten van Hove Singularitäten in der Zustandsdichte. Für
dreidimensionale Systeme wird D(E) in der Nähe der kritischen Punkte allerdings nicht sin-
gulär, da eine Entwicklung von E(k) um diese kritischen Punkte immer E(k) ∝ k 2 liefert
(siehe z. B. Abschnitt 8.3.1). Dies impliziert, dass ⋃︀∇k E(k)⋃︀−1 eine 1⇑k Singularität besitzt
und deshalb das Integral über die Fläche E(k) = const eine lineare k-Abhängigkeit besitzt.
Die Form von D(E) in der Nähe eines kritischen Punktes ist in Abb. 8.20 skizziert. In der
Nähe des kritischen Punkts können wir die Dispersion wie folgt schreiben:
3
E(k) = E c + ∑ c i (k i − k c i )2 . (8.5.3)
i=1

Minimum Sattelpunkt I Sattelpunkt II Maximum


D(E) D(E) D(E) D(E)

0 Ec E 0 Ec E 0 Ec E 0 Ec E
c1, c2, c3 > 0 c1, c2 > 0; c3 < 0 c1 > 0; c2, c3 < 0 c1, c2, c3 < 0

Dispersion
Abb. 8.20: in der Nähe
Qualitativer des kritischen
Verlauf Punktes:
der Zustandsdichte D(E) in der Nähe von kritischen Punkten. Die
Energie am kritischen Punkt ist E c .
352 8 Energiebänder

Hierbei ist E c die Energie am kritischen Punkt und c i sind Konstanten, die je nach Art des
kritischen Punktes (Minimum, Maximum, Sattelpunkte) unterschiedliches Vorzeichen ha-
ben. Wir erhalten
⌈︂
D(E) = D 0 + C E − E c , c 1 , c 2 , c 3 > 0, Minimum (8.5.4)
⌈︂
D(E) = D 0 − C E c − E, c 1 , c 2 > 0, c 3 < 0, Sattelpunkt I (8.5.5)
⌈︂
D(E) = D 0 − C E − E c , c 1 > 0, c 2 , c 3 < 0, Sattelpunt II (8.5.6)
⌈︂
D(E) = D 0 + C E c − E, c 1 , c 2 , c 3 < 0, Maximum (8.5.7)

8.5.2 Beispiele für Bandstrukturen


8.5.2.1 Einfache Metalle
Abb. 8.21 zeigt die Bandstruktur von Aluminium (Elektronenkonfiguration: [Ne]3s 2 3p1 ).
Ein Charakteristikum der Bandstruktur von Al ist die Tatsache, dass sie in guter Näherung
durch die parabolische Abhängigkeit von freien Elektronen beschrieben werden kann. Die
Bandlücken an den Zonenrändern sind relativ klein und die Komplexität der Bandstruktur
resultiert hauptsächlich daraus, dass die Energieparabeln im reduzierten Zonenschema ge-
plottet sind, also in die 1. Brillouin-Zone zurückgefaltet wurden. Die ⌋︂
Zustandsdichte zeigt
wenig Struktur und folgt in etwa dem für freie Elektronen erwarteten E-Verlauf. Ähnlich
einfache Bandstrukturen, die gut durch den für freie Elektronen erwarteten Verlauf angenä-
hert werden können, werden für die Alkalimetalle beobachtet.
z

L
16 U 16
G
S
y
X Z W K
x

12 12
EF EF
Energie (eV)

8 8

4 Al 4

0 0
G X W L G K X 0.0 0.4 0.8
Wellenvektor DOS (1/eV)
Abb. 8.21: Bandstruktur von Aluminium entlang von Richtungen hoher Symmetrie (links). Der Γ-
Punkt ist das Zentrum der 1. Brillouin-Zone (siehe Inset). Die Bandlücken an der Zonengrenzen sind
klein und der Bandverlauf kann in weiten Teilen durch parabelförmige Kurven angenähert werden.
Rechts ist die Zustandsdichte D(E) gezeigt (nach B. Segal, Phys. Rev. 124, 1797 (1961)).
8.5 Zustandsdichte und Bandstrukturen 353

8.5.2.2 3d-Übergangsmetalle
Im Vergleich zu den einfachen Metallen sind die Bandstrukturen der 3d-Übergangsmetalle
viel komplizierter. Dies liegt an den relativ stark gebundenen 3d-Elektronen. Im Vergleich
zu den äußeren s-Elektronen, die einen großen s-s-Überlapp haben und dadurch in breiten
Bändern resultieren, ist der d-d-Überlapp sehr klein. Dadurch erhalten wir im Vergleich zu
den breiten s-Bändern sehr schmale d-Bänder. Dies ist in Abb. 8.22 am Beispiel von Kupfer
(Elektronenkonfiguration: [Ar]3d 10 4s 1 ) verdeutlicht. Die s-Elektronen resultieren in einem
sehr breiten Band, das bei etwa −9.5 eV beginnt (Minimum am Γ-Punkt) und unterhalb von
etwa −5 eV einen fast parabolischen Verlauf hat. Dies zeigt, dass die s-Elektronen als quasi-
freie Elektronen betrachtet werden können. Die schmalen d-Bänder liegen zwischen etwa
−6 und −2 eV. Am Fermi-Niveau dominiert dagegen wiederum das parabolische s-Band.
Dies erklärt, warum wir die Eigenschaften von Cu recht gut im Rahmen des freien Elek-
tronengasmodells beschreiben können. Dies ist völlig anders für Fe, Ni oder Co. Für diese
3d-Übergangsmetalle liegt das Fermi-Niveau im Bereich der d-Bänder, die für diese Ele-
mente nur teilweise gefüllt sind. Die Eigenschaften von Fe, Ni und Co können deshalb nur
schlecht mit einem freien Elektronengasmodell beschrieben werden.
Der flache Verlauf der d-Bänder spiegelt sich in einer reichhaltigen Struktur der Zustands-
dichte D(E) wider. Dies wird durch ein Verschwinden von ⋃︀∇k E(k)⋃︀ verursacht. Ferner ist
die Zustandsdichte im Bereich der d-Bänder sehr hoch, da in den schmalen d-Bändern viele
Zustände innerhalb eines kleinen Energieintervalls untergebracht werden können. Im Ge-
gensatz dazu liefert das breite s-Band eine kleine Zustandsdichte.

s Cu
0 EF EF 0

-2 -2
Energie (eV)
Energie (eV)

-4 -4
d
-6 -6

-8 s -8

-10 -10

8 6 4 2 0L G X K G
DOS (bel. Einh.) Wellenvektor

Abb. 8.22: Bandstruktur E(k) von Kupfer entlang der Richtungen hoher Symmetrie. Links ist die re-
sultierende Zustandsdichte gezeigt (die Symbole entsprechen experimentellen Daten aus R. Courths
und S. Hüfner, Phys. Rep. 112, 55 (1984)).
354 8 Energiebänder

8.5.2.3 Halbleiter
Falls die Bandstruktur eine absolute Energielücke besitzt, das heißt, wenn für alle k-Rich-
tungen in einem bestimmten Energiebereich keine Zustände verfügbar sind, erhalten wir
einen Isolator oder Halbleiter. Als Beispiel ist in Abb. 8.23 die Bandstruktur und Zustands-
dichte von Germanium (Elektronenkonfiguration: [Ar]3d 10 4s 2 4p2 ) gezeigt. Wie Diamant
und Silizium kristallisiert Germanium in einer Diamantstruktur. In diesen Elementen liegt
eine ausgeprägte sp3 -Hybridisierung vor, was in einer für die Diamantstruktur charakteristi-
schen tetragonalen Bindungsstruktur resultiert. Die Bildung von sp3 -Hybridorbitalen führt
zur Ausbildung von zwei energetisch getrennten sp3 -Subbändern. Das untere dieser Bänder
ist vollständig gefüllt, das obere vollkommen leer. Die Fermi-Energie liegt bei T = 0 etwa
in der Mitte der Bandlücke. Die kleinste Lücke von E g = 0.75 eV liegt zwischen dem Γ- und
dem L-Punkt vor. Die direkte Bandlücke am Γ-Punkt ist mit E g = 1.1 eV etwas größer. Wir
sprechen deshalb von einem indirekten Halbleiter.

8 Ge 8
Leitungsbänder
L3
4 4

L1 G2´
Energie (eV)

0 Energielücke Energielücke 0
L3´ G25´ X4

-4 -4
Valenzbänder

-8 L1 -8

-12 -12
1.5 1.0 0.5 0L G X G
DOS (1/eV) Wellenvektor
Abb. 8.23: Berechnete Bandstruktur E(k) von Germanium entlang der Richtungen hoher Symmetrie.
Links ist die resultierende Zustandsdichte gezeigt. Eingezeichnet sind auch einige kritische Punkte
(nach F. Hermann, R. L. Kortum, C. D. Kuglin, J. L. Shay, in Semiconducting Compounds, D. G. Thomas
ed., Benjamin, New York (1967)).

8.5.3 Experimentelle Bestimmung der Bandstruktur


Die verschiedenen Aspekte der Bandstruktur von Festkörpern lassen sich mit jeweils ange-
passten experimentellen Methoden untersuchen. Beispiele dafür sind:

1. Energielücke von Halbleitern:


∎ Messung des Hall-Effekts und der Temperaturabhängigkeit der elektrischen Leitfä-
higkeit (siehe hierzu Abschnitt 10.1.5)
∎ Messung der optischen Absorption
8.5 Zustandsdichte und Bandstrukturen 355

2. Effektive Masse:
∎ Messung der Temperaturabhängigkeit der spezifischen Wärme des Elektronensys-
tems
3. Zustandsdichte am Fermi-Niveau:
∎ Messung der Temperaturabhängigkeit der spezifischen Wärme des Elektronensys-
tems
4. Fermi-Fläche:
∎ Messung des de Haas–van Alphen25 , 26 oder Shubnikov–de Haas27 , 28 Effekts (siehe
hierzu Abschnitt 9.11.1 und 9.11.2)
∎ Analyse der Magnetotransporteigenschaften

Wir werden die Methoden zur Bestimmung der Fermi-Fläche in Abschnitt 9.11 näher er-
läutern, nachdem wir uns mit der Dynamik der Kristallelektronen beschäftigt haben.
Eine der wichtigsten Methoden zur Bestimmung der kompletten Bandstruktur stellt die Pho-
toelektronenspektroskopie (PES) dar, auf die wir im Folgenden näher eingehen wollen. In-
formationen über die k-Abhängigkeit erhält man dabei durch winkelaufgelöste Experimen-
te: ARPES (angle resolved photo electron spectroscopy).29 , 30 , 31 , 32 Es gibt ferner noch einige
Methoden, die sich nur zur Untersuchung der Fermi-Flächen von Metallen, nicht aber zur
Bestimmung der gesamten Bandstruktur eignen. Auf diese Methoden werden wir später in
Abschnitt 9.11 eingehen.
Die prinzipielle Funktionsweise der PES ist in Abb. 8.24 dargestellt. Der zu untersuchende
Festkörper wird mit Photonen der Energie ħω bestrahlt. Dadurch werden Elektronen von
besetzten Bändern in unbesetzte Zustände des Quasikontinuums oberhalb des Vakuumni-
veaus E vac angeregt. Falls diese Elektronen genügend Energie haben, um die Austrittsarbeit
Φ A des Materials zu überwinden, können sie aus dem Festkörper entkommen. Die Energie-
bilanz lautet dabei (vergleiche Abb. 8.24)

ħω = Φ A + E kin + E b , (8.5.8)

wobei E kin die kinetische Energie der ausgetretenen Elektronen ist und E b die Bindungs-
energie der Elektronen im Festkörper (Abstand vom Fermi-Niveau). Wenn E kin gemessen
25
W. J. de Haas and P. M. van Alphen, Proc. Netherlands Roy. Acad. Sci. 33, 1106 (1930); Leiden
Commun. 208d, 212a (1930).
26
Wander Johannes de Haas, holländischer Physiker und Mathematiker, geboren am 2. März 1878
in Lisse, gestorben am 26. April 1960 in Bilthoven.
27
L. W. Shubnikov, W. J. de Haas, Proceedings of the Royal Netherlands Academy of Arts and
Science 33, 130 (1930), ibid. S. 163.
28
Lev Vasilyevich Shubnikov, russischer Physiker, geboren am 9. September 1901 in St. Petersburg,
gestorben am 10. November 1937.
29
M. Cardona, L. Ley, eds, Photoemission in Solids I, II, Topics Appl. Phys. Vol. 26, 27, Springer,
Berlin, Heidelberg (1979).
30
B. Feuerbach, B. Fitton, R. F. Willis eds., Photoemission and Electronic Properties of Surfaces, Wiley,
New York (1978).
31
H. Lüth, Surfaces and Interfaces of Solids, Springer, Berlin, Heidelberg (1993).
32
R. Courths und S. Hüfner, Photoemission experiments on copper, Phys. Rep. 112, 55 (1984).
356 8 Energiebänder

Photonenquelle Analysator

ℏ𝝎 𝜶 𝒆−
Probe Detektor

𝑫 𝑬 ℏ𝝎

𝑬𝐅 𝑬𝐯𝐚𝐜
𝟎 tiefliegendes 𝑬𝒃 𝚽𝐀 𝑬𝐤𝐢𝐧 𝑬max
kin 𝑬
Band

ℏ𝝎

Abb. 8.24: Oben: Prinzipieller Aufbau eines Photoemissionsexperiments mit Photonenquelle, Pro-
be, Analysator und Detektor. Unten: Schematische Darstellung der Bandstruktur (über 63 alle k gemit-
telt) und der relevanten Energien bei der Photoemissionsspektroskopie. Die Austrittsarbeit ist ϕ A =
E vac − E F . Die Elektronen werden aus den besetzten Bändern in das Quasikontinuum der unbesetzten
Zustände angeregt.

wird und Φ A sowie ħω bekannt sind, so kann im Experiment E b bestimmt werden. Die An-
zahl N(E kin ) der im Experiment gemessenen Elektronen mit einer bestimmten Energie E kin
gibt Auskunft über die Verteilung der im Festkörper besetzten elektronischen Zustände. Die
max
maximale kinetische Energie der Photoelektronen ist E kin = ħω − Φ A . Sie entspricht einer
Bindungsenergie E b = 0, also Elektronen am Fermi-Niveau. Da die Zustände oberhalb von
E F nicht besetzt sind (abgesehen von der Verschmierung durch die Fermi-Funktion), wer-
den keine Photoelektronen mit größeren kinetischen Energien gemessen.
Um die komplette Bandstruktur E n (k) zu bestimmen, nutzt man zusätzlich zur Energie-
erhaltung auch die Erhaltung des Kristallimpulses aus. Man führt hierzu winkelaufgelöste
Messungen durch, mit denen man mit gewissem Aufwand die komplette Bandstruk-
tur E n (k) bestimmen kann.33
Bezüglich der experimentellen Techniken wollen wir noch Folgendes anmerken:

∎ Da die Elektronen stark mit den Gitteratomen wechselwirken, besitzen sie nur eine ge-
ringe Austrittstiefe in der Größenordnung von 5 Å bei einer Energie zwischen etwa 10
und 100 eV. Deshalb ist die PES eine oberflächensensitive Methode. Dies hat Nachtei-
le, da eine Verschmutzung der Oberfläche verhindert werden muss (Ultrahochvakuum)
und in vielen Fällen eine Rekonstruktion der oberflächennahen Schichten eine Untersu-
chung von Bulk-Eigenschaften von Festkörpern schwierig macht. Andererseits können
mit der PES aber Oberflächenphänomene sehr gut untersucht werden.

33
Da beim Austritt der Photoelektronen nur der Impuls parallel zur Oberfläche erhalten bleibt, derje-
nige senkrecht dazu aber nicht, ist die komplette Bestimmung der k-Abhängigkeit allerdings nicht
ganz einfach.
8.5 Zustandsdichte und Bandstrukturen 357

𝒌 − 𝑮𝟐𝟎𝟎 Photonenenergie (eV)


18 Na
30

Elektronenenergie (eV)
𝒌 + 𝑮𝟏𝟎𝟎 23
Photonen-
25 energie (eV)
20 40

28
ℏ𝝎 = 𝟐𝟔 eV 46
10 29 48
𝒌 − 𝑮𝟏𝟎𝟎 54
35 68
75
0 𝑬𝑭

0.0 0.5 1.0 -4 -3 -2 -1 EF -4 -3 -2 -1 EF


Wellenvektor (Å-1) Energie des Anfangszustandes (eV)
70

Abb. 8.25: Rechts: Photoemissionsspektren einer Na (110) Oberfläche (Γ-N Richtung), die für senk-
rechte Emission mit unterschiedlichen Photonenenergien erhalten wurden. In senkrechter Richtung
ist die gemessene Photoelektronenintensität in willkürlichen Einheiten aufgetragen. Links ist der Ver-
lauf der relevanten Bänder gezeigt. Der Pfeil gibt den erwarteten Übergang für eine Photonenenergie
von 26 eV an. Der schattierte Bereich deutet die erwartete Breite der Spektren aufgrund einer end-
lichen freien Weglänge der Photoelektronen im Festkörper an (Daten aus E. Jensen, E. W. Plummer,
Phys. Rev. Lett. 55, 1912 (1985)).

∎ Als Photonenquellen werden üblicherweise Gasentladungslampen verwendet (He: 21.2


und 40.8 eV, Ne: 16.8 und 26.9 eV), die Licht im ultravioletten Bereich liefern. Man
spricht deshalb hier auch von UPS (UV Photoelektronenspektroskopie). Höhere Pho-
tonenenergien können mit Röntgenquellen (heute bevorzugt Synchrotron-Strahlung)
erhalten werden. Man spricht hier von XPS (x-ray Photoelektronenspektroskopie).
∎ Mit Hilfe des inversen Photoeffekts können auch die unbesetzten Zustände im Leitungs-
band spektroskopiert werden. Man beschießt hier die Oberfläche des Festkörpers mit
Elektronen, die eine wohldefinierte Energie haben, und misst die Emission von UV-
Licht.

Als Beispiel sind in Abb. 8.25 PES-Spektren von einer Na (110) Oberfläche gezeigt, die für
senkrechte Emission (α = 0○ ) mit unterschiedlichen Photonenenergien erhalten wurden.
Aufgetragen ist die gemessene Intensität der Photoelektronen gegen die Energie E b des An-
fangszustands. Der Pfeil in Abb 8.25 gibt den erwarteten Übergang für eine Photonenener-
gie von 26 eV an. Der schattierte Bereich deutet die erwartete Energieverschmierung der
Spektren aufgrund einer endlichen freien Weglänge der Photoelektronen im Festkörper an.
Aufgrund dieser Energieverschmierung resultiert auch eine Verschmierung im k-Raum, die
durch die beiden gestrichelten Pfeile angedeutet ist.
Abschließend wollen wir noch darauf hinweisen, dass die Photoelektronenspektroskopie
auch spinaufgelöst durchgeführt werden kann.34 , 35 Dabei werden die emittierten Photoelek-
tronen nicht nur bezüglich ihres Emissionswinkels und ihrer Energie, sondern auch hin-

34
J. Osterwalder, Spin-Polarized Photoemission, Lect. Notes Phys. 697, 95–120 (2006).
35
S. Suga, A. Sekiyama, Photoelectron Spectroscopy: Bulk and Surface Electronic Structures, Springer
Series in Optical Sciences, Vol. 176 (2014).
358 8 Energiebänder

sichtlich ihres Spinzustandes analysiert. Zum Beispiel sind Elektronen, die aus einem fer-
romagnetischen Metall emittiert werden, aufgrund der Austauschwechselwirkung spinpo-
larisiert (vergleiche hierzu Kapitel 12). Mit Hilfe von spinaufgelöster PES können die Spin-
zustände in Ferromagneten untersucht werden. Diese Technik kann auch zur Erzeugung
spinpolarisierter Elektronen sowie zum Studium magnetischer Phasenübergänge oder von
Oberflächenmagnetismus verwendet werden.

8.6 Fermi-Flächen von Metallen


Für Metalle liegt die Fermi-Energie in einem teilweise gefüllten Energieband. Bei T = 0
trennt die Fläche konstanter Energie E(k) = E F die besetzten von den unbesetzten Zu-
ständen, wir nennen diese Fläche Fermi-Fläche. Wir wollen uns in diesem Abschnitt mit
der Form der Fermi-Flächen von Metallen beschäftigen, da sie für viele Eigenschaften von
Metallen große Bedeutung besitzt. Dies liegt daran, dass bei einer Erhöhung der Temperatur
oder beim Anlegen eines elektrischen Feldes sich eine Veränderung der Zustandsbesetzung
nur in der Nähe der Fermi-Fläche abspielt. Die elektronischen Eigenschaften von Metallen
werden deshalb weitgehend von der Gestalt der Fermi-Fläche bestimmt. Wir erinnern uns,
ħ2 2
dass für freie Elektronen mit der Dispersion E(k) = 2m k die Flächen konstanter Energie
im k-Raum Kugeln sind. Die durch das periodische Gitterpotenzial bewirkte Aufspaltung
der Energiewerte an den Grenzen der Brillouin-Zonen bewirkt eine mehr oder weniger
starke Abweichung von der Kugelgestalt.

8.6.1 Quadratisches Gitter


8.6.1.1 Freie Elektronen
Wir wollen zunächst einige grundlegende Betrachtungen für ein zweidimensionales quadra-
tisches Gitter mit Gitterkonstante a machen, für das wir die entsprechenden Sachverhalte
grafisch einfach darstellen können. In Abb. 8.26 (oben) ist die Situation für ein quadrati-
sches Gitter mit freien Elektronen skizziert. Die Dispersionskurve E(k) ist ein Paraboloid.
Eingezeichnet sind hier auch zwei mögliche Fermi-Flächen A und B,36 die wir bei unter-
schiedlicher Elektronenzahl pro Gitterplatz erhalten würden. Ferner sind in Abb. 8.26 (oben)
die ersten drei Brillouin-Zonen des quadratischen Gitters im ausgedehnten und reduzierten
Zonenschema gezeigt. Dabei ist jeweils die Auffüllung der Brillouin-Zonen für die Fermi-
Fläche A und B gezeigt. In Abb. 8.26 (unten) ist eine Darstellung im periodischen Zonen-
schema gegeben. Die Konstruktion der Brillouin-Zonen haben wir bereits ausführlich in
Abschnitt 2.1.4 beschrieben und soll hier nicht mehr diskutiert werden.
Für die Fermi-Fläche B ist die Situation sehr einfach. Hier ist nur die 1. Brillouin-Zone teil-
weise gefüllt. Wir erhalten einen Kreis als Fermi-Oberfläche. Interessanter wird die Situation
für die Fermi-Fläche A. Die 1. Brillouin-Zone liegt hier vollständig innerhalb des Fermi-
36
Wir benutzen hier weiter den Ausdruck Fermi-Fläche, obwohl wir im Zweidimensionalen nur eine
Begrenzungslinie vorliegen haben.
8.6 Fermi-Flächen von Metallen 359

𝑬 reduziertes Zonenschema
𝒌𝒚 1. BZ
Fermi-
Fläche A 3
M
𝒌𝒚 2. BZ
Fermi- 2 1 X
Fläche B G 𝒌𝒙
𝝅 0 𝝅 𝒌𝒙 3. BZ
− 1. BZ
𝒂 𝝅 𝒂 ausgedehntes
− Zonenschema
𝒂
A B
A B

1. BZ 2. BZ 3. BZ 1. BZ
periodisches Zonenschema

Abb. 8.26: Fermi-Fläche eines quadratischen Gitters mit freien Elektronen. Oben links ist der parabo-
lische Verlauf der Dispersionskurve zusammen mit zwei möglichen Fermi-Kreisen A und B 72 bei un-
terschiedlicher Elektronenzahl pro Gitterplatz gezeigt. Oben in der Mitte und rechts sind die ersten
drei Brillouin-Zonen im ausgedehnten und reduzierten Zonenschema, unten im periodischen Zonen-
schema gezeigt. Für die beiden Fermi-Energien sind die Füllung der Brillouin-Zonen und die daraus
resultierenden Fermi-Flächen gezeigt. Die 4. Brillouin-Zone ist nicht mehr gezeigt.

Kreises und ist somit vollständig gefüllt. Die 2. Brillouin-Zone liegt dagegen nur teilweise
innerhalb des Fermi-Kreises und ist deshalb nicht vollständig gefüllt. Da sich der Fermi-
Kreis bis in die 3. Brillouin-Zone erstreckt, ist auch diese teilweise gefüllt. Im reduzierten
und periodischen Zonenschema erkennen wir, dass die 2. Brillouin-Zone fast vollständig
gefüllt ist. Die Fermi-Fläche in der zweiten Brillouin-Zone kann deshalb als Umrandung ei-
nes „Lochs“ um das Zonenzentrum aufgefasst werden. Die 3. Brillouin-Zone hat die Form
von Rosetten, die um die Eckpunkte der 1. Brillouin-Zone angeordnet sind.

8.6.1.2 Fast freie Elektronen


Wir wollen nun überlegen, wie sich die in Abb. 8.26 gezeigte Fermi-Fläche ändert, wenn
wir statt freien Elektronen fast freie Kristallelektronen annehmen. Wir benutzen für eine
qualitative Diskussion folgende Fakten:

∎ Aufgrund des periodischen Kristallpotenzials erhalten wir Energielücken an den Rän-


dern der Brillouin-Zonen.
∎ Da die Lösungen der Schrödinger-Gleichung an der Zonengrenze stehende Wellen sind,
verschwindet dort die Komponente der Gruppengeschwindigkeit ∇k E⇑ħ senkrecht
zur Zonengrenze. Das heißt, der Gradient von E(k) verläuft parallel zu den Grenzen
der Brillouin-Zone und die Linien konstanter Energie, E(k) = const, schneiden die
Brillouin-Zonen senkrecht.
360 8 Energiebänder

2. BZ Fermi-Fläche 2. BZ
freie Elektronen Kristallelektronen
3. BZ

2. BZ

3. BZ 3. BZ
1. BZ

ausgedehntes Zonenschema
freie Elektronen Kristallelektronen

Abb. 8.27: Qualitativer Verlauf der Fermi-Flächen von freien Elektronen (links) und Kristallelektro-
nen (rechts) für ein quadratisches Gitter. In der Mitte sind die ersten drei Brillouin-Zonen im ausge-
dehnten Zonenschema gezeigt. Eingezeichnet ist hier der Verlauf der Fermi-Fläche von freien Elek-
tronen (Kreis, gestrichelt, orange) und der von Kristallelektronen (durchgezogene Linie, blau). Die
4. Brillouin-Zone ist nicht mehr gezeigt.

∎ Das Kristallpotenzial wird scharfe Strukturen in der Fermi-Fläche abrunden.


∎ Das Gesamtvolumen, das von der Fermi-Fläche eingeschlossen wird, hängt nur von der
Elektronenzahl ab und ist somit unabhängig von den Details der Wechselwirkung der
Elektronen mit dem Gitter.

Berücksichtigen wir diese Tatsachen, so erhalten wir die in Abb. 8.27 gezeigten Fermi-
Flächen. Wir sehen, dass der Fermi-Kreis, den wir für den Fall freier Elektronen erhalten,
an den Zonenrändern verformt werden muss, so dass er die Ränder der verschiedenen
Brillouin-Zonen senkrecht schneidet. Dies entspricht dem veränderten Verlauf der Disper-
sionskurve E(k) am Rand der Brillouin-Zonen beim Übergang von vollkommen freien
zu Kristallelektronen. Die Fermi-Linie zeigt auf den Rändern der Brillouin-Zonen Un-
stetigkeitsstellen, die eine Konsequenz der endlichen Energielücke an den Zonenrändern
sind. Wir erkennen, dass durch die Verbiegung der Fermi-Linie jetzt mehr Elektronen in
die 2. Brillouin-Zone eingebaut werden können. Da die Elektronen hier eine geringere
Energie als in der nächst höheren Brillouin-Zone besitzen, führt das zu einer Energieab-
senkung. Die insgesamt von der gestrichelten (freie Elektronen) und der durchgezogenen
Linie (Kristallelektronen) umschlossene Fläche muss gleich sein, da die Fläche ja durch die
Gesamtzahl der Elektronen gegeben ist und wir diese als konstant angenommen haben.
Schließlich zeigt Abb. 8.27, dass die scharfen Strukturen, welche die Fermi-Fläche von
freien Elektronen zeigt, da sie die Zonengrenze nicht senkrecht schneiden, für den Fall der
Kristallelektronen abgerundet werden. Der auf diese einfache Weise erhaltene schematische
Verlauf der Fermi-Fläche ist für die Anschauung sehr nützlich.
Wir wollen abschließend noch einige numerisch berechnete Fermi-Flächen zeigen. Wir be-
ginnen mit einfachen Metallen wie Cu, Ag, Au oder den Alkalimetallen. Die Alkalimetalle
8.6 Fermi-Flächen von Metallen 361

Li Na K Rb

Cs Cu Ag Au

Abb. 8.28: Fermi-Flächen von einfachen Metallen. Die Alkali-Metalle kristallisieren in einem bcc-
Gitter, Cu, Ag und Au in einem fcc-Gitter (Quelle: T.-S. Choy, J. Naset, J. Chen, S. Hershfield, C. Stanton,
A database of fermi surface in virtual reality modeling language (vrml), Bull. Am. Phys. Soc. 45, L36 42
(2000)). Die Linien deuten die 1. Brillouin-Zone an, die für ein bcc-Gitter ein rhombisches Dodekaeder
und für ein fcc-Gitter ein abgestumpfter Oktaeder mit 8 Sechsecken und 6 Quadraten ist (vergleiche
Abb. 2.4).

besitzen eine bcc-Struktur und alle jeweils nur ein Valenzelektron pro Atom. Cu, Ag und
Au kristallisieren in der fcc-Struktur und haben ebenfalls nur ein Elektron in der 4s-, 5s-
bzw. 6s-Schale. Im Gegensatz zu den Alkalimetallen sind aber die 3d-, 4d- bzw. 5d-Bänder
hier vollständig gefüllt. In jedem Fall ist die Zahl der Elektronen im obersten besetzten Band
gerade gleich der Zahl N der Gitteratome. Das im k-Raum beanspruchte Volumen beträgt
gerade die Hälfte des Volumens der Brillouin-Zone, also

1 (2π)3
VN = , (8.6.1)
2 V
wobei der Faktor 12 aus der Spin-Entartung resultiert. Bei völlig freien Elektronen würde der
Radius der Fermi-Kugel gerade

N 1⇑3
k F = (3π 2 ) (8.6.2)
V
betragen. Für ein kubisch flächenzentriertes Gitter gilt ferner
N 4
= 3, (8.6.3)
V a
wobei a die Gitterkonstante ist. Setzen wir diesen Wert in (8.6.2) ein, so erhalten wir
1⇑3
12π 2 4.91
kF = ( ) ≃ . (8.6.4)
a3 a

⌋︂
Der kürzeste Abstand des Zentrums der 1. Brillouin-Zone zum Zonenrand beträgt für die
1. Brillouin-Zone eines fcc-Gitters gerade 12 2π
a
3 ≃ 5.44
a
. Wir sehen, dass dieser Wert größer
362 8 Energiebänder

Ca Sr Zn Cd

Al Ni Ni↑ Ni↓

Abb. 8.29: Fermi-Flächen von komplexeren Metallen. Die Erdalkali-Metalle Ca und Sr kristallisieren
in einem fcc-Gitter. Zn und Cd kristallisieren eigentlich in der hcp-Struktur, gezeigt ist allerdings die
Fermi-Fläche für eine fcc-Struktur, um einen Vergleich zu Ca und Sr zu ermöglichen. Gezeigt sind fer-
ner die Fermi-Flächen von Al (fcc-Struktur) und Ni (fcc-Struktur) gemittelt über beide Spin-Richtun-
gen und für jede Spin-Richtung getrennt (Quelle: T.-S. Choy, J. Naset, J. Chen, S. Hershfield, C. Stanton,
A database of fermi surface in virtual reality modeling language (vrml), Bull. Am. Phys. Soc. 45, L36 42
(2000)).
http://www.phys.ufl.edu/fermisurface

ist als k F . Das heißt, die Fermi-Kugel der völlig freien Elektronen berührt den Zonenrand
der 1. Brillouin-Zone nicht. Dadurch sollte die Fermi-Fläche der Kristallelektronen derje-
nigen der freien Elektronen sehr ähnlich sein, da ja große Abweichungen nur in der Nä-
he des Zonenrandes auftreten. Da wir allerdings durch das periodische Gitterpotenzial ein
Absenkung der Bandenergie am Rand der 1. Brillouin-Zone erhalten, kommt es zu einer
Aufwölbung der Fermi-Fläche an den Stellen, an denen die Fermi-Kugel der freien Elektro-
nen dem Zonenrand nahe kommt. An diesen Stellen kann die Fermi-Fläche dann auch den
Zonenrand berühren, wobei an den Berührungsstellen die Flächen E(k) = const den Zo-
nenrand senkrecht schneiden. Dies ist, wie Abb. 8.28 zeigt, für Cu, Ag und Au, aber auch für
Cs der Fall. Für die anderen Alkalimetalle ist der Abstand der Fermi-Kugel zum Zonenrand
so groß, dass eine Berührung nicht auftritt. Im periodischen Zonenschema müssen wir die
in Abb. 8.28 gezeigten Fermi-Flächen periodisch fortsetzen. Dabei tritt bei Cs, Cu, Ag und
Au eine Verbindung der verschiedenen Zonen durch schmale „Hälse“ auf.
Die Situation wird schwieriger, wenn wir von den Alkali- zu den Erdalkali-Metallen über-
gehen. In Abb. 8.29 sind die Fermi-Flächen von Ca ([Ar]4s 2 ) und Sr ([Kr]5s 2 ) gezeigt, die
beide in einer fcc-Struktur kristallisieren. Beide Elemente haben zwei s-Elektronen und soll-
ten deshalb Isolatoren sein. Aufgrund einer Bandüberlappung ist das erste Band, das in
Abb. 8.29 gezeigt ist, nur teilweise gefüllt und einige Elektronen besetzen das zweite Band. Zn
([Ar]3d 10 4s 2 ) und Cd ([Kr]4d 10 5s 2 )haben genauso wie Ca und Sr jeweils zwei s-Elektronen,
mit dem Unterschied, dass bei diesen Elementen jetzt die d-Schale komplett gefüllt ist. Die
d-Elektronen liegen allerdings unterhalb des Fermi-Niveaus und spielen für die Form der
Fermi-Fläche eine untergeordnete Rolle. Die Fermi-Flächen von Ca und Sr einerseits und
Zn und Cd andererseits sind deshalb sehr ähnlich.
8.7 Wechselwirkende Elektronensysteme 363

In Abb. 8.29 ist ferner die Fermi-Fläche von Al (fcc-Struktur, Elektronenkonfiguration:


[Ne]3s 2 3p) gezeigt. Wir haben hier drei Valenzelektronen, so dass insgesamt drei Bänder
gefüllt werden. Gezeigt sind nur das zweite (dunkelgelb) und dritte Band (magenta). Das
erste Band ist vollständig gefüllt. Insgesamt ist die Form der Fermi-Fläche jetzt bereits
sehr komplex. Dies spiegelt sich z. B. in komplexen Magnetotransporteigenschaften wider
(siehe hierzu Kapitel 9). Als letztes Beispiel ist in Abb. 8.29 die Fermi-Fläche von Ni gezeigt
(fcc-Struktur, Elektronenkonfiguration: [Ar]3d 8 4s 2 ). Die 3d-Bänder liegen hier im Bereich
der Fermi-Energie, was zu einer sehr komplexen Fermi-Fläche führt. Gezeigt sind das vierte
(gelb), fünfte (magenta) und das sechste Band (blau). Als weitere Besonderheit ist bei Nickel
zu beachten, dass dieses Material unterhalb einer bestimmten Temperatur ferromagnetisch
wird. Dadurch spalten die Bänder für Spin-↑ und Spin-↓ Elektronen energetisch auf. Auf das
Phänomen Magnetismus werden wir aber erst später in Kapitel 12 zu sprechen kommen.
Auf die experimentelle Bestimmung der Fermi-Flächen werden wir in Abschnitt 9.11 einge-
hen, nachdem wir die Bewegung von Kristallelektronen in elektrischen und magnetischen
Feldern diskutiert haben.

8.7 Wechselwirkende Elektronensysteme


Bei der vorangegangenen Diskussion sind wir immer von nichtwechselwirkenden Elektro-
nen ausgegangen, die sich in einem effektiven Potenzial bewegen. Wir können dann die
Energieniveaus der Kristallelektronen in der Näherung unabhängiger Elektronen ausrech-
nen und die Niveaus mit den Kristallelektronen unter Berücksichtigung des Pauli-Prinzips
auffüllen. In vielen Festkörpern spielen allerdings Korrelationen zwischen den Elektronen
eine wichtige Rolle, wir sprechen von korrelierten Elektronensystemen. Verfeinerte Metho-
den zur Berechnung der elektronischen Eigenschaften von Festkörpern müssen deshalb vor
allem der Tatsache Rechnung tragen, dass wir es mit einem System wechselwirkender Elek-
tronen zu tun haben.
Wie bereits in Abschnitt 5.1.1 diskutiert wurde, kennen wir den Hamilton-Operator des
wechselwirkenden Systems aus Elektronen der Masse m und Ladung −e sowie aus Kernen
der Masse M und Ladung Ze. Verwenden wir die adiabatische Näherung aus 5.1.1 und neh-
men zur Vereinfachung an, dass die Kerne fest an den Gitterpositionen lokalisiert bleiben,
erhalten wir den Hamilton-Operator
ħ 2 ∇2i Ze 2 e2
ℋ = −∑ −∑ +∑ , (8.7.1)
i 2m i,k 4πє 0 ⋃︀r i − R k ⋃︀ i< j 4πє 0 ⋃︀r i − r j ⋃︀

wobei wir die Orte der Elektronen mit kleinen und diejenigen der Kerne mit großen Buch-
staben bezeichnet haben. In abgekürzter Form können wir den Hamilton-Operator als
ℋ=𝒯 +𝒱 +𝒰 (8.7.2)
schreiben, wobei 𝒯 und 𝒱 die kinetische und potenzielle Energie des nichtwechselwirken-
den Elektronensystems sind. Die Größe 𝒰 trägt der paarweisen Wechselwirkung der Elektro-
nen untereinander Rechnung und führt zu einer beträchtlichen Komplexität bei der Lösung
der Schrödinger-Gleichung.
364 8 Energiebänder

Zahlreiche Methoden zur Lösung der Schrödinger-Gleichung gehen von Slater-Determi-


nanten aus. Die Idee dabei ist, die Antisymmetrie der Gesamtwellenfunktion unter Aus-
tausch⌋︂zweier beliebiger Elektronen zu erreichen. Nehmen wir nur zwei Elektronen, so
ist 1⇑ 2(︀ψ 1 (x 1 )ψ 2 (x 2 ) − ψ 1 (x 2 )ψ 2 (x 1 )⌋︀ eine geeignete antisymmetrische Gesamtwellen-
funktion. Sie kann in Form einer Determinante geschrieben werden:

1 ψ (x ) ψ 2 (x 1 )
ψ(x 1 , x 2 ) = ⌋︂ ⋁︀ 1 1 ⋁︀ . (8.7.3)
2 ψ 1 (x 2 ) ψ 2 (x 2 )
Diese Vorgehensweise hat John C. Slater auf N Elektronen erweitert.

8.7.1 Hartree-Fock-Methode
Die Hartree-Fock-Methode37 basiert auf der Annahme, dass die exakte N-Elektronen-
Wellenfunktion näherungsweise durch eine Slater-Determinante von Einteilchen-Wellen-
funktionen beschrieben werden kann. Ferner wird die adiabatische (Born-Oppenheimer)
Näherung verwendet und relativistische Effekte (die zur Spin-Bahn-Wechselwirkung füh-
ren) vernachlässigt. Wir können dann eine Variationsrechnung durchführen, indem wir
eine Linearkombination einer endlichen Zahl von Basisfunktionen bilden und die Koeffizi-
enten durch Minimierung der Energie bestimmen. Auf diese Weise können wir die mittlere
Coulomb-Wechselwirkung eines Elektrons mit allen anderen Elektronen und den Kernen
bestimmen, die nach Douglas R. Hartree auch Hartree-Energie genannt wird:

9 ħ2 aB
E Hartree = − Z 5⇑3 ( ) (8.7.4)
5 2ma B2 r A

Hierbei ist ħ 2 ⇑2ma B2 = 13.6 eV die Rydberg-Energie. Diesen Ausdruck haben wir für Z = 1
bereits in Abschnitt 3.5.1 angegeben [vergleiche (3.5.4)].
Die Austauschenergie eines Gases von Leitungselektronen wurde zuerst von Wladimir
A. Fock berechnet und wird deshalb auch als Fock-Energie bezeichnet. Sie kommt in Ana-
logie zur kovalenten Bindung durch den Überlapp der Wellenfunktionen der delokalisierten
Elektronen zustande und beträgt pro Elektron [vergleiche (3.5.7)]

3k F e 2 ħ2 aB
E Fock = − = −0.916 ( ), (8.7.5)
(4π) є 0
2 2ma B2 r A

wobei wir k F = (3π 2 n)1⇑3 und n = ( 43 πr 3A )−1 benutzt haben. Die relativ große negative
Austauschenergie ist für die metallische Bindung entscheidend. Eine Energieerniedri-
gung kommt dadurch zustande, dass Elektronen mit gleichem Spin voneinander entfernt
gehalten werden und so die Coulomb-Abstoßung minimiert wird. In der Hartree-Fock-
Näherung setzt sich die Gesamtenergie des Elektronengases aus der kinetischen Energie
sowie der Hartree- und Fock-Energie zusammen. Die mit der Hartree-Fock-Methode
errechnete Energie erreicht allerdings nie den exakten Wert. Der Grund dafür ist, dass

37
A. Szabo, N. S. Ostlund, Modern Quantum Chemistry, Dover Publishing, New York (1996).
8.7 Wechselwirkende Elektronensysteme 365

durch die Verwendung eines gemittelten Potenzials Korrelationen unter den Elektronen
nicht vollständig erfasst werden. Streng genommen beinhaltet die Bezeichnung „Korrela-
tionen“sowohl Coulomb-Korrelationen als auch Fermi-Korrelationen. Letztere basieren auf
dem Elektronenaustausch, der von der Hatree-Fock-Methode bereits voll berücksichtigt
wird.

8.7.2 Dichtefunktionaltheorie
Eine andere sehr bedeutende Methode ist die Dichtefunktionaltheorie (DFT)38 . Die DFT
ist ein Verfahren zur Bestimmung des quantenmechanischen Grundzustandes eines Viel-
elektronensystems, das auf der ortsabhängigen Elektronendichte n(r) beruht. Vereinfacht
ausgedrückt bildet die DFT ein wechselwirkendes Elektronensystem mit endlicher Elektron-
Elektron-Wechselwirkung 𝒰 auf ein System nichtwechselwirkender Elektronen ab, die sich
in einem effektiven Potenzial bewegen, das in den gleichen Grundzustandseigenschaften re-
sultiert. Mit ihr können dann näherungsweise sowohl die Austauschenergie als auch die Kor-
relationsenergie berechnet werden. Ihre große Bedeutung liegt darin, dass es mit ihr nicht
notwendig ist, die vollständige Schrödinger-Gleichung für ein Vielelektronensystem zu lö-
sen, wodurch der Aufwand an Rechenleistung stark sinkt. Die Grundlage der DFT sind die
Hohenberg-Kohn-Theoreme.39 , 40 Das erste besagt, dass der Grundzustand eines Systems aus
N Elektronen eine eindeutige ortsabhängige Elektronendichte n(r) besitzt und die Gesamt-
energie des Systems ein eindeutiges Funktional dieser Dichte ist. Das zweite Theorem besagt,
dass das Funktional nur dann die Grundzustandsenergie des Systems liefert, wenn die Dichte
n(r) der Grundzustandsdichte n 0 (r) entspricht. In der DFT wird die Grundzustandsdichte
n 0 (r) bestimmt, woraus dann im Prinzip alle weiteren Eigenschaften des Grundzustandes
bestimmt werden können. Diese Eigenschaften, z. B. die Wellenfunktion Ψ0 = Ψ0 (n 0 (r))
und Gesamtenergie E 0 = E 0 (n 0 (r)) = ∐︀Ψ0 ⋃︀𝒯 + 𝒱 + 𝒰⋃︀Ψ0 ̃︀ sind eindeutige Funktionale der
Elektronendichte. Bei der DFT besteht das Problem nun darin, das korrekte Dichtefunktio-
nal zu bestimmen. Auf die hierzu verwendeten Methoden wollen wir hier nicht eingehen.
Die von verschiedenen Autoren für die Korrelationsenergie E K berechneten Ausdrücke un-
terscheiden sich leicht. Nozières und Pines erhalten41
ħ2 rA
EK = − ]︀1.565 − 0.423 ln ( ){︀ . (8.7.6)
2ma B2 aB

8.7.3 Hubbard-Modell
Lange Zeit wurden für die Modellierung wechselwirkender Elektronensysteme zwei ge-
trennte Ansätze verfolgt. Auf der einen Seite stehen die Dichtefunktionaltheorie (DFT)
und ihre lokale Dichtenäherung (LDA), die ab initio Ansätze darstellen und somit keine
38
R. M. Dreizler, E. K. U. Gross, Density Functional Theory, Springer Verlag, Berlin (1990).
39
P. Hohenberg, W. Kohn, Inhomogeneous Electron Gas, Phys. Rev. B 136 864–871 (1964).
40
W. Kohn, L. J. Sham, Self-Consistent Equation Including Exchange and Correlation Effects, Phys. Rev.
A140 1133–1138 (1965).
41
P. Nozières, D. Pines, Correlation Energy of a Free Electron Gas, Phys. Rev. 111 442-454 (1958).
366 8 Energiebänder

empirischen Parameter als Eingangsgrößen benötigen. Mit Hilfe der DFT/LDA können
deshalb prinzipiell die elektronischen Eigenschaften von Festkörpern vorhergesagt wer-
den, diese Methode besitzt aber doch große Einschränkungen bei der Modellierung von
stark korrelierten Systemen. Auf der anderen Seite stehen Ansätze, die Modell-Hamilton-
Operatoren in Verbindung mit Vielteilchenmethoden benutzen. Obwohl sich die hierzu
notwendigen Techniken stark weiterentwickelt haben, besteht nach wie vor das Problem,
dass empirische Parameter als Eingangsgrößen benötigt werden. Zusammen mit der Kom-
plexität der Modellierung des Vielteilchenproblems verhindert dies bis heute, dass die auf
Modell-Hamilton-Operatoren basierenden Ansätze erfolgreich für die Modellierung realer
Materialien verwendet werden können.
Bei den Ansätzen, die auf Modell-Hamilton-Operatoren in Verbindung mit Vielteilchenme-
thoden basieren, ist das einfachste Modell das Einband-Hubbard-Modell, das unabhängig
voneinander von Gutzwiller,42 Hubbard43 und Kanamori44 eingeführt wurde. Das Hubbard-
Modell beschreibt das Verhalten der Elektronen in einem als starr angenommenen Kristall-
gitter. Dabei wird die abstoßenden Coulomb-Wechselwirkung nur für diejenigen Elektronen
berücksichtigt, die sich am gleichen Gitterplatz aufhalten, d.h. die Wechselwirkung zwischen
den Elektronen wird als lokal angenommen. Der Anteil der kinetischen Energie der Elek-
tronen wird durch ein Überlappintegral t modelliert, das aus dem Tight-Binding-Modell
kommt. Der Hamilton-Operator besteht aus der kinetischen Energie und der Wechselwir-
kungsenergie

ℋHubbard = ℋkin + ℋint = − ∑ ∑ t i j c †i,σ c j,σ + U ∑ n i,↑ n i,↓ , (8.7.7)


R i ,R j σ Ri

wobei t i j die Hüpfamplitude zwischen Gitterplatz R i und R j und U die lokale Hubbard-
Wechselwirkung ist. Die Operatoren c †i,σ (c i,σ ) erzeugen (vernichten) ein Elektron mit Spin σ
am Gitterplatz R i . Der Operator n i,σ = c †i,σ c i,σ ist der Teilchenzahloperator, der die Beset-
zung auf Platz i angibt. Offensichtlich beschreibt der erste Term in (8.7.7) das Hüpfen der
Elektronen zwischen den Gitterplätzen und der zweite Term die lokale Wechselwirkung von
Elektronen mit entgegengesetztem Spin auf dem gleichen Gitterplatz. Obwohl das Hubbard-
Modell sehr einfach aussieht, führt der Wettstreit zwischen kinetischer und potenzieller
Energie zu einem komplexen Vielteilchenproblem, das bis heute analytisch nur für eindi-
mensionale Systeme gelöst wurde. Die auf Modell-Hamilton-Operatoren in Verbindung mit
Vielteilchenmethoden basierenden Ansätze wurden kontinuierlich weiterentwickelt und ha-
ben zur Formulierung der Dynamical Mean Field Theory (DMFT) geführt45 , 46 , die heute
erfolgreich zur Modellierung stark korrelierter Elektronensysteme benutzt wird.
42
M. C. Gutzwiller, Effect of Correlation on the Ferromagnetism of Transition Metals, Phys. Rev. Lett.
10, 159–162 (1963).
43
J. Hubbard, Electronic Correlations in Narrow Energy Bands, Proc. Roy. Soc. London A 276, 238–
257 (1963).
44
J. Kanamori, Electron Correlations and Ferromagnetism of Transition Metals, Prog. Theor. Phys. 30,
275–289 (1963).
45
A. Georges et al., Dynamical mean-field theory of strongly correlated fermion systems and the limit
of infinite dimensions, Rev. Mod. Phys. 68, 13 (1996).
46
G. Kotilar, D. Vollhardt, Strongly correlated materials: insights form dynamical mean-field theory,
Physics Today 3, 53 (2004).
Literatur 367

Abschließend wollen wir darauf hinweisen, dass die Dichtefunktionaltheorie und die An-
sätze, die auf Modell-Hamilton-Operatoren basieren, weitgehend komplementär sind. Des-
halb ist eine Kombination beider Herangehensweisen unter Ausnutzung der jeweiligen Stär-
ken der einzelnen Ansätze wünschenswert. Einer der ersten Schritte in diese Richtung war
die LDA+U-Methode,47 die erfolgreich zur Modellierung langreichweitig geordneter, iso-
lierender Zustände von Übergangsmetall- und Seltenerd-Verbindungen benutzt wurde. Die
Behandlung von paramagnetischen metallischen Phasen benötigt allerdings eine Behand-
lung unter Berücksichtigung von dynamischen Effekten in Form einer frequenzabhängigen
Selbstenergie. Dies wurde mit der Entwicklung der LDA+DMFT-Methode48 erreicht, bei der
elektronische Bandstrukturrechnungen in der LDA-Näherung mit Vielteilcheneffekten auf-
grund der lokalen Hubbard-Wechselwirkung und der Hundschen Kopplung zusammenge-
führt werden und dann das entsprechende Korrelationsproblem mit Hilfe der DMFT gelöst
wird.49

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48
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49
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9 Dynamik von Kristallelektronen
Wir haben uns in Kapitel 8 mit den Energie-
werten ε(k) der Kristallelektronen beschäftigt. Die
Energiewerte haben wir durch Lösung der zeitunab-
hängigen Schrödinger-Gleichung mit einem gitter-
periodischen Potenzial erhalten. Die Besetzung der
Zustände haben wir allerdings nur für den Fall dis-
kutiert, dass keine äußeren Kräfte auf die Elektronen
1

wirken. Einige Phänomene, wie zum Beispiel der Ladungs- und Wärmetransport in Festkör-
pern, sind nun aber gerade mit Situationen verknüpft, in denen äußere Kräfte wirksam sind.
Wir wollen deshalb in diesem Abschnitt die Dynamik von Kristallelektronen unter der Wir-
kung von äußeren Kräften diskutieren. Es reicht jetzt nicht mehr aus, nur die zeitunabhän-
gige Schrödinger-Gleichung zu betrachten. Zur Beschreibung von Transportphänomenen
müssen wir vielmehr zur zeitabhängigen Schrödinger-Gleichung übergehen. Dadurch wird
die Beschreibung erheblich schwieriger. Wir werden uns deshalb im Folgenden auf Situatio-
nen beschränken, in denen wir eine semiklassische Beschreibung der Dynamik von Kristal-
lelektronen verwenden können. Hierbei werden die externen Kräfte klassisch beschrieben,
während die Ableitung der Bandstruktur auf einer quantenmechanischen Analyse beruht.
Wir haben Transportphänomene in Festkörpern bereits in Abschnitt 7.3 im Rahmen des
einfachen Drude-Sommerfeld-Modells beschrieben. Wir werden die dort für freie Elektro-
nen geführte Diskussion jetzt auf den Fall von Bandelektronen erweitern. Wir werden dabei

Sommerfeld Bloch

Quantenzahlen Wellenvektor k Wellenvektor k, Bandindex n


(ħk ist Impuls) (ħk ist Kristallimpuls)

Bereich der k verträglich mit Randbedingungen, k verträglich mit Randbedingungen,


Quantenzahlen sonst beliebig groß beschränkt auf 1. BZ
ħ2 k2
Energie ε(k) = ε n (k) = ε(k + Gn )
2m
1 ∂ε ħk 1 ∂ε n (k)
Geschwindigkeit vk = = vn,k =
ħ ∂k m ħ ∂k
Wellenfunktion ebene Welle: Bloch-Welle:
e ık⋅r Ψn,k (r) = u n,k (r) e ık⋅r mit
Ψk (r) = ⌋︂
V u n,k (r) = u n,k (r + R)
370 9 Dynamik von Kristallelektronen

viele Definitionen und Konzepte aus Abschnitt 7.3 übernehmen können. In der Tabelle sind
nochmals die wesentlichen Elemente des Sommerfeld-Modells der freien Elektronen und
des Blochschen Modells der Kristallelektronen gegenübergestellt.
Wir werden uns in Abschnitt 9.1 zunächst mit den Grundlagen und dem Gültigkeitsbereich
des semiklassischen Modells beschäftigen. Anschließend werden wir in Abschnitt 9.2 die
Bewegung von Kristallelektronen unter der Wirkung von äußeren Kräften betrachten, wo-
bei wir Streuprozesse der Elektronen zunächst völlig vernachlässigen werden. Diese werden
erst in Abschnitt 9.3 eingeführt. In Abschnitt 9.5 werden wir die Boltzmann-Transportglei-
chung anwenden, um einige Transportkoeffizienten abzuleiten. Insbesondere werden wir
hier die thermoelektrischen und thermomagnetischen Effekte behandeln. Da die mit dem
Spin-Freiheitsgrad verbundenen Transportphänomene in den letzten Jahren stark an Bedeu-
tung gewonnen haben, diskutieren wir in Abschnitt 9.6 den Spin-Transport und stellen in
Abschnitt 9.7 Transportphänomene vor, bei denen die Spin-Bahn-Kopplung und die Topolo-
gie der Spin-Textur eine zentrale Rolle spielen. In Abschnitt 9.8 erläutern wir die Auswirkung
von Quanteninterferenzeffekten auf den Ladungstransport bevor wir uns in den Abschnit-
ten 9.9 und 9.10 dann mit dem Magnetwiderstand und der Quantisierung der Elektronen-
bahnen in starken Magnetfeldern beschäftigen. Abschließend werden wir in Abschnitt 9.11
experimentelle Methoden zur Bestimmung der Fermi-Flächen von Metallen diskutieren, die
auf der Untersuchung der Dynamik von Kristallelektronen basieren.
Um Verwechslungen mit dem elektrischen Feld E zu vermeiden, werden wir in diesem Ka-
pitel die Energie mit ε und nicht mit E bezeichnen.
9.1 Semiklassisches Modell 371

9.1 Semiklassisches Modell


Wir haben in Kapitel 7 bereits die Dynamik von freien Elektronen diskutiert. Dort haben
wir die Bewegung der Elektronen mit den Gesetzen der klassischen Mechanik beschrieben.
Die Bewegungsgleichungen lauteten:1

dr ħk p
= = (9.1.1)
dt m m
dk
ħ = F = q (E + v × B) . (9.1.2)
dt
Hierbei war die Kraft F = q (E + v × B) die auf die Ladungsträger wirkende Kraft durch elek-
trische und magnetische Felder. Wollen wir die Anwendbarkeit von (9.1.1) und (9.1.2) vom
quantenmechanischen Standpunkt aus rechtfertigen, so müssen wir von ebenen Wellen zu
Wellenpaketen übergehen, die wir einfach durch eine Überlagerung von ebenen Wellen mit
Wellenvektoren aus einem bestimmten Bereich erzeugen können.
Bei der Diskussion der Bewegung von Kristallelektronen sind wir ebenfalls mit dem Pro-
blem konfrontiert, die Bewegung von mehr oder weniger lokalisierten Teilchen beschrei-
ben zu müssen. Im vorangegangenen Kapitel haben wir überwiegend im Wellenbild (Bloch-
Wellen, Bragg-Reflexion, etc.) argumentiert. Wir haben die Elektronen mit Bloch-Wellen
beschrieben, die räumlich modulierte, aber unendlich ausgedehnte Wellen mit Wellenvek-
tor k darstellen. Für die Beschreibung von Transportphänomenen ist dagegen meist das Teil-
chenbild besser geeignet. Wir müssen also auch für Kristallelektronen von Bloch-Wellen
zu Wellenpaketen, die aus Bloch-Wellen aufgebaut sind, übergehen. Wir können dann ei-
nem Kristallelektron eine Gruppengeschwindigkeit vg zuordnen, die gleich der Gruppenge-
schwindigkeit eines Wellenpakets aus Bloch-Wellen ist. Wir drücken also den Zustand eines
Elektrons durch ein Wellenpaket aus, das heißt, als eine lineare Überlagerung von Bloch-
Wellen Ψn,k (r) mit Wellenvektoren aus einem Intervall (︀k − ∆k
2
, k + ∆k
2
⌋︀ aus:

k+ ∆k
2 ε n (k)
Ψn (r, t) = ∑ a(k) u k (r) e
ı[︀k⋅r− ħ t⌉︀
. (9.1.3)
k− ∆k
2

Hierbei ist ε n (k) die Dispersion der Kristallelektronen. Diese Beschreibung von Kristallelek-
tronen durch Wellenpakete mit wohldefiniertem Impuls wird als Semiklassisches Modell be-
zeichnet. Wohldefinierter Impuls bedeutet hierbei, dass die Impulsverschmierung des Wel-
lenpakets klein gegenüber der Ausdehnung der Brillouin-Zone ist. Wir werden hier nicht
versuchen, einen Beweis für die Gültigkeit dieses Ansatzes zu geben, da dies eine relativ
schwierige Aufgabe darstellt. Wir werden vielmehr das semiklassische Modell anwenden
und seine Gültigkeitsgrenzen diskutieren.
In Abb. 9.1 ist ein entsprechendes Wellenpaket im eindimensionalen Ortsraum gezeigt. Es
ist wohlbekannt, dass das Produkt aus Ortsunschärfe ∆x und Impulsunschärfe ∆k der Hei-
1
Wir verwenden die Größe e wiederum für die positive Einheitsladung, Elektronen haben also die
Ladung q = −e.
372 9 Dynamik von Kristallelektronen

t=0

𝒗𝒈 𝒕𝟎
𝒕 = 𝒕𝟎

Re  
Abb. 9.1: Ortsraumdarstellung ei-
nes Wellenpakets, das die Bewegung
von räumlich lokalisierten Elektro-
nen zur Zeit t = 0, t = t 0 und t = 2t 0 𝒕 = 𝟐𝒕𝟎 𝟐𝒗𝒈 𝒕𝟎
beschreibt. Die durchgezogene Kurve
gibt Re Ψ, die gestrichelte ⋃︀Ψ⋃︀ wi-
der. Der Schwerpunkt des Wellen-
pakets bewegt sich mit der Grup- -2 0 2 4 6 8 10 12
pengeschwindigkeit v g = ∂ω⇑∂k. x
2

senbergschen Unschärferelation

∆p ⋅ ∆x = ħ∆k ⋅ ∆x ≥ ħ (9.1.4)

genügt. Ein wohldefinierter Impuls, also geringe Impulsunschärfe, führt also gleichzeitig zu
einer endlichen Ortsunschärfe des Wellenpakets, die wir weiter unten noch näher diskutie-
ren werden. Die Ausbreitungsgeschwindigkeit des Wellenpakets ist durch die Gruppenge-
schwindigkeit

∂ω(k)
vg = (9.1.5)
∂k
gegeben. Letztere ist durch die Schwerpunktsbewegung des Wellenpakets gegeben, die wir
von der Phasengeschwindigkeit v ph = ω⇑k einer ebenen Welle unterscheiden müssen, die an-
gibt, mit welcher Geschwindigkeit sich Punkte konstanter Phase ausbreiten. Aufgrund der
Dispersion ω = c(k)k haben Wellen mit unterschiedlichen Wellenvektoren unterschiedli-
che Phasengeschwindigkeiten. Da das Wellenpaket aus einer Überlagerung vieler Wellen
mit unterschiedlichen Wellenvektoren besteht, fließt es aufgrund der Dispersion langsam
auseinander, wie es in Abb. 9.1 angedeutet ist.
Beschreiben wir die Kristallelektronen mit Bloch-Wellenpaketen, so ist ihre Geschwindig-
keit im Rahmen einer semiklassischen Beschreibung durch die Gruppengeschwindigkeit des
Wellenpakets

∂ω n (k) 1 ∂ε n (k)
vn = = (9.1.6)
∂k ħ ∂k
gegeben. Hierbei ist ε n (k) die Dispersion des Bandes, aus dem das Elektron stammt.2 Diese
Beschreibung enthält in natürlicher Weise den Fall freier Elektronen, für die ε = ħ 2 k 2 ⇑2m
und damit v = ħk⇑m = p⇑m gilt.

2
Wir werden in diesem Kapitel die Energie mit ε und nicht mit E bezeichnen, um Verwechslungen
mit dem elektrischen Feld E zu vermeiden.
9.1 Semiklassisches Modell 373

Folgen wir dem Korrespondenzprinzip,3 so gelangen wir zur semiklassischen Beschreibung


der Dynamik von Kristallelektronen. Die wesentlichen Fragen, die wir bei der Beschreibung
von Transportphänomenen beantworten müssen, betreffen

∎ die Natur der Stoßprozesse und


∎ die Bewegung von Bloch-Elektronen zwischen den Stößen.

Das semiklassische Modell gibt nur eine Antwort auf die zweite Frage. Bezüglich der ersten
Frage sei darauf hingewiesen, dass die Bloch-Wellen stationäre Zustände der Schrödinger-
n (k)
Gleichung sind. Falls vn = ħ1 ∂ε∂k ≠ 0, so bedeutet dies, dass das Bloch-Elektron für alle
Zeiten diese endliche Geschwindigkeit besitzt. Dies würde in einer unendlich großen elek-
trischen Leitfähigkeit resultieren. Einen endlichen Widerstand erhalten wir nur durch Ab-
weichungen von der perfekten Periodizität des betrachten Kristalls, wie sie z. B. durch Ver-
unreinigungen, Gitterfehler oder Phononen verursacht werden. Die daraus resultierenden
Streuprozesse werden wir aber erst später diskutieren.
Wir wollen noch abschätzen, wie breit ein Wellenpaket (9.1.3) im Ortsraum ist, dessen Im-
puls genügend gut definiert ist. Wohldefinierter Impuls bedeutet ∆k ≪ 2π⇑a, wobei 2π⇑a die
Ausdehnung der 1. Brillouin-Zone und a die Gitterkonstante ist. Mit Hilfe der Unschärfere-
lation folgt für die Ortsunschärfe des Wellenpaket ∆r ≥ 1⇑∆k ≫ a⇑2π. Wir sehen also, dass
die räumliche Ausdehnung eines Bloch-Wellenpakets mit einem einigermaßen gut definier-
ten Wellenvektor k wesentlich größer als die Ausdehnung der Einheitszelle des betrachteten
Festkörpers sein muss. Dies ist in Abb. 9.2 schematisch dargestellt. Damit wir die Bewegung
des Wellenpakets zwischen zwei Stoßprozessen quasi-klassisch beschreiben können, muss
die Ausdehnung des Wellenpakets aber auch kleiner als die mittlere freie Weglänge, also
∆r ≪ ℓ sein. Dies ist eine wesentliche Voraussetzung für die in Abschnitt 9.4 verwendeten
Boltzmann-Transportgleichungen. In typischen Metallen ist ℓ ⋙ a, so dass beide Bedin-
gungen, ∆r ≫ a⇑2π und ∆r ≪ ℓ, gut erfüllt sind.

3
Nach Heisenberg wird die Zuordnung von klassischen Observablen zu ihren Entsprechungen in
der mathematischen Formulierung der Quantenmechanik, den Operatoren auf Hilbert-Räumen,
als Korrespondenz bezeichnet. Mit Hilfe des Korrespondenzprinzips können wir dann die physi-
kalisch sinnvollen Gleichungen der Quantenmechanik finden, indem wir die algebraische Form
der klassischen Gleichungen übernehmen, wobei bestimmte klassische Observable durch die ih-
nen korrespondierenden quantenmechanischen Operatoren ersetzt werden. Beispielsweise ent-
steht durch das Ersetzen der Impulsvariable durch den entsprechenden Impulsoperator (und ent-
sprechend für die Ortsvariable) aus der klassischen Energiegleichung die Schrödinger-Gleichung.
Hinweis: Die Quantenphysik erlaubt in der Regel lediglich Wahrscheinlichkeitsangaben für den
Wert der Obervablen (z. B. Ort). Sie ist daher nicht mehr bezüglich jeder Fragestellung determinis-
tisch. Berechnet man den Erwartungswert einer Observablen, der sich als Mittelwert der entspre-
chenden Messgröße bei mehrfacher Wiederholung des Experiments ergibt, so stellt sich heraus,
dass dieser den bekannten Gleichungen der Newtonschen Physik gehorcht (Ehrenfest-Theorem).
Wenden wir die Regeln der Quantenphysik auf makroskopische mechanische Systeme an, so wird
die statistische Streuung der Messergebnisse nahezu unmessbar klein. Dabei entsprechen solche
Systeme i. A. einem statistischen Ensemble aus einer großen Zahl von so genannten reinen Quan-
tenzuständen mit großen Quantenzahlen. Damit folgt der deterministische Charakter der klassi-
schen Physik für den makroskopischen Grenzfall aus der Quantenphysik, obwohl letztere selbst
nicht deterministisch ist.
374 9 Dynamik von Kristallelektronen

Abb. 9.2: Schematische


Darstellung der relevanten
Längenskalen im semi-
klassischen Modell. Die
Längenskala, über die die
externen Felder variieren
ist wesentlich größer als
die Ausdehnung des Bloch- a
Ausdehnung
Wellenpakets und diese wie- des Wellenpakets
derum wesentlich größer
als der Gitterabstand a. Wellenlänge des externen Feldes

Wir wollen ebenfalls diskutieren, über welche Längenskalen angelegte Felder variieren dür-
fen. Dazu müssen wir uns in Erinnerung rufen, dass wir das periodische Potenzial des Gitters
bei der Beschreibung der elektronischen Zustände quantenmechanisch behandelt haben.
Dieses variiert auf der Längenskala der Gitterkonstanten, also einer Skala, die klein gegen-
über der Ausdehnung des Wellenpakets ist. Im Rahmen des semiklassischen Modells wollen
wir nun Kräfte durch externe Felder klassisch behandeln. Deshalb dürfen die externen Fel-
der nur auf Längenskalen variieren, die groß gegenüber der Ausdehnung des Wellenpakets
sind (siehe Abb. 9.2). Letzteres müssen wir fordern, da eine klassische Behandlung keinen
Sinn macht, wenn die Wellenlänge des Feldes in den Bereich der Teilchengröße kommt.

9.1.1 Grundlagen des semiklassischen Modells


Das semiklassische Modell beschreibt die Bewegung der Bandelektronen unter der Wirkung
von äußeren Kräften, das heißt, es beschreibt die Änderung der Position r und des Wellen-
vektors k eines Elektrons4 durch eine äußere Kraft. Wir werden dabei zunächst Streuprozesse
vernachlässigen. Die Beschreibung der Bewegung basiert nur auf der Kenntnis der Band-
struktur ε n (k). Es werden keine weiteren Detailkenntnisse des periodischen Potenzials des
Festkörpers benötigt. Diese sind ja schon in die Bestimmung der Bandstruktur eingeflossen.
Das semiklassische Modell stellt somit eine Beziehung zwischen der Bandstruktur und den
Transporteigenschaften des Festkörpers her.
Bei vorgegebener Bandstruktur werden im semiklassischen Modell jedem Ladungsträger
mit Ladung q (für Elektronen gilt q = −e) eine Position r, ein Wellenvektor k und ein Band-
index n zugeordnet. Im Laufe der Zeit ändern sich diese Größen unter der Wirkung äußerer
Kräfte, wobei folgende Regeln gelten:

1. Bandindex:
Der Bandindex ist eine Konstante der Bewegung, d. h. das semiklassische Modell lässt
keine Band-Band-Übergänge zu.

4
Wir werden im Folgenden der Einfachheit immer von Elektronen reden, wobei dabei natürlich
immer die Wellenpakete gemeint sind, mit denen wir die Elektronen beschreiben.
9.1 Semiklassisches Modell 375

2. Bewegungsgleichungen:
Die zeitliche Entwicklung der Ortskoordinate und des Wellenvektors eines Ladungsträ-
gers wird durch folgende Bewegungsgleichungen beschrieben:

dr 1 ∂ε n (k)
= vn (k) =
dt ħ ∂k
(9.1.7)
dk
ħ = F(r, t) = q (︀E(r, t) + vn (k) × B(r, t)⌋︀ .
dt

Gleichung (9.1.7) können wir einfach ableiten, wenn wir die Änderung δε der Energie
eines Kristallelektrons unter der Wirkung einer Kraft F betrachten. Klassisch gilt:

δε = F ⋅ v δt . (9.1.8)

Andererseits gilt
∂ε n (k)
δε = ⋅ δk = ħvn (k) ⋅ δk . (9.1.9)
∂k
Damit erhalten wir ħδk = Fδt oder
dk
ħ =F. (9.1.10)
dt
3. Effektive Masse:
Aus (9.1.7) folgt weiterhin

dv n,i (k) 1 d ∂ε n (k) 1 3 ∂ 2 ε n (k) dk j


= ( )= ∑ . (9.1.11)
dt ħ dt ∂k ħ j=1 ∂k i ∂k j dt

Unter Benutzung von (9.1.10) erhalten wir daraus

dv n,i (k) 1 3 ∂ 2 ε n (k)


= 2∑ Fj, i = 1, 2, 3 . (9.1.12)
dt ħ j=1 ∂k i ∂k j

Diese Gleichung ist äquivalent zur klassischen Bewegungsgleichung v̇ = m−1 F, falls wir
die skalare Masse m durch einen effektiven Massetensor ersetzen:

−1 1 ∂ 2 ε n (k)
[︀(m∗ ) (k)⌉︀ = . (9.1.13)
ij ħ 2 ∂k i ∂k j

Dieser Tensor repräsentiert eine dynamische Masse der Kristallelektronen. Wir sehen,
dass der effektive Massetensor durch die Krümmung der Bandstruktur ε n (k) gegeben
ist. Da der effektive Massetensor m∗i j und auch der dazu inverse Tensor (︀(m∗ )−1 ⌋︀ i j sym-
metrisch sind, kann m∗i j auf die Hauptachsen transformiert werden. Im einfachsten Fall,
in dem die drei effektiven Massen in Hauptachsenrichtung gleich sind, ist

ħ2
m∗ (k) = . (9.1.14)
d 2 ε n (k)⇑dk 2
376 9 Dynamik von Kristallelektronen

Dies ist zum Beispiel an der Ober- und Unterkante eines Bandes der Fall, für das wir
den Bandverlauf durch einen isotropen parabolischen Verlauf annähern können (siehe
Abschnitt 8.2.2 und 8.3.1):

ħ2
ε(k) = ε 0 ± (k 2 + k 2y + k z2 ) . (9.1.15)
2m∗ x
In der Nähe eines solchen kritischen Punktes ist die Benutzung einer effektiven Masse
besonders nützlich, da diese hier konstant ist. Bewegt man sich weg von diesem Punkt,
so weicht die Bandstruktur mehr oder weniger stark von der Parabelform ab und die
effektive Masse wird dadurch k-abhängig.
Als Beispiel ist in Abb. 9.3 der Verlauf zweier eindimensionaler Bänder ε n (k) mit starker
und schwacher Krümmung an der Bandunter- und Bandoberkante gezeigt. Die effektive
Masse ist dementsprechend klein bzw. groß. Am Rand der Brillouin-Zone ist die Krüm-
mung negativ, was in einer negativen effektiven Masse resultiert. Hier bewirkt das äuße-
re Feld eine Abnahme der Geschwindigkeit des Bandelektrons aufgrund einer erhöhten
Bragg-Reflexion. Wir sehen, dass wir unter Verwendung der effektiven Masse die Bewe-
gung der Bandelektronen wie diejenige von freien Teilchen beschreiben können, wobei
die Wechselwirkung mit dem periodischen Gitterpotenzial jetzt in der effektiven, k-ab-
hängigen Masse steckt.

(a) 𝜀 𝒌 (b) 𝜀 𝒌

-1.0 -0.5 0.0 0.5 1.0 -1.0 -0.5 0.0 0.5 1.0
Abb. 9.3: Schematischer Ver- k (/a) k (/a)

lauf der Bandstruktur (oben) m* m*


und der effektiven Masse
(unten): (a) eine starke Band-
krümmung resultiert in einer
kleinen effektiven Masse. k k
(b) eine schwache Band-
krümmung resultiert in ei-
ner großen effektiven Masse.

4. Kristallimpuls:
Der Wellenvektor k ist nur bis auf einen reziproken Gittervektor G wohldefiniert. Wir
können deshalb zwei Elektronen am gleichen Ort und im gleichen Band, deren Wel-
lenvektoren um G differieren, nicht unterscheiden. Die semiklassischen Bewegungsglei-
chungen wahren die Äquivalenz. Alle unterscheidbaren Zustände liegen deshalb inner-
halb der 1. Brillouin-Zone. Diese Tatsache folgt direkt aus der quantenmechanischen
Bloch-Theorie und wird direkt ins semiklassische Modell übernommen.
Wir haben gesehen, dass die Bewegungsgleichungen (9.1.7) für Kristallelektronen den-
jenigen von freien Elektronen entsprechen mit der Ausnahme, dass ε n (k) anstelle der
Energie ħ 2 k 2 ⇑2m freier Elektronen auftritt. Nichtsdestotrotz ist ħk nicht der Impuls der
Bloch-Elektronen sondern nur ihr Quasi-Impuls. Die zeitliche Änderung des Impulses
wird nämlich durch die gesamte auf ein Elektron wirkende Kraft bestimmt, während die
9.1 Semiklassisches Modell 377

Änderung von ħk nur aus den äußeren Kräften resultiert und nicht aus den Kräften durch
das periodische Gitterpotenzial.
5. Fermi-Statistik:
Im thermischen Gleichgewicht ist der Beitrag von Elektronen aus dem n-ten Band mit
Wellenvektoren aus dem Volumenelement d 3 k zur elektronischen Zustandsdichte gege-
ben durch
V V d3k
2 d 3 k f )︀ε n (k), T⌈︀ = 3 (︀ε (k)−µ⌋︀⇑k T . (9.1.16)
(2π) 3 4π e n B +1

Hierbei ist Z(k) = (2π)


V
3 die Zustandsdichte im k-Raum, µ das chemische Potenzial und

der Faktor 2 resultiert aus der Spin-Entartung. Diese Regel folgt direkt aus der Quanten-
statistik und wird direkt ins semiklassische Modell übernommen.

9.1.2 Gültigkeitsbereich des semiklassischen Modells


9.1.2.1 Band-Band-Übergänge
Wir setzen voraus, dass die angelegten Felder keine Band-Band-Übergänge verursachen
können. Deshalb hat jedes Band eines feste Zahl von Elektronen. Im oder nahe am thermi-
schen Gleichgewicht werden alle Bänder, die um Vielfache der thermischen Energie k B T
oberhalb der Fermi-Energie liegen, leer sein. Solche, die um mehrere k B T unterhalb von ε F
liegen, werden vollständig besetzt sein. Es reicht deshalb meist aus, nur ein bzw. wenige
Bänder mit einem bzw. wenigen Ladungsträgertypen zu betrachten.

9.1.2.2 Größe der äußeren Felder


Die Kristallelektronen nehmen in äußeren Feldern Energie auf. Da Band-Band-Übergänge
verboten sein sollen, müssen wir die Größe der äußeren Felder begrenzen. Die Ableitung
dieser Obergrenze ist relativ aufwändig und soll hier nicht durchgeführt werden. Man erhält5

(︀ε g (k)⌋︀2
e⋃︀E⋃︀a ≪ (9.1.17)
εF
(︀ε g (k)⌋︀2
ħω c ≪ . (9.1.18)
εF
Hierbei ist ε g (k) die Bandlücke für einen bestimmten Wellenvektor, a die Gitterkonstante,
E das elektrische Feld und ω c = meB
c
die Zyklotronfrequenz.
5
Anschaulich können wir argumentieren, dass die Geschwindigkeitsänderung δv durch Änderun-
gen δk = Fδt⇑ħ aufgrund einer von außen für die Zeit δt wirkenden Kraft F klein gegenüber der
typischen Geschwindigkeit der Elektronen, nämlich der Fermi-Geschwindigkeit v F sein muss. Da
∂2 ε ∂2 ε
∂v
δv = ∂k δk = ħ1 ∂k 2 δk und die Bandkrümmung ∂k 2 am Zonenrand am größten ist, können wir für
unsere Abschätzung Gleichung (8.2.25) für den Bandverlauf am Zonenrand verwenden. Setzt man
die entsprechenden Ausdrücke für die Kräfte durch ein elektrisches oder magnetisches Feld ein,
so lassen sich die Abschätzungen (9.1.17) und (9.1.18) herleiten. Siehe hierzu auch Anhang J in
Festkörperphysik, N. W. Ashcroft, N. D. Mermin, Oldenbourg Verlag, München (2012).
378 9 Dynamik von Kristallelektronen

Nehmen wir eine übliche elektrische Stromdichte von J q = 100 A⇑cm2 und einen spezifi-
schen Widerstand von ρ = 100 µΩcm an, erhalten wir ein elektrisches Feld in der Größen-
ordnung von E ∼ 10−2 V⇑cm. Mit einer Gitterkonstante a ∼ 10−8 cm erhalten wir e⋃︀E⋃︀a ∼
10−10 eV. Da ε F ∼ 1 eV, müsste ε g ≲ 10−5 eV sein, damit die obige Ungleichung nicht erfüllt
ist. Dies ist in der Praxis nie der Fall außer für die kleinen k-Raumbereiche, wo sich zwei
Bänder kreuzen. Falls die Bedingung (9.1.17) verletzt wird, können Elektronen durch die
Wirkung eines elektrischen Feldes Band-Band-Übergänge machen. Wir sprechen dann von
einem elektrischen Durchbruch (siehe hierzu auch Abschnitt 9.10.4).
Die Bedingung (9.1.18) ist leichter zu verletzen. Die Energie ħω c ist für Felder von etwa 1 T
im Bereich von 10−4 eV. Das heißt, für ε F ∼ 1 eV wird Bedingung (9.1.18) bereits für ε g ∼
10−2 eV verletzt. Bei einer Verletzung von (9.1.18) sprechen wir von einem magnetischen
Durchbruch. Die Elektronen können in diesem Fall nicht mehr den Trajektorien folgen, die
wir nach dem semiklassischen Modell erwarten.

9.1.2.3 Frequenzbereich für Wechselfelder


Genauso wie für die Amplitude müssen wir auch für die Frequenz der Wechselfelder eine
Obergrenze setzen:

ħω ≪ ε g . (9.1.19)

In diesem Fall reicht die Energie eines einzelnen Photons nicht aus, einen Band-Band-
Übergang zu erzeugen. Außerdem haben wir oben bereits die Bedingung λ ≫ a gefordert,
da sonst die Einführung von Wellenpaketen nicht mehr sinnvoll wäre.

9.2 Bewegung von Kristallelektronen


Wir wollen in diesem Abschnitt die Bewegung von Kristallelektronen im Rahmen des semi-
klassischen Modells unter folgenden Annahmen beschreiben:

∎ es wird nur ein Band betrachtet (Bandindex n wird weglassen)


∎ f (ε, T) = f (ε, T=0)

9.2.1 Gefüllte Bänder


Elektronen mit k-Vektoren aus einem Bereich d 3 k tragen 2Z(k)d 3 k⇑V = d 3 k⇑4π 3 zur Elek-
tronendichte bei. Die resultierende Zahl von Elektronen in einem Volumenelement d 3 r im
Ortsraum ist d 3 rd 3 k⇑4π 3 . Wir können ein gefülltes Band deshalb dadurch charakterisieren,
dass die Dichte der Elektronen im 6-dimensionalen r-k-Raum (Phasenraum) gleich 1⇑4π 3
ist. Die semiklassischen Bewegungsgleichungen implizieren, dass das volle Band für alle Zei-
ten ein volles Band bleibt. Dies ist eine direkte Konsequenz des semiklassischen Analogons
zum Liouvilleschen Theorem, das besagt, dass das Phasenraumvolumen während einer klas-
sischen Bewegung erhalten bleibt. Wir können daraus folgern, dass durch eine semiklassi-
9.2 Bewegung von Kristallelektronen 379

sche Bewegung der Kristallelektronen unter der Wirkung externer Felder die Konfiguration
eines gefüllten Bandes nicht geändert wird. Das volle Band ist inert.

9.2.1.1 Ströme in gefüllten Bändern


Wir betrachten den Beitrag dJ der Elektronen mit k-Vektoren aus einem Bereich d 3 k zur
Teilchenstromdichte J. Mit der Zustandsdichte Z(k)⇑V = 1⇑4π 3 im k-Raum (für beide Spin-
Richtungen) erhalten wir
1 3 1
dJ = v(k) 3
d k = 3 ∇k ε(k) d 3 k . (9.2.1)
4π 4π ħ
Die Gesamtteilchenstromdichte erhalten wir, indem wir über die 1. Brillouin-Zone integrie-
ren. Wir betrachten zunächst die elektrische Stromdichte Jq = q ⋅ J:6
−e
Jq = 3
∫ ∇k ε(k) d k . (9.2.2)
4π 3 ħ
1 B.Z.

Äquivalent dazu erhalten wir die Wärmestromdichte7 J h = (ε − µ) ⋅ J


1
Jh = ∫ )︀ε(k) − µ⌈︀ ∇k ε(k) d k
3
4π 3 ħ
1 B.Z.

1 2 3
= 3 ∫ ∇k )︀ε(k) − µ⌈︀ d k . (9.2.3)
8π ħ
1 B.Z.

In (9.2.2) und (9.2.3) integrieren wir über den Gradienten der periodischen Funktion ε(k) =
ε(k + G), was null ergibt.8 Wir können daraus die wichtige Schlussfolgerung ziehen:

Der elektrische und Wärmestrom in einem gefüllten Band verschwindet. Elektrische und
Wärmeleitung ist nur durch Elektronen in teilweise gefüllten Bändern möglich.

Anmerkung: Im Drude-Modell wurde angenommen, dass jedes Gitteratom mit einer An-
zahl von Valenzelektronen zum elektrischen und Wärmetransport beiträgt. Diese Annahme
war nur deshalb erfolgreich, weil in vielen Fällen die Bänder, die von den Valenzelektronen
bevölkert werden, nur teilweise gefüllt sind.

6
Wir verwenden die Größe e für das positive Ladungsquant. Die Ladung eines Elektrons ist so-
mit q = −e.
7
Wärme ist innere Energie minus freie Energie. Die freie Energie eines Elektrons ist gleich seinem
chemischen Potenzial µ. Die durch ein Elektron transportierte Wärme ist somit ε(k) − µ.
8
Aus Symmetriegründen gilt ε(k) = ε(−k) und damit v(−k) = ħ1 ∇−k ε(−k) = ħ1 ∇−k ε(k) = −v(k).
In einem vollen Band finden wir deshalb zu jedem v(k) ein entsprechendes −v(−k), so dass das
Integral über die gesamte Brillouin-Zone verschwindet.
380 9 Dynamik von Kristallelektronen

9.2.2 Teilweise gefüllte Bänder


Ein wichtiges Ergebnis des semiklassischen Modells ist die Erklärung des anomalen Vorzei-
chens des Hall-Effekts von Metallen. Das Modell der freien Elektronen kann diese Beob-
achtung nur durch das Vorhandensein von positiv geladenen Ladungsträgern erklären. Das
semiklassische Modell kann diese Beobachtung dagegen in natürlicher Weise durch nur teil-
weise gefüllte Bänder erklären. Die fehlenden Elektronen in einem Band können als positiv
geladene Löcher betrachtet werden, die äquivalenten Bewegungsgleichungen gehorchen.

9.2.2.1 Ströme in teilweise gefüllten Bändern


Der Stromdichtebeitrag von besetzten Elektronenzuständen in einem Band ist gegeben
durch
−e
Jq = ∫ ∇k ε(k) d 3 k . (9.2.4)
4π 3 ħ
besetzt

Im Gegensatz zu einem vollen Band ist Jq jetzt nicht mehr notwendigerweise null. Die Strom-
dichte verschwindet nur im thermischen Gleichgewicht, da wir hier wiederum für jedes v(k)
ein entsprechendes −v(−k) finden können, so dass das Integral verschwindet. Sobald wir
aber durch eine externe Störung (zum Beispiel elektrisches Feld) eine Umverteilung inner-
halb des Bandes vornehmen, verschwindet die Stromdichte nicht mehr.

Bewegung im elektrischen Feld: Ist ein Band nicht vollständig gefüllt, so bewirkt das An-
legen eines elektrischen Feldes eine Änderung der Geschwindigkeitsverteilung der Elektro-
nen. Für die zeitliche Änderung des Wellenvektors gilt:

eE
k(t) = k(0) + δk(t) = k(0) − t. (9.2.5)
ħ
Das heißt, dass sich der Wellenvektor zu jeder Zeit um den gleichen Betrag ändert. Für die
Geschwindigkeit folgt daraus

eE
v(k, t) = v (k(0) − t) . (9.2.6)
ħ
Da v(k) eine periodische Funktion im k-Raum ist, ist v(k, t) eine beschränkte Funktion
in der Zeit. Wenn das elektrische Feld E ∥ G, so ist v(k, t) eine periodische Funktion. Dies
ist in Abb. 9.4 gezeigt. Wir sehen, dass in der Nähe der Zonengrenze die Geschwindigkeit
abnimmt und am Zonenrand verschwindet. Das bedeutet, dass die Beschleunigung des Elek-
trons der äußeren Kraft entgegengerichtet ist. Dieses Verhalten ist eine Konsequenz der auf
das Elektron wirkenden Gitterkräfte, die im betrachteten semiklassischen Modell nicht ex-
plizit berücksichtigt werden.
Falls wir keine Streuprozesse hätten, würde der Wellenvektor der Elektronen unter der Wir-
kung des anliegenden elektrischen Feldes kontinuierlich anwachsen. In diesem Fall kann ein
Kristallelektron zwischen zwei Stößen im k-Raum eine Strecke größer als die Dimension
9.2 Bewegung von Kristallelektronen 381

1.0
𝜀(𝒌)
0.5

0.0

-0.5
𝑣(𝒌) Abb. 9.4: Verlauf von ε(k) und v(k) als Funkti-
on von k oder äquivalent als Funktion der Zeit,
-1.0 da k(t) ∝ t. Der Verlauf in einer Dimension
-1.0 -0.5 0.0 0.5 1.0 entspricht dem Verlauf parallel zu einem rezi-
k (/a) proken Gittervektor.

der 1. Brillouin-Zone durchlaufen, wodurch wir eine oszillierende Geschwindigkeit erhal-


ten. Ein von außen angelegtes Feld führt dann zu einer oszillierenden Elektronenbewegung,
also zu einem Wechselstrom. Dieses Phänomen wird als Bloch-Oszillation bezeichnet. Wir
sehen also, dass wir auch in einem teilweise gefüllten Band ohne Streuprozesse offensichtlich
keinen Gleichstrom entlang der Richtung des anliegenden E-Feldes erhalten würden.
Die Frequenz der Bloch-Oszillationen können wir leicht ableiten. Da ⋃︀k̇⋃︀ = eE⇑ħ und die
Ausdehnung der Brillouin-Zone 2π⇑a beträgt, ergibt sich für die Schwingungsperiode
(2π⇑a)⇑⋃︀k̇⋃︀ = h⇑eEa. Die Schwingungsfrequenz ν B = eEa⇑h ist also proportional zum an-
gelegten elektrischen Feld E und zur Gitterkonstanten a. Da die Gitterkonstante a in der
Größenordnung von 1 Å liegt, werden mit elektrischen Feldstärken von etwa 1000 V⇑cm
bereits Frequenzen im GHz-Bereich erreicht.9 , 10 Praktische Anwendung finden Bloch-
Oszillationen deshalb in elektronischen Bauelementen zur Erzeugung von THz-Strahlung.
Da sich die Elektronen mit der Fermi-Geschwindigkeit v F ∼ 106 m⇑s bewegen, beträgt die
Schwingungsamplitude etwa v F ⇑4ν B . Bei Frequenzen von etwa 1 GHz ergeben sich somit
Schwingungsamplituden im 100 µm-Bereich. Dies zeigt, dass Bloch-Oszillationen nur in
sehr reinen Materialien auftreten. Ist die mittlere freie Weglänge kleiner als die Schwin-
gungsamplitude, so werden die Bloch-Oszillationen durch Streuprozesse unterdrückt.

9.2.2.2 Das Lochkonzept


Für ein vollkommen volles Band gilt Jq = 0. Schreiben wir die Integration über die besetzten
Zustände in (9.2.4) als Differenz eines Integrals über die volle Brillouin-Zone und einem
Integral über die unbesetzten Zustände, so erhalten wir
−e −e +e
Jq = ∫ ∇k ε(k) d k − 3
3
∫ ∇k ε(k) d k = 3
3 3
∫ ∇k ε(k) d k .
4π 3 ħ 4π ħ 4π ħ
1. BZ unbesetzt unbesetzt
)︁⌊︂⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ]︂⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ )︂
=0
(9.2.7)
9
J. Feldmann, K. Leo, J. Shah, D. A. B. Miller, J. E. Cunningham, T. Meier, G. von Plessen, A. Schul-
ze, P. Thomas and S. Schmitt Rink, Optical investigation of Bloch oscillations in a semiconductor
superlattice, Phys. Rev. B 46, 7252 (1992).
10
Ch. Waschke, H. G. Roskos, R. Schwedler, K. Leo, H. Kurz, Coherent submillimeter-wave emission
from Bloch oscillations in a semiconductor superlattice, Phys. Rev. Lett. 70, 3319–3322 (1993).
382 9 Dynamik von Kristallelektronen

Wir sehen, dass der Strombeitrag der besetzten Elektronenzustände eines Bandes äquivalent
zu dem Strom ist, den wir erhalten, wenn wir alle diese Zustände frei lassen und die zuvor
unbesetzten Zustände mit positiv geladenen Ladungsträgern füllen würden. Das bedeutet,
dass wir, wenn es vorteilhaft ist, annehmen können, dass der Stromtransport durch fiktive,
positiv geladene Teilchen erfolgt, selbst wenn in dem betrachteten Festkörper nur negativ
geladene Elektronen vorhanden sind. Wir nennen diese fiktiven, positiv geladenen Teilchen
Löcher oder Defektelektronen. Ein anschauliches Beispiel für den Nutzen des Lochkonzepts
ist ein bis auf einen freien Platz vollkommen gefülltes Band. Anstelle die Bewegung einer
sehr großen Zahl von negativ geladenen Elektronen zu beschreiben, können wir uns auf die
Beschreibung der Bewegung eines einzigen Lochs beschränken. Das Ergebnis ist dasselbe.
Wir werden das Lochkonzept ausführlich bei der Beschreibung des Ladungstransports in
Halbleitern (vergleiche Kapitel 10), die ein fast ganz gefülltes Valenzband besitzen, benutzen.
Den Ladungstransport in diesem Band können wir einfach durch die wenigen fehlenden
Elektronen in diesem Band, also durch Löcher, beschreiben.

9.2.3 Elektronen und Löcher


9.2.3.1 Bewegung von Elektronen und Löchern
Da wir die Bewegung von Kristallelektronen in einem semiklassischen Modell betrachten,
ist die Bahn der Elektronen, wenn wir r und k zu einem bestimmten Zeitpunkt wissen, für
alle Zeiten vorausbestimmt. Das bedeutet, dass sich die Trajektorien von zwei Elektronen im
6-dimensionalen Phasenraum nicht schneiden dürfen (siehe hierzu Abb. 9.5). Wir können
deshalb auch die Menge der Trajektorien in besetzte und unbesetzte Bahnkurven trennen.
Das bedeutet, dass die zeitliche Entwicklung der besetzten und unbesetzten Zustände voll-
kommen durch die Struktur der Trajektorien bestimmt ist. Diese hängen aber nur von der
Form der semiklassischen Bewegungsgleichungen ab und nicht davon, ob jetzt ein Elektron
tatsächlich dieser Bahnkurve folgt oder nicht. Wir können daraus die Schlussfolgerung zie-
hen, dass sich unbesetzte Zustände in einem Band unter dem Einfluss von Kräften zeitlich
genauso entwickeln, als wenn sie von realen Elektronen mit Ladung +e besetzt wären.
Aus unserer obigen Überlegung folgt ferner, dass es völlig ausreichend ist zu wissen, wie
sich Elektronen unter dem Einfluss äußerer Kräfte bewegen, wenn wir wissen wollen, wie
sich Löcher bewegen. Die Bewegung eines Elektrons mit Ladung q = −e unter der Wirkung

t
besetzt bei t = t0

Abb. 9.5: Schematische Darstellung der zeitlichen


Entwicklung der Trajektorien im 6-dimensiona-
len Phasenraum (Orts- und Impulsraum werden je-
weils durch eine Koordinate repräsentiert). Der be-
r
setzte Bereich zur Zeit t = t 0 wird eindeutig durch
den besetzten Bereich zur Zeit t = 0 bestimmt. k besetzt bei t = 0
9.2 Bewegung von Kristallelektronen 383

1.5

1.0
𝜺 𝒌𝟎
𝝁

0.5
𝟐
𝜺 𝒌 𝜺 𝒌𝟎 − 𝒄 𝒌 − 𝒌𝟎

0.0 Abb. 9.6: Bandstruktur in der Umgebung eines


0 k0 Bandmaximums bei k = k0 .

der Kräfte durch elektrische und magnetische Felder wird durch (vergleiche (9.1.7))
9

dk
ħ = F(r, t) = −e)︀E(r, t) + v(k) × B(r, t)⌈︀ (9.2.8)
dt
beschrieben. Ob nun die Trajektorie eines Elektrons derjenigen eines freien Teilchens mit
Ladung −e ähnlich ist, hängt davon ab, ob die Beschleunigung v̇ parallel oder anti-parallel
zu k̇ ist. Ist v̇ anti-parallel zu k̇, so würde das Kristallelektron auf das äußere Feld eher wie
ein positiv geladenes, freies Teilchen reagieren. Wir werden im Folgenden zeigen, dass dies
in der Tat für Zustände in der Nähe der Oberkante eines Bandes zutrifft.
Wir betrachten ein Band mit Maximum ε(k0 ) beim Wellenvektor k0 (siehe Abb. 9.6). Das
Fermi-Niveau liegt in der Nähe des Bandmaximums. Wir betrachten die Bewegung eines
Elektrons bei ε = ε F , das aufgrund der negativen Bandkrümmung eine negative effektive
Masse hat. Um das Bandmaximum können wir das Band durch einen parabelförmigen Ver-
lauf annähern:

ε(k) = ε(k0 ) − c(k − k0 )2 . (9.2.9)

Hierbei ist c eine positive Konstante. Entsprechend unserer Diskussion in Abschnitt 9.1.1
bestimmt die Konstante c die effektive Masse
ħ2 ħ2
m∗ = = − <0. (9.2.10)
d 2 ε n ⇑dk 2 2c
Wir sehen, dass m∗ negativ ist, da c ja eine positive Konstante ist. Für Wellenvektoren nahe k0
gilt
1 ∂ε 2c
v(k) = = − (k − k0 ) (9.2.11)
ħ ∂k ħ
und damit
d 2c d
v(k) = − k ∝ −k̇ . (9.2.12)
dt ħ dt

Wir sehen, dass die Beschleunigung anti-parallel zu k̇, also zur wirkenden Kraft ist. Setzen
wir (9.2.12) in die Bewegungsgleichung (9.2.8) ein, so sehen wir, dass das negativ gelade-
ne Elektron in der Nähe des Bandmaximums auf äußere Felder gerade so reagiert, als ob es
384 9 Dynamik von Kristallelektronen

eine negative effektive Masse hätte. Ändern wir einfach das Vorzeichens auf beiden Seiten
von (9.2.8), so stellen wir fest, dass die Bewegungsgleichung in gleicher Weise die Bewegung
eines positiv geladenen Teilchens mit positiver effektiver Masse beschreibt. Wir können also
sagen, dass ein Elektron mit einer negativen effektiven Masse und negativen Ladung auf äu-
ßere Felder genauso reagiert wie ein entsprechendes Teilchen mit einer positiven effektiven
Masse und positiven Ladung. Da wir oben gesehen haben, dass die Reaktion eines Lochs
derjenigen eines Elektrons entspricht, wenn dieses sich in dem unbesetzten Zustand befin-
den würde, können wir folgern, dass Löcher sich in jeglicher Hinsicht wie positiv geladene
Teilchen verhalten.
Die Bedingung, dass der unbesetzte Zustand nahe am Bandmaximum liegen muss, um die
Entwicklung (9.2.9) zu rechtfertigen, kann relaxiert werden. Im Allgemeinen sprechen wir
von lochartigem Verhalten, falls m∗ < 0, und von elektronenartigem Verhalten, falls m∗ > 0.
Falls die Geometrie des unbesetzten Gebiets im k-Raum sehr kompliziert wird, verliert das
Lochkonzept allerdings seine Nützlichkeit.

9.2.3.2 Eigenschaften von Elektronen und Löchern


Wir haben bisher gesehen, dass Löcher Eigenschaften haben, die an positive Ladungsträger
erinnern, wir sie aber trotzdem nicht einfach als positive Ladungsträger betrachten dürfen.
Wir wollen im Folgenden die wichtigsten Eigenschaften von Elektronen und Löchern ge-
genüberstellen. Dabei werden wir Größen mit den Indizes „e“ und „h“ für Elektronen und
Löcher (engl. holes) benutzen.

1. Wellenvektor k:
In einem vollen Band verschwindet die Summe aller Wellenvektoren: ∑ k = 0. Nehmen
wir ein Elektron mit Impuls ke heraus, so haben die verbleibenden Elektronen den Impuls
∑ k − ke = −ke . Wir können also dem fehlenden Elektron, also dem Loch, den Impuls
kh = −ke (9.2.13)
zuordnen. Dies ist in Abb. 9.7a skizziert.
2. Energie ε:
Um ein Elektron aus einem besetzten Zustand im Inneren eines Bandes in einen freien
Zustand an der Fermi-Kante zu bringen, müssen wir die Energie ∆ε = ε F − ε e (k) auf-
bringen. Um ein Loch aus dem Inneren des Bandes an die Fermi-Kante zu bringen,
müssen wir dagegen den Lochzustand mit einem Elektron von der Fermi-Kante auffül-
len (siehe Abb. 9.7b). Die damit verbundene Energieänderung ist ∆ε = −ε F + ε h (k), da
bei diesem Vorgang Energie gewonnen wird. Legen wir den Energie-Nullpunkt in das
Fermi-Niveau, so erhalten wir:
ε h (k) = −ε e (k) . (9.2.14)
Wir müssen also bei Elektronen Energie aufbringen, wenn wir sie im Band nach oben
heben, während wir bei Löchern Energie gewinnen. Wir können uns diese Tatsache da-
durch veranschaulichen, dass wir Elektronen als schwere Metallkugeln und Löcher als
Luftblasen in einer Flüssigkeit betrachten. Für die Elektronen müssen wir Energie auf-
bringen, um sie in der Flüssigkeit nach oben zu heben. Für die Löcher müssen wir dage-
gen Energie aufwenden, um sie in der Flüssigkeit nach unten zu drücken.
9.2 Bewegung von Kristallelektronen 385

(a) (b)
1.2 1.2

Bandlücke Bandlücke
0.8 0.8
E𝜀

𝜀
𝜺F 𝜺F
0.4 0.4

Loch Elektron
0.0 0.0
-1.0 -0.5 0.0 0.5 1.0 -1.0 -0.5 0.0 0.5 1.0
𝒌h k (2/a) 𝒌e k (2/a)

Abb. 9.7: (a) Durch Anregung (z. B. durch Absorption eines Photons) eines Elektrons aus dem unteren
Band (rot) in das darüberliegende Band (blau) erzeugen wir im vollen Band ein Loch. Das resultierende
Loch besitzt allerdings den Impuls kh = −ke . (b) Das Anheben eines Lochs auf das Fermi-Niveau (links)
entspricht formal dem Auffüllen des Lochs mit einem Elektron von der Fermi-Kante (gestrichelter
Pfeil). Dabei wird die Energiedifferenz der beiden Elektronenzustände frei. Beim Anheben eines Lochs
wird also Energie gewonnen. Beim Anheben eines Elektrons (rechts) wird dagegen Energie verbraucht.
Der Vorgang ist formal äquivalent zum Absenken eines Lochs von der Fermi-Energie (gestrichelter
Pfeil).

3. Effektive Masse m∗ :
Da wir beim Übergang von Elektronen zu Löchern sowohl bei der Energie als auch dem 11
Wellenvektor einen Vorzeichenwechsel erhalten, folgt für die effektive Masse

1 1 ∂ 2 ε(k) 1 −∂ 2 ε(k) 1
( ) = 2 ⌊︀ }︀ = 2 ⌊︀ }︀ = − ( ∗ ) , (9.2.15)

m h ħ ∂k∂k h ħ (−∂k)(−∂k) e m e

also

m∗h = −m∗e . (9.2.16)

In der Nähe der Oberkante eines Bandes ist m∗e negativ und damit m∗h positiv.
4. Geschwindigkeit v:
Der mit dem Übergang von Elektronen zu Löchern verbundene Vorzeichenwechsel so-
wohl bei der Energie als auch dem Wellenvektor resultiert in

1 ∂ε(k) 1 −∂ε(k)
vh (k) = ⌊︀ }︀ = ⌊︀ }︀ = ve (k) . (9.2.17)
ħ ∂k h ħ −∂k e

Dieses Ergebnis ist anschaulich klar, da die Löcher bei einer gleichförmigen Bewegung
der Elektronen natürlich der Elektronenbewegung folgen müssen. Beim Stromtransport
ist allerdings zu berücksichtigen, dass sich die Elektronen in einem Band an der Band-
unterkante und die Löcher an der Bandoberkante befinden. Infolge des umgekehrten
Vorzeichens der effektiven Masse bewegen sich dann Elektronen und Löcher aufgrund
der auf sie wirkenden Kraft in entgegengesetzte Richtungen.
386 9 Dynamik von Kristallelektronen

5. Bewegungsgleichungen:
Aus den obigen Überlegungen ergibt sich für die Bewegungsgleichungen der Elektronen
und Löcher
∂ke
ħ = −e(E + ve × B) (9.2.18)
∂t
∂kh
ħ = +e(E + vh × B) . (9.2.19)
∂t
Löcher bewegen sich also wie Teilchen mit positiver Ladung.

9.2.4 Semiklassische Bewegung im homogenen Magnetfeld


Die Bewegung von Elektronen mit Ladung q = −e in Gegenwart eines homogenen Magnet-
feldes liefert wertvolle Informationen über die elektronische Bandstruktur. Die Bewegungs-
gleichungen für Elektronen lauten:
dr 1
= v(k) = ∇k ε(k) (9.2.20)
dt ħ
dk e
ħ = F(r, t) = (−e)v(k) × B = )︀B × ∇k ε(k)⌈︀ . (9.2.21)
dt ħ
Wir erkennen aus diesen Gleichungen sofort, dass ε(k) und die Komponente von k parallel
zu B Konstanten der Bewegung sind. Es gilt nämlich dk∥ ⇑dt = 0 und ferner dε⇑dt = F ⋅ v =
(−e)(︀v(k) × B⌋︀ ⋅ v(k) = 0. Daraus können wir folgern, dass die Bewegung auf Flächen kon-
stanter Energie, ε(k) = const, erfolgt und dass die Bahnkurven auf diesen Flächen in einer
Ebene senkrecht zum anliegenden B-Feld liegen (siehe Abb. 9.8).

𝒌𝒛
𝑩
𝜀 𝒌 = const
Abb. 9.8: Die Bahnkur-
ven von Kristallelektronen
im homogenen Magnet-
feld verlaufen entlang der
Schnittlinie einer Ebene 𝒌𝒚
senkrecht zum Magnetfeld
mit der Fläche konstan- Fläche ┴ 𝑩
ter Energie im k-Raum. 𝒌𝒙 Bahnkurven

B Der Umlaufsinn der in Abb. 9.8 gezeigten Bahnkurven hängt davon


ab, ob ∇k ε(k) nach innen oder nach außen gerichtet ist, das heißt,
r|| ob ε(k) nach innen oder nach außen zunimmt. Nehmen wir an,
r
wir würden in Abb. 9.8 auf der Fläche senkrecht zum Magnetfeld
stehen und dieses wäre von den Füßen zum Kopf hin ausgerich-
tet. Bewegen wir uns dann entlang der Bahnkurve, so ist die Seite
r┴
höherer Energie immer zu unserer Rechten. Bei Elektronenbahnen
14
Abb. 9.9: Zur Defini- wäre dies außen: ∇k ε(k) ist nach außen gerichtet, die Bewegung er-
tion von r⊥ . folgt entgegen dem Uhrzeigersinn und innerhalb des umrundeten
9.2 Bewegung von Kristallelektronen 387

Gebiets liegen Zustände niedrigerer Energie. Bei Lochbahnen wäre dies gerade umgekehrt:
∇k ε(k) ist nach innen gerichtet, die Bewegung erfolgt im Uhrzeigersinn und innerhalb des
umrundeten Gebiets liegen Zustände höherer Energie.
Wir betrachten nun die Trajektorien im realen Raum und zwar ihre Projektion auf eine Ebe-
ne senkrecht zum Magnetfeld. Es gilt (siehe Abb. 9.9)
⧹︂ (B
r⊥ = r − B ⧹︂ ⋅ r) . (9.2.22)
⧹︂ der Einheitsvektor in Feldrichtung. Bilden wir das Vektorprodukt mit B
Hierbei ist B ⧹︂ auf
beiden Seiten der Bewegungsgleichung (9.2.21), so erhalten wir11

⧹︂ × ħk̇ = (−e)B
B ⧹︂ × (ṙ × B) = (−e) )︀ṙ(B
⧹︂ ⋅ B) − B(B
⧹︂ ⋅ ṙ)⌈︀
⧹︂ B
= (−e)B )︀ṙ − B( ⧹︂ ⋅ ṙ)⌈︀ = (−e)Bṙ⊥ . (9.2.23)

Durch Integration ergibt sich somit



𝑩
ħ ⧹︂
r⊥ (t) − r⊥ (0) = − B × )︀k(t) − k(0)⌈︀ . (9.2.24) ෡ × 𝒌 𝒕 −𝒌 𝟎
𝑩
eB
Da das Kreuzprodukt des Einheitsvektors mit einem senkrech-
ten Vektor einfach diesen Vektor um 90○ gedreht ergibt (siehe 𝒌 𝒕 −𝒌 𝟎
Abb. 9.10), entspricht die Projektion der Bahn im Ortsraum auf
Ebenen senkrecht zum Magnetfeld abgesehen von dem Skalie- Abb. 9.10: Semiklas-
rungsfaktor eħB exakt der um 90○ gedrehten Bahn im k-Raum. Dies sische Bewegung im
Ortsraum.
ist in Abb. 9.11 gezeigt.

(a) (b) 𝒛

𝒌𝒛 𝑩
𝑩
Projektion
der
Bahnkurve
Abb. 9.11: Die Projektion der Orts-
raum-Bahnkurven (b) von Kristall-
𝒌𝒚 𝒚
elektronen auf eine Ebene senkrecht
𝒌𝒙 zum angelegten Magnetfeld können
𝒙 aus den Trajektorien im k-Raum (a)
erhalten werden, indem man diese mit
dem Faktor eħB skaliert und um 90○
Bahnkurve
um die Feldachse dreht.

9.2.4.1 Offene und geschlossenen Bahnen


21
Die k-Raum-Trajektorien freier Elektronen, für die die Flächen konstanter Energie ja Kugeln
im k-Raum sind, sind Kreise senkrecht zur Feldrichtung. Da ein um 90○ gedrehter Kreis
wiederum ein Kreis ist, erhalten wir das bekannte Ergebnis, dass sich freie Elektronen im
Ortsraum auf Kreisbahnen senkrecht zum Magnetfeld bewegen. Für Kristallelektronen ist
11
Wir benutzen a × (b × c) = b(a ⋅ c) − c(a ⋅ b).
388 9 Dynamik von Kristallelektronen
B
∇𝐤𝜀
∇𝐤𝜀

∇𝐤 𝜀

(a) (b) (c)


offene Bahn geschlossene Bahn geschlossene Bahn
Abb. 9.12: Bewegung des Wellenvektors k eines
elektronenartig Kristallelektrons auf einer
elektronenartig Fläche konstanter Ener-
lochartig
gie für ein senkrecht zur Zeichenebene gerichtetes Magnetfeld (Feld zeigt aus Zeichenebene heraus).
(a) Offene Bahnkurve, (b) geschlossene Bahnkurve (elektronenartig) und (c) geschlossene Bahnkurve
(lochartig).

die Situation schwieriger, da die Flächen konstanter Energie im k-Raum sehr kompliziert
sein können, wie wir im Abschnitt 8.6 bei der Diskussion der Fermi-Flächen von Metallen
bereits gesehen haben. Wir klassifizieren die Bahnkurven in offene und geschlossene Bahn-
kurven. Eine offene Bahnkurve ist in Abb. 9.12a dargestellt. Sie setzt sich im periodischen
Zonenschema immer weiter fort, ohne sich jemals zu schließen. Bei einer geschlossenen
Bahn (siehe Abb. 9.12b und c) liegt eine geschlossene Energiefläche ε(k) = const vor.
Bei einer geschlossenen Bahn kann von der umschlossenen Fläche aus betrachtet die Ener-
gie ε(k) entweder nach außen (∇k ε(k) ist nach außen gerichtet) oder nach innen (∇k ε(k)
ist nach innen gerichtet) zunehmen. In Abb. 9.12b und c sind zwei Beispiele gezeigt. Zeigt B
aus der Papierebene heraus, so verläuft, wie wir oben bereits diskutiert haben, die Bahn eines
Kristallelektrons im einen Fall (∇k ε(k) ist nach außen gerichtet) entgegen dem Uhrzeiger-
sinn wie dies auch ein freies Elektron tun würde. Im anderen Fall (∇k ε(k) ist nach innen
gerichtet) verläuft die Bahn des Kristallelektrons genau entgegengesetzt im Uhrzeigersinn.
Das Kristallelektron verhält sich also wie ein positiv geladenes Teilchen, weshalb wir hier
von einer Lochbahn sprechen.
Geschlossene Bahnen treten bei den Alkalimetallen Li, Na, K und Rb auf. Wie Abb. 8.28
zeigt, sind für diese Metalle die Fermi-Flächen fast kugelförmige Gebilde, die den Rand der
1. Brillouin-Zone nicht berühren. Dadurch sind keine offenen Bahnen möglich und die ge-

offene Bahn,
geschlossen, elektronenartig
N elektronartig

111
100

geschlossen,
Cu lochartig

Abb. 9.13: Fermi-Fläche von Kupfer mit offenen und geschlossenen Bahnen. Im periodischen Zonen-
schema (rechts) ist die Fermi-Fläche durch die Hälse verbunden und ermöglicht somit offene Bahnen.
Die geschlossenen Bahnen können sowohl elektronenartig als auch lochartig sein.
9.2 Bewegung von Kristallelektronen 389

schlossenen Bahnen sind elektronenartig. Für einige Metalle wie z. B. Bi, Sb, W oder Mo
liegen sowohl elektronenartige als auch lochartige Bahnen vor. Da die Zahl der Elektronen
und Löcher in diesen Metallen nahe beieinander liegt, spricht man von kompensierten Me-
tallen. Viele Metalle wie die Edelmetalle Au, Ag und Cu sowie Mg, Zn, Cd, Sn, Pb oder Pt
haben Fermi-Flächen, die sowohl offene als auch geschlossene Bahnen erlauben. Als Bei-
spiel ist in Abb. 9.13 die Fermi-Fläche von Kupfer mit möglichen offenen und geschlossenen
Bahnen gezeigt.

9.2.4.2 Zyklotronfrequenz
Wir wollen nun die Umlaufzeit der Kristallelektronen auf einer im k-Raum geschlossenen
Bahn berechnen. Natürlich hat die Umlaufzeit im Ortsraum den gleichen Wert. Aus (9.2.21)
folgt für ein Bahnelement dk der Bahnkurve (siehe hierzu Abb. 9.14)

e e ∂ε(k)
dk = 2
)︀B × ∇k ε(k)⌈︀ dt = 2 B ( ) dt . (9.2.25)
ħ ħ ∂k ⊥

Hierbei ist (∂ε(k)⇑∂k)⊥ die Komponente von ∇k ε(k), die senkrecht auf B steht. Integrieren
wir (9.2.25) über einen Umlauf, so erhalten wir
T
ħ2 1
∮ dk = ∫ dt . (9.2.26)
eB (∂ε⇑∂k)⊥
0

Um das Integral auf der linken Seite auszuwerten, betrachten wir Abb. 9.14. Der Flächen-
inhalt zwischen den Flächen konstanter Energie ε und ε + dε ergibt sich zu
1
δS ε (kB ) = ∮ δk⊥ (k) dk = ∮ δε dk , (9.2.27)
(∂ε(kB )⇑∂k)⊥
woraus wir
δS ε (kB ) ∂S ε (kB ) 1
≃ =∮ dk (9.2.28)
δε ∂ε (∂ε(kB )⇑∂k)⊥
erhalten. Hierbei ist kB der Wellenvektor senkrecht zur Magnetfeldrichtung. Setzen wir dies
in (9.2.26) ein, so ergibt sich für die Umlaufzeit T = ∫0 dt
T

ħ 2 ∂S ε (kB )
T(ε, kB ) = . (9.2.29)
eB ∂ε

𝜹𝑺𝜺
𝒅𝒌∥
𝐤𝑩
𝜹𝒌⊥
𝑩
Abb. 9.14: Zur Berechnung der Zyklotronfre-
𝜺 𝜺 + 𝜹𝜺 quenz eines Kristallelektrons. Das Magnetfeld
zeigt aus der Papierebene heraus.
390 9 Dynamik von Kristallelektronen

Die Größe ∂S ε (kB )⇑∂ε gibt an, wie schnell die Fläche senkrecht zum Magnetfeld wächst,
wenn wir die Energie ε ändern. Die Umlauffrequenz beträgt

2π 2πeB 1
ωc = = ∂S ε (k B )
. (9.2.30)
T ħ2
∂ε

Die Größe ω c bezeichnet man als Zyklotronfrequenz der Kristallelektronen. Sie hat im All-
gemeinen für unterschiedliche Elektronen eines Energiebandes unterschiedliche Werte.
Für freie Elektronen sind die Bahnkurven Kreise und wir erhalten δS ε = 2πk B δk⊥ . Mit δε =
(k B )
ħ 2 k B δk⊥ ⇑m erhalten wir ∂S ε∂ε = 2πm
ħ2
und damit die bekannte Zyklotronfrequenz ω c = emB
für freie Elektronen (vergleiche (7.3.43)). Vergleichen wir diesen Ausdruck mit (9.2.30), so
können wir für die Kristallelektronen einen zu dem Fall freier Elektronen analogen Aus-
druck ω c = m eB
c
erhalten, indem wir die Zyklotronmasse

ħ 2 ∂S ε (k⊥ )
mc = (9.2.31)
2π ∂ε

einführen. Die Größe m c enthält die Energieabhängigkeit der von der Umlaufbahn im
k-Raum umschlossenen Fläche und ist nicht notwendigerweise gleich der effektiven
Masse m∗ . Dies ist sofort einsichtig, wenn wir bedenken, dass die Zyklotronmasse durch die
Lage einer bestimmten Bahn auf der Fermi-Fläche bestimmt wird und nicht durch einen
bestimmten elektronischen Zustand ε(k).

9.2.5 Semiklassische Bewegung in gekreuzten elektrischen


und magnetischen Feldern
Wir betrachten jetzt den Fall von gekreuzten, homogenen elektrischen und magnetischen
Feldern. Die Bewegungsgleichung (9.2.23) für die Projektion der Ortsraum-Trajektorie in
die Ebene senkrecht zum angelegten Magnetfeld erhält durch das elektrische Feld eine zu-
sätzliche Komponente. Aus
⧹︂ × ħk̇ = (−e)Bṙ⊥ + B
B ⧹︂ × (−e)E = (−e)Bṙ⊥ + eE(⧹︂ ⧹︂
E × B) (9.2.32)

erhalten wir durch Integration

ħ ⧹︂
B × )︀k(t) − k(0)⌈︀ + (⧹︂ ⧹︂
E
r⊥ (t) − r⊥ (0) = − E × B)t
eB B
ħ ⧹︂
=− B × )︀k(t) − k(0)⌈︀ + ut (9.2.33)
eB
mit
E ⧹︂ ⧹︂
u= (E × B) . (9.2.34)
B
9.2 Bewegung von Kristallelektronen 391

𝒛 𝑩
𝒚
𝒙
𝒓┴
𝑬
Abb. 9.15: Semiklassische Bewegung im
𝒖 Ortsraum.

Wir sehen, dass die Bewegung im Ortsraum eine Überlagerung aus der bereits oben disku-
tierten Bewegung (k-Raum Trajektorie um 90○ gedreht und skaliert) mit einer gleichmä-
ßigen Driftgeschwindigkeit u ist, die senkrecht auf E und B steht.12 Dies ist in Abb. 9.15
veranschaulicht.
Um die Trajektorie im k-Raum zu bestimmen, benutzen wir die Tatsache,
28
dass wir für E ⊥ B
die Bewegungsgleichung (9.1.7) wie folgt schreiben können:13
dk e ∂ε e ∂̃
ε
ħ = (−e) (E + v × B) = eu × B − ×B=− ×B (9.2.35)
dt ħ ∂k ħ ∂k
mit

̃
ε(k) = ε(k) − ħk ⋅ u . (9.2.36)

Gleichung (9.2.35) ist die Bewegungsgleichung, die ein Elektron mit Energie ̃
ε(k) hätte, falls
nur ein Magnetfeld anliegen würde. Wir können deshalb folgern, dass die k-Raum Trajek-
torien durch die Schnittlinien von Ebenen senkrecht zu B mit den Flächen ̃ ε(k) = const ge-
geben sind. Wir werden unten sehen, dass in vielen Fällen ferner ̃
ε ≃ ε eine gute Näherung
ist.

9.2.6 Hall-Effekt und Magnetwiderstand im Hochfeldgrenzfall


Wir wollen auf der Basis der vorangegangenen Diskussion nun den Hall-Effekt und Magnet-
widerstand diskutieren und zwar unter der Voraussetzung, dass

∎ das anliegende Magnetfeld groß ist (typischerweise einige Tesla, wir werden aber weiter
unten noch genauer spezifizieren, was groß bedeutet)
∎ ̃
ε(k) nur wenig von ε(k) abweicht.

Die zweite Voraussetzung ist fast immer unter der Annahme der ersten gegeben. Da k ma-
ximal etwa 1⇑a (a = Gitterkonstante) werden kann, gilt nämlich

ħE ħ 2 eEa
ħk ⋅ u < = 2 . (9.2.37)
a B a m ħω c
12
Diese Driftgeschwindigkeit entspricht gerade der Geschwindigkeit eines Bezugssystems, in dem
das elektrische Feld verschwindet.
13
Wir können E = − EB (⧹︂
E × B)
⧹︂ × B = −u × B schreiben.
392 9 Dynamik von Kristallelektronen

Da eEa ∼ 10−10 eV (siehe Abschnitt 9.1.2), ħω c ∼ 10−4 eV für B ∼ 1 T und aħ2 m ∼ 10 eV,14 er-
2

halten wir ħk ⋅ u < 10−5 eV. Da ε(k) typischerweise im eV-Bereich liegt, ist in der Tat ̃
ε(k) ≃
ε(k) eine gute Näherung.
Das Verhalten in hohen Magnetfeldern hängt stark davon ab, ob alle besetzten (oder alle un-
besetzten) Zustände auf geschlossenen Bahnen liegen, oder ob ein Teil der Zustände offene
Bahnen besitzt.

9.2.6.1 Geschlossene Bahnen


Wenn alle besetzten Zustände geschlossene Bahnen besitzen, können wir den Fall hoher Ma-
gnetfelder damit gleichsetzen, dass die geschlossenen Bahnen mehrmals durchlaufen wer-
den können, bevor ein Streuprozess stattfindet. Für den Fall freier Elektronen entspricht dies
gerade ω c τ ≫ 1 (vergleiche Abschnitt 7.3.4). Diesen Grenzfall können wir immer durch ho-
he Felder (ω c groß) und/oder tiefe Temperaturen und reine Proben (τ groß) erreichen.
Ist die Umlaufzeit T einer geschlossenen Bahn klein gegenüber der Streuzeit τ, so können
wir aus (9.2.33) ableiten, dass die Geschwindigkeitskomponente senkrecht zum angelegten
Magnetfeld gegeben ist durch

r⊥ (0) − r⊥ (−τ) ħ ⧹︂ )︀k(0) − k(−τ)⌈︀


=− B × +u. (9.2.38)
τ eB τ
Da alle besetzten Trajektorien geschlossen sind, ist ∆k = k(0) − k(−τ) eine beschränkte
Funktion, so dass für genügend große Streuzeiten τ die Driftgeschwindigkeit u auf der rech-
ten Seite von (9.2.38) dominiert. Wir können auch so argumentieren, dass für genügend
große τ die mittlere Bewegungskomponente durch die Bewegung auf einer geschlossenen
Bahn verschwindet und nur die Driftbewegung u übrig bleibt.

Hall-Effekt: Für die Stromdichte J⊥ senkrecht zur Magnetfeldrichtung können wir ent-
sprechend den vorangegangenen Überlegungen schreiben:

lim J⊥ = (−e)nu = −n e e (⧹︂ ⧹︂ .


E
E × B) (9.2.39)
τ⇑T→∞ B

In gleicher Weise erhalten wir, falls alle unbesetzten Zustände geschlossene Trajektorien be-
sitzen

lim J⊥ = (+e)nu = +n h e (⧹︂ ⧹︂ .


E
E × B) (9.2.40)
τ⇑T→∞ B

Hierbei ist n e bzw. n h die Dichte der besetzten bzw. unbesetzten Zustände. Gleichung (9.2.39)
und (9.2.40) zeigen, dass im Falle geschlossener Orbits die Ablenkung durch die Lorentz-
Kraft so effektiv ist, dass sie praktisch eine Energieaufnahme der Elektronen aus dem
elektrischen Feld verhindert und die Driftbewegung u senkrecht zu E den dominierenden
Beitrag zum Strom ergibt. Wir erhalten einen Hall-Winkel tan θ H ≃ 90○ . Es sei darauf
14 ħ2
2
2ma B
= 1 Rydberg = 13.6 eV, wobei a B der Bohrsche Radius ist.
9.2 Bewegung von Kristallelektronen 393

hingewiesen, dass im Experiment üblicherweise die Richtung des Stroms durch die Pro-
bengeometrie vorgegeben ist. Betrachten wir die in Abb. 9.15 gezeigte Geometrie, wo
das angelegte elektrische Feld in x-Richtung zeigt, so würde dies zu einer (technischen)
Stromdichte J x in x-Richtung, d. h. zu einer Bewegung der Elektronen in −x-Richtung und
somit zu einer Driftbewegung u in −y-Richtung führen. Da sich die Elektronen an der
Vorderseite der Probe ansammeln, entsteht ein elektrisches Feld in −y-Richtung und damit
ein negativer Hallwiderstand ρ x y = E y ⇑J x . Für Löcher gilt das Umgekehrte.
Benutzen wir die Definition (7.3.49) für den Hall-Koeffizienten (R H = E y ⇑BJ x ) so erhalten
wir für den Hochfeld-Grenzfall:
1 1
R H,∞ = − (Elektronen) R H,∞ = + (Löcher) . (9.2.41)
ne e nh e

Dies entspricht dem Ergebnis (7.3.50), das wir für freie Elektronen erhalten haben. Wir re-
produzieren das Ergebnis für freie Elektronen also unter den Annahmen, dass (i) die Orbits
aller besetzten bzw. aller unbesetzten Zustände geschlossen sind, dass (ii) das anliegende
Magnetfeld hoch genug ist, dass die Orbits mehrmals zwischen Streuprozessen durchlaufen
werden und dass (iii) wir die unbesetzten Zustände als Löcher mit positiver Ladung betrach-
ten. Wir sehen, dass die semiklassische Theorie im Gegensatz zum Modell freier Elektronen
in natürlicher Weise das experimentell beobachtete anomale Vorzeichen des Hall-Koeffizi-
enten erklären kann.
Es sei hier noch darauf hingewiesen, dass in der Praxis oft mehrere Bänder zur Stromdichte
beitragen. In diesem Fall gilt die obige Betrachtung separat für jedes Band. Falls in einem
Band alle besetzten und im anderen alle unbesetzten Zustände geschlossene Bahnen ha-
ben, so erhalten wir im gemessenen Hall-Koeffizienten eine effektive Ladungsträgerdichte,
die sich aus der Differenz der Elektronendichte im einen und der Lochdichte im anderen
Band ergibt. Ein einfaches Beispiel ist in Abb. 9.16 gezeigt. Während die Bahnen in der
1. Brillouin-Zone alle geschlossen und lochartig sind, sind diejenigen in der 2. Brillouin-
Zone ebenfalls alle geschlossen aber elektronenartig. Der gemessene Hall-Koeffizient wird

1. Brillouin-Zone 2. Brillouin-Zone Abb. 9.16: Zur Veranschaulichung von


lochartig elektronartig
Kompensationseffekten beim Hall-
Effekt. Oben: Fermi-Fläche im ausge-
dehnten Zonenschema. Unten: Fermi-
Fläche im periodischen Zonenschema.
Die Bahnen in der 1. Brillouin-Zo-
ne sind geschlossen und lochartig,
diejenigen in der 2. Brillouin-Zone
ebenfalls geschlossen aber elektronen-
artig.
394 9 Dynamik von Kristallelektronen

in diesem Fall durch die Kompensationseffekte sehr klein sein. Eine genaue Diskussion folgt
in Abschnitt 9.9.2.

9.2.6.2 Offene Bahnen


Für den Fall, dass in einem Band weder alle besetzten noch alle unbesetzten Zustände ge-
schlossene Bahnen haben, ändert sich das Verhalten drastisch. Dieser Fall liegt insbesondere
dann vor, wenn einige Trajektorien bei der Fermi-Energie offen sind (vergleiche Abb. 9.12
und 9.13). Elektronen in solchen Zuständen werden durch das angelegte Magnetfeld nicht
länger dazu gezwungen, eine periodische Bewegung in Richtung des elektrischen Feldes aus-
zuführen. Das heißt, das Magnetfeld verhindert jetzt nicht mehr, dass die Elektronen Energie
aus dem anliegenden elektrischen Feld aufnehmen. Falls die offenen Bahnen sich im Orts-
raum in Richtung ⧹︂ n erstrecken, so erwarten wir, dass der Strom in diese Richtung auch im
Hochfeld-Grenzfall nicht verschwindet und proportional zur Projektion des E-Feldes auf
diese Richtung ist:
)︀
⌉︀
⌉︀σ 0 → const für B → ∞
n ⋅ E) ⧹︂
J = σ 0 (⧹︂ n + σ 1 ⋅ E , ⌋︀ 1 . (9.2.42)
⌉︀
⌉︀ σ →0 für B → ∞
]︀
Dies erwarten wir auch nach der semiklassischen Bewegungsgleichung, da das Anwachsen
von ∆k = k(0) − k(−τ) jetzt nicht mehr beschränkt, sondern proportional zu B ist. Letzteres
folgt aus der Tatsache, dass die Umlaufrate 1⇑T proportional zu B ist (vergleiche (9.2.29)).
Aus (9.2.38) erhalten wir dann eine mittlere Geschwindigkeit, die unabhängig von B ist und
im Ortsraum entlang der Richtung des offenen Orbits ausgerichtet ist. Man beachte, dass
für E = 0 der Beitrag der offenen Bahnen verschwinden muss. Dies ist durch die Kompensa-
tion von offenen Bahnen mit entgegengesetzter Richtung gewährleistet (siehe Abb. 9.17).
Wenn E > 0, können die Elektronen dagegen Energie aus dem elektrischen Feld aufneh-
men. Dies führt zu einer stärkeren (schwächeren) Population der offenen Bahnen, die so
ausgerichtet sind, dass die Elektronen Energie gewinnen (verlieren). Die resultierende Po-
pulationsdifferenz ist proportional zur Projektion der Driftgeschwindigkeit u entlang der
k-Raum-Richtung des offenen Orbits oder, äquivalent, zur Projektion von E entlang der
Ortsraum-Richtung des Orbits.
Der Hochfeld-Grenzfall von (9.2.42) unterscheidet sich grundsätzlich von den Aus-
drücken (9.2.39) und (9.2.40), die wir für geschlossene Bahnen erhalten haben. Deshalb hat
der Hall-Koeffizient nicht mehr die einfache Form (9.2.41).

(a) (b)

Abb. 9.17: Linien konstanter Ener-


gie in einer Schnittfläche im k-Raum B B E
senkrecht zum anliegenden Magnet-
feld: (a) ohne und (b) mit elektrischem
Feld. Das angelegte elektrische Feld
führt in (b) zu einem Ungleichge- u
wicht der Besetzung der offenen Bah-
nen und damit zu einem Nettostrom
in Richtung der offenen Bahnen.
9.3 Streuprozesse 395

9.3 Streuprozesse
Im vorangegangenen Abschnitt haben wir nur die Bewegung der Kristallelektronen zwi-
schen zwei Streuprozessen behandelt und nichts über die Streumechanismen selbst gesagt.
Die Streuprozesse sind allerdings von zentraler Bedeutung, da wir ohne diese keinen elek-
trischen oder thermischen Widerstand von Festkörpern erhalten würden. Wir wollen uns
deshalb in diesem Abschnitt mit den wichtigsten Streuprozessen in Festkörpern beschäfti-
gen.
Drude15 nahm ursprünglich an, dass Elektronen von den positiven Atomrümpfen gestreut
werden.16 Dies hätte allerdings eine mittlere freie Weglänge von nur wenigen Å zur Folge.
Die meisten Metalle haben aber bei Raumtemperatur mittlere freie Weglängen von einigen
100 Å. Die Ursache für diesen Widerspruch kennen wir bereits: Eine exakt periodische An-
ordnung von Atomen in einem Kristall führt zu keinen Streuprozessen. Die Bloch-Wellen,
mit denen wir Elektronen in der Ein-Elektron-Näherung beschreiben können, sind ja sta-
tionäre Lösungen der Schrödinger-Gleichung. Da ⋃︀Ψ⋃︀2 zeitunabhängig ist, beschreiben diese
Lösungen die ungestörte Ausbreitung von Elektronenwellen. Dieses Ergebnis gilt auch, wenn
wir zu Bloch-Wellenpaketen übergehen. Streuprozesse erhalten wir nur dann, wenn wir die
Ausbreitung der stationären Bloch-Wellen stören. Dies kann auf verschiedene Art und Weise
geschehen:
1. Abweichungen von der strengen Periodizität des Kristallgitters:
(a) Kristalldefekte wie z. B. Fehlstellen, Versetzungen, Verunreinigungen etc.: Diese De-
fekte sind räumlich fest und können üblicherweise als zeitunabhängig betrachtet wer-
den.
(b) Phononen: Hierbei handelt es sich um zeitabhängige Abweichungen von der strengen
Periodizität.
2. Elektron-Elektron-Streuung:
Die Wechselwirkung zwischen Elektronen haben wir in der Ein-Elektron-Näherung im-
mer vernachlässigt. Streuprozesse zwischen Elektronen können aber in der Tat die sta-
tionären Bloch-Wellen stören. Wir werden allerdings sehen, dass die Elektron-Elektron-
Streuung gegenüber den unter 1. genannten Effekten meistens vernachlässigt werden
kann.

9.3.1 Beschreibung von Streuprozessen


Wir beschreiben Kristallelektronen mit Bloch-Wellen bzw. Bloch-Wellenpaketen, denen wir
einen Wellenvektor k zuordnen können. Um Streuprozesse zu beschreiben, müssen wir die
Wahrscheinlichkeit Pk′ k für den Übergang eines Zustandes Ψk in einen Zustand Ψk′ unter
der Wirkung einer Störung berechnen. Gemäß quantenmechanischer Störungstheorie ist
diese Wahrscheinlichkeit gegeben durch
2
Pk′ k ∝ ⋂︀∐︀k′ ⋃︀ℋ p ⋃︀k̃︀⋂︀ = ⋀︀∫ d 3 r Ψk∗′ (r)ℋ p Ψk (r)⋀︀ ,
2
(9.3.1)

15
Paul Karl Ludwig Drude, siehe Seite 260.
16
P. Drude, Zur Elektronentheorie der Metalle, Annalen der Physik 1, 566 (1900).
396 9 Dynamik von Kristallelektronen

wobei ℋ p das Störpotenzial beschreibt. Da Ψk (r) eine Bloch-Welle ist, können wir schreiben:

∐︀k′ ⋃︀ℋ p ⋃︀k̃︀ = ∫ d 3 r u ∗k′ (r)e−ık ⋅r ℋ p u k (r) e ık⋅r

= ∫ d 3 r u ∗k′ (r) ℋ p u k (r) e ı(k−k )⋅r . (9.3.2)

Wenn wir das Störpotenzial als Funktion der Ortskoordinaten schreiben können, so
stellt (9.3.2) ein Fourier-Integral dar, das die Streuamplituden für eine periodische Struktur
beschreibt, wobei u∗k′ ℋ p u k mit der Streudichte ρ(r, t) identifiziert werden kann (vergleiche
hierzu (2.2.21) in Abschnitt 2.2.4).
Wir haben bei der Behandlung der allgemeinen Beugungstheorie in Kapitel 2 bereits gese-
hen, dass wir zwischen einer zeitlich konstanten und einer zeitabhängigen Streudichte unter-
scheiden können. Falls ℋ p (r) zeitunabhängig ist, wie dies für statische Defekte wie Fehlstel-
len, Versetzungen oder Verunreinigungen der Fall ist, so sind nur elastische Streuprozesse
möglich (vergleiche hierzu Abschnitt 2.2.4) und es gilt

ε(k′ ) − ε(k) = 0 . (9.3.3)

Falls andererseits ℋ p (r, t) zeitabhängig ist, wie wir dies für die Streuung an Phononen er-
warten, erhalten wir inelastische Streuprozesse. In diesem Fall lautet die Energieerhaltung
beim Streuprozess

ε(k′ ) − ε(k) = ±ħω(q) . (9.3.4)

Hierbei ist ħω(q) die Energie des Phonons, das beim Streuprozess absorbiert oder emittiert
wird.
Bei der Streuung an einem Phonon mit Wellenvektor q hat das Störpotenzial die räumli-
che Abhängigkeit e ıq⋅r . Das bedeutet, dass die Streuamplitude (9.3.1) ein Matrixelement der
Form

∐︀k′ ⋃︀e ıq⋅r ⋃︀k̃︀ = ∫ d 3 r u ∗k′ u k e ı(k−k +q)⋅r (9.3.5)

enthält. Da u ∗k′ u k die Periodizität des Gitters besitzt und deshalb in eine Fourier-Reihe nach
den reziproken Gittervektoren G entwickelt werden kann, ist das Matrixelement in (9.3.5)
nur dann von null verschieden, wenn

k′ − k + q = G . (9.3.6)

Dies entspricht dem Impulserhaltungssatz. Wir wissen ja, dass der Wellenvektor k einer
Bloch-Welle einer Quantenzahl entspricht. Die Größe ħk ist aber nicht wie bei freien Elek-
tronen der Impuls, sondern nur ein Kristall- oder Quasi-Impuls. Deshalb ist k nur bis auf
einen reziproken Gittervektor G definiert.

9.3.1.1 Elektron-Elektron-Streuung
Wir wollen kurz die Ein-Elektron-Näherung verlassen und die Elektron-Elektron-Streuung
diskutieren. Es kann in einer Vielteilchenbeschreibung gezeigt werden, dass auch für solche
9.3 Streuprozesse 397

Prozesse die Energie- und Impulserhaltung gelten muss. Das heißt, bei einer Streuung von
zwei Elektronen in Zustand 1 und 2 in die Zustände 3 und 4 muss gelten:

ε 1 (k1 ) + ε 2 (k2 ) = ε 3 (k3 ) + ε 4 (k4 ) (9.3.7)

k1 + k2 = k3 + k4 + G . (9.3.8)

Hierbei sind ε i (k i ) die Einteilchen-Energien des nicht-wechselwirkenden Elektronensys-


tems.
Anschaulich würden wir erwarten, dass die Wahrscheinlichkeit für die Elektron-Elektron-
Streuung sehr hoch ist, da wir etwa ein Elektron pro Einheitszelle, also eine sehr hohe Dich-
te und eine starke Coulomb-Abstoßung haben. Allerdings unterdrückt das Pauli-Prinzip die
Elektron-Elektron-Streuung stark. Um uns diesen Sachverhalt klarzumachen, betrachten wir
die Streuung von zwei Elektronen 1 und 2. Für die Streuung dieser Elektronen in Zustand 3
und 4 fordert das Pauli-Prinzip, dass ε 3 und ε 4 unbesetzt sind. Das bedeutet aber, dass so-
wohl ε 3 als auch ε 4 nicht mehr als etwa k B T unterhalb von ε F liegen dürfen. Wir können
also schreiben

ε 1 + ε 2 = ε 3 + ε 4 ≥ 2ε F − 2k B T . (9.3.9)

Da die Besetzungswahrscheinlichkeit der Elektronenzustände weit oberhalb von ε F stark ab-


nimmt, liegen die Energien ε 1 und ε 2 der Ausgangszustände nicht mehr als etwa k B T ober-
halb der Fermi-Energie. Zusammen mit (9.3.9) können wir dann folgern, dass nur Elektro-
nen 1 und 2 für Streuprozesse in Frage kommen, die innerhalb einer Energiebreite ±k B T um
die Fermi-Energie liegen. Das heißt, es kann nur ein kleiner Bruchteil k B T⇑ε F aller Elektro-
nen an Elektron-Elektron-Streuprozessen teilnehmen.
Wir müssen nun noch diskutieren, welche Endzustände 3 und 4 für die Streuprozesse in
Frage kommen. Da die Energien ε 1 und ε 2 in einer dünnen Schale der Breite ±k B T um die
Fermi-Energie liegen, so müssen aufgrund der Impulserhaltung (9.3.8) und der Bedingun-
gen (9.3.9) auch die Energien ε 3 und ε 4 innerhalb einer dünnen Schale der Breite k B T um ε F
liegen. Die k-Erhaltung in der Form k1 − k3 = k4 − k2 bedeutet nämlich, dass die Verbin-
dungslinien (1)–(3) und (2)–(4) in Abb. 9.18 gleich sein müssen. Da also auch nur ein klei-
ner Bruchteil k B T⇑ε F aller Zustände erlaubte Endzustände sind, reduziert das Pauli-Prinzip
die Streuwahrscheinlichkeit um einen weiteren Faktor k B T⇑ε F .
Insgesamt können wir die Streuwahrscheinlichkeit für die Elektron-Elektron-Streuung unter
Berücksichtigung der Reduzierung durch das Pauli-Prinzip also zu

kB T 2
Pe–e (T) = Se–e ( ) (9.3.10)
εF
abschätzen. Hierbei ist Se–e der Streuquerschnitt, den wir ohne Berücksichtigung des Pauli-
Prinzips für ein klassisches Gas abgeschirmter Punktladungen erhalten würden.
Nehmen wir an, dass Se–e in der gleichen Größenordnung ist wie der Streuquerschnitt für
die Streuung eines Elektrons an dem geladenen Kern einer Verunreinigung, so ist für ε F ≃
10 eV und k B T ≃ 10−4 eV bei T = 1 K die Elektron-Elektron-Streuung um den Faktor 10−10
geringer als die Elektron-Verunreinigung-Streuung. Die Elektron-Elektron-Streuung wird
398 9 Dynamik von Kristallelektronen

𝒌𝒚
(3)
𝒌𝟑
(2)
𝒌𝟐
𝒌F
𝒌𝟏 (1)
𝒌𝟒 (4)

Abb. 9.18: Veranschaulichung der Elektron-Elektron- 𝒌𝒙


Streuung im k-Raum. Die beiden Elektronen (1) und (2)
mit Wellenvektoren k1 und k2 streuen aneinander und
nehmen anschließend die Zustände (3) und (4) mit
Wellenvektoren k3 und k4 ein. Das Pauli-Prinzip er- 𝒌B 𝑻
𝜺 𝒌 = 𝜺𝐅
fordert, dass die Zustände (3) und (4) unbesetzt sind.

also nur in sehr reinen Materialien ein Rolle spielen. Bei höheren Temperaturen wird der
Faktor (k B T⇑ε F ) zwar größer, es dominiert dann aber üblicherweise die Elektron-Phonon-
2

Streuung.
Wir wollen an dieser Stelle darauf hinweisen, dass die obige Argumentation auch zeigt, dass
wir Elektronen in Festkörpern aufgrund des Pauli-Prinzips in guter Näherung als nicht-
wechselwirkende Teilchen betrachten dürfen. Bei der Diskussion des elektrischen und ther-
mischen Transports in Festkörpern werden wir die Elektron-Elektron-Streuung vernachläs-
sigen.

9.3.2 Streuquerschnitte
Wir können verschiedene Typen von Streuzentren durch ihre Dichte n s und ihren Streu-
querschnitt S charakterisieren. Entsprechend der Optik gilt für die mittlere freie Weglänge
1⇑ℓ = n s S. Wir wollen im Folgenden eine phänomenologische Übersicht über die verschie-
denen Streuprozesse geben.
Falls in einer Probe unterschiedliche Streuprozesse vorliegen, die durch eine Dichte n si und
einen Streuquerschnitt S i der Streuzentren gekennzeichnet sind, und diese Streuprozesse
voneinander unabhängig sind, so addieren sich die mit der Dichte gewichteten Streuquer-
schnitte und wir erhalten ℓ−1 = ∑ n si S i . Die inverse mittlere freie Weglänge ist proportional
zum Widerstand, so dass wir den Gesamtwiderstand ρ als Summe der von den unabhängi-
gen Mechanismen verursachten Einzelwiderstände ρ i erhalten:
1 1 1 1
= + + +...
ℓ ℓ1 ℓ2 ℓ3 (9.3.11)
ρ = ρ1 + ρ2 + ρ3 + . . . .

Diesen Sachverhalt nennt man die Matthiessen-Regel, die bereits seit 1864 bekannt ist. In
Metallen ergibt sich der Gesamtwiderstand durch die Beiträge aus den üblicherweise domi-
nierenden Beiträgen durch die Phononenstreuung und die Streuung an Verunreinigungen.
Wir haben bereits in Abb. 7.14 gezeigt, dass der Widerstand von reinen Metallen wie Ag und
Cu durch Einbringen von Verunreinigungen einen temperaturunabhängigen Beitrag erhält.
9.3 Streuprozesse 399

Die Streuquerschnitte S i der einzelnen Streumechanismen können mit Hilfe der Streutheo-
rie in erster oder zweiter Bornscher Näherung berechnet werden.17 , 18 Liegt eine Dichte n si
von Streuern mit differentiellem Wirkungsquerschnitt σ i (θ) vor, so ist die daraus resultie-
rende mittlere freie Weglänge ℓ i durch
2π π
1
= n si S i = n si ∫ ∫ (1 − cos θ) σ i (θ) sin θ dθ dφ (9.3.12)
ℓi
0 0

gegeben. Um den totalen Streuquerschnitt zu erhalten, haben wir den differentiellen Wir-
kungsquerschnitt über den gesamten Raumwinkel aufintegriert und dabei mit dem Wich-
tungsfaktor (1 − cos θ) berücksichtigt, dass Streuprozesse in Vorwärtsrichtung (θ = 0○ )
nicht und solche in Rückwärtsrichtung (θ = 180○ ) maximal zur Impulsrelaxation beitragen.
Wir wollen noch darauf hinweisen, dass sowohl die Streuquerschnitte als auch die Dichten
der Streuzentren von der Temperatur und der Energie abhängen können. Im Folgenden
werden einzelne Streumechanismen näher diskutiert.

9.3.2.1 Neutrale Störstellen


Wir wollen hier nicht im Detail auf die Berechnung des Streuquerschnitts eingehen. Aus-
führliche Darstellungen findet man in verschiedenen Lehrbüchern.19 , 20 Es sollen vielmehr
die wesentlichen Ergebnisse der quantenmechanischen Berechnung des Streuquerschnitts
vorgestellt und diskutiert werden.
Neutrale Fremdatome (z. B. Au oder Ag in einem Cu-Gitter) können durch ein kastenförmi-
ges Potenzial der Höhe V0 und mit Radius r 0 charakterisiert werden (wir sprechen hier von
Potenzialstreuung). Der totale Wirkungsquerschnitt für Elektronen an der Fermi-Kante ist
gegeben durch21
2
V0 2 k2
S= πr 02 ( ) = πr 02 ( V2 ) (9.3.13)
εF kF
17
In der quantenmechanischen Störungstheorie zur Beschreibung der Streuung von Wellen wird die
Näherung niedrigster Ordnung als Bornsche Näherung bezeichnet. Anschaulich können wir uns
die Bornsche Näherung am Beispiel der Streuung von elektromagnetischen Wellen an einem Fest-
körper vorstellen. In der Bornschen Näherung nehmen wir an, dass die durch das äußere Feld
polarisierten Atome im Takt des äußeren Feldes mitschwingen und dabei selbst oszillierende elek-
tromagnetische Felder erzeugen. Das von einem Atom erzeugte Feld kann prinzipiell wiederum die
anderen Atome beeinflussen (Mehrfachstreuung), wird aber in der Bornschen Näherung vernach-
lässigt. Die Bornsche Näherung gilt dementsprechend insbesondere dann als gute Näherung, wenn
das Streupotenzial klein im Vergleich zur Energie des einfallenden Wellenfeldes ist. In diesem Fall
wird dann das von einem einzigen Atom erzeugte Streufeld klein im Vergleich zum einfallenden
Feld.
18
Max Born, deutscher Physiker und Mathematiker, geboren am 11. Dezember 1882 in Breslau, ge-
storben am 5. Januar 1970 in Göttingen. Max Born erhielt 1954 für seine grundlegenden Forschun-
gen in der Quantenmechanik zusammen mit Walther Bothe den Nobelpreis für Physik.
19
Prinzipien der Festkörpertheorie, J. M. Ziman, Verlag Harry Deutsch, Zürich (1975).
20
Electronic Properties of Metals and Alloys, A. Dugdale, Edward Arnold Publishers, London (1982).
21
siehe z. B. Quantenmechanik I, Albert Messiah; aus d. Franz. übers. von Joachim Streubel, 2. verb.
Auflage, Walther de Gruyter, Berlin (1991).
400 9 Dynamik von Kristallelektronen

mit k V2 = 2mV0 ⇑ħ 2 . Der Streuquerschnitt ist also proportional zu der von den Elektronen ge-
sehenen Querschnittsfläche πr 02 und zum Quadrat des Verhältnisses von Potenzialhöhe und
Fermi-Energie. Die Streuung an ungeladenen Fremdatomen liefert einen temperaturunab-
hängigen Beitrag zum spezifischen Widerstand. Dieser Beitrag ist verantwortlich für den so
genannten Restwiderstand, der bei sehr tiefen Temperaturen (wenn die Streuung an Phono-
nen vernachlässigbar klein wird, siehe unten) „übrig“ bleibt. Er ist auch verantwortlich für
den fast temperaturunabhängigen Widerstand von Legierungen.

9.3.2.2 Geladene Störstellen


Die Streuung an geladenen Fremdatomen nennt man auch Conwell-Weisskopf-Streuung.
Geladene Fremdatome sind z. B. Zn (2 Elektronen pro Zn-Platz) in einem Gitter von ein-
fach ionisierten Cu-Ionen oder auch Ga3+ , Ge4+ oder As5+ -Ionen, die sich vom umgebenden
Cu um die effektive Ladung Z = 2, 3 bzw. 4 unterscheiden. Wir nennen Z hier Valenzdiffe-
renz. Für die geladenen Streuer liegt ein Rutherford-artiges Streuproblem vor mit dem Un-
terschied, dass in einem Festkörper das Coulomb-Potenzial V (r) = Ze⇑4πє 0 r durch die Lei-
tungselektronen abgeschirmt wird. Diesem Sachverhalt tragen wir durch einen Faktor e−k s r
Rechnung, wobei die charakteristische Abschirmlänge 1⇑k s mit dem Thomas-Fermi Modell
(Metalle) oder dem Debye-Hückel Modell (Halbleiter) berechnet werden kann (vergleiche
hierzu Abschnitt 11.7.1). Für den differentiellen Wirkungsquerschnitt erhalten wir in Born-
scher Näherung22
2
2mZe 2 1
σ(θ) = ( ) 2 , (9.3.14)
)︀k s2 + 4k F2 sin2 (θ⇑2)⌈︀
4πє 0 ħ 2

wobei Z die Valenzdifferenz ist. Den totalen Streuquerschnitt erhalten wir durch Winkelin-
tegration zu
2 π
2mZe 2 1
S ≃ 2π ( ) ∫ 2 (1 − cos θ) sin θ dθ . (9.3.15)
0 )︀k s ⇑k F + 4 sin (θ⇑2)⌈︀
4πє 0 ħ 2 k F2 2 2 2

Ohne auf den exakten Wert des Integrals einzugehen sehen wir sofort, dass das geladene
2mZ e 2
Fremdatom offensichtlich ein Hindernis mit Radius r 0 ≃ 4πє 2 2 darstellt.
0 ħ kF
23
Es sei hier noch
angemerkt, dass gemäß (9.3.15) der Beitrag der geladenen Streuer und damit der Widerstand
aufgrund dieser Streuer unabhängig von der Temperatur und proportional zum Quadrat der
Valenzdifferenz ist. Dieser Sachverhalt wird als Lindesche Regel bezeichnet.
22
Dem erhaltenen Ergebnis sollte nicht zu viel Bedeutung beigemessen werden, da die Bornsche
Näherung für Elektronen bei der Fermi-Energie, die an einem tiefen Coulomb-Potenzial gestreut
werden, nicht sehr gut ist. Ein besseres Ergebnis liefert die Verwendung von Partialwellen und der
Friedelschen Summenregel, auf die wir hier nicht eingehen.
23
Diesen Zusammenhang können wir uns anhand eines nicht abgeschirmten Coulomb-Potenzials
leicht klar machen. Der Streuquerschnitt ist hier in einfachster Näherung eine kreisförmige Schei-
be, deren Radius r 0 diejenige Entfernung vom geladenen Streuzentrum ist, bei der die Coulomb-
Energie Ze 2 ⇑4πє 0 r gerade gleich der kinetischen Energie 12 mv F2 = ħ 2 k F2 ⇑2m der Ladungsträger ist.
Daraus ergibt sich sofort der Zusammenhang r 0 = 2mZe 2 ⇑4πє 0 ħ 2 k F2 . Man beachte, dass bei Halb-
leitern im Gegensatz zu Metallen nicht die Fermi-Geschwindigkeit, sondern die thermische Ge-
schwindigkeit verwendet werden muss (vergleiche hierzu Abschnitt 10.1.4).
9.3 Streuprozesse 401

9.3.2.3 Beweglichkeit von Ladungsträgern in Halbleitern


Werten wir das Integral (9.3.15) für Halbleiter aus, so müssen wir die Debye-Hückel-Formel
(11.7.25), k s2 = e 2 n⇑є 0 k B T, verwenden. Für die Beweglichkeit µ = eτ⇑m∗ = eℓ⇑m∗ v th =
e⇑m∗ v th n si S i aufgrund der Streuung an geladenen Defekten (in diesem Fall ionisier-
⌈︂
te Störstellen, z. B. Phosphoratom in Silizium) erhalten wir dann unter Benutzung von
v th ∝ T⇑m und mit S i ∝ m∗ 2 ⇑k th
∗ 4
∝ 1⇑m∗ 2 v th
4
∝ 1⇑m∗ 2 T 2 (vergleiche hierzu Ab-
schnitt 10.1.4)

µ ∝ T 3⇑2 m∗
1⇑2
. (9.3.16)

Die Beweglichkeit nimmt also mit sinkender Temperatur ab. Die T 3⇑2 -Abhängigkeit der Be-
weglichkeit dominiert bei tiefen Temperaturen, da hier die Streuung an Phononen klein ist
und die Streuung an den geladenen Donatoren bzw. Akzeptoren mit abnehmender Tempera-
tur aufgrund der abnehmenden Geschwindigkeit der Ladungsträger und des zunehmenden
Streuquerschnitts zunimmt (vergl. Abschnitt 10.1.4).

9.3.2.4 Streuung an Phononen


Die Berechnung des elektrischen und des Wärmewiderstandes infolge von Streuung an ther-
mischen Schwingungen des Gitters ist ein kompliziertes Problem. Wir wollen hier nur die
Hauptgedankengänge zu seiner Lösung skizzieren. Die nachfolgende Betrachtung erweitert
unsere Diskussion aus Abschnitt 7.3.1.3 und 7.3.2. Dort haben wir argumentiert, dass der
elektrische Widerstand eines freien Elektronengases aufgrund von Elektron-Phonon-Streu-
ung durch die Zahl der angeregten Phononen und die maximal möglichen Impulsüberträge
bestimmt wird. Die Wärmeleitfähigkeit ergab sich aus der elektrischen Leitfähigkeit über
das Wiedemann-Franz-Gesetz (7.3.26).
Da Elektronen nur dann gestreut werden, wenn eine Abweichung vom streng periodischen
Gitterpotenzial auftritt, wollen wir zunächst überlegen, wie es durch Gitterschwingungen zu
lokalen Potenzialschwankungen kommen kann. Da Gitterschwingungen als elastische Wel-
len betrachtet werden können, resultieren sie in einer ortsabhängigen Dehnung/Kompres-
sion ∆(r) des Gitters, die wiederum die Dichte der Elektronen vom Gleichgewichtswert n 0
auf n 0 (1 − ∆) ändert. In einem freien Elektronengas (wir diskutieren hier nur Metalle) än-
dert sich dadurch auch das Fermi-Niveau um
n 0 ∆(r) 2
δε F (r) = = ε F ∆(r) . (9.3.17)
𝒟(ε F ) 3

Hierbei ist 𝒟(ε F ) = D(ε F )⇑V die elektronische Zustandsdichte pro Energie und Volumen.
Wir sehen also, dass ein Elektron aufgrund einer Gitterschwingung ein fluktuierendes Po-
tenzial δε = 23 ε F ∆ sieht.
Wir müssen jetzt noch überlegen, wie groß die lokale, fluktuierende Dehnung ∆(r) ist. Bei
hohen Temperaturen (T ≫ Θ D ) weit oberhalb der Debye-Temperatur Θ D können wir den
quadratischen Mittelwert u 2 der Auslenkung der Atome aus ihrer Ruhelage unter Benutzung
402 9 Dynamik von Kristallelektronen

des Äquipartitionsprinzips der klassischen statistischen Mechanik mit24


kB T
u2 ≈ (T ≫ Θ D ) (9.3.18)
Mω 2q
angegeben, wobei M die Ionenmasse und ω q die Phononenfrequenz ist. Die Phononen-
frequenz enthält dabei Information über die elastischen Eigenschaften des Materials. Den
quadratischen Mittelwert der Dichtefluktuationen ∆2 erhalten wir, indem wir u 2 durch das
Quadrat des mittleren Atomabstands a 2 teilen. Eine grobe Abschätzung können wir machen,
indem wir ω q durch die Abschneidefrequenz ω D = k B Θ D ⇑ħ und 1⇑a durch den Debye-Wel-
lenvektor q D ersetzen. Wir erhalten dann die allgemeine Form
ħ 2 q 2D k B T
∆2 ≈ (T ≫ Θ D ) . (9.3.19)
Mk B2 Θ2D
Den effektiven Streuquerschnitt können wir jetzt grob abschätzen, indem wir den Streuquer-
schnitt eines isolierten Gitteratoms mit der relativen Dichtefluktuation multiplizieren. Für
die mittlere freie Weglänge erhalten wir mit (9.3.12)
1 ħ 2 q 2D k B T
≈ nA SA , (9.3.20)
ℓ Mk B2 Θ2D
wobei n A die Dichte der Atome und
2π π
S A = ∫ ∫ (1 − cos θ) σA (θ) sin θ dθ dφ (9.3.21)
0 0

der mit dem Faktor (1 − cos θ) gewichtete gesamte Streuquerschnitt eines einzelnen Gitter-
atoms ist.
Um den spezifischen Widerstand von Metallen aufgrund von Elektron-Phonon-Streuung
abzuschätzen, können wir den einfachen Zusammenhang ρ = mv F ⇑ne 2 ℓ benutzen. Mit der
mittleren freien Weglänge (9.3.20) erhalten wir
mv F T
ρ ph ≃ ∝ (T ≫ Θ D ) . (9.3.22)
2
ne ℓ MΘ2D
Der Widerstand steigt also für hohe Temperaturen proportional zu T an. Dieses Ergebnis
hatten wir bereits mit einer stark vereinfachten Betrachtung für das freie Elektronengas ab-
geleitet (vergleiche hierzu (7.3.19)). Die Abhängigkeit von der Ionenmasse und der Debye-
Temperatur stimmt im Allgemeinen gut mit dem Experiment überein.
24
Man ordnet jedem Oszillator eine mittlere Energie zu, die über die Oszillatormasse M und die Fe-
derkonstante mit einer typischen Oszillationsamplitude verknüpft ist. Das Quadrat dieser Ampli-
tude entspricht der temperaturbedingten räumlichen Verschmierung des jeweiligen Gitterplatzes
und somit einem endlichen Streuquerschnitt. Bei hohen Temperaturen kann man annehmen, dass
jede Mode besetzt ist, während bei tiefen Temperaturen die Besetzung entsprechend der Bose-
Einstein Statistik berücksichtigt werden muss. Die Energie⌈︂ eines mechanischen Oszillators mit
Federkonstante k ist 12 kx 2 = 12 Mω 2 x 2 , wobei wir ω = k⇑M benutzt haben. Setzen wir für das
Auslenkungsquadrat den quadratischen Mittelwert der lokalen, thermisch fluktuierenden Auslen-
kung u(t) ein und setzen die Schwingungsenergie gleich 12 k B T, so erhalten wir den Zusammen-
hang Mω 2q u 2 = k B T.
9.3 Streuprozesse 403

(a) 𝒌𝒚 (b) 𝒌𝒚 (c) 𝒌𝒚


𝝅Τ 𝝅Τ 𝝅Τ
𝒂 𝒂 𝒂

𝒒 𝒌′ q
𝒌′𝐅
𝝅Τ 𝜽 𝝅Τ 𝝅Τ
𝒌′ 𝜽 𝒌 𝒂 𝒌 𝒂 𝜽/𝟐 𝒒 𝒂
𝜽/𝟐
𝒌𝒙 𝒌𝒙 𝒌𝒙
𝒌𝐅

Abb. 9.19: Schematische Darstellung der Normal-Prozesse bei der Elektron-Phonon-Streuung für ein
freies Elektronengas: (a) hohe Temperaturen und (b) tiefe Temperaturen. Die getönte Fläche entspricht
der thermischen Aufweichung der Fermi-Kugel. Neben der Fermi-Kugel ist auch die Brillouin-Zone
eines kubisch primitiven Gitters eingezeichnet. In (c) ist der geometrische Zusammenhang zwischen
Streuwinkel θ und den Wellenvektoren des Phonons und des Elektrons gezeigt.

Bei tiefen Temperaturen ist die Situation komplizierter, da hier die Besetzung der Schwin-
gungsmoden entsprechend der Bose-Einstein Statistik
1
n(ω q ) = (9.3.23)
exp ( k B Tq ) − 1
ħω

41
berücksichtigt werden muss. Durch die Bose-Einstein-Statistik fällt die Streuwahrschein-
lichkeit schnell ab, wenn ein Phonon mit Energie ħω q > k B T absorbiert oder emittiert wer-
den muss. Dies führt zu einer starken Einschränkung des maximalen Streuwinkels mit ab-
nehmender Temperatur, wie dies in Abb. 9.19 gezeigt ist. Bei hohen Temperaturen ist die
Streuung von Elektronen um hohe Winkel möglich. Da hier große effektive Impulsände-
rungen parallel zur Stromrichtung erhalten werden können, ist dieser Streuprozess in bezug
auf den elektrischen Widerstand sehr effektiv. Bei tiefen Temperaturen sind dagegen auf-
grund des kleinen Phononenimpulses nur kleine Streuwinkel möglich, wodurch sich der
elektrische Widerstand reduziert.
Um eine einfache Abschätzung des maximalen Streuwinkels zu machen, gehen wir von ei-
nem Debye-Modell (Zustandsdichte der Phononen ist proportional zu ω 2q ) aus und berück-
sichtigen nur Normalprozesse auf einer Fermi-Kugel. Dies führt, wie in Abb. 9.19c gezeigt
ist, insgesamt dazu, dass Streuprozesse mit großen Streuwinkeln θ praktisch ausgeschlossen
werden. Aus Abb. 9.19c folgt für den maximalen Streuwinkel sin θ2 = q max ⇑2k F . Setzen wir
≃ ΘTD
q
für den maximalen Wellenvektor des Phonons bei der Temperatur T den Wert qmax D
ein, so erhalten wir
θ qD T
sin < . (9.3.24)
2 2k F Θ D
Hierbei ist q D der zur Debye-Frequenz ω D gehörende Wellenvektor. Wir sehen also, dass wir
zu tiefen Temperaturen hin in der Tat ein starkes Abschneiden des Integranden in (9.3.21)
für die Winkelvariable θ erhalten. Schließen wir Streuprozesse aus, für die ħω q > k B T gilt,
so schränken wir den Streuwinkel auf den durch (9.3.24) gegebenen Wert ein.
Um die mittlere freie Weglänge mit Hilfe von (9.3.20) und (9.3.21) zu berechnen, nehmen
wir zur Vereinfachung an, dass die Winkelabhängigkeit von σA (θ) klein ist, so dass wir
σA (θ) ≃ σA benutzen können und diese Größe vor das Integral ziehen können. Ersetzen
404 9 Dynamik von Kristallelektronen

wir ferner (1 − cos θ) sin θdθ durch 8 sin3 θ2 d(sin θ2 )25 , sin θ2 durch
qD T
2k F Θ D
und führen die
Abkürzung x = ħω q ⇑k B T = ΘTD q D ein, so erhalten wir
q

Θ D ⇑T
1 ħ 2 q 2D k B T T 4 4x 4
≈ n A σA ( ) ∫ dx . (9.3.25)
ℓ Mk B2 Θ2D Θ D (ex − 1)
0

Bei hohen Temperaturen ist Θ D ⇑T klein, so dass der Nenner im Integral durch x approxi-
miert werden kann. Das Integral ergibt dann (Θ D ⇑T)4 und wir erhalten das bereits oben
abgeleitete Ergebnis (9.3.20). Für tiefe Temperaturen wird das Integral konstant und wir er-
halten das Bloch-Grüneisen-Gesetz 26 , 27 , 28
T 5
ρ ph ∝ ( ) (T ≪ Θ D ) . (9.3.26)
ΘD

Das T 5 Verhalten bei tiefen und die lineare T-Abhängigkeit bei hohen Temperaturen stim-
men für viele Metalle gut mit dem experimentell beobachteten Verhalten überein (verglei-
che hierzu Abb. 7.14). Vor allem der T 5 -Verlauf stellt allerdings nur eine grobe Näherung
dar, da die gemachten Annahmen (Phononen-Spektrum entspricht Debye-Spektrum, der
Streuquerschnitt ist unabhängig vom Streuwinkel, Umklapp-Prozesse werden vernachläs-
sigt) auch grob sind. Die Problematik der Vernachlässigung der Umklapp-Prozesse ist in
Abb. 9.20 gezeigt. Der minimale Wert von q für einen Umklapp-Prozess ist offenbar durch
den Minimalabstand zwischen der Fermi-Fläche in der einen Zone und ihrer Wiederho-
lung in der benachbarten Zone gegeben. Wenn die Fermi-Fläche sich zur Zonengrenze hin
ausbaucht, verringert sich der Minimalwert von q. Umklapp-Prozesse können dann bis zu
relativ tiefen Temperaturen nicht vernachlässigt werden. Eine einfache Formel zur Berück-
sichtigung der Beiträge der Umklapp-Prozesse zum elektrischen Widerstand gibt es leider
nicht.29 Es sind hier vielmehr aufwändige numerische Rechnungen notwendig.
Wir wollen auch noch darauf hinweisen, dass wir bei der obigen Diskussion rein elastische
Streuprozesse angenommen haben, was natürlich nicht richtig ist. Bei einer genaueren Ana-
lyse unter Berücksichtigung von Phonon-Erzeugungs- und Vernichtungsprozessen erhalten
wir aber fast das gleiche Ergebnis. Wir müssen lediglich das Integral in (9.3.25) durch
Θ D ⇑T
4x 5
∫ dx (9.3.27)
(ex − 1)(1 − e−x )
0

ersetzen, welches das gleiche asymptotische Verhalten hat.


25
⌈︂
Wir benutzen sin θ2 = (1 − cos θ)⇑2.
26
E. Grüneisen, Die Abhängigkeit des elektrischen Widerstandes reiner Metalle von der Temperatur,
Annalen der Physik 408, 530–540 (1933).
27
E. Grüneisen, H. Reddemann, Elektronen- und Gitterleitung beim Wärmefluss in Metallen, Annalen
der Physik 412, 843–877 (1934).
28
Eduard Grüneisen, geboren am 26. Mai 1877 in Giebichenstein, gestorben am 5. April 1949 in
Marburg.
29
Für eine weitergehendere Behandlung siehe Electrons and Phonons, J. M. Ziman, Oxford Universi-
ty Press, Oxford (1962) oder Principles of the Theory of Solids, J. M. Ziman, Cambridge University
Press, Cambridge (1972).
9.4 Boltzmann-Transportgleichung 405

𝒒
𝒌
𝒌′

𝑮 𝒒𝐦𝐢𝐧
Abb. 9.20: Zur Veranschaulichung des minima-
𝜺 𝒌 = 𝜺𝐅 len Wellenvektors für Umklapp-Prozesse bei der
Elektron-Phonon-Streuung.

9.3.2.5 Beweglichkeit von Ladungsträgern in Halbleitern


Für Halbleiter ist die Diskussion der Streuung von Ladungsträgern durch Gitterschwingun-
gen ein einfacheres Problem. Aufgrund der geringen Ladungsträgerdichte nehmen die La-
dungsträger nur ein kleines Gebiet des k-Raums in der Nähe des Minimums von ε(k) ein.
Dadurch sind die möglichen Änderungen des k-Vektors, d. h. die möglichen Streuvektoren,
klein. Wir können also bis zu sehr tiefen Temperaturen die klassische Statistik verwenden,
d. h. es gilt 1⇑ℓ ∝ T. Da die Streuwahrscheinlichkeit und damit
44 1⇑ℓ ferner proportional zur
Dichte D(ε) der Zustände in dem betrachteten Band und diese proportional zu (m∗ )3⇑2 ε 1⇑2
ist (vergleiche Abschnitt 7.1 und 10.1.2), erhalten wir mit ε ≃ k B T für die Beweglichkeit
µ = eτ⇑m∗ ∝ ℓ⇑m∗ das Ergebnis
1
µ∝ . (9.3.28)
T 3⇑2 m∗ 5⇑2

9.4 Boltzmann-Transportgleichung
Wir haben gesehen, dass Elektronen, die sich in einem Festkörper unter der Wirkung von
äußeren Kräften bewegen, durch Abweichungen von der strengen Periodizität des Kristall-
gitters gestreut werden und dadurch ihre Bewegung eingeschränkt wird. Transportprozesse
in Festkörpern wie der Ladungs- oder Wärmetransport beinhalten immer zwei gegenläu-
fige Prozesse: Die treibenden Kräfte durch äußere Felder verursachen eine Beschleunigung
der Ladungsträger, während die Streuprozesse zu einer Energie- und Impulsrelaxation füh-
ren. Im stationären Zustand stellt sich dann ein Gleichgewicht ein. Das Wechselspiel zwi-
schen antreibenden Kräften und relaxierenden Streuprozessen beschreiben wir durch die
Boltzmann-Transportgleichung. Diese gibt an, wie sich die Besetzungswahrscheinlichkeit
der Elektronenzustände in einem Festkörper unter der Wirkung von äußeren Kräften und
Streuprozessen ändert.
Die Boltzmann-Transportgleichung wurde bereits in Abschnitt 6.4.2 und 7.3.1.3 benutzt, um
die Wärmeleitfähigkeit von Isolatoren und die elektrische Leitfähigkeit eines freien Elektro-
nengases zu diskutieren. Die nachfolgende Diskussion vertieft und erweitert diese Betrach-
tung. Ein wesentlicher Unterschied zur im Zusammenhang mit dem freien Elektronengas
geführten Diskussion wird sein, dass wir jetzt nicht mehr die Geschwindigkeit v = ħk⇑m
n (k)
von freien Elektronen verwenden werden, sondern die Geschwindigkeit vn (k) = ħ1 d εdk
von Kristallelektronen, die wir direkt aus der quantenmechanisch berechneten Bandstruk-
tur erhalten. Die im Folgenden geführte Diskussion erweitert die bereits in Abschnitt 7.3 für
406 9 Dynamik von Kristallelektronen

freie Elektronen gemachte Betrachtung. Die in 7.3 für freie Elektronen erhaltenen Beziehun-
gen sind als Spezialfälle in den hier abgeleiteten allgemeinen Ausdrücken für die Transport-
koeffizienten enthalten. Wir werden die nachfolgende Betrachtung für Ladungsträger mit
der Ladung q führen. Für Elektronen gilt q = −e.

9.4.1 Boltzmann-Gleichung und Relaxationszeit


Zur Berechnung der elektrischen und thermischen Transporteigenschaften eines Festkör-
pers benötigen wir neben der Kenntnis der Fermi-Fläche vor allem Informationen darüber,
wie sich die Besetzungswahrscheinlichkeit von Zuständen zeitlich ändert. Für diese Ände-
rungen sind drei charakteristische Mechanismen verantwortlich:

∎ treibende externe Kräfte verursacht durch externe elektrische und magnetische Felder
oder Temperaturgradienten,
∎ Diffusion aufgrund von Schwankungen der räumlichen Elektronendichte,
∎ Relaxation durch Streuprozesse.

Das Wechselspiel dieser Mechanismen wird durch die so genannte Boltzmann-Gleichung


beschrieben. Die Boltzmann-Gleichung beschreibt die Änderung der Gleichgewichtsvertei-
lungsfunktion der Ladungsträger in einem Festkörper (Abweichungen von einer symmetri-
schen Gleichverteilung der Zustände im k-Raum) durch äußere Kräfte und Streuprozesse.
Sie resultiert aus einer semiklassischen Beschreibung von Transportprozessen. Dabei wird
angenommen, dass der Impuls k der Elektronen wohldefiniert ist, so dass k eine gute Quan-
tenzahl ist. Diese Näherung ist gut, solange die Fermi-Wellenlänge λ F = 2π⇑k F der Elektro-
nen klein gegenüber der mittleren freien Weglänge ℓ, d. h. dem mittleren Abstand zwischen
zwei Streuern ist (vergleiche hierzu auch die Diskussion zur Anwendbarkeit des semiklas-
sischen Modells in Abschnitt 9.1). In Abb. 9.21 sind die beiden Fälle k F ℓ ≫ 1 und k F ℓ ∼ 1
veranschaulicht. Für k F ℓ ≫ 1 ist der Abstand zwischen zwei Streuern groß, so dass die Elek-
tronenwelle beim zweiten Streuer wiederum als ebene Welle betrachtet werden kann. Wir
werden in diesem Abschnitt nur diesen Fall betrachten.
Die Gleichgewichtsverteilung ist eine Fermi-Dirac-Verteilung
1
f 0 (ε(k)) = , (9.4.1)
e(︀ε(k)−µ⌋︀⇑k B T +1

(a)

Abb. 9.21: Schematische Darstellung von Elek-


tronenwellen, die durch Verunreinigungen ge- (b)
streut werden. Der Abstand der Streuer ent-
spricht der mittleren freien Weglänge, der
Abstand der Wellenfronten der Fermi-Wellen-
länge λ F = 2π⇑k F . (a) k F ℓ ≫ 1 und (b) k F ℓ ≃ 1.

Ladungsstromdichte Wärme- oder Energiestromdichte


1 1 1 𝜕𝜀 𝒌
𝑱𝑞 = 3 න 𝑒𝒗 𝒌 𝑓 𝒌 𝑑 3 𝑘 𝑱ℎ = න 𝜀 𝒌 − 𝜇 𝒗 𝒌 𝑓 𝒌 𝑑3𝑘 𝑣 𝒌 =
4𝜋 4𝜋 3 ℏ 𝜕𝑡

48
9.4 Boltzmann-Transportgleichung 407

t - dt Streuung t

Abb. 9.22: Die Dichte der Ladungs-


träger mit Impuls k in einem Test-
volumen am Ort r zur Zeit t (rechts)
ergibt sich aus der Vorgeschichte, d. h.
aus der Dichte der Ladungsträger am
Ort r − v(k)dt mit Impuls k − F⇑ħdt
zur Zeit t − dt (links).

wobei µ das chemische Potenzial ist. Für einen homogenen Festkörper ist f 0 unabhängig vom
Ort. Unter der Wirkung von äußeren Kräften und durch Streuprozesse geht diese Gleichge-
wichtsverteilung in eine Nichtgleichgewichtsverteilung über: f 0 → f (r, k, t). Um diese Ver-
teilungsfunktion zu bestimmen, vernachlässigen wir zunächst Streuprozesse und betrachten
die Verteilung f von Ladungsträgern in einem Testvolumen zur Zeit t − dt und zur Zeit t
(siehe Abb. 9.22). Da sich im Zeitintervall dt die Ladungsträger um dr = v(k)dt bewegen
und sich ihr Impuls um ħdk = Fdt ändert, gilt:

Zeit t: r k
Zeit t − dt: r − v(k) dt k− F
ħ
dt
Hierbei ist F die äußere Kraft, die z. B. durch elektrische (E) und magnetische Felder (B)
verursacht werden kann:30

F = q (E + v × B) . (9.4.2)

In Abwesenheit von Stößen muss jeder Ladungsträger, der sich zur Zeit t − dt am Ort
r − vdt befindet und den Impuls k − F⇑ħ dt besitzt, zur Zeit t am Ort r ankommen und den
Impuls k besitzen.31 Wir erhalten somit

f (r, k, t) = f (r − vdt, k − F⇑ħ dt, t − dt) . (9.4.3)

Berücksichtigen wir jetzt zusätzlich Streuprozesse, so muss ein Streuterm hinzugefügt wer-
den und wir erhalten
∂f
f (r, k, t) = f (r − vdt, k − F⇑ħ dt, t − dt) + ( ) dt . (9.4.4)
∂t Streu
d f (r,k,t)
Da (︀ f (r, k, t) − f (r − vdt, k − F⇑ħ dt, t − dt)⌋︀⇑dt gerade der zeitlichen Ableitung dt
entspricht, erhalten wir

∂ f (r, k, t) d f (r, k, t) ∂ f (r, k, t) ∂ f (r, k, t) dr


( ) =( )= +( )( )
∂t Streu
dt ∂t ∂r dt
∂ f (r, k, t) dk
+( )( ) , (9.4.5)
∂k dt
30
Wir benutzen hier die Kraft auf Ladungsträger mit der Ladung q. Für Elektronen gilt q = −e.
31
Nach dem Liouvilleschen Satz der klassischen Mechanik bleibt die Dichte im Phasenraum, d. h.
die Verteilungsfunktion, in Abwesenheit von Stößen erhalten.
408 9 Dynamik von Kristallelektronen

∂ f (r,k,t)
wobei wir nur Terme 1. Ordnung berücksichtigt haben. Durch Auflösen nach ∂t erhal-
ten wir mit dk
dt
= Fħ = − ħ1 ∇r ε k 32 und dr
dt
= v eine Differentialgleichung 1. Ordnung, die man
als Boltzmann-Gleichung bezeichnet:

∂ f (r, k, t) 1 ∂ f (r, k, t)
+ v(k) ⋅ ∇r f (r, k, t) − ∇r ε(r, k, t) ⋅ ∇ k f (r, k, t) = ( ) .
∂t ħ ∂t Streu

(9.4.6)
∂f
Hierbei repräsentiert ∂t die lokale, direkte Zeitabhängigkeit der Nichtgleichgewichtsvertei-
lungsfunktion. Der Term v ⋅ ∇r f resultiert aus räumlichen Gradienten der Verteilungsfunk-
tion. Er wird als Diffusionsterm bezeichnet, weil er Transporteffekte aufgrund räumlicher
Variationen der Verteilungsfunktion beschreibt. Der Term − ħ1 ∇r ε(k) ⋅ ∇ k f wird Feldterm
genannt. Er ist der Teilchenbeschleunigung proportional und über ihn gehen die auf das
Teilchen wirkenden Kräfte unmittelbar ein. Werden die Kräfte z. B. durch elektrische (E)
und magnetische Felder (B) verursacht, so gilt F = −∇r ε(k) = q (E + v × B).
Im stationären Zustand ändert sich die Konzentration der Ladungsträger im betrachteten
Testvolumen nicht (∂ f ⇑∂t = 0). Aus der Boltzmann-Gleichung folgt sofort, dass sich die
Driftterme und die Streuterme hier die Waage halten müssen. Wir können dann vereinfacht
schreiben:
∂f ∂f ∂f ∂f
=( ) +( ) +( ) =0. (9.4.7)
∂t ∂t Diff ∂t Kraft ∂t Streu
Werden die äußeren Kräfte z. B. nur durch ein elektrisches Feld verursacht (B = 0) und hängt
außerdem f nicht von r ab (homogene Probe, keine Gradienten der Temperatur und des
chemischen Potenzials), vereinfacht sich Gleichung (9.4.6) zu

∂f q ∂f
( ) = − E ⋅ ∇k f = −qE ⋅ v(k) ( ) , (9.4.8)
∂t Streu ħ ∂ε

wobei die Beziehung v(k) = 1 ∂ε(k)


ħ ∂k
benutzt wurde.
Ein Problem bei der Lösung der Boltzmann-Gleichung stellt die Behandlung der Streupro-
zesse dar. Da der Streuterm im Allgemeinen eine Integralgleichung darstellt,33 resultiert eine
mehr oder weniger komplexe Integro-Differentialgleichung für die Nichtgleichgewichtsver-
teilungsfunktion. Zur detaillierten Lösung müssen fortgeschrittene theoretische Methoden
wie Dichtematrizen oder Greensche Funktionen eingesetzt werden. Darauf wollen wir hier
nicht eingehen, sondern nur die einfachste Näherung behandeln, die natürlich wiederum
vereinfachende Annahmen erfordert.
Zur weiteren Vereinfachung werden wir folgende zwei Näherungen benutzen:
32
Im semiklassischen Limes gelten die Hamilton-Bewegungsgleichungen dr dt
= ħ1 ∇r ε(k) = v(k) und
dk
ħ d t = F = −∇r ε(k). Wir benutzen im Folgenden E für das elektrische Feld und ε für die Energie,
um Verwechslungen zu vermeiden.
33
( ∂∂tf ) ∝ ∫ dk ′ ((︀1 − f (k)⌋︀Pk ′ k f (k ′ ) − (︀1 − f (k ′ )⌋︀Pk k ′ f (k)), wobei Pk k ′ die Wahrscheinlich-
Streu
keit für eine Streuung von Zustand Ψk (r) in den Zustand Ψk ′ (r) darstellt.
9.4 Boltzmann-Transportgleichung 409

∎ die linearisierte Boltzmann-Gleichung (Näherung kleiner Abweichungen vom Gleich-


gewicht) und
∎ die Relaxationszeit-Näherung.

Wir wollen diese Näherungen im Folgenden kurz erläutern und rechtfertigen.

9.4.2 Linearisierte Boltzmann-Gleichung


Um die Boltzmann-Gleichung (9.4.6) zu linearisieren, nehmen wir an, dass die Abweichun-
gen vom Gleichgewicht klein sind und schreiben

f (r, k, t) = f 0 (k) + δ f (r, k, t) , (9.4.9)

wobei
−1
ε0 − µ0
f 0 = ]︀exp ( ) + 1{︀ (9.4.10)
k B T0
die thermische Gleichgewichtsverteilung ist. Da ε 0 , µ 0 und T0 und somit auch f 0 räumlich
und zeitlich konstant sind, gilt

∂ f ∂δ f
∇r f = ∇r δ f =
∂t ∂t (9.4.11)
∂ f ∂ε ∂ f
∇r ε = ∇r δε ∇k f = = ħv .
∂ε ∂k ∂ε
Setzen wir dies in die Boltzmann-Gleichung (9.4.6) ein, erhalten wir die linearisierte Boltz-
mann-Gleichung

∂δ f (r, k, t) ∂f ∂δ f (r, k, t)
+ v(k) ⋅ ∇r δ f (r, k, t) − ∇r δε(r, k, t) ⋅ v = ( ) .
∂t ∂ε ∂t Streu

(9.4.12)

9.4.3 Relaxationszeit-Ansatz
Für die Vereinfachung des Streuterms setzen wir die Relaxationszeit-Näherung

∂f f (r, k, t) − f 0loc (r, k, t) g(r, k, t)


( ) =− =− (9.4.13)
∂t Streu τ(k) τ(k)

an, wobei in räumlich inhomogenen Systemen τ(k) durch τ(r, k) ersetzt werden muss. Das
heißt, wir führen eine mittlere Relaxationszeit τ ein, um die komplizierten Streuprozesse
einfach zu beschreiben.
410 9 Dynamik von Kristallelektronen

Relaxationszeit-Ansatz:
Die physikalische Bedeutung der Relaxationszeit wird klar, wenn wir betrachten, was in
einem räumlich homogenen System (∇r f = 0) nach dem Abschalten der äußeren Kraft
zum Zeitpunkt t = 0 passiert. Aus (9.4.6) folgt dann für t ≥ 0

∂g(k) g(k)
=−
∂t τ(k) (9.4.14)
g(k, t) = g(k, 0)e−t⇑τ(k) .

D. h., g relaxiert nach Abschalten der Störung mit der Zeitkonstante τ auf null. Wichtig
ist hierbei, dass in einfachster Näherung eine konstante Relaxationszeit, die nicht von der
Energie abhängt, angenommen wird.

Im allgemeinen Fall können die Energie ε, Temperatur T und das chemische Potenzial µ
räumlich variieren. Die Relaxation nach Abschalten einer Störung erfolgt dann gegen die
lokale Gleichgewichtsverteilung
−1
(ε + δε) − (µ + δµ)
f 0loc = ⌊︀exp ( ) + 1}︀ . (9.4.15)
k B (T + δT)
Das heißt, die Größe g(r, k, t) gibt die Abweichung der tatsächlichen Nichtgleichgewichts-
verteilungsfunktion f (k, r, t) von der lokalen Gleichgewichtsverteilung f 0loc (r, k, t) an:

g(r, k, t) = f (r, k, t) − f 0loc (r, k, t) . (9.4.16)

Die Größe

δ f loc = f 0loc − f 0 (9.4.17)

gibt dagegen die Abweichung der lokalen Gleichgewichtsverteilungsfunktion f 0loc (r, k, t)


von der Gleichgewichtsverteilung f 0 (k) aufgrund der lokalen elektromagnetischen Poten-
ziale ϕ(r, t) (skalar) und A(r, t) (vektoriell)34

δε(r, t) = qϕ(r, t) − qv ⋅ A(r, t) (9.4.18)

sowie durch lokale Änderungen der Temperatur δT(r, t) und des chemischen Potenzials
δµ(r, t) an.
Mit δ f = f − f 0 und δ f loc = f 0loc − f 0 können wir g = f − f 0loc = δ f − δ f 0loc schreiben. Sind
die Abweichungen der lokalen Verteilungsfunktion f 0loc von f 0 klein, können wir eine
Taylor-Entwicklung durchführen und erhalten
∂ f0 ∂ f0 ∂ f0
δ f loc = δε + δµ + δT . (9.4.19)
∂ε ∂µ ∂T
34
Es gilt ∇r δε = q(∇r ϕ + ∂A⇑∂t) = −qE mit der eichinvarianten Form der elektrischen Feldstärke
E = −∇r ϕ − ∂A⇑∂t.
9.4 Boltzmann-Transportgleichung 411

Mit ∂T0 = (− ∂ε0 ) T0 0 und ∂ µ0 = (− ∂ε0 ) ergibt sich unter Benutzung von ξ(k) = ε(k) − µ 0
∂f ∂f ε(k)−µ ∂f ∂f

(Energie bezogen auf das chemische Potenzial)

∂ f0 ξ
δ f loc = ⌊︀δε − δµ − δT}︀
∂ε T
(9.4.20)
1 ξ
=− ⌊︀δε − δT − δµ}︀
4k B T cosh2 ξ
2k B T0
T0

und damit

δ f (r, k, t) = g(r, k, t) + δ f loc (r, k, t)


∂ f0 ξ (9.4.21)
= g(r, k, t) + ⌊︀δε(r, t) − δµ(r, t) − δT(r, t)}︀
∂ε T0

Setzen wir dies zusammen mit dem Relaxationszeitansatz in die linearisierte Boltzmann-
Gleichung (9.4.12) ein, erhalten wir

∂(g + δ f loc ) ∂ f0 g
+ v ⋅ ∇r (g + δ f loc ) − ∇r δε ⋅ v = − . (9.4.22)
∂t ∂ε τ

Mit δ f loc = [︀δε − δµ −


∂ f0 ξ
∂ε T0
δT⌉︀ ergibt sich

∂g ∂ { [︀δε − δµ −
∂ f0 ξ
δT⌉︀}
+ + v ⋅ ∇r g
∂ε T0
∂t ∂t (9.4.23)
∂ f0 ξ ∂ f0 g
+ v ⋅ ∇r { ⌊︀δε − δµ − δT}︀(︀ − ∇r δε ⋅ v = − .
∂ε T0 ∂ε τ

Verwenden wir weiter δε = qϕ − qv ⋅ A, E = −∇r ϕ − ∂A⇑∂t und δn = (δµ − qϕ)D(µ)⇑V ,


können wir dies umformen in 35

35
Die mit δ f loc zusammenhängende lokale Änderung der Teilchendichte ist gegeben durch
1 1 ∂ f0 ε − µ0
δn(r, t) = D(ε)δ f loc (r, t)dε = ∫ D(ε) ]︀δε − δµ − δT{︀ dε .
V∫ V ∂ε T0
Da wir in guter Näherung − ∂∂εf 0 durch eine δ-Funktion δ(ε − µ 0 ) approximieren können, erhalten
wir mit δε = qϕ
D(µ 0 )
δn(r, t) = (︀δµ(r, t) − qϕ(r, t)⌋︀ .
V
412 9 Dynamik von Kristallelektronen

∂ 1 ∂ f0 ∂ δn ξ
]︀ + + v ⋅ ∇r {︀ g − ⌊︀ + δT}︀
∂t τ ∂ε ∂t D(µ)⇑V T0
(9.4.24)
∂ f0 δn ξ
+ v ⋅ ⌊︀qE − ∇r − ∇r δT}︀ = 0 .
∂ε D(µ)⇑V T0

Multiplizieren wir diese Gleichung auf beiden Seiten mit τ und vernachlässigen höhere Ord-
nungen (in τ ∂t∂ und τv ⋅ ∇r ), erhalten wir die Transportgleichung

∂ f0 δn(r, t) ξ
g(r, k, t) = − τ(k)v(k) ⋅ ⌊︀qE(r, t) − ∇r − ∇r δT(r, t)}︀ . (9.4.25)
∂ε D(µ)⇑V T0

Diese Transportgleichung werden wir in Abschnitt 9.5 für die Berechnung der elektrischen
und thermischen Leitfähigkeit sowie für ihre thermoelektrische Kopplung verwenden.

9.4.3.1 Stationärer, homogener Fall


Wir betrachten als einfaches Beispiel den räumlich homogenen Fall (∇r δn(r, t) = 0,
∇r δT(r, t) = 0, E(r, t) = const., f 0loc = f 0 ). Aus der Transportgleichung (9.4.25) ergibt sich
für diesen Fall die einfache Beziehung

∂ f0
g(k) = − τ(k)v(k) ⋅ qE . (9.4.26)
∂ε

Schreiben wir (9.4.26) als g(k) = f (k) − f 0 (k) = − ∂ε0 τ(k)v(k) ⋅ qE = −∇k f 0 ⋅ ħ , so se-
∂f qEτ(k)

hen wir, dass f (k) = f 0 (k) + g(k) als Entwicklung von f 0 (k) aufgefasst werden kann und
wir können schreiben36
q
f (k) = f 0 (k − δk) = f 0 (k − τ(k)E) . (9.4.27)
ħ

Abb. 9.23: Auswirkung (a) 𝒌𝒚 (b) 𝒇


eines konstanten elektri- 𝒇𝟎 𝒇
schen Feldes E x auf die 𝒌𝐅
k-Raumverteilung von
quasi-freien Ladungsträ- 𝒌𝒙 𝒌𝒙
gern: (a) Die Fermi-Kugel 𝜹𝒌𝒙 𝜹𝒌𝒙
der Gleichgewichtsver- 𝒇 − 𝒇𝟎
teilung ist um den Betrag
δk x = qE x τ⇑ħ verschoben. 𝜹𝒌𝒙
(b) Die neue Verteilungs-
funktion weicht von der 𝒌𝒙
Gleichgewichtsverteilung 𝟎 𝒌𝐅
nur in der Nähe der Fermi-
Energie signifikant ab.
∂ f 0 (k)
36
Tatsächlich gilt mit dem stationärer Fall, 𝑨
Taylor’schen = 𝑒𝑬, räumlich
Theorem f (k)homogene
= f 0 (k) −Probe ∂k (𝛻𝑟 𝛿𝑛
δk = 0,f 0𝛻(k) − 0)∂ f 0∂ε(k) ∂k
𝑟 𝛿𝑇 =
∂ε
δk =
∂ f 0 (k)
f 0 (k) − ∂ε ħv(k) ⋅ δk. Vergleichen wir dies mit (9.4.26), so sehen wir, dass δk = qEτ⇑ħ. Wir
können deshalb schreiben: f (k) =𝑓 f𝒌0 (k=−𝑓0δk) 𝒌− = 𝑞𝜏 𝒌
f 0 (k 𝑬 qEτ⇑ħ).
− (um 𝛿𝑘 verschobene Fermi-Kugel)

𝛿𝑘 56
9.5 Thermoelektrische und thermomagnetische Effekte 413

Dies entspricht einer Fermi-Verteilungsfunktion, die um den Betrag qEτ⇑ħ gegenüber der
Gleichgewichtsverteilungsfunktion im k-Raum verschoben ist (siehe hierzu Abb. 9.23).
Es ist wichtig, sich klar zu machen, was mit der verschobenen Fermi-Kugel in Abb. 9.23 nach
Abschalten der äußeren Kraft passiert. Offensichtlich erfolgt eine Relaxation in den Gleich-
gewichtszustand. Hierzu sind aber inelastische Streuprozesse notwendig. Falls nur elastische
Streuprozesse vorliegen würden, würde sich die Fermi-Kugel, wie in Abb. 9.24 gezeigt ist,
aufblähen.

(a) 𝒌𝒚 (b) 𝒌𝒚

A
B A
C
B
𝒌𝒙 𝒌𝒙
𝜹𝒌𝒙 𝜹𝒌𝒙

Abb. 9.24: Streuprozesse von Ladungsträgern im k-Raum. Die gestrichelte Linie stellt die Fermi-Fläche
im Gleichgewichtszustand für verschwindendes elektrisches Feld (E = 0) dar. Bei Abschalten des elek-
trischen Feldes relaxiert die Fermi-Fläche in den Gleichgewichtszustand zurück und zwar durch Streu-
prozesse von besetzten in unbesetzte Zustände. (a) Da die Zustände A und B unterschiedliche Energien
(unterschiedliche Abstände von k = 0 haben), sind dazu inelastische Streuprozesse notwendig. (b) Für
rein elastische Streuung würde die Fermi-Fläche aufgeweitet.

9.5 Thermoelektrische und thermomagnetische


Effekte 61

Wir wollen nun die Boltzmann-Transportgleichung dazu benutzen, um Ausdrücke für


die Transportkoeffizienten von Festkörpern abzuleiten. Dazu nehmen wir an, dass in
dem betrachteten Festkörper neben einem elektrischen Feld auch ein Temperaturgradient
vorliegt. Da Ladungsträger in einem Festkörper sowohl zum elektrischen als auch zum
Wärmetransport beitragen, ist der Ladungstransport immer mit einem Wärmetransport
verbunden und umgekehrt. Wir nennen diese Kopplung thermoelektrische Kopplung.
Sie führt zu den thermoelektrischen Effekten wie dem Seebeck-Effekt und dem Peltier-
Effekt, die wir in Abschnitt 9.5.1 diskutieren werden. Legen wir ein äußeres Magnetfeld
an, so führt die Lorentz-Kraft auf die sich bewegenden Ladungsträger zu zusätzlichen
transversalen, thermomagnetischen Effekten wie dem Hall-Effekt, dem Nernst-Effekt, dem
Ettingshausen-Effekt und dem Righi-Leduc-Effekt, auf die wir in Abschnitt 9.5.2 eingehen
werden.
414 9 Dynamik von Kristallelektronen

9.5.1 Thermoelektrische Effekte


Wir diskutieren zunächst den Fall ohne angelegtes Magnetfeld (B = 0) und betrachten La-
dungsträger mit der Ladung q (für Elektronen gilt q = −e). Auf den Fall B ≠ 0 kommen wir
in Abschnitt 9.5.2 und 9.9 zurück. Wir gehen ferner der Einfachheit halber von der linea-
risierten Boltzmann-Gleichung aus und betrachten den homogenen Fall (∇r δn(r, t) = 0).
Verwenden wir die Relaxationszeitnäherung, so erhalten wir aus (9.4.25)

∂ f0 ξ(k)
g(k) = − τ(k)v(k) ⋅ ⌊︀qE − ∇T}︀
∂ε T
∂ f0
=− τ(k)v(k) ⋅ 𝒜 (9.5.1)
∂ε

mit der verallgemeinerten Kraft 𝒜 = qE − ξ(k)


T
∇T. In dieser Form können wir (9.5.1) als
Ausgangspunkt für die Berechnung der elektrischen und thermischen Leitfähigkeit sowie
deren thermoelektrischer Kopplung benutzen.

9.5.1.1 Allgemeine Transportgleichungen


Elektrische Stromdichte: Wir betrachten zunächst die elektrische Stromdichte. Diese
erhalten wir, indem wir das Produkt aus Ladungsdichte, Ladungsträgergeschwindigkeit
und Besetzungswahrscheinlichkeit über alle Zustände aufintegrieren (vergleiche hierzu
Abschnitt 9.2):
1
Jq = ∫ qv(k) f (k) d k
3
4π 3
1
= 3 ∫ qv(k)g(k) d 3 k da ∫ qv(k) f 0 (k) d k ≡ 0
3

1 ∂ f0 dS ε
= 3 ∬ qτ(k)v(k) (︀v(k) ⋅ 𝒜⌋︀ (− ) dε . (9.5.2)
4π ∂ε ħv(k)

Hierbei haben wir das Volumenintegral im k-Raum (d 3 k) in Integrale über Schalen kon-
stanter Energie (dS ε dε) überführt, wobei die Beziehung d 3 k = dS ε dk⊥ = dSε ∇dkεε = dS ε ħv(k)

benutzt wurde.
Aufgrund der geringen Temperaturverschmierung der Fermi-Verteilung (k B T ≪ ε F ) lässt
sich (− ∂ε0 ) näherungsweise durch eine δ-Funktion δ(ε − ε F ) ersetzen und es verbleibt nur
∂f

noch ein Integral dS F über die Fermi-Fläche:

1 q τ(k)v(k) ⊗ v(k)
Jq = 3 ∫ dS F ⋅𝒜. (9.5.3)
4π ħ v(k)
ε=ε F
9.5 Thermoelektrische und thermomagnetische Effekte 415

Hierbei ist v(k) ⊗ v(k) das dyadische Produkt der beiden Vektoren, stellt also eine 3×3-Ma-
trix dar. Setzen wir den Ausdruck für 𝒜 ein, so erhalten wir die elektrische Stromdichte

1 q2 τ(k)v(k) ⊗ v(k)
Jq = 3 ∫ dS F ⋅E
4π ħ v(k)

1 q τ(k)v(k) ⊗ v(k) ξ(k)


+ 3 ∫ dS F
T
⋅ (︀−∇T⌋︀ . (9.5.4)
4π ħ v(k)

Wir sehen, dass die elektrische Stromdichte sowohl durch das elektrische Feld als auch den
Temperaturgradienten getrieben wird. Insbesondere erzeugt der Temperaturgradient ∇T,
wenn er alleine wirkt, einen elektrischen Strom. Wir bezeichnen dies als thermoelektrischen
Effekt.

Wärmestromdichte: Der wichtigere Effekt eines Temperaturgradienten besteht allerdings


in der Erzeugung einer Wärmestromdichte Jh [vergleiche (9.2.3) und (9.5.2)]:
1
Jh = ∫ ξ(k) ∇k ε(k) f (k) d k
3
4π 3 ħ
1
= 3 ∫ ξ(k) v(k) g(k) d 3 k . (9.5.5)

Setzen wir g(k) aus (9.5.1) ein, so erhalten wir die Wärmestromdichte zu

q ξ(k) τ(k)v(k) ⊗ v(k) ∂ f0


Jh = 3 ∬ dS ε dε (− )⋅E
4π ħ v(k) ∂ε
1 ξ(k) τ(k)v(k) ⊗ v(k) ∂ f0 ξ(k)
+ 3 ∬ dS ε dε (− ) ⋅ ⌊︀ (−∇T)}︀ .
4π ħ v(k) ∂ε T
(9.5.6)

Wir sehen also, dass auch die Wärmestromdichte sowohl durch ein elektrisches Feld als auch
einen Temperaturgradienten getrieben wird.
Gleichung (9.5.4) und (9.5.6) zeigen, dass wir folgende allgemeinen Transportgleichungen
aufstellen können:37

Jq = L 11 E + L 12 (−∇T⇑T) = L 11 (−∇ϕ q ) + L 12 (−∇T⇑T) . (9.5.7)

Jh = L 21 E + L 22 (−∇T⇑T) = L 21 (−∇ϕ q ) + L 22 (−∇T⇑T) . (9.5.8)

Den Gradienten des elektrochemischen Potenzials und den Temperaturgradienten auf der
rechten Seite können wir als verallgemeinerte Kräfte auffassen, die resultierenden Ströme

37
Einen Gradienten des chemischen Potenzials µ können wir in das elektrische Feld E integrieren,
indem wir E = −∇µ q ⇑q = −∇ϕ q benutzen, wobei das elektrochemische Potenzial µ q = µ + ϕ durch
die Summe aus chemischem Potenzial µ und elektrostatischem Potenzial ϕ gegeben ist.
416 9 Dynamik von Kristallelektronen

sind die Response-Größen. Die Koeffizienten der Matrix L i j stellen somit lineare Antwort-
koeffizienten dar, die wir als allgemeine Transportkoeffizienten bezeichnen. Wie von Onsa-
ger38 gezeigt wurde, erfüllen diese Koeffizienten die Reziprozitätsbeziehungen39

L i j (Hext ) = L ji (−Hext ) , (9.5.9)

die aus der Zeitumkehrsymmetrie der zugrunde liegenden mikroskopischen Prozesse fol-
gen, wobei Hext das externe Magnetfeld ist.40 Wir werden gleich sehen, dass sie mit der
elektrischen Leitfähigkeit σ, der Wärmeleitfähigkeit κ, der Thermokraft S und dem Peltier-
Koeffizienten Π verknüpft sind.
Aus historischen Gründen werden üblicherweise nicht die allgemeinen Transportkoeffizi-
enten L i j verwendet, sondern die besser vertrauten Größen ρ = σ −1 , κ, S und Π, die über
folgende Beziehungen definiert wurden:

E = ρ Jq + S ∇T . (9.5.10)

Jh = Π Jq − κ ∇T . (9.5.11)

Dies liegt darin begründet, dass in Experimenten meist ein Temperaturgradient und/oder
ein elektrischer Strom vorgegeben werden und das resultierende elektrische Feld und der
resultierende Wärmestrom gemessen werden. Schreiben wir (9.5.10) und (9.5.11) analog zu
den Beziehungen (9.5.7) und (9.5.8) um, so erhalten wir:

J σ σTS −∇ϕ q
( q) = ( )( ). (9.5.12)
Jh σ T S Tσ(κ⇑σ + T S 2 ) −∇T⇑T

Die allgemeinen Transportkoeffizienten sind über die Größe

1 q2 τ(k)v(k) ⊗ v(k) (︀ξ(k)⌋︀α ∂ f0


ℒ(α) ≡ ∬ dS ε dε (− ) (9.5.13)
4π 3 ħ v(k) ∂ε

definiert als

L 11 = ℒ(0) (9.5.14)
1
L 21 = L 12 = ℒ(1) (9.5.15)
q
1 (2)
L 22 = ℒ . (9.5.16)
q2

38
Lars Onsager, norwegischer Physikochemiker und theoretischer Physiker: geboren am 27. No-
vember 1903 in Oslo, gestorben am 5. Oktober 1976 in Coral Gables (Florida). Er wurde 1968 mit
dem Nobelpreis für Chemie ausgezeichnet.
39
Lars Onsager, Reciprocal relations in irreversible processes I, Phys. Rev. 37, 405 (1931); Reciprocal
relations in irreversible processes II, Phys. Rev. 38, 2265 (1931).
40
Hierbei wurde angenommen, dass die zugehörige Zustandsvariable gerade unter Zeitumkehr ist.
Sonst müsste auf der linken Seite von (9.5.9) ein Minuszeichen eingeführt werden.
9.5 Thermoelektrische und thermomagnetische Effekte 417

Wir können den obigen Ausdruck für ℒ(α) vereinfachen, indem wir die tensorielle Größe

1 q2 τ(k)v(k) ⊗ v(k)
⧹︂
σ(ε) = ∫ dS ε (9.5.17)
4π 3 ħ v(k)
ε(k)=const

verwenden.41 Wir erhalten


∂ f0
ℒ(α) = ∫ dε (− ) (︀ξ(k)⌋︀α ⧹︂
σ(ε) . (9.5.18)
∂ε

Um das Integral auszurechnen, benutzen wir die Tatsache, dass (− ∂ε0 ) vernachlässigbar ist
∂f

außer in einem Bereich der Breite k B T um µ ≃ ε F . Zur Auswertung können wir dann die
Sommerfeld-Entwicklung benutzen (siehe Anhang C). Da die Integranden von ℒ(1) und
ℒ(2) Faktoren beinhalten, die für ε = µ verschwinden, müssen wir bei der Auswertung der
Integrale nur den ersten Entwicklungsterm in der Sommerfeld-Entwicklung berücksichti-
gen.42 Wir erhalten damit für die Transportkoeffizienten:

L 11 = ⧹︂
σ(ε F ) (9.5.19)
π (k B T) ′
2 2
L 21 = L 12 = ⧹︂
σ (ε F ) (9.5.20)
3 e
π 2 (k B T)2
L 22 = ⧹︂
σ(ε F ) . (9.5.21)
3 q2

Hierbei ist
∂⧹︂
σ(ε)
σ′ =
⧹︂ ⋁︀ . (9.5.22)
∂ε ε=ε F

9.5.1.2 Elektrische Leitfähigkeit


Wir wollen als erstes aus den allgemeinen Transportgleichungen den Leitfähigkeitstensor ⧹︂
σ
bestimmen, der die Proportionalitätskonstante zwischen elektrischer Stromdichte und elek-
trischem Feld bei konstanter Temperatur ist. Mit ∇T = 0 ergibt sich aus (9.5.7):

Jq = L 11 E = ⧹︂
σE. (9.5.23)

Vergleichen wir diesen Ausdruck mit (9.5.4), so erhalten wir bei ∇T = 0 für den Leitfähig-
keitstensor ⧹︂
σ:

1 q2 τ(k)v(k) ⊗ v(k)
⧹︂
σ = ⧹︂
σ(ε F ) = ∫ dS ε . (9.5.24)
4π 3 ħ v(k)
ε=ε F

41
σ(ε F ) ist.
Man beachte, dass die elektrische Leitfähigkeit eines Metalls gerade ⧹︂
2
42 ∂ f0 2 π 2 ∂ K(ε) kB T 4
Es gilt: ∫ K(ε)(− ∂ε )dε = K(µ 0 ) + (k B T) 6 ( ∂ε 2 )ε=µ + O( µ ) .
418 9 Dynamik von Kristallelektronen

In Kristallen mit kubischer Symmetrie reduziert sich der Leitfähigkeitstensor ⧹︂ σ zu einem


Skalar. Nehmen wir an, dass E und Jq beide in x-Richtung zeigen, so erhalten wir im Inte-
granden (︀v(k) ⊗ v(k) ⋅ E⌋︀x = v x2 E, was ein Drittel des Betrages vom Quadrat der Gesamtge-
schwindigkeit v 2 E ausmacht. Somit erhalten wir43

1 q2 1 1 q2 1
σ= ∫ τ(ε )v
F F dS ε = ∫ ℓ dS ε , (9.5.25)
4π 3 ħ 3 4π 3 ħ 3
ε=ε F ε=ε F

wobei die mittlere freie Weglänge ℓ = τ(ε F )v F eingeführt wurde. Wir können aus diesem
Ergebnis sofort das Resultat (7.3.17) für freie Elektronen (q = −e) gewinnen. Benutzen wir
v F = ħk F ⇑m, ∫ε=ε F dS ε = 4πk F2 und n = k F3 ⇑3π 2 , so erhalten wir aus (9.5.25) den bekannten
2 2
Ausdruck σ = nem τ = ne mv F

.
Wir können das Ergebnis für freie Elektronen (q = −e) auch durch folgende Argumentation
plausibel machen: Es ist bemerkenswert, dass (9.4.27) in der Form

f (k) = f 0 )︀ε(k) + eτv(k) ⋅ E⌈︀ (9.5.26)

geschrieben werden kann, d. h. als hätte ein Elektron im Zustand k den Energiebe-
trag δε(k) = eτv(k) ⋅ E gewonnen. Klassisch hätte ein Elektron das genau dann getan,
wenn es sich für die mittlere Zeit τ mit der Geschwindigkeit v(k) im Feld E bewegt hätte.
Auf diesem Sachverhalt basiert die kinetische Methode zur Behandlung von Transport-
eigenschaften. Die zwischen zwei Streuprozessen zusätzlich gewonnene Energie ist einer
mittleren Driftgeschwindigkeit δv in Richtung des Feldes äquivalent und es gilt

∂ε
δε = ⋅ δv (9.5.27)
∂v
mit
ħk eEτ
δv = =− (9.5.28)
m m
für ein klassisches Teilchen mit Masse m und Ladung q = −e. Wenn n Teilchen pro Einheits-
volumen vorhanden sind, erhalten wir die Stromdichte

Jq = n(−e)δv = ne E (9.5.29)
m
und damit

ne 2 τ
σ= . (9.5.30)
m

43
Der Ausdruck für die Leitfähigkeit zeigt anschaulich, was in Metallen geschieht, wenn die Fläche
bei der Integration durch Zonengrenzen reduziert wird. Er zeigt auch, wie Gittereffekte, die die ef-
fektive Geschwindigkeit der Elektronen auf der Fermi-Fläche verringern, sich auf die Leitfähigkeit
auswirken.
9.5 Thermoelektrische und thermomagnetische Effekte 419

Für ein Gas freier Elektronen haben wir oben bereits gezeigt, dass (9.5.30) dasselbe aussagt
wie (9.5.25). Allerdings treten in Metallen, in denen die Integration in (9.5.25) durch Zonen-
grenzen reduziert wird oder in denen Gittereffekte die effektive Geschwindigkeit der Elek-
tronen auf der Fermi-Fläche verringern (z.B in Wismut) Abweichungen auf. Für Halbleiter
eignet sich dagegen die kinetische Formel (9.5.30) gut. Gewöhnlich schreibt man hier
σ = n ⋃︀q⋃︀ µ (9.5.31)
mit der Beweglichkeit

⋃︀q⋃︀ τ
µ= (9.5.32)
m
der Ladungsträger.

9.5.1.3 Wärmeleitfähigkeit
Wir wollen nun aus den Gleichungen (9.5.7) und (9.5.8) sowie (9.5.19) bis (9.5.21) die Wär-
meleitfähigkeit κ bestimmen. Hierzu müssen wir berücksichtigen, dass die Wärmeleitfä-
higkeit die Proportionalitätskonstante zwischen Wärmestrom und Temperaturgradient ist
unter der Randbedingung, dass kein elektrischer Strom fließt. Setzen wir Jq = 0, so erhalten
wir aus (9.5.7)
E = −(L 11 )−1 L 12 (−∇T⇑T) . (9.5.33)
Setzen wir dies in (9.5.8) ein, so ergibt sich
κ (−∇T) = )︀L 22 − L 21 (L 11 )−1 L 12 ⌈︀ (−∇T⇑T) .
Jh = ⧹︂ (9.5.34)

σ ′ ∼ ⧹︂
Aus (9.5.19) bis (9.5.21) und der Tatsache, dass ⧹︂ σ⇑ε F ,44 folgt, dass in Metallen der erste
Term in der eckigen Klammer den zweiten um einen Faktor der Größenordnung (ε F ⇑k B T)2
übersteigt. Wir können diesen Korrekturterm für Metalle deshalb vernachlässigen und er-
halten den Tensor der Wärmeleitfähigkeit zu

L 22 π 2 k B2 T π 2 k B2 T
⧹︂
κ= = 2
⧹︂
σ(ε F ) = ⧹︂
σ. (9.5.35)
T 3 q 3 q2

Das heißt, wir erhalten das gleiche Ergebnis, das wir bei einer Vernachlässigung des ther-
moelektrischen Feldes erwartet hätten.45 Gleichung (9.5.35) gibt uns auch einen Zusam-
menhang zwischen elektrischer und thermischer Leitfähigkeit an, der nichts anderes als das
Wiedemann-Franz-Gesetz ist (vergleiche (7.3.26) in Abschnitt 7.3.2). Dieser Zusammen-
hang lässt sich leicht verstehen. Bei der elektrischen Leitung transportiert jeder Ladungsträ-
ger seine Ladung q und wird von der Kraft qE beeinflusst. Der Strom pro elektrisches Feld
44
Schreiben wir formal ⧹︂σ = nq⧹︂
µ und nehmen an, dass die Beweglichkeit ⧹︂ µ keine oder nur eine ge-
σ ′ = q⧹︂
ringe Energieabhängigkeit besitzt, so erhalten wir ⧹︂ µ ( ∂n )
∂ε ε=ε F
µ𝒟(ε F ). Mit der Zustands-
= q⧹︂
σ ′ ≃ ⧹︂
dichte eines freien Elektronengases, 𝒟(ε F ) = D(ε F )⇑V = 32 εn , erhalten wir ⧹︂
F
σ⇑ε F .
45
In Halbleitern ist die Fermi-Energie wesentlich niedriger und der Korrekturterm kann deshalb
nicht mehr vernachlässigt werden.
420 9 Dynamik von Kristallelektronen

ist proportional zu q 2 . Beim thermischen Transport transportiert der Ladungsträger seine


mittlere thermische Energie ε − µ ≃ k B T und wird von der thermischen Kraft k B ∇T beein-
flusst. Der Wärmestrom pro Temperaturgradient ist k B2 T. Das Verhältnis der beiden Ströme
muss also von der Größenordnung k B2 T⇑q 2 sein.

9.5.1.4 Thermokraft und Seebeck-Effekt


Die Thermokraft S ist als Proportionalitätskonstante zwischen elektrischem Feld E und Tem-
peraturgradienten ∇T unter der Bedingung, dass kein elektrischer Strom fließt, gegeben
(vergleiche Abschnitt 7.3.3). Sie ist im Allgemeinen ein Tensor. Mit Jq = 0 ergibt sich aus
(9.5.7)

E = ⧹︂
S ∇T = (L 11 )−1 L 12 (∇T⇑T) . (9.5.36)

Aus (9.5.19) und (9.5.20) erhalten wir

⧹︂ (L 11 )−1 L 12 π 2 k B2 T −1 ′
S= = ⧹︂
σ ⧹︂
σ . (9.5.37)
T 3 q

Wir beschränken die nachfolgende Diskussion auf kubische Metalle, für welche die Tensoren
L i j diagonal sind. Wir erhalten dann

π 2 k B2 T ∂ ln σ(ε)
S= ⌊︀ }︀ . (9.5.38)
3 q ∂ε ε=ε F

Um diesen Ausdruck zu interpretieren, wollen wir ihn mit dem für freie Elektronen erhal-
tenen Ergebnis vergleichen. Zunächst sehen wir, dass der Ausdruck für die Thermokraft
wesentlich komplizierter ist als das für freie Elektronen (q = −e) erhaltene Ergebnis S =
2 k B2 T 1
− π6 e εF
. Falls τ(ε) unabhängig von der Energie angenommen werden kann, erhalten wir
k2 T
für freie Elektronen σ ′ ⇑σ = 3⇑2ε F und damit S = − 2e
2
π B 46
εF
. Dieses Ergebnis ist um den Fak-
tor 3 größer als unsere grobe Abschätzung in Abschnitt 7.3.3. Der Unterschied wird durch
die groben Näherungen bei der thermischen Mittelung von Energien und Geschwindigkei-
ten verursacht, die wir dort verwendet haben. Nehmen wir an, dass τ = τ(ε) und damit die
Beweglichkeit µ = µ(ε), so erhalten wir für eine Leitfähigkeit σ = n(ε)e µ(ε):47

π 2 k B2 T D(ε) ∂ ln ⧹︂
µ(ε)
S=− ⌊︀ + }︀ . (9.5.39)
3 e nV ∂ε ε=ε F

Den ersten Summanden können wir leicht interpretieren. Wie wir in Abschnitt 7.2 gese-
hen haben, beträgt für ein freies Elektronengas die Wärmekapazität pro Elektron gerade

46
Falls τ energieunabhängig ist, ist die Beweglichkeit µ ebenfalls unabhängig von der Energie. Mit

σ = ne µ erhalten wir σσ = )︀ ∂ ln∂εσ(ε) ⌈︀ε=ε = n1 ∂n ⋂︀
∂ε ε=ε
= n1 D(εV F ) . Mit der Zustandsdichte D(εV F ) = 32 εnF
F F
σ′ 3
erhalten wir also σ
= 2ε F
.
47 σ′ ∂ ln µ
Wir verwenden σ
= 1
ne µ
(eµ ∂n
∂ε
+ ne ∂∂εµ ) = 1 ∂n
n ∂ε
+ 1 ∂µ
µ ∂ε
= D(ε)
nV
+ ∂ε
.
9.5 Thermoelektrische und thermomagnetische Effekte 421

F)
2
c̃ V = nV
CV
= cnV = π3 k B2 T D(ε
nV
. Somit entspricht der erste Term gerade c̃ V ⇑(−e), also gera-
de dem Verhältnis der von einem Elektron transportierten Wärmemenge zu der von ihm
transportierten Ladung. Wir können also, falls wir den zweiten Term vernachlässigen kön-
nen, das Produkt S ⋅ T gerade mit diesem Verhältnis identifizieren. Wir werden weiter unten
sehen, dass dieses Produkt gerade dem Peltier-Koeffizienten entspricht. Die Ableitung der
Beweglichkeit tritt in (9.5.39) deshalb auf, weil wir die Art und Weise, wie der Elektronen-
strom bezüglich der Energie verteilt ist, berücksichtigen müssen. Wenn µ(ε) mit zuneh-
mendem ε größer wird, wird ein hoher Stromanteil von energiereicheren Elektronen trans-
portiert. Diese verursachen aber wiederum einen größeren Wärmestrom. Diese einfache
Diskussion ist natürlich für viele Metalle nicht verwendbar, da die vereinfachende Annahme
σ(ε) = n(ε)e µ(ε) nicht gerechtfertigt ist, sondern wir die Leitfähigkeit durch eine Integra-
tion über die mehr oder weniger komplexe Fermi-Fläche gewinnen müssen. Wir müssen
dabei im Einzelnen die Energieabhängigkeit der verschiedenen Faktoren analysieren, um
die Thermokraft zu erhalten. Darauf wollen wir hier nicht eingehen.
Wir wollen uns schließlich noch mit dem Vorzeichen der Thermokraft beschäftigen. Wir
haben bereits in Abschnitt 7.3.3 darauf hingewiesen, dass für die Thermokraft von Metallen
ein sowohl positives als auch negatives Vorzeichen beobachtet wird, was im Rahmen des
Modells freier Elektronen nicht erklärt werden konnte. Wir schreiben den Ausdruck für ⧹︂σ′
zunächst um, indem wir (9.5.17) differenzieren:

σ(ε) τ ′ (ε)
∂⧹︂ 1
= σ(ε) + 3 q 2 τ(ε) ∫ d 3 k δ ′ )︀ε − ε(k)⌈︀ v(k) ⊗ v(k) .
⧹︂ (9.5.40)
∂ε τ(ε) 4π

Mit v(k)δ ′ (︀ε − ε(k)⌋︀ = − ħ1 ∂k



δ(︀ε − ε(k)⌋︀ erhalten wir durch partielle Integration

σ(ε) τ ′ (ε)
∂⧹︂ q 2 τ(ε) −1
= ⧹︂
σ(ε) + 3
3
⧹︂ ∗ (k)) .
∫ d k δ)︀ε − ε(k)⌈︀ (m (9.5.41)
∂ε τ(ε) 4π

⧹︂ ∗ (k) der effektive Massetensor. Falls die Energieabhängigkeit der Streuzeit τ


Hierbei ist m
vernachlässigbar ist, wird das Vorzeichen von ⧹︂σ ′ und damit der Thermokraft durch das Vor-
zeichen des effektiven Massetensors gemittelt über die Fermi-Fläche bestimmt. Das heißt,
das Vorzeichen der Thermokraft wird dadurch bestimmt, ob wir überwiegend elektron-
oder lochartige Ladungsträger vorliegen haben. Die Erweiterung der Transporttheorie von
freien Elektronen auf Bandelektronen kann also auch in natürlicher Weise das scheinbar
anomale, positive Vorzeichen der Thermokraft von Metallen erklären. Typische Zahlenwer-
te für die Thermokraft einiger Metalle bei Raumtemperatur sind: Ag, Au, Cu (+6.5 µV⇑K),
Al (+3.5 µV⇑K), Fe (+19 µV⇑K), Ni (−15 µV⇑K), Bi (−72 µV⇑K), Pt (0 µV⇑K).

Seebeck-Effekt: Zur Messung der Thermokraft wird üblicherweise die in Abb. 9.25 gezeig-
te Anordnung verwendet. Man bildet einen geschlossenen Stromkreis aus zwei Metallen A
und B mit zwei Kontaktstellen, die sich auf unterschiedlicher Temperatur T1 und T2 befin-
den. Dazwischen befindet sich bei beliebiger Temperatur ein Spannungsmessgerät. Die von
diesem Messgerät gemessene Potenzialdifferenz ist durch das Integral des elektrischen Feldes
422 9 Dynamik von Kristallelektronen

𝚷𝐀 − 𝚷𝐁 𝑱𝒒
𝚷𝑩 𝑱𝒒

A 2 B 𝑱𝒒
𝚷𝑨 𝑱𝒒 𝑱𝒒
A 1 B
Abb. 9.25: Geometri-
sche Anordnung zur Mes- 𝚷𝑩 𝑱𝒒
sung des Seebeck-Effekts. 𝚷𝑩 − 𝚷𝑨 𝑱𝒒

längs des Kreises gegeben:


1 2 0 1 2
U = ∫ EB ds + ∫ E A ds + ∫ EB ds = ∫ EB ds + ∫ E A ds
0 1 2 2 1
1 2 T2
∂T ∂T
= ∫ SB ds + ∫ S A ds = ∫ (S A − S B ) dT . (9.5.42)
ds ds
2 1 T1

Wir erhalten also eine elektrische Spannung, die eine Funktion der Temperaturdifferenz der 69

beiden Kontaktstellen und der Differenz S A − S B der absoluten Thermokräfte der beiden
Metalle ist. Man bezeichnet dieses Phänomen als Seebeck-Effekt.
Die in Abb. 9.25 gezeigte Anordnung bezeichnet man als ein Thermoelement. Hält man zum
Beispiel die Kontaktstelle 2 bei einer bekannten Temperatur T2 , so kann man durch Messung
der Seebeck-Spannung die unbekannte Temperatur T1 bestimmen. In der Praxis verwen-
det man natürlich Materialkombinationen mit einer möglichst großen Differenz der absolu-
ten Thermokraft, um bei vorgegebener Temperaturdifferenz eine möglichst große Seebeck-
Spannung zu erhalten. In Tabelle 9.1 sind die Eigenschaften einiger genormter Thermopaare
zusammengestellt.

Tabelle 9.1: Thermospannungen bezogen auf die Referenztemperatur T = 0○ C sowie Materialzusam-


mensetzung und zulässiger Temperaturbereich von einigen Thermopaaren nach DIN IEC 584.

Thermopaar Typ T Typ J Typ K Typ S


pos. Elektrode Chromel Fe Cu Pt
(90% Ni 10% Cr)
neg. Elektrode Alumel Konstantan Konstantan PtRh
(94%Ni3%Mn (55%Cu 45%Ni) (55%Cu 45%Ni) (90%Pt 10% Rh)
2%Al1%Si)
Temperatur Thermospannung für Referenztemperatur T = 0○ C

100 C 4.28 mV 5.27 mV 4.10 mV 0.645 mV

400 C 20.87 mV 21.85 mV 16.40 mV 3.26 mV
T-Bereich −270○ C – −210○ C – −270○ C – −50○ C –
+400○ C +1200○ C +1370○ C +1760○ C

9.5.1.5 Peltier-Effekt
Als weiteren thermoelektrischen Effekt, der mit dem Transportkoeffizienten L 21 verbunden
ist, wollen wir den Peltier-Effekt diskutieren. Wir nehmen an, dass längs der in Abb. 9.26 ge-
9.5 Thermoelektrische und thermomagnetische Effekte 423

(PA – PB) Jq
PB Jq

A 2 B
PA Jq Jq Jq
A 1 B
Abb. 9.26: Geometrische Anord-
PB Jq nung zur Messung des Peltier-
(PB – PA) Jq Effekts.

zeigten Anordnung kein Temperaturgradient vorhanden ist. Nach (9.5.7) gilt dann Jq = L 11 E
bzw. E = (L 11 )−1 Jq und damit nach (9.5.8)
⧹︂ Jq .
Jh = L 21 (L 11 )−1 Jq = Π (9.5.43)

Die Größe Π⧹︂ = L 21 (L 11 )−1 bezeichnen wir als Peltier-Koeffizient. Wir sehen, dass ein iso-
thermer elektrischer Strom Jq mit einem thermischen Strom Jh verbunden ist.
Wir lassen jetzt mit Hilfe einer Batterie einen elektrischen Strom Jq durch den in Abb. 9.26
gezeigten Stromkreis fließen. Im Zweig A entsteht ein Wärmestrom Π A Jq , im Zweig B ein
davon verschiedener Strom Π B Jq . An den Kontaktstellen muss das Wärmegleichgewicht
wieder hergestellt werden. An der einen Kontaktstelle wird deshalb der Wärmestrom
(Π A − Π B )Jq generiert und an der anderen Kontaktstelle absorbiert. Das heißt, eine Kon-
taktstelle erwärmt sich und die andere wird abgekühlt. Diesen Effekt bezeichnet man als
Peltier-Effekt. Er wird zur Realisierung von Kühlelementen eingesetzt, deren Wirkungsgrad
allerdings für eine breite Anwendung noch zu schlecht ist. Die technische Anwendung zur
Kühlung ist letztendlich durch die phononische Wärmeleitung begrenzt. Sie bewirkt ins-
besondere bei großen Temperaturdifferenzen einen entgegengerichteten Wärmestrom, der
ab ∆T ∼ 100 K den durch den Stromfluss hervorgerufenen Wärmestrom aufhebt. Aus dem
gleichen Grund haben thermoelektrische Generatoren nur einen geringen Wirkungsgrad
von 3–8%.
Nach (9.5.20) gilt L 21 = L 12 und damit

⧹︂ = L 21 (L 11 )−1 = L 12 (L 11 )−1 = T S .
Π (9.5.44)

⧹︂ ist mit der Thermokraft S⧹︂ verknüpft. Dies ist eine der
Das heißt, der Peltier-Koeffizient Π
Kelvinschen Beziehungen der Thermoelektrizität.48

9.5.1.6 Thomson-Effekt
Ein weiterer thermoelektrischer Effekt ist der Thomson-Effekt.49 Er manifestiert sich als Tem-
peraturänderung beim Durchleiten eines elektrischen Stromes durch einen Draht, dessen
48
Diese Beziehung stellt einen Spezialfall der Onsager-Relationen der Thermodynamik irreversibler
Prozesse dar. Die Gleichungen (9.5.7) und (9.5.8) müssen, wenn sie durch Jq und Jh ⇑T ausgedrückt
werden, eine symmetrische Matrix geben. Deshalb gilt L 21 = L 12 .
49
Benannt nach William Thomson, 1. Baron Kelvin, der meist als Lord Kelvin bezeichnet wird. Wil-
liam Thomson war ein irischer Physiker. Er wurde am 26. Juni 1824 in Belfast, Nordirland geboren
und starb am 17. Dezember 1907 in Netherhall bei Largs, Schottland.
424 9 Dynamik von Kristallelektronen

Teile verschieden warm sind. Es fließt hier also sowohl ein elektrischer Strom aufgrund einer
elektrischen Potenzialdifferenz (E ≠ 0) als auch ein Wärmestrom aufgrund eines Tempera-
turgradienten (∇T ≠ 0). In Kupfer erzeugt ein im Sinn der fallenden Temperatur fließender
elektrischer Strom Wärme, ein umgekehrter Kälte. Eisen verhält sich entgegengesetzt.
Eine elektrische Stromdichte J q in einem homogenen Leiter verursacht eine Wärmeleistung
pro Volumeneinheit von

p h = ρ J q2 − µJ q ∇T , (9.5.45)

wobei ρ der spezifische Widerstand des Materials, ∇T der Temperaturgradient im Leiter


und µ der Thomson-Koeffizient sind.50 Der erste Term stellt die irreversible Joulesche Er-
wärmung dar. Der zweite Term ist die so genannte Thomson-Wärme, deren Vorzeichen mit
der Richtung des Stromes wechselt. Aufgrund der Onsagerschen Reziprozitätsbeziehungen
besteht der Zusammenhang

d S⧹︂
⧹︂
µ=T (9.5.46)
dT

zwischen dem Thomson- und Seebeck-Koeffizienten. Gleichung (9.5.46) bildet zusammen


mit (9.5.44) die Kelvinschen Beziehungen.

9.5.1.7 Phononen-Mitführung
Wir haben in den vorangegangenen Abschnitten nur die mit den Ladungsträgern verbun-
denen Transporteigenschaften diskutiert. Der Wärmetransport in Festkörpern erfolgt aber
parallel auch durch verschiedene andere Anregungen (z.B. Phononen, Magnonen), die mit
dem Ladungsträgersystem wechselwirken. Wir diskutieren hier kurz die Wechselwirkung
des Ladungsträgersystems mit dem Phononensystem. Wir betrachten hierzu einen Festkör-
per, z. B. einen Draht, durch den wir einen elektrischen Strom Jq schicken. Wir haben gese-
hen, dass wir aufgrund des endlichen elektrischen Feldes E im Festkörper eine Verschiebung
des Fermi-Körpers um den Betrag δk = ħ E im k-Raum bekommen. Da das Elektronensys-

tem mit dem Phononensystem durch Elektron-Phonon-Streuung wechselwirkt, versucht das


Phononensystem mit dem verschobenen Elektronensystem ins Gleichgewicht zu kommen.
Das führt zu einer Verschiebung des Phononensystems im Impulsraum. Dies entspricht aber
wiederum einer Vorzugsbewegung der Phononen im Ortsraum, also einem Wärmestrom.
Wir sprechen von einer Phononen-Mitführung oder einem Phonon-Drag-Effekt.
Nehmen wir an, dass die Driftbewegung der Phononen dieselbe ist wie diejenige der La-
dungsträger (δv = m E, Jq ∝ δv), so können wir für den resultierenden Wärmestrom schrei-

ben:
ph
cV T
Jh ∝ c V Tδv =
ph ph
Jq . (9.5.47)
ne

50
Wir benutzen für den Thomson-Koeffizienten das übliche Symbol µ, obwohl dies leicht zu Ver-
wechslungen mit der Beweglichkeit führen kann.
9.5 Thermoelektrische und thermomagnetische Effekte 425

Gemäß der Definition des Peltier-Koeffizienten, Jh = Π Jq , können wir einen Peltier-Koeffi-


zienten Π ph oder eine thermoelektrische Kraft S ph = Π ph ⇑T angeben:
ph
cV
S ph ∝ . (9.5.48)
nq
Im Vergleich zum gewöhnlichen elektronischen Beitrag (9.5.37) wäre dies ein großer Effekt,
da in den elektronischen Beitrag die wesentlich kleinere spezifische Wärme des Elektronen-
systems statt diejenige des Gitters eingeht. Dieser große Effekt kann allerdings nur dann
beobachtet werden, wenn die Phononen tatsächlich nur mit den Elektronen wechselwirken.
Bei hohen Temperaturen ist dies nicht der Fall, da hier eine Relaxation des Impulses der Pho-
nonen durch Umklapp-Prozesse stattfindet und dadurch der Mitführungseffekt verschwin-
dend klein wird. Bei tiefen Temperaturen frieren die Umklapp-Prozesse allerdings aus, und
der Phonon-Drag-Effekt kann leicht beobachtet werden. Da die spezifische Wärme des Git-
ters bei tiefen Temperaturen proportional zu T 3 ⇑Θ3D ist, erwarten wir S ph ∝ T 3 ⇑Θ3D .51

9.5.2 Thermomagnetische Effekte


Wir haben in den vorangegangenen Abschnitten die Transportkoeffizienten für den Fall
B = 0 abgeleitet. Wir wollen nun Transportphänomene bei Anwesenheit eines Magnetfeldes
diskutieren. Bei Anwesenheit eines externen Magnetfeldes B wirkt zusätzlich zu den verall-
gemeinerten Kräften durch das elektrische Feld und den Temperaturgradienten jetzt noch
die Lorentz-Kraft auf bewegte Ladungsträger. Analog zu (9.5.7) und (9.5.8) können wir all-
gemeine Beziehungen zwischen den Strömen und den verallgemeinerten Kräften mit jetzt
insgesamt acht Transportkoeffizienten aufschreiben:
∇ϕ q × B ∇T × B
Jq = L 11 (−∇ϕ q ) + L 12 (−∇T⇑T) + L 13 (− ) + L 14 (− ) (9.5.49)
B BT

∇ϕ q × B ∇T × B
Jh = L 21 (−∇ϕ q ) + L 22 (−∇T⇑T) + L 23 (− ) + L 24 (− ) (9.5.50)
B BT
Die allgemeinen Transportkoeffizienten L i j werden allerdings in der Praxis nicht verwendet.
Analog zum Fall B = 0, wo wir durch Benutzen der gebräuchlicheren Größen ρ = σ −1 , κ, S
und Π die allgemeinen Transportgleichungen (9.5.7) und (9.5.8) in E = ρ Jq + S ∇T und Jh =
Π Jq − κ ∇T umgeschrieben haben, können wir dies auch für den Fall B ≠ 0 tun. Wir müssen
hier auf der rechten Seite dieser Gleichungen zusätzliche Terme einfügen, die proportional
zu (B × Jq ) bzw. (B × ∇T) sind. Wir erhalten somit

E = ρ Jq + R H )︀B × Jq ⌈︀ + S ∇T + N (︀B × ∇T⌋︀ . (9.5.51)

Jh = Π Jq + P )︀B × Jq ⌈︀ − κ ∇T + L (︀B × ∇T⌋︀ . (9.5.52)

51
Wir haben bereits darauf hingewiesen (vergleiche Abb. 9.20), dass bei manchen Metallen Um-
klapp-Prozesse auch noch bis zu tiefen Temperaturen von Bedeutung sind. Das Vorzeichen von S ph
hängt in der Tat davon ab, ob der Phonon-Drag durch Umklapp- oder Normalprozesse dominiert
wird.
426 9 Dynamik von Kristallelektronen
• allgemeine Transportgleichungen (B ≠ 0)

𝑩𝒛 −𝝏𝑻/𝝏𝒙, 𝑬𝒙 𝒛
𝒚
+ + + + +𝑭 + + + + + 𝒙
+ + + + + + + + + +
𝒗 𝑱𝒒,𝒙
Abb. 9.27: Probengeometrie zur Mes- 𝑭𝐋
sung thermomagnetischer Effekte. 𝑱𝒉,𝒙
In y-Richtung kann kein elektrischer - - - - - - - - - -
und kein Wärmestrom stattfinden. - - - - - - - - - -

Auf die explizite Herleitung des Zusammenhangs zwischen den allgemeinen Transportko-
effizienten L i j und den in (9.5.51) und (9.5.52) Hall-Koeffizient
verwendeten Größen wollenNernst-Koeffizient
wir hier ver-
zichten, da dies mit elementarer linearer Algebra leicht gemacht werden kann. Mit den vier
weiteren Termen sind vier so genannte thermomagnetische Effekte verbunden, die wir im
Folgenden kurz diskutieren wollen. Bei der Diskussion nehmen wir an, dass das Magnet-
Ettingshausen-Koeffizient P/k Righi-Leduc-Koeffizient L/k
feld in z-Richtung zeigt und ein elektrischer oder Wärmestrom nur in x-Richtung fließen
kann (siehe Abb. 9.27). Wir betrachten ferner der Einfachheit halber ein isotropes System, so
dass wir die tensoriellen Transportkoeffizienten durch Skalare ersetzen können. Die dadurch 70

erhaltenen Ergebnisse können wir dann nur zur Beschreibung der Transporteigenschaften
von Alkali-Metallen, deren Fermi-Flächen fast isotrop sind, oder von polykristallinen Pro-
ben, bei denen wir über alle Raumrichtungen mitteln, anwenden. Wir werden uns ferner auf
kleine Magnetfelder (ω c τ ≪ 1) beschränken.

9.5.2.1 Hall-Effekt
Der zweite Term in (9.5.51) entspricht dem Hall-Effekt, den wir bereits in Abschnitt 7.3.4
für freie Elektronen diskutiert haben. Den gewöhnlichen Hall-Effekt erhalten wir unter der
Randbedingung, dass der transversale Temperaturgradient ∂T⇑∂y verschwindet. Wir erhal-
ten dann

E y = R H BJ q,x , (9.5.53)

was Gleichung (7.3.49) entspricht. Wir können aber auch den so genannten adiabatischen
Hall-Effekt definieren, den wir unter der Randbedingung J h, y = 0 erhalten. Aus (9.5.51) und
(9.5.52) ergibt sich

SP
E y = (R H + ) B J q,x . (9.5.54)
κ

9.5.2.2 Ettingshausen-Effekt
Wir nehmen an, dass ein elektrischer Strom in x-Richtung fließt und entlang der Probe kein
Temperaturgradient anliegt, d. h. J q,x ≠ 0 und ∂T⇑∂x = 0. Falls in y-Richtung weder ein Wär-
mestrom noch ein elektrischer Strom fließen kann, J h, y = 0 und J q, y = 0, erhalten wir einen
Temperaturgradienten in y-Richtung:

∂T P
= B J q,x . (9.5.55)
∂y κ
9.5 Thermoelektrische und thermomagnetische Effekte 427

Dieses Phänomen wird als Ettingshausen-Effekt 52 und die Größe P⇑κ als Ettingshausen-
Koeffizient bezeichnet. In Metallen wie Cu, Ag oder Au ist P⇑κ ∼ 10−16 K⋅m
T⋅A
und deshalb
schwer zu messen. Für Wismut ist P⇑κ = 7.5 × 10−4 K⋅m
T⋅A
besonders hoch, da dieses Metall
eine kleine Wärmeleitfähigkeit besitzt.

9.5.2.3 Righi-Leduc-Effekt
Wir nehmen jetzt an, dass kein elektrischer Strom in x-Richtung fließt, aber ein endlicher
Temperaturgradient entlang der Probe existiert, d. h. J q,x = 0 und ∂T⇑∂x ≠ 0. Mit den Rand-
bedingungen J q,x = 0 sowie J h, y = 0 und J q, y = 0 erhalten wir
∂T L ∂T
= B . (9.5.56)
∂y κ ∂x
Dieses Phänomen wird als Righi-Leduc-Effekt 53 und die Größe L⇑κ als Righi-Leduc-Koeffi-
zient bezeichnet. Für Metalle wie Cu, Ag oder Au ist L⇑κ ∼ −2 × 10−3 m
2

Vs
. Der Righi-Leduc
Effekt entspricht einem thermischen Hall-Effekt. Die Ladungsträger, die sich aufgrund des
Temperaturgradienten ∂T⇑∂x ≠ 0 entlang der Probe in x-Richtung bewegen, werden durch
das Magnetfeld in y-Richtung abgelenkt und führen zu einem transversalen Temperaturgra-
dienten.

9.5.2.4 Nernst-Effekt
Wir gehen wiederum von der Situation aus, dass kein elektrischer Strom in x-Richtung
fließt, aber ein endlicher Temperaturgradient entlang der Probe existiert, d. h. J q,x = 0
und ∂T⇑∂x ≠ 0. Wegen der Ablenkung der sich aufgrund des Temperaturgradienten in
x-Richtung bewegenden Ladungsträger erhalten wir ein elektrisches Querfeld. Unter den
Randbedingungen J q,x = 0 und J q, y = 0 sowie ∂T⇑∂y = 0 erhalten wir das Querfeld zu
∂T
Ey = N B . (9.5.57)
∂x
Dieses Phänomen ist unter dem Namen Nernst-Effekt 54 bekannt und die Größe N bezeich-
nen wir als Nernst-Koeffizienten. Äquivalent zum adiabatischen Hall-Effekt erhalten wir den
adiabatischen Nernst-Effekt, wenn wir die Bedingung ∂T⇑∂y = 0 durch J h, y = 0 ersetzen:
SL ∂T
E y = (N + ) B . (9.5.58)
κ ∂x
Äquivalent zu den Koeffizienten, die die thermoelektrischen Effekte beschreiben, sind auch
bei den thermomagnetischen Effekten nur drei der vier Koeffizienten voneinander unabhän-
gig.55 Es gilt P = N T.
52
Benannt nach dem österreichischen Physiker Albert von Ettingshausen (1850 – 1932).
53
Benannt nach dem italienischen Physiker Augusto Righi (1850–1920) und dem französichen Phy-
siker Sylvestre Anatole Leduc (1856-1937).
54
Benannt nach dem deutschen Chemiker Walther Hermann Nernst (1864–1941).
55
Dies folgt wiederum aus den Onsager-Relationen der Thermodynamik irreversibler Prozesse. Die
Transportkoeffizienten müssen eine symmetrische Matrix bilden, so dass wir nur drei unabhängige
Koeffizienten haben.
428 9 Dynamik von Kristallelektronen

9.6 Spin-Transport
In unserer bisherigen Diskussion der Transporteigenschaften haben wir unberücksichtigt
gelassen, dass Ladungsträger in Festkörpern außer einer Ladung q und einer Wärmemen-
ge h auch einen Drehimpuls (Spin) s transportieren (siehe Abb. 9.28). Diese Vernachlässi-
gung ist zwar gerechtfertigt, wenn sich gleich viele Ladungsträger mit entgegengesetztem
Spin in die gleiche Richtung bewegen und so effektiv kein Spin-Transport stattfindet. In
einigen Fällen, z.B. in ferromagnetischen Metallen, ist dies aber nicht der Fall und es tritt
zusammen mit dem Ladungs- und Wärmetransport auch ein Spin-Transport auf. Wir müs-
sen dann das durch (9.5.10)–(9.5.12) gegebene thermoelektrische Kopplungschema um den
Spin-Freiheitsgrad erweitern und erhalten eine thermo-spin-elektrische Kopplung. Da der
Zusammenhang zwischen den drei Stromdichten und den drei Potenzialgradienten dann
durch eine (3 × 3)-Matrix gegeben ist, erhöht sich die Zahl der Transportkoeffizienten von
4 auf 9, wobei aufgrund der Onsager-Relationen nur 6 unabhängig sind. Bei Anlegen eines
äußeren Magnetfeldes verdoppeln sich die Zahlen nochmals, so dass die Zusammenhänge
bereits recht unübersichtlich werden. Wir wollen auch darauf hinweisen, dass die Kopplung
zwischen Spin- und Wärmetransport heute unter dem Begriff Spin-Kaloritronik zusammen-
gefasst wird.
Abb. 9.28: Mit der Bewegung
von Ladungsträgern ist (a) (a) (b) (c)
Ladungs-, (b) Wärme- und (c)
Spin-Transport verbunden. 𝒒 𝑱𝒒 𝒉 𝑱𝒉 𝒔 𝑱𝒔

9.6.1 Allgemeines Klassifizierungsschema


Wir wollen zuerst unser bisheriges Klassifizierungsschema für die allgemeinen Transport-
koeffizienten erweitern, um den Spin-Transport zu berücksichtigen. Wir betrachten dazu
zuerst den Fall ohne äußeres Magnetfeld und erweitern die thermoelektrische Kopplung
um den Spin-Transport. Dadurch gelangen wir von den thermoelektrischen Effekten zu
den thermo-spin-elektrischen Effekten. Wir wissen, dass Ströme im einfachsten Fall als
lineare Antwort (Response) auf eine verallgemeinerte Kraft betrachtet werden können. Da
wir Kräfte als Gradienten einer potentiellen Energie ausdrücken können, können wir einen
Ladungs- (Jq ), Wärme- (Jh ) und Spin-Strom (Js ) als Antwort auf einen Gradienten des
elektrochemischen Potenzials (ϕ q = µ q ⇑q), des thermischen Potenzials (ϕ th = µ h ⇑k B T) und
des spinchemischen Potenzials (ϕ s = µ s ⇑ħ) betrachten. Üblicherweise werden die jeweiligen
Potenziale immer dadurch erhalten, dass die jeweiligen Energien µ i durch die Einheit der
transportierten Größe – also Ladung q, Spin ħ und Wärmemenge k B T – geteilt werden. In
Analogie zum elektrischen Feld Eq können wir den Gradienten des spinchemischen und
thermischen Potenzials ein entsprechendes Spin-Feld Es und thermisches Feld Eh zuordnen:
Eq = −∇ϕ q = −∇µ q ⇑q (9.6.1)
Es = −∇ϕ s = −∇µ s ⇑ħ (9.6.2)
Eh = −∇ϕ h = −∇µ h ⇑k B T = −∇T⇑T . (9.6.3)
9.6 Spin-Transport 429

Mit diesen Definitionen können wir die allgemeinen Transportgleichungen (9.5.7) und
(9.5.8) um den Spin-Transport erweitern und erhalten

Jq = L 11 (−∇ϕ q ) + L 12 (−∇ϕ s ) + L 13 (−∇ϕ h ) (9.6.4)

Js = L 21 (−∇ϕ q ) + L 22 (−∇ϕ s ) + L 23 (−∇ϕ h ) (9.6.5)

Jh = L 31 (−∇ϕ q ) + L 32 (−∇ϕ s ) + L 33 (−∇ϕ h ) . (9.6.6)

Die in diesen Gleichungen auftretenden Transportkoeffizienten L i j müssen wir wieder mit


Hilfe der Boltzmann-Transporttheorie oder weitergehenderen Theorien berechnen, wie wir
dies in Abschnitt 9.5.1 für die thermoelektrische Kopplung bereits getan haben. Aus Platz-
gründen verweisen wir hierzu auf die weiterführende Literatur.
In Analogie zur elektrischen Stromdichte (Ladung pro Fläche und Zeit) ist die Einheit der
Spin-Stromdichte Drehimpuls pro Fläche und Zeit. In der Literatur hat es sich allerdings
eingebürgert, die Spin-Stromdichte Js in Einheiten der Ladungsstromdichte anzugeben. Die
neue Spin-Stromdichte J̃s erhalten wir, indem wir Js mit der pro Ladungsträger transpor-
tierten Ladungsmenge q multiplizieren und durch die Drehimpulsmenge ħ⇑2 teilen: J̃s =
Js ⋅ (2q⇑ħ) ∝ −∇µ s ⋅ (2q⇑ħ 2 ). Da das Verhältnis σs ⇑σq von Spin-Leitfähigkeit und elektri-
scher Leitfähigkeit gerade durch das Verhältnis (ħ⇑2q)2 gegeben ist, folgt J̃s = σq (−∇µ s ⇑2q).
Wir sehen, dass jetzt auch das Spin-Feld Ẽs = −∇µ s ⇑2q die gleiche Einheit wie das elektrische
Feld Eq hat.
Wie in Abschnitt 9.5.1 dargelegt wurde, werden aus historischen Gründen für den Ladungs-
und Wärmetransport üblicherweise nicht die allgemeinen Transportkoeffizienten L i j ver-
wendet, sondern die vertrauteren Größen elektrische Leitfähigkeit σq , Wärmeleitfähigkeit
κ, Seebeck-Koeffizient S und Peltier-Koeffizient Π [vergleiche hierzu (9.5.10) und (9.5.11)].
Wir erweitern unsere Diskussion jetzt um den Spin-Transport. Um die Diskussion einfach zu
halten, verwenden wir ein Zweiflüssigkeitenmodell. Dabei nutzen wir aus, dass der Spin der
Ladungsträger bezüglich einer Quantisierungsachse nur zwei Werte s =↑, ↓ annehmen kann
und die beiden Spin-Sorten parallele Transportkanäle mit spinabhängigen Leitfähigkeiten
bilden. Wir können dann die elektrische Leitfähigkeit σq = σq↑ + σq↓ , die Wärmeleitfähigkeit
κ = κ ↑ + κ ↓ , den Seebeck-Koeffizienten S = (︀σq↑ S ↑ + σq↓ S ↓ ⌋︀⇑(︀σq↑ + σq↓ ⌋︀, das elektrochemischen
Potenzial µ q = (µ ↑q + µ↓q )⇑2 und die Spin-Akkumulation µ s = µ↑s − µ ↓s (das spinchemische
Potenzial bezogen auf µ q , siehe Abb. 9.29) sowie die Ladungs-, Spin- und Wärmestromdich-

𝝁𝒒↓
𝝁𝐪
𝝁𝒒↑
Abb. 9.29: Zur Definition des elektro-
chemischen Potenzials µ q = (µ ↑q + µ ↓q )⇑2
und der Spin-Akkumulation µ s = µ ↑s − µ ↓s
𝟎 𝟎 entlang einer Probe der Länge L. Die Spin-
𝟎 𝑳 𝒙 𝑳 𝒙 Akkumulation entspricht dem spinchemi-
𝝁𝐬 schen Potenzial bezogen auf µ q .
430 9 Dynamik von Kristallelektronen

ten Jq = J↑q + J↓q , J̃s = J̃↑s − J̃↓s und Jh = J↑h + J↓h benutzen und damit die Transport-Koeffizienten
L i j in (9.6.4)-(9.6.6) ersetzen:56

⎛J q ⎞ ⎛1 P ST ⎞ ⎛ −∇µ q ⇑q ⎞
⎜ J̃s ⎟ = σq (ε F ) ⎜ P 1 P′ ST ⎟ ⎜−∇µ s ⇑2q⎟ . (9.6.7)
⎝J h ⎠ ⎝ST P′ ST κT⇑σq ⎠ ⎝ −∇T⇑T ⎠

Der Seebeck-Koeffizienten S kann über die Thomson-Beziehung Π = T S durch den Peltier-


Koeeffizienten Π ersetzt werden. Die Spin-Polarisation P und die Größe P′ sind durch

σq↑ − σq↓ (σq↑ )′ − (σq↓ )′


P= P′ = (9.6.8)
σq↑ + σq↓ (σq↑ )′ + (σq↓ )′

gegeben, wobei σq′ = ∂ε



σq ⋃︀ε=ε F die Energieableitung der elektrischen Leitfähigkeit an der
Fermi-Energie ist [vergleiche (9.5.22)]. Für ein nichtmagnetisches Metall ist P = P′ = 0.
Der mit dem Ladungs- und Wärmetransport verbundene Spin-Transport verschwindet in
diesem Fall. Ansonsten erhalten wir eine endliche Kopplung zwischen Ladungs-, Spin- und
Wärmetransport. Es sei noch darauf hingewiesen, dass die symmetrische Matrix in (9.6.7)
die Onsagerschen Reziprozitätsbeziehungen widerspiegelt.
Wir könnten jetzt die für B = 0 gemachte Betrachtung auf den Fall endlicher Magnetfelder
erweitern und würden dadurch in den Gleichungen (9.6.4)-(9.6.6) neun weitere Terme er-
halten, welche die spin-thermomagnetischen Effekte beschreiben. Wir wollen dies hier aus
Platzgründen nicht tun. Um vielmehr die Fülle der Transportkoeffizienten übersichtlich dar-
zustellen, haben wir diese in Tabelle 9.2 zusammengefasst. Wir sehen, dass für B = 0 in der

Tabelle 9.2: Klassifizierung der mit den Ladungsträgern in Festkörpern verbundenen Transportkoef-
fizienten eines magnetisch nicht geordneten Systems (M = 0). B⧹︂ ist der Einheitsvektor in Magnetfeld-
richtung. In der linken Spalte stehen die Stromdichten (Response-Größen) und in den rechten Spalten
die Potenzialgradienten als Ursache für die Stromdichten.

B = 0, M = 0
Jq −∇ϕ q −∇T −∇ϕ s
elektr. Leitfähigkeit Ladungs-Seebeck-Effekt N.N.
Jh −∇ϕ q −∇T −∇ϕ s
Ladungs-Peltier-Effekt therm. Leitfähigkeit Spin-Peltier-Effekt
Js −∇ϕ q −∇T −∇ϕ s
N.N. Spin-Seebeck-Effekt Spin-Leitfähigkeit
B ≠ 0, M = 0
Jq −∇ϕ q × ⧹︂
B −∇T × ⧹︂
B −∇ϕ s × ⧹︂
B
Ladungs-Hall-Effekt Ladungs-Nernst-Effekt N.N.
Jh −∇ϕ q × ⧹︂
B −∇T × ⧹︂
B −∇ϕ s × ⧹︂
B
Ladungs-Ettingshausen- therm. Hall-Effekt Spin-Ettingshausen-Effekt
Effekt
Js −∇ϕ q × ⧹︂
B −∇T × ⧹︂
B −∇ϕ s × ⧹︂
B
N.N. Spin-Nernst-Effekt Spin-Hall-Effekt

56
G.E.W. Bauer, E. Saitoh, B.J. van Wees, Spin Caloritronics, Nature Materials 11, 391–399 (2012).
9.6 Spin-Transport 431

Diagonalen immer die mit den Freiheitsgraden Ladung, Wärme und Spin verbundenen Leit-
fähigkeiten stehen, während das für B ≠ 0 die entsprechenden Hall-Effekte sind. Der ther-
mische Hall-Effekt wird auch als Righi-Leduc-Effekt bezeichnet. Die für B = 0 durch einen
Temperaturgradienten in Längsrichtung erzeugten longitudinalen Ladungs- und Spinströ-
me resultieren in den entsprechenden Seebeck-Effekten, die für B ≠ 0 erzeugten transver-
salen Ladungs- und Spinströme in den entsprechenden Nernst-Effekten. Ferner resultieren
die für B ≠ 0 durch longitudinale Gradienten des elektro- oder spinchemischen Potenzials
in Querrichtung erzeugten Wärmeströme in den entsprechenden Ettingshausen-Effekten.
Leider wird in der Literatur üblicherweise der Zusammenhang zwischen einem in Längs-
richtung fließenden Ladungsstrom und dem dazu in Querrichtung auftretenden Gradienten
des spinchemischen Potenzials als Spin-Hall-Effekt und der umgekehrte Effekt als inverser
Spin-Hall-Effekt bezeichnet. Da diese Nomenklatur leider etwas unlogisch ist,57 haben wir
das entsprechende Feld in der Tabelle mit N.N. bezeichnet. Wir weisen ferner darauf hin,
dass in ferromagnetischen Systemen mit endlicher Magnetisierung M ≠ 0 auch für B = 0 die
in der unteren Tabellenhälfte aufgelisteten transversalen Effekte auftreten. Sie basieren auf
der Spin-Bahn-Kopplung und werden üblicherweise als die korrespondierenden anomalen
Effekte bezeichnet. Als Beispiele werden wir in Abschnitt 9.7.1 und 9.7.2 den anomalen Hall-
und Nernst-Effekt diskutieren.
Es sollte uns auch klar sein, dass in einem Festkörper üblicherweise nicht nur die Ladungs-
träger alleine zu den beobachteten Transportphänomenen beitragen, sondern auch andere
Anregungen. In einem ferromagnetischen Metall müssen wir z.B. außer den Ladungsträgern
noch die Phononen und die Magnonen berücksichtigen, die sowohl zum Wärmetransport
(Phononen und Magnonen) als auch zum Spin-Transport (Magnonen) beitragen. Das in Ta-
belle 9.2 gezeigte Klassifizierungsschema bleibt davon unberührt, die Interpretation der ge-
messenen Transportkoeffizienten (Proportionalitätskonstanten zwischen Strömen und Po-
tenzialgradienten) wird aber schwieriger, da zu der gemessenen Größe mehrere Anregungen
gleichzeitig beitragen und wir deren Anteil im Experiment meist nicht trennen können.

9.6.1.1 Effekte höherer Ordnung:


Die in der unteren Hälfte von Tabelle 9.2 aufgelisteten Effekte sind von der Ordnung ω c τ.
Es gibt eine Vielzahl weiterer Effekte von der Ordnung (ω c τ)2 . Der bekannteste ist der Ma-
gnetwiderstand. Die Effekte höherer Ordnung führen zu Korrekturen der Koeffizienten in
Gleichung (9.5.51) und (9.5.52). So wird durch die Effekte höherer Ordnung die elektrische
Leitfähigkeit abhängig vom angelegten Magnetfeld.

9.6.2 Spin-Ströme
Wir können Stromdichten ganz allgemein als Produkt aus Teilchendichte, der von den Teil-
chen transportierter Größe und der mittleren Driftgeschwindigkeit der Teilchen aufgrund

57
Hall-Effekte verbinden den Längsstrom einer Größe mit einem Querstrom der gleichen Größe
bzw. dem daraus resultierenden Potenzialgradienten. Das heute mit Spin-Hall-Effekt bezeichnete
Phänomen basiert ähnlich zum anomalen Hall- und Nernst-Effekt auf der Spin-Bahn-Kopplung
und wird in Abschnitt 9.7.3 kurz diskutiert.
432 9 Dynamik von Kristallelektronen

einer äußeren Störung schreiben (siehe Abb. 9.28). Bei einer elektrischen Stromdichte Jq
wird von den Teilchen eine Ladungsmenge q, bei einer Wärmestromdichte Jh eine Wärme-
menge h und bei einem Spin-Strom Js eine Drehimpulsmenge s transportiert. Wären die
Teilchen die Leitungselektronen in einem Festkörper, so wäre q = −e, h = ε − µ und s = ħ2 σ.
Eine Besonderheit bei Spin-Strömen ist die Tatsache, dass die transportierte Größe kein Ska-
lar sondern ein Drehimpuls ist, der eine bestimmte Richtung hat. Dies können wir dadurch
berücksichtigen, indem wir den Spin-Strom durch das dyadische Produkt σ ⊗ v des Vek-
tors der Paulischen Spin-Matrizen [vergleiche (9.7.25)] und der Driftgeschwindigkeit aus-
drücken. Dadurch erhalten wir einen Tensor 2. Stufe, der sowohl die Transportrichtung als
auch die Spin-Richtung enthält. Für Ladungsträger mit Dichte n, Ladung q, Driftgeschwin-
digkeit v und Spin s = ħ2 σ erhalten wir

ħ
Js = n ∐︀σ ⊗ ṽ︀ , (9.6.9)
2
wobei ∐︀. . .̃︀ den thermodynamischen Erwartungswert für den durch die Störung hervorge-
rufenen Nichtgleichgewichtszustand bedeutet. Mit Jq = nqv können wir dies umschreiben
in
ħ
Js = ∐︀σ ⊗ Jq ̃︀ . (9.6.10)
2q

Wir sehen, dass das Verhältnis der von den Ladungsträgern transportierten Ladungs- und
Spin-Stromdichte gerade durch das Verhältnis der von ihnen transportierten Ladungs- und
Drehimpulsmenge gegeben ist.
Im Rahmen des bereits oben diskutierten Zweiflüssigkeitenmodells können wir (9.6.10) ver-
einfachen. Nutzen wir aus, dass der Spin der Ladungsträger bezüglich einer Quantisierungs-
achse (z.B. die z-Achse) nur zwei Werte s =↑, ↓ annehmen kann und die beiden Spin-Sorten
parallele Transportkanäle bilden, erhalten wir

ħ ↑ ↓
Js = (J − J ) . (9.6.11)
2q q q

Geben wir die Spin-Stromdichte in Einheiten der Ladungsstromdichte an, so erhalten wir
2q
J̃s = Js = (J↑q − J↓q ) . (9.6.12)
ħ
In einem nichtmagnetischen Metall wie Kupfer liegen genauso viele Ladungsträger mit par-
alleler und anti-paralleler Spin-Richtung bezüglich einer bestimmten Quantisierungsachse
vor. Wie Abb. 9.30a zeigt, führt dann die z.B. durch ein elektrisches Feld oder einen Tempe-
raturgradienten erzeugte Driftbewegung der Ladungsträger zu einem reinen Ladungsstrom
und keinem Spin-Strom, da J↑q − J↓q = 0. Dies ändert sich, wenn wir zu einem ferromagneti-
schen Metall wie Eisen übergehen (Abb. 9.30b). Da hier eine Spin-Richtung überwiegt – wir
sprechen von einer endlichen Spin-Polarisation P –, erhalten wir neben dem Ladungsstrom
auch einen endlichen Spin-Strom, da jetzt J↑q − J↓q ≠ 0. Genauer gesagt sprechen wir hier von
einem spin-polarisierten Ladungsstrom. Einen reinen Spin-Strom – also einen reinen Dreh-
impulsstrom ohne einen damit verbundenen Ladungsstrom – könnten wir erzeugen, wenn
9.6 Spin-Transport 433

(a) (b) (c) 𝑱𝒒,↓

𝑱𝒒,↑ 𝑱𝒒,↑ 𝑱𝒒,↑


𝑱𝒒,↓ 𝑱𝒒,↓

𝑱𝒒 𝑱𝒔 𝑱𝒔
𝑱𝒒
Abb. 9.30: (a) Reine Ladungsströme: Die Summe der gleich großen Ladungsströme von Ladungsträ-
gern mit entgegengesetztem Spin führt zu der unten gezeigten Situation, dass nur Ladung (Kugeln)
aber kein Spin (Pfeile) transportiert wird. (b) Spin-polarisierte Ladungsströme: es wird sowohl La-
dung als auch Spin transportiert, falls eine Spin-Sorte überwiegt. (c) Reine Spin-Ströme: es wird nur
Spin und keine Ladung transportiert, falls gleich große Ladungsströme der beiden Spin-Sorten in ent-
76
gegengesetzte Richtungen fließen.

wir alle Ladungsträger der einen Spin-Richtung nach rechts und alle mit der entgegengesetz-
ten nach links laufen lassen könnten (Abb. 9.30c). Spinpolarisierte Ladungsströme treten au-
tomatisch beim Ladungstransport in Metallen mit endlicher Spin-Polarisation auf und kön-
nen leicht erzeugt werden. Heute sind auch mehrere Methoden (z.B. Spin-Pumpen über das
Treiben einer Magnetisierungsdynamik) zum Erzeugen von reinen Spin-Strömen bekannt,
auf die wir hier aber nicht eingehen wollen. Wichtig ist, dass reine Spin-Ströme auch in Iso-
latoren fließen können, da mit ihnen ja kein Ladungstransport verbunden ist. Spin-Ströme
in Isolatoren werden durch die quantisierten Anregungen des Spin-Gitters (Magnonen) ge-
tragen, genauso wie der Wärmestrom in Isolatoren durch die quantisierten Anregungen des
Atom-Gitters (Phononen) getragen wird.
Wir wollen noch auf einige Besonderheiten von Spin-Strömen hinweisen. Da der Spin keine
skalare Größe ist, müssten wir für die Beschreibung seiner Bewegung zusätzlich zur Strom-
dichte Js , welche die lineare Bewegung bei konstanter Spin-Richtung beschreibt, noch eine
weitere Größe verwenden, welche der Änderung der Spin-Richtung Rechnung trägt. Beim
Ladungstransport brauchen wir eine solche Größe nicht, da sich hier die Ladungsmenge ei-
nes Ladungsträgers beim Transport nicht ändert. Falls eine Änderung der Spin-Richtung
beim Spin-Transport erlaubt ist, ist dies gleichbedeutend damit, dass wir keine Drehimpuls-
erhaltung vorliegen haben. Mit der Ladungsdichte ρ q und der Spin-Dichte ρ s können wir
die Erhaltungssätze beim Ladungs- und Spin-Transport wie folgt formulieren:

∂ρ q
+ ∇ ⋅ Jq = 0 . (9.6.13)
∂t
∂ρ s ρ − ρ 0,s
+ ∇ ⋅ Js = − s . (9.6.14)
∂t τ
434 9 Dynamik von Kristallelektronen

Da die Spin-Dichte ρ s sowohl die Dichte als auch die Richtung der Spins beschreiben muss,
ist sie im Gegensatz zur Ladungsdichte ρ q eine vektorielle Größe. Aufgrund der Ladungs-
erhaltung kann beim Ladungstransport die Ladungsmenge innerhalb eines bestimmten Vo-
lumens nur durch den Zu- oder Abfluss von Ladungen durch die Volumenoberfläche erfol-
gen. Beim Spin-Transport ist dies nicht der Fall. Zum Beispiel können Ladungsträger durch
Wechselwirkung mit dem Gitter Drehimpuls an das Phononensystem abgeben. Diesen Ver-
lustterm haben wir in (9.6.14) mit einem Relaxationsterm auf der rechten Seite beschrieben,
wobei die Zeitkonstante τ angibt, wie schnell die Relaxation erfolgt, und ρ 0,s die Spin-Dichte
im Gleichgewicht ist.

9.7 Vertiefungsthema: Relativistische und


topologische Effekte
Die oben diskutierten transversalen thermomagnetischen Effekte resultieren aus der
Lorentz-Kraft durch ein äußeres Magnetfeld. Diese wirkt senkrecht zur Bewegungsrichtung
der Ladungsträger, die längs eines in longitudinaler Richtung angelegten Potenzialgra-
dienten erfolgt. Bei der Diskussion dieser Effekte haben wir allerdings die Spin-Bahn-
Wechselwirkung (vergleiche Abschnitt 12.5.4) und Effekte, die mit der Topologie der
Magnetisierungstextur zusammenhängen, vernachlässigt. Diese führen zu einer Familie
von zusätzlichen transversalen Transportphänomenen, die auch in Abwesenheit eines äu-
ßeren Magnetfeldes auftreten. Da die Spin-Bahn-Wechselwirkung ein relativistischer Effekt
ist, können die zusätzlichen Phänomene als Verallgemeinerungen der thermomagnetischen
Effekte durch relativistische Korrekturen betrachtet werden. Beispiele sind der anomale
Hall- und Nernst-Effekt oder der Spin-Hall- und Spin-Nernst-Effekt. Die besondere Topo-
logie der Magnetisierungstextur kann ebenfalls zu anomalen Effekten führen, die dann als
topologischer Hall- und Nernst-Effekt bezeichnet werden.
Um eine allgemeine Klassifizierung der verschiedenen Phänomene zu machen, betrach-
ten wir Abb. 9.31. Die Gradienten des elektrochemischen Potenzials und der Temperatur
sind in Längsrichtung (x-Richtung) angelegt. Die bereits diskutierten, bei einem angelegten
Magnetfeld auftretenden thermomagnetischen Effekte (Hall, Nernst, Ettingshausen, Righi-
Leduc) sind zum Vergleich in Abb. 9.31a gezeigt. In Ferromagneten mit einer endlichen
Magnetisierung treten auch ohne angelegtes Magnetfeld transversale Effekte auf. Steht die
Magnetisierung senkrecht zur Probenebene (Abb. 9.31b) erhalten wir den anomalen Hall-,
Nernst-, Ettingshausen- und Righi-Leduc-Effekt. Liegt die Magnetisierung in der Probene-
bene parallel zu den angelegten Potenzialgradienten (Abb. 9.31c) erhalten wir den planaren
Hall-, Nernst-, Ettingshausen- und Righi-Leduc-Effekt. Die Modulation der Größe dieser
Effekte beim Drehen der Magnetisierungsrichtung in der Probenebene wird als Anisotropie
des jeweiligen Effekts bezeichnet. Würden wir in Abb. 9.31b bzw. Abb. 9.31c ein äußeres Feld
anlegen, so würden wir eine Überlagerung der normalen thermomagnetischen Effekte mit
den anomalen bzw. planaren Effekten erhalten. Wir werden im Folgenden nur den anoma-
len Hall- und Nernst-Effekt ausführlich diskutieren. Auf die Diskussion der planaren Effekte
werden wir ganz verzichten.
9.7 Vertiefungsthema: Relativistische und topologische Effekte 435

(a) (b) (c)

𝒛 𝒛 𝒛

𝑴 = 𝟎, 𝑩𝐞𝐱𝐭 ≠ 𝟎 𝑴 ≠ 𝟎, 𝑴 ∥ 𝒛, 𝑩𝐞𝐱𝐭 = 𝟎 𝑴 ≠ 𝟎, 𝑴 ⊥ 𝒛, 𝑩𝐞𝐱𝐭 = 𝟎


normale Effekte anomale Effekte planare Effekte
Ladung Wärme . Ladung Wärme . Ladung Wärme .
𝛁𝝓𝐪 Hall Ettingshausen 𝛁𝝓𝐪 Hall Ettingshausen 𝛁𝝓𝐪 Hall Ettingshausen
𝛁𝑻 Nernst Righi-Leduc 𝛁𝑻 Nernst Righi-Leduc 𝛁𝑻 Nernst Righi-Leduc

Abb. 9.31: Transversale Transportphänomene durch in Längsrichtung (x-Richtung) angelegte Gradi-


enten des elektrochemischen Potenzials oder der Temperatur. (a) Normale thermomagnetische Effekte
in einem nichtmagnetischen Metall bei Bext ≠ 0. (b) Anomale thermomagnetische Effekte in einem fer-
romagnetischen Metall mit M ≠ 0 bei Bext = 0. Die Magnetisierung steht senkrecht auf der Probenebe-
ne. (c) Planare thermomagnetische Effekte in einem ferromagnetischen Metall mit M ≠ 0 bei Bext = 0.
Die Magnetisierung liegt in der Probenebene.

9.7.1 Anomaler Hall- Effekt 78

Bereits kurz nach der Entdeckung des normalen Hall-Effekts (NHE) 58 wurde in ferroma-
gnetischen Metallen ein zusätzlicher, anomaler Hall-Effekt (AHE)59 entdeckt, so dass wir
den gesamten spezifischen Hall-Widerstand durch

ρ x y (T, B) = ρ NHE + ρ AHE = R H (T)B ext + R AHE (T)µ 0 M(T, B ext ) (9.7.1)

ausdrücken können. Hierbei sind R H und R AHE der normale und anomale Hall-Koeffizient.
Letzterer verbindet den spezifischen anomalen Hall-Widerstand ρ AHE mit der Magnetisie-
rung M des Ferromagneten. Als Ursache des AHE wurde bereits 1954 von Karplus und
Luttinger60 die Spin-Aufspaltung der Bänder unter dem Einfluss der Spin-Bahn-Kopplung
angegeben. Dieser intrinsische, von der Störstellenkonzentration im Material unabhängige
Mechanismus führt zu einem AHE, der, wie wir unten zeigen werden, als Folge einer Größe
F(k) verstanden werden kann, die einer effektiven magnetischen Flussdichte im reziproken
Raum entspricht. Diese erzeugt eine zusätzliche transversale Geschwindigkeitskomponente
(q⇑ħ)E × F und somit eine dissipationslose Hall-Stromdichte J AHE , die für den beobachte-
ten AHE verantwortlich ist.61 Es wurden aber auch so genannte extrinsische Mechanismen
vorgeschlagen, die auf spinabhängigen Streuprozessen basieren und damit von der Störstel-

58
E. H. Hall, On a new Action of the Magnet on Electric Currents, Am. J. Math. 2, 287 (1879).
59
E. H. Hall, On the “Rotational Coefficient” in nickel and cobalt, Philos. Mag. 12, 157 (1881).
60
R. Karplus, J. M. Luttinger, Hall Effect in Ferromagnetics, Phys. Rev. 95, 1154-1160 (1954); Phys.
Rev. 112, 739 1958).
61
N. Nagaosa, J. Sinova, S. Onoda, A. H. MacDonald, N. P. Ong, Anomalous Hall Effect, Rev. Mod.
Phys. 82, 1539 (2010).
436 9 Dynamik von Kristallelektronen

(a) (b) (c)


𝑬 𝑬 𝑬

Abb. 9.32: Illustration der Mechanismen, die zum anomalen Hall-Effekt führen. (a) Intrinsischer
Mechanismus: positive Ladungsträger mit Spin-Richtung in die (rot) und aus der Papierebene her-
aus (blau) erfahren eine anomale Geschwindigkeitskomponente nach oben und unten. (b) Skew-
Scattering-Mechanismus: Ladungsträger mit entgegengesetzter Spin-Richtung erfahren eine präferen-
zielle Streuung an neutralen Störstellen nach oben und unten. (c) Side-Jump-Mechanismus: Ladungs-
träger mit entgegengesetzter Spin-Richtung erfahren beim Passieren einer neutralen Störstelle einen
seitlichen Versatz nach oben und unten.

lenkonzentration des Materials abhängen.62 , 63 Wir wollen im Folgenden die einzelnen Me-
chanismen, die in Abb. 9.32 skizziert sind, kurz diskutieren.

9.7.1.1 Intrinsischer Beitrag und Berry-Phase:


Heute können wir die intrinsische Ursache des AHE in elementarer Weise erklären, wenn
wir das Konzept der Berry-Phase verwenden, das wir ausführlich in Abschnitt 14.3.1 erläu- 78

tern. Wir betrachten ein System, das wir mit dem Parametervektor R beschreiben und sich
adiabatisch entlang einem Pfad Γ in seinem Parameterraum bewegt. Befindet sich das Sys-
tem zur Zeit t 0 in einem bestimmten Eigenzustand ⋃︀ψ(t 0 )̃︀ = ⋃︀m(︀R(t 0 )⌋︀̃︀ mit Eigenenergie
ε m (t 0 ) (m ist der Bandindex) und ändern wir die Systemparameter R adiabatisch, so bleibt
das System in dem sich zeitlich ändernden Eigenzustand ⋃︀m(t)̃︀. Die Phasendifferenz des
Systems im Anfangs- und Endpunkt des Pfades setzt sich aus einer dynamischen Phase [sie-
he (14.3.2)] und einer geometrischen Phase [vergleiche (14.3.3)]

γ m (Γ) = ∫ Am (R) ⋅ dR (9.7.2)


Γ

zusammen, die wir als Linienintegral über das Berry-Potenzial


d
Am (R) = ı∐︀m(︀R(t)⌋︀⋃︀ ⋃︀m(︀R(t)⌋︀̃︀
dt
ausdrücken können. Das Linienintegral (9.7.2) können wir mit dem Stokesschen Theorem
in ein Oberflächenintegral über den Berry-Fluss Fm (R) = ∇R × Am (R) überführen. Wir
können uns die Berry-Phase als eine Aharonov-Bohm-Phase (vergleiche Abschnitt 9.8
und 14.3.1) vorstellen, die durch eine effektive magnetische Flussdichte Fm (R) im Parame-
terraum verursacht wird.
Wir müssen jetzt überlegen, wann eine emergente Berry-Flussdichte ∐︀Fm ̃︀ auftritt. Prinzi-
piell gibt es verschiedene Situationen, für die wir eine endliche Flussdichte in der Einheits-
zelle im Impuls- oder Ortsraum erhalten können. Wir wollen hier nur auf zwei Möglichkei-
ten eingehen: (i) die relativistische Spin-Bahn-Wechselwirkung und (ii) das Vorliegen einer
nicht-koplanaren Magnetisierungstextur.
62
J. Smit, The spontaneous Hall effect in ferromagnetics II, Physica 24, 39 (1958).
63
L. Berger, Side-Jump Mechanism for the Hall Effect of Ferromagnets, Phys. Rev. B 2, 4559 (1970).
9.7 Vertiefungsthema: Relativistische und topologische Effekte 437

Berry-Fluss durch Spin-Bahn-Wechselwirkung: Wir betrachten zuerst die Bewegung


im k-Raum und zeigen, dass durch die Spin-Bahn-Wechselwirkung eine emergente Berry-
Flussdichte Fm (k) = ∇k × Am (k) verursacht werden kann. Wir gehen von Bloch-Wellen
Ψm,k (r) = e ık⋅r u m,k (r) mit einer gitterperiodischen Funktion u m,k (r) aus (m ist der Band-
index). In Impulsraumdarstellung (wo R = ı∇k )64 lautet der Hamilton-Operator

ℋ(k) = ℋ0 (k) + V (R) . (9.7.3)

Der Hamilton-Operator, bzw. seine Eigenwerte ε m (k) und Eigenzustände ⋃︀u m (k)̃︀, beschrei-
ben die Bandstruktur. Das Potenzial V (R) resultiert in einer Kraft
dk ∂V
ħ = −ı(︀k, ℋ⌋︀ = − , (9.7.4)
dt ∂R
die zu einer Drift von k entlang einem Pfad Γ im k-Raum resultiert. Wir nehmen an, dass V
so klein ist, dass eine adiabatische Bewegung möglich ist. Wie wir in Abschnitt 14.3.1 zeigen
werden, resultiert diese Bewegung in einer Berry-Phase

γ m (Γ) = ∫ Am (k) ⋅ dk . (9.7.5)


Γ

Der Berry-Fluss Fm (k) = ∇ × Am (k) verändert die Antwort eines Ladungsträgers auf das
Störpotenzial. Um uns diesen Sachverhalt klar zu machen, führen wir eine Eichtransfor-
mation durch, welche die Berry-Phase beseitigt. Dies erreichen wir dadurch, dass wir das
Berry-Potenzial Am zum Ortsoperator ı∇k addieren und damit zu einem verallgemeinerten
Ortsoperator (analog zum verallgemeinerten Impulsoperator, siehe Anhang D)

Xm = ı∇k + Am (k) (9.7.6)

im k-Raum gelangen. Wir können leicht zeigen, dass der Ortsoperator jetzt nicht mehr mit
sich selbst kommutiert. Es gilt vielmehr

)︀X m,i , X m, j ⌈︀ = ıє i jk Fm,k (9.7.7)

mit dem Levi-Civita-Symbol є i jk . Der transformierte Hamilton-Operator lautet


̃ = ℋ0 + V (ı∇k + Am ) .
ℋ (9.7.8)

Benutzen wir diesen Hamilton-Operator, so erhalten wir unter Benutzung von (9.7.7)
dk ∂V
ħ = −ı(︀k, ℋ⌋︀ = −
dt ∂Rm
(9.7.9)
∂V
ħvm = −ı(︀Xm , ℋ⌋︀ = ∇k ε m (k) + ( ) × Fm (k) .
∂Xm
Wir sehen, dass die Kraft ħk̇ gleich bleibt, die Gruppengeschwindigkeit aber einen zusätz-
lichen Beitrag durch den Berry-Fluss erhält. Dieser Beitrag wird als anomale Luttinger-
Geschwindigkeit bezeichnet. Nehmen wir an, dass das Potenzial durch ein elektrisches Feld
64
Für die Impulsraumdarstellung verwenden wir den Ortsoperator im k-Raum: ıħ∇p = ı∇k .
438 9 Dynamik von Kristallelektronen

E erzeugt wird und wir zusätzlich ein externes Magnetfeld B angelegt haben, erhalten wir
mit V = qE ⋅ Xm folgende im Vergleich zu (9.1.7) modifizierten Bewegungsgleichungen für
Ladungsträger mit der Ladung q:65

ħvm (k) = ∇k ε m (k) − qE × Fm (k)


)︁⌊︂⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ]︂⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ )︂
ħv AHE
(9.7.10)
dk
ħ = q (︀E + vm (k) × B⌋︀ .
dt

Wir können nun die Boltzmann-Transportgleichung verwenden, um den Effekt der anoma-
len Geschwindigkeitskomponente für den Fall B = 0 zu untersuchen. Die elektrische Strom-
dichte ist gegeben durch [vergleiche (9.5.2)]
1
Jq = ∫ ev(k) (︀ f 0 (k) + g(k)⌋︀ d k ,
3
(9.7.11)
4π 3
wobei f 0 (k) die Gleichgewichtsverteilungsfunktion und g(k) = −qτv(k) ⋅ E(∂ f 0 ⇑∂ε) die
Korrektur durch das elektrische Feld ist (τ ist die Impulsrelaxationszeit). Wie wir in Ab-
schnitt 9.5 diskutiert haben, verschwindet üblicherweise aus Symmetriegründen der Term
mit f 0 und es bleibt lediglich der Beitrag von g übrig, der die bekannte longitudinale Leit-
fähigkeit σx x und eine verschwindende Hall-Leitfähigkeit σx y = 0 ergibt. Dies ist aber nicht
mehr richtig, wenn wir eine anomale Geschwindigkeitskomponente vAHE nach (9.7.10) vor-
liegen haben. Der f 0 -Term liefert dann den transversalen elektrischen Stromdichtebeitrag

q2
Jq,AHE = − E × n∐︀Fm ̃︀ = nq∐︀vAHE ̃︀ = σAHE E (9.7.12)
ħ
mit
q q2
∐︀vAHE ̃︀ = − E × ∐︀Fm ̃︀ , σAHE = n ∐︀Fm ̃︀ . (9.7.13)
ħ ħ
Hierbei ist
1 1
∐︀Fm ̃︀ = ∫ Fm (k) f 0 (k) d k ,
3
(9.7.14)
n 4π 3
BZ

der mit der Teilchendichte n gewichtete Mittelwert des Berry-Flusses über die Brillouin-
Zone. Bemerkenswerterweise ist JAHE bzw. σAHE unabhängig von der Streuzeit τ und hängt
somit über den Berry-Fluss nur von der Topologie der elektronischen Bandstruktur ab. Man
bezeichnet deshalb JAHE als dissipationslos (unabhängig von der Streurate).
Welche Rolle spielt nun die Spin-Bahn-Wechselwirkung. Bei gegebener Inversions-
und Zeitumkehrsymmetrie gilt für einen skalaren Bloch-Zustand Fm (−k) = Fm (k) und
Fm (−k) = −Fm (k), woraus Fm (k) = 0 für alle k folgt. Wir erhalten aber einen endlichen
65
Elektronen besitzen die Ladung q = −e.
9.7 Vertiefungsthema: Relativistische und topologische Effekte 439

Wert für eine gebrochene Zeitumkehrsymmetrie. Dieser Sachverhalt liegt in Ferroma-


gneten vor, in denen die Zeitumkehrsymmetrie für die Spins gebrochen ist. Über die
Spin-Bahn-Kopplung wird diese Symmetriebrechung in den Ladungskanal übertragen. Die
Spin-Bahn-Wechselwirkung bewirkt also, dass die orbitale Bewegung der Ladungsträger
an den Spin-Freiheitsgrad koppelt und dadurch eine emergente magnetische Flussdichte
innerhalb der Brillouin-Zone entsteht.
Nach (12.5.19) ist die Spin-Bahn-Wechselwirkung gegeben durch
e
ℋso = (s × ∇ϕ el ) ⋅ p = Aso ⋅ p . (9.7.15)
2m 2e c 2
Hierbei ist ϕ el das elektrostatische Potenzial und s und p sind der Spin und Impuls der La-
dungsträger. Wir sehen, dass Aso als emergentes Berry-Potenzial betrachtet werden kann.
Sind die Spins wie in einem Ferromagneten geordnet, spielt Aso die gleiche Rolle wie das
Vektorpotenzial eines äußeren Magnetfeldes. Die durch die Spin-Bahn-Wechselwirkung ver-
ursachte emergente Flussdichte ist aber üblicherweise viel größer als die Flussdichten, die
mit Labormagneten erzeugt werden können. Die mit dem Fluss verbundene Energieskala
ħω c ist durch die Stärke der Spin-Bahn-Wechselwirkung gegeben und eine typische Spin-
Bahn-Wechselwirkungsenergie von 10 meV entspricht einer emergenten Flussdichte von et-
wa 100 T. Wichtig ist, dass der intrinsische AHE durch ein Berry-Potenzial ausgedrückt
werden kann und deshalb eine intrinsiche quantenmechanische Eigenschaft eines perfek-
ten Kristalls ist. Seine Größe hängt von der Stärke der Spin-Bahn-Kopplung und der To-
pologie des k-Raums ab. Nozière und Lewiner haben z.B. für ferromagnetische Halblei-
ter J AHE = 2nq 2 λE × P berechnet, wobei λ die Spin-Bahn-Kopplungskonstante (siehe Ab-
schnitt 12.5.4) und P die Spin-Polarisation der Ladungsträger ist.66 Da M ∝ nP, erhalten
wir eine anomale Hall-Leitfähigkeit, die linear in der Ladungsträgerdichte n und der Ma-
gnetisierung M, aber unabhängig von der Streuzeit τ ist.
Wir weisen darauf hin, dass im Experiment der spezifische Hall-Widerstand ρ AHE =
σAHE ρ 2x x mit dem spezifischen Längswiderstand ρ x x ∝ (nτ)−1 gemessen wird. Wir erwar-
ten deshalb, dass
ρ AHE
= const ⋅ ρ 2x x . (9.7.16)
n
Können wir in einem Experiment die Ladungsträgerdichte und die Streuzeit variieren, so
sollten wir ein Skalierungsverhalten ρ AHE ⇑n ∝ ρ 2x x erhalten. Dies wird in der Tat beob-
achtet.67 Es sei schließlich noch darauf hingewiesen, dass der mit der transversalen Bewe-
gung der Ladungsträger verbundene Wärmestrom zu einem anomalen Ettingshausen-Effekt
führt.

Berry-Fluss durch eine topologische Magnetisierungstextur: Wir haben gerade disku-


tiert, wie aufgrund der Spin-Bahn-Kopplung bei der Bewegung von Ladungsträgern im k-
Raum eine Berry-Phase aufgesammelt werden kann, die in einem emergenten magnetischen
66
P. Nozière, M. Lewiner, A Simple Theory of the Anomalous Hall Effect in Semiconductors, J. Phys.
(France) 34, 901-915 (1973).
67
W.-L. Lee, S. Watauchi, V. L. Miller, R. J. Cava, N. P. Ong, Dissipationless Anomalous Hall Current
in the Ferromagnetic Spinel CuCr2 Se4−x Brx , Science 303, 1647-1649 (2004).
440 9 Dynamik von Kristallelektronen

Fluss und in Folge einem anomalen Hall- (AHE) und Nernst-Effekt (ANE) resultiert. Wir
wollen jetzt zeigen, dass auch durch die Bewegung von Ladungsträgern im Ortsraum eine
Berry-Phase resultiert, welche die Ladungsträger aufsammeln, wenn ihr Spin adiabatisch
einer sich räumlich ändernden Magnetisierungstextur folgt. Im Gegensatz zum bereits dis-
kutierten Fall spielt die Spin-Bahn-Kopplung keine Rolle. Da die Berry-Phase nur von der
räumlichen Topologie einer nicht-koplanaren Magnetisierungstextur abhängt, werden die
damit verbundenen transversalen Effekte auch als topologischer Hall-Effekt (THE) und to-
pologischer Nernst-Effekt (TNE) bezeichnet, je nachdem ob die longitudinale Ladungsträ-
gerbewegung durch ein elektrisches Feld oder einen Temperaturgradienten bewirkt wird.68
Wenn sich ein Ladungsträger durch eine räumlich variierende Magnetisierungstextur be-
wegt und die Wechselwirkung zwischen dem Spin des Ladungsträgers und der lokalen Ma-
gnetisierung stark genug ist, wird die Spin-Richtung adiabatisch der lokalen Magnetisie-
rungsrichtung folgen. Im Ruhesystem des Ladungsträgers entspricht dann die räumliche
Magnetisierungstextur einem sich zeitlich verändernden Magnetfeld. Wir werden in Ab-
schnitt 14.3.1 ausführlich zeigen, dass die Berry-Phase, die von einem Ladungsträger in ei-
nem Magnetfeld B(t) aufgesammelt wird, proportional zum halben Raumwinkel ist, der
vom Feldvektor B(t) überstrichen wird. Der Effekt der Berry-Phase kann einem durch die-
sen Raumwinkel tretenden emergenten magnetischen Fluss zugeordnet werden. Es ist evi-
dent, dass dieser Berry-Fluss zu einer Lorentz-Kraft und damit zu transversalen Transport-
Phänomenen führt, die nur von der aufgesammelten Berry-Phase und damit der Topologie
der Magnetisierungstextur abhängen.
Um uns den Zusammenhang zwischen Berry-Phase und einem fiktiven magnetischen Fluss
klar zu machen, betrachten wir ein 2D-Elektronensystem (siehe Abb. 9.33), das wir mit dem
Tight-Binding-Hamilton-Operator

ℋ = −t ∑ ∑⋃︀iγ̃︀∐︀ jγ⋃︀ − J ex M ∑ ∑⋃︀iγ̃︀σ γ δ ⋅ m(r i )∐︀iδ⋃︀ (9.7.17)


∐︀i j̃︀ γ i γ,δ

beschreiben. Hierbei bezeichnen i, j die Gitterpunkte und γ, δ sind die Spin-Indizes. Der
erste Term repräsentiert die kinetische Energie, deren Größe durch die Hüpfamplitude t zwi-
schen benachbarten Gitterplätzen beschrieben wird, und der zweite die lokale Austausch-
kopplung mit Stärke J ex . Hierbei ist M(r i ) = Mm(r i ) die lokale Magnetisierung mit Am-
plitude M und Richtung m(r i ) und σ der Vektor der Paulischen Spin-Matrizen. Wir kön-

(a) 𝛀 (b)
Abb. 9.33: Abbildung der Bewegung eines
Ladungsträgers in einer Magnetisierungs- 𝒎 𝒓𝒊 𝒎 𝒓𝒋 𝒕𝐞𝐟𝐟
𝒊𝒋
textur m(r) (a) auf diejenige eines spinlo- 𝒊 𝒋 𝒊 𝒋
sen Ladungsträgers um einen magnetischen
Fluss Φ (b). Die konstante Hüpfampli- 𝒕 𝒂 𝚽 𝒂
tude t in (a) wird zu einer durch unter-
schiedliche Farben angedeuteten effektiven
Hüpfamplitude t eff
i j in (b). Die Pfeile in (b)
𝒂 𝒂
bezeichnen die Änderung der Hüpfphase.

68
P. Bruno, V.K. Dugaev, M. Taillefumier, Topological Hall Effect and Berry Phase in Magnetic Nano-
structures, Phys. Rev. Lett. 93, 096806 (2004).
9.7 Vertiefungsthema: Relativistische und topologische Effekte 441

nen nun einen neuen Satz von Basiszuständen ⋃︀i, ±̃︀ am Gitterplatz i definieren, deren Spin-
Richtung parallel (+) oder antiparallel (−) zur lokalen Magnetisierung ist [vergleiche hierzu
(14.3.15)]:

sin θ2i e−ı φ i cos θ2i e−ı φ i


⋃︀i, −̃︀ = ( ) ⋃︀i, +̃︀ = ( ). (9.7.18)
− cos θ2i sin θ2i

Hierbei sind θ i und φ i die sphärischen Winkel der lokalen Magnetisierungsrichtung m(r i ).
Mit Hilfe der Projektionsoperatoren

𝒫± = ∑⋃︀i, ±̃︀∐︀i, ±⋃︀ (9.7.19)


i

können wir nun in die Unterräume projizieren, die von den beiden Spin-Richtungen (±)
aufgespannt werden. Wenn allerdings die Austauschenergie J ex M groß genug ist, wird der
(+)-Zustand stark bevorzugt und Spin-Flip-Prozesse werden vernachlässigbar. In diesem
adiabatischen Bereich können wir uns auf den (+)-Unterraum beschränken und können
den effektiven Hamiltonian

ℋeff = 𝒫+ ℋ𝒫+ = − ∑ t eff


i j ⋃︀i, ±̃︀∐︀i, ±⋃︀ − J ex M (9.7.20)
∐︀i j̃︀

mit der effektiven Hüpfamplitude

i j = t cos
θij
t eff 2
e ıγ i j (9.7.21)

verwenden. Da wir den konstanten Term J ex M in (9.7.20) weglassen können, haben wir das
ursprüngliche Problem auf das eines vollkommen freien Elektronengases mit renomalisier-
ten Hüpfamplituden abgebildet, die vom Winkel θ i j zwischen den Magnetisierungsrichtun-
gen am Gitterplatz i und j abhängen. Am wichtigsten ist allerdings, dass ein Phasenfaktor
e ıγ i j aufgesammelt wird, der gerade den Effekt der Berry-Phase repräsentiert.
Wir betrachten nun in Abb. 9.33 einen geschlossenen Pfad um eine Plakette des zweidimen-
sionalen Gitters. Da der Spin adiabatisch der Magnetisierungsrichtung m(r i ) folgt, sam-
melt der Ladungsträger bei einem Rundlauf eine Berry-Phase γ auf, die gerade dem halben
Raumwinkel Ω⇑2 entspricht, der von m(r) überstrichen wird. Würde ein magnetischer Fluss
Φ = Ba 2 dieselbe Plakette mit Fläche a 2 durchdringen, so würde der Ladungsträger dadurch
eine Phasenänderung 2πΦ⇑Φ ̃ 0 erfahren (vergleiche Abschnitt 14.3.1). Hierbei ist Φ 0 = h⇑2e
̃
das “supraleitende” und Φ 0 = 2Φ 0 = h⇑e das “normale” Fluss-Quant. Wir sehen also, dass
die aufgesammelte Berry-Phase γ⇑2π äquivalent zu einem emergenten magnetischen Fluss
Φ⇑Φ̃ 0 = Ω⇑4π ist, der die Plakette durchdringt. Wir können die Berry-Phase auch durch ein
Berry-Potenzial A(r) [vergleiche hierzu (14.3.23)] ausdrücken:
j j
q 2π
γ i j = ∫ A ⋅ dℓ = A ⋅ dℓ
̃0 ∫
(9.7.22)
ħ Φ
i i

q 2π Φ
γ(Γ) = ∮ A ⋅ dℓ = ̃ ∫ B ⋅ dF = 2π ̃ . (9.7.23)
ħ Φ0 F Φ0
Γ
442 9 Dynamik von Kristallelektronen

(a) (b)

Abb. 9.34: Magnetisierungstexturen mit


unterschiedlicher Topologie. Die magne-
tische Einheitszelle ist rot, die Gitterzelle
blau schattiert. Die Pfeile geben die Projek-
tion der Magnetisierungsrichtung auf die
Papierebene an. Die topologische Ladung
ist Q = 1 in (a) und Q = 0 in (b). Die unten
gezeigten Texturen wurden aus den oberen
durch eine Vergrößerung der magnetischen
Einheitszelle um den Faktor vier erhalten.

Insgesamt sehen wir, dass wir den Hamilton-Operator eines Ladungsträgers, der sich in einer
Magnetisierungstextur bewegt, auf denjenigen eines spinlosen Teilchens abbilden können,
das sich in einer inhomogenen Flussverteilung bewegt. Da der emergente magnetische Fluss
durch den Raumwinkel gegeben ist, der von der Magnetisierungsrichtung überstrichen wird,
ist sofort klar, dass wir eine endliche Berry-Phase und damit einen THE nur für eine nicht-
koplanare Magnetisierungstextur erhalten.
Um uns den entscheidenden Einfluss der Magnetisierungstextur klar zu machen, betrach-
ten wir die in Abb. 9.34 gezeigten, auf den ersten Blick sehr ähnlich aussehenden Texturen.
Wir nehmen an, dass die lokale Magnetisierung überall den gleichen Betrag M besitzt, aber
innerhalb der magnetischen Einheitszelle (rot schattiert) seine Richtung ändert, wie es in
Abb. 9.34 anhand der Pfeile dargestellt ist. In Abb. 9.34a beträgt der Raumwinkel, der von
m(r) in jeder der vier Gitterzellen (blau schattiert) überstrichen wird, Ω = +π, während er in
Abb. 9.34b Ω = +π in zwei der vier Gitterzellen und Ω = −π in den beiden anderen beträgt.
Übersetzen wir das in einen emergenten magnetischen Fluss, so beträgt dieser Φ⇑Φ ̃ 0 = ±1⇑4
in jeder einzelnen Gitterzelle. Für Abb. 9.34a erhalten wir deshalb einen Gesamtfluss Φ = Φ ̃0
für die vier Gitterzellen der magnetischen Einheitszelle, während Φ = 0 in Abb. 9.34b. Wir
sagen, dass die Magnetisierungstextur in Abb. 9.34a eine nichtverschwindende, diejenige in
Abb. 9.34b dagegen eine verschwindende Chiralität bzw. topologische Ladung [vergleiche
(9.7.24)] besitzt. Für Abb. 9.34a erwarten wir einen THE, für Abb. 9.34b dagegen nicht. Dies
macht uns nochmals die entscheidende Bedeutung der Topologie der Magnetisierungstextur
klar. Die in Abb. 9.34 unten gezeigten Texturen erhalten wir aus den oberen durch Vergröße-
rung der magnetischen Einheitszelle um den Faktor vier. In jeder Gitterzelle (blau) ist die Va-
riation der Magnetisierungsrichtung jetzt kleiner und damit der überstrichene Raumwinkel
sowie der assoziierte emergente Fluss. Der Gesamtfluss durch die magnetische Einheitszelle
(rot) bleibt allerdings gleich.
Um die in Abb. 9.34a und b gezeigten unterschiedlichen Topologien zu klassifizieren, können
wir die so genannte topologische Ladung

1 ∂m(r) ∂m(r)
Q = ∫ q(r)d2 r = ∫ m(r) ⋅ ⌊︀ − }︀ d2 r (9.7.24)
4π ∂x ∂y
9.7 Vertiefungsthema: Relativistische und topologische Effekte 443

einführen, die wir durch Integration der topologischen Ladungsdichte q(r) über die ma-
gnetische Einheitszelle erhalten. Die topologische Ladung ist eine ganze Zahl. Wir nennen
Magnetisierungstexturen mit Q = 0 (siehe Abb. 9.34b) trivial und solche mit Q ≠ 0 (sie-
he Abb. 9.34a) nicht-trivial. Nur nicht-triviale Magnetisierungstexturen verursachen eine
emergente magnetische Flussdichte, die zum THE führt.

9.7.1.2 Extrinischer Beitrag durch Skew Scattering


Für die oben diskutierte anomale Geschwindigkeitskomponente vAHE werden keine Streu-
prozesse benötigt. Der damit verbundene AHE wird deshalb als intrinsicher AHE bezeich-
net. Allerdings können auch Streuprozesse, die bei einer endlichen Spin-Bahn-Kopplung
in einer asymmetrischen Streuung resultieren, zu einem AHE führen, der dann als ex-
trinsischer AHE bezeichnet wird. Wir wollen zuerst den so genannten Skew-Scattering-
Mechanismus diskutieren.
Eine endliche Spin-Bahn-Kopplung resultiert in einer Wechselwirkungsenergie E so = α(k ×
σ) ⋅ ∇ϕ el zwischen dem Spin s = ħ2 σ eines Elektrons und dem durch die Bahnbewegung ver-
ursachten Magnetfeld (vergleiche (12.5.19)). Hierbei ist α = qħ 2 ⇑2m 2e c 2 , k der Wellenvektor,
ϕ el das elektrostatische Potenzial eines Streuzentrums und

01 0 −ı 1 0
σ = {σx , σ y , σz } = {( ),( ),( )(︀ (9.7.25)
10 ı 0 0 −1

der Vektor der Paulischen Spin-Matrizen. Wir können diese Energie auch formal als
E so = pel ⋅ ∇ϕ el schreiben und so jedem sich bewegenden Elektron das elektrische Dipol-
moment pel = αk × σ zuordnen, wobei α die Stärke der Spin-Bahn-Kopplung beschreibt.
Nach Abb. 9.35 können wir uns dies anschaulich so vorstellen, dass durch die Bahnbewe-
gung des Elektrons ein Magnetfeld erzeugt wird, das mit dem Spin-Moment wechselwirkt
und zu einer Translation senkrecht zu k und s führt. Diese Translation führt zu einem
elektrischen Dipolmoment senkrecht zu k und s.
Berücksichtigen wir zusätzlich zu E so noch die potenzielle Energie E pot = qE ⋅ r durch die
Kraft auf die Ladung qe sowie die Wechselwirkungsenergie −pel ⋅ E des elektrischen Dipol-
moments mit dem homogenen elektrischen Feld E, so ergibt sich insgesamt der Hamilton-
Operator69

ħ2 k2
ℋ= + qE ⋅ r − pel ⋅ E + qϕ el + α(k × σ) ⋅ ∇ϕ el . (9.7.26)
2m

𝐩𝐞𝐥 Abb. 9.35: Zur Veranschaulichung der Ursache eines elektrischen


𝐬 Dipolmoments pel durch eine endliche Spin-Bahn-Kopplung. Die
Bahnbewegung des Elektrons erzeugt ein Magnetfeld, das mit dem
𝒒 𝒌 Spin-Moment wechselwirkt und zu einer vertikalen Translation
führt, die mit einem elektrischen Dipolmoment pel beschrieben wer-
den kann.
69
P. Nozières und C. Lewiner, A simple theory of the anomalous Hall effect in semiconductors, J. de
Phys. 34, 901–915 (1973).
444 9 Dynamik von Kristallelektronen

(a) 𝒌 × 𝒌′′ 𝒌′
(b) 𝒌 × 𝒌′′ 𝒌′
𝐬
+𝜃 +𝜃
𝒌 𝒌
−𝜃 𝐬 −𝜃
𝒌′′ 𝒌′′
𝒌 × 𝒌′ 𝒌 × 𝒌′

Abb. 9.36: Skew Scattering Mechanismus: (a) Elektronen mit Spin nach hinten werden bevorzugt nach
oben (+θ) und (b) Elektronen mit Spin nach vorne bevorzugt nach unten (−θ) gestreut. Bei gleicher
Dichte beider Spin-Sorten wäre die Gesamtstreurate beider Spin-Sorten symmetrisch und die anomale
Geschwindigkeitskomponente vAHE = 0. Die Streuebene wurde in der Papierebene angenommen, die
Spin-Richtung senkrecht dazu und es gilt k = k ′ = k ′′ (elastische Streuung).

Hierbei sind die beiden letzten Terme lokale Korrekturterme, die nur in der unmittelba-
73
ren Umgebung des Streuzentrums auftreten. Diese Terme führen mit einer gewissen Wahr-
scheinlichkeit zu einem Übergang der einlaufenden Welle mit Wellenzahl k und Spin s in
den gestreuten Zustand mit Wellenzahl k′ und Spin s′ . Für das Übergangsmatrixelement gilt

∐︀k′ , s′ ⋃︀qϕ el + α(k × σ) ⋅ ∇ϕ el ⋃︀k, s̃︀ = Vkk′ {δ s,s′ − ıα(k × k′ ) ⋅ ∐︀s′ ⋃︀σ⋃︀s̃︀} . (9.7.27)

Der erste Term in der geschweiften Klammer resultiert aus der Potenzialstreuung allein (ver-
gleiche Abschnitt 9.3.2), bei dem die Spin-Richtung erhalten bleibt, und der zweite Term
ist der Beitrag aufgrund der Spin-Bahn-Kopplung. Dieser Term hat unterschiedliches Vor-
zeichen, je nachdem ob k × k′ eine Komponente parallel oder antiparallel zu s besitzt. Wie
Abb. 9.36 zeigt, wird dadurch die Streuung nach oben und unten unterschiedlich groß, da
k × k′ abhängig von der Spin-Richtung parallel oder antiparallel zu s ist. Dieses asymmetri-
sche Verhalten nennt man Skew Scattering. Aufgrund der Asymmetrie erzeugt die Verun-
reinigungstreuung einen transversalen Strombeitrag. Da üblicherweise im Experiment kein
Querstrom fließen kann, baut sich eine anomale Hall-Spannung auf. Da die betrachteten
Streuereignisse gleichzeitig den longitudinalen und den transversalen Widerstand verursa-
chen, erwarten wir, dass der Hallwiderstand ρ AHE proportional zum spezifischen Längswi-
derstand ρ x x ist. Aus Abb. 9.36 wird außerdem sofort klar, dass eine Querspannung aufgrund
von Skew Scattering nur dann auftreten kann, wenn die Spins der Ladungsträger eine Vor-
zugsrichtung besitzen. Anderenfalls würden sich die Beiträge aufgrund des Skew Scatterings
beider Spin-Sorten gerade wegmitteln. Wir erwarten deshalb, dass der Hall-Widerstand auch
proportional zur Spin-Polarisation der Ladungsträger ist, die bei Bandferromagneten wie-
derum proportional zur Magnetisierung M ist. Wir erwarten deshalb insgesamt70

ρ AHE ∝ ρ x x M(B ext ) . (9.7.28)

Intrinsischer und extrinsischer, auf Skew Scattering basierender AHE skalieren also unter-
schiedlich mit dem Längswiderstand und können deshalb gut unterschieden werden.

70
J. Smit, The Spontaneous Hall Effect in Ferromagnetics I, Physica (Amsterdam) 21, 877 (1955).
9.7 Vertiefungsthema: Relativistische und topologische Effekte 445

9.7.1.3 Extrinischer Beitrag durch Side Jump


Eine weitere asymmetrische Streuung basiert auf dem Side-Jump-Mechanismus. Die Be-
zeichnung resultiert aus der Tatsache, dass dieser Streumechanismus zu einem seitlichen
Versatz der Ladungsträgerbahn führt.71 Diese Versetzung liegt typischerweise in der Grö-
ßenordnung von nur 10−14 bis 10−10 m.72 Der Side-Jump-Prozess kann anschaulich folgen-
dermaßen verstanden werden: Das einlaufende Elektron besitzt neben der kinetischen Ener-
gie ħ 2 k 2 ⇑2m die potentielle Energie E pot = −pel ⋅ E des elektrischen Dipols pel im elektri-
schen Feld E. Nach einem elastischen Stoß ist die kinetische Energie ħ 2 k ′2 ⇑2m unverändert.
Allerdings hat sich die Richtung des elektrischen Dipolmoments geändert, da dieses immer
senkrecht zu k bzw. k′ ist. Mit der Richtungsänderung von pel ist eine Änderung der potenti-
ellen Energie verbunden. Aus Gründen der Energieerhaltung muss deshalb das Elektron im
Potenzial des Streuzentrums zu einem größeren oder kleineren Stoßparameter verschoben
werden. Da zum einen die Häufigkeit der Streuereignisse proportional zum longitudinalen
Widerstand ρ x x ist und andererseits die Größe der seitlichen Versetzung vom anliegenden
elektrischen Feld abhängt, das bei gegebener Stromdichte ebenfalls proportional zu ρ x x ist,
erwarten wir insgesamt
ρ AHE ∝ ρ 2x x M(B ext ) . (9.7.29)
Der mit dem Side Jump zusammenhängende extrinsische AHE zeigt also das gleiche Ska-
lierungsverhalten wie der intrinsische AHE, so dass eine Trennung dieser beiden Beiträge
schwierig ist.

9.7.2 Anomaler Nernst-Effekt


Legen wir in Längsrichtung anstelle eines elektrischen Feldes (Gradienten des elektrochemi-
schen Potenzials) einen Temperaturgradienten an, so erhalten wir auch in diesem Fall eine
anomale Geschwindigkeitskomponente der Ladungsträger senkrecht zum Temperaturgra-
dienten und zur Magnetisierung. Die daraus resultierende Querspannung bezeichnen wir
als anomalen Nernst-Effekt (ANE). Die anomale Geschwindigkeitskomponente
ε − µ −∇T
vAHE = ( ) × ∐︀Fm ̃︀ (9.7.30)
ħ T
erhalten wir dadurch, dass wir in (9.7.10) die Kraft qE in einem elektrischen Feld durch die
Kraft (ε − µ)(−∇T⇑T) in einem Temperaturgradienten ersetzen. Analog zum AHE erhal-
ten wir neben dem intrinsischen ANE auch einen extrinsischen ANE aufgrund von Skew
Scattering und Side Jump.
Mit Jq,AHE = nqvAHE erhalten wir den anomalen elektrischen Stromdichtebeitrag
q 2 (ε − µ) −∇T
Jq,AHE = ( ) × n∐︀Fm ̃︀ . (9.7.31)
ħ q T
71
L. Berger, Influence of spin-orbit interaction on the transport processes in ferromagnetic nickel alloys,
in the presence of a degeneracy of the 3d band, Physica (Amsterdam) 30, 1141-1159 (1964).
72 2
Die Größe dieser seitlichen Versetzung δ y kann über die Beziehung ρ xy ⇑ρ xx = (ne 2 ⇑v F m) δ y aus
den gemessenen Werten für ρ xy und ρ xx abgeschätzt werden.
446 9 Dynamik von Kristallelektronen

Für den anomalen Beitrag n(ε − µ)vAHE zur Wärmestromdichte erhalten wir

(ε − µ)2 −∇T
Jh,AHE = ( ) × n∐︀Fm ̃︀ . (9.7.32)
ħ T
Dieser Beitrag resultiert in einem anomalen Righi-Leduc-Effekt (anomalen thermischen
Hall-Effekt).

9.7.3 Spin-Hall- und Spin-Nernst-Effekt


Der anomale Hall- und Nernst-Effekt verschwinden für B = 0 in paramagnetischen Syste-
men mit M = 0. Dies können wir leicht anhand von Abb. 9.32 verstehen. Da in einem para-
magnetischen System gleich viele Ladungsträger mit entgegengesetztem Spin (↑, ↓) vorliegen
und die durch die verschiedenen intrinsischen und extrinsischen Mechanismen erzeugte
anomale Geschwindigkeitskomponente für die beiden Spin-Richtungen in entgegengesetzte
Richtung zeigt, bewegen sich genauso viele ↑-Ladungsträger in die eine Richtung, wie sich
↓-Ladungsträger in die entgegengesetzte Richtung bewegen. Es findet also effektiv kein trans-
versaler Ladungstransport statt und der anomale Hall- und Nernst-Effekt verschwinden. Ob-
wohl kein Ladungstransport in transversaler Richtung stattfindet, liegt aber ein transversaler
Spin-Transport vor. Wie Abb. 9.37a zeigt, entsteht eine Akkumulation von Spins entgegenge-
setzter Richtung auf den gegenüberliegenden Seiten einer Probe, durch die in Längsrichtung
ein Ladungsstrom Jq geschickt wird, da sich ja Ladungsträger mit entgegengesetzter Spin-
Richtung in entgegengesetzte transversale Richtung bewegen. Mit der Richtung des longitu-
dinalen Ladungsstroms kann auch die Richtung des transversalen Spin-Stroms umgedreht
werden. Dies entspricht genau der in Abb. 9.30c gezeigten Situation für die Erzeugung rei-
ner Spin-Ströme. Wir können also mit einem in einem paramagnetischen Metall in longi-
tudinaler Richtung fließenden Ladungsstrom Jq einen reinen Spin-Strom Js in transversa-
ler Richtung erzeugen. Der zugehörige Effekt wird als Spin-Hall-Effekt (SHE) bezeichnet.73
Analog wird die Erzeugung eines transversalen Spin-Stroms Js durch einen longitudinalen

(a) (b)

Abb. 9.37: (a) Zum Spin-Hall- und Spin-Nernst-Effekt in paramagnetischen Metallen: Ein durch ein
elektrisches Feld bzw. einen Temperaturgradienten erzeugter longitudinaler Ladungs- bzw. Wärme-
strom resultiert in einem transversalen Spin-Strom. (b) Zum inversen Spin-Hall- und Spin-Nernst-
Effekt in paramagnetischen Metallen: Ein durch einen Gradienten des spinchemischen Potenzial er-
zeugter longitudinaler Spin-Strom resultiert in einem transversalen Ladungs- und Wärmestrom.
73
Wir verwenden hier die in der Literatur eingeführte Bezeichnung Spin-Hall-Effekt, obwohl diese
nach dem in Tabelle 9.2 gezeigten Klassifizierungsschema nicht logisch ist. Der Spin-Hall-Effekt

79
9.7 Vertiefungsthema: Relativistische und topologische Effekte 447

Wärmestrom Jh als Spin-Nernst-Effekt (SNE) bezeichnet. Es ist evident, dass umgekehrt ein
longitudinaler Spin-Strom zu einem transversalen Ladungs- und Wärmestrom führt (siehe
Abb. 9.37b). Die entsprechenden Effekte werden als inverser Spin-Hall-Effekt (ISHE) und
inverser Spin-Nernst-Effekt (ISNE) bezeichnet. Da mit dem ISHE Spin-Ströme in elektri-
sche Ströme umgewandelt werden können, wird dieser Effekt heute häufig zum Messen von
Spin-Strömen verwendet.

Spin-Hall-Effekt: Der SHE wurde bereits 1971 von Dyakonov und Perel vorgeschlagen.74
Die physikalischen Ursachen des SHE und SNE sind identisch zu den bereits oben disku-
tierten Ursachen für den AHE und ANE, sie können also intrinsischer oder extrinsischer
Natur sein. Historisch wurde der SHE zuerst durch eine asymmetrische Streuung von La-
dungsträgern mit entgegengesetzter Spin-Richtung an Verunreinigungen erklärt. Wir be-
zeichnen diesen Effekt heute als extrinsischen SHE.75 Im Jahr 2003 wurde dann allerdings
gezeigt, dass die Spin-Bahn-Kopplung einen transversalen Spin-Strom auch ohne Verun-
reinigungsstreuung erzeugen kann.76 , 77 Diesen Effekt bezeichnen wir als intrinsischen SHE.
Erste experimentelle Belege für den SHE wurden bereits 1984 gefunden.78 Die mit dem SHE
verbundene Spin-Akkumulation wurde aber erstmals 2004 in GaAs und InGaAs-Schichten
direkt nachgewiesen.79 Der Nachweis des SNE gelang erstmals 2017.80
Um einen Zusammenhang zwischen der longitudinalen Ladungsstromdichte und der trans-
versalen Spin-Stromdichte herzuleiten, nutzen wir wieder aus, dass der Spin der Ladungs-
träger bezüglich einer Quantisierungsachse (z.B. die z-Achse) nur zwei Werte s =↑, ↓ anneh-
men kann und die beiden Spin-Sorten parallele Transportkanäle bilden. Wir können dann
(9.6.11) umschreiben in81
ħ ↑ ↓
Js = θ SHE (J + J ) = σSHE E . (9.7.33)
2q q q
sollte danach ein Quergradient im Spin-Potenzial sein, der durch einen in Längsrichtungs fließen-
den Spin-Strom – und nicht durch einen Ladungsstrom – verursacht wird.
74
M. I. Dyakonov, V. I. Perel, Possibility of Orientating Electron Spins with Current, JETP Lett. 13, 467
(1971); Phys. Lett. A 35, 459 (1971).
75
J. E. Hirsch, Spin Hall Effect, Phys. Rev. Lett. 83, 1834 (1999).
76
S. Murakami, N. Nagaosa, S. C. Zhang, Dissipationless Quantum Spin Current at Room Temperature,
Science 301, 1348-1351 (2003).
77
J. Sinova, D. Culcer, Q. Niu, N. A. Sinitsyn, T. Jungwirth, A. H. MacDonald, Universal Intrinsic Spin
Hall Effect, Phys. Rev. Lett. 92, 126603 (2004).
78
A.A. Bakun, B.P. Zakharchenya, A.A. Rogachev, M.N. Tkachuk, V.G. Fleisher, Detection of a surface
photocurrent due to electron optical orientation in a semiconductor, Sov. Phys. JETP Lett. 40, 1293
(1984).
79
Y. K. Kato, R. C. Myers, A. C. Gossard, D. D. Awschalom, Observation of the Spin Hall Effect in Se-
miconductors, Science 306, 1910 (2004).
80
S. Meyer, Yan-Ting Chen, S. Wimmer, M. Althammer, S. Geprägs, H. Huebl, D. Ködderitzsch,
H. Ebert, G.E.W. Bauer, R. Gross, S.T.B. Goennenwein, Observation of the Spin Nernst Effect, Nature
Materials 16, 977–981 (2017).
81
Allgemein gilt für die Spin-Stromdichte in Richtung j mit Polarisation in Richtung i: Js,i j =
σSHE є i jk E k . Hierbei ist є i jk das Levi-Civita-Symbol. Da є i jk = 0, wenn zwei Indizes gleich sind,
erhalten wir eine endliche Spin-Stromdichte nur in die Richtung j, die senkrecht auf der Spin-
Polarisation und dem elektrischen Feld steht.
448 9 Dynamik von Kristallelektronen

Wichtig ist, dass im Gegensatz zu (9.6.11) in der Klammer auf der rechten Seite ein Pluszei-
chen auftritt. Dies liegt daran, dass J↑q und J↓q parallel sind. Die transversale Spin-Stromdichte
ergibt sich daraus, dass die beiden Spin-Sorten in entgegengesetzte transversale Richtung
abgelenkt werden (vergleiche Abb. 9.37a). Der Winkel θ SHE ist der Spin-Hall-Winkel. Er ist
ein Maß dafür, wie effektiv ein longitudinaler Ladungsstrom in einen transversalen Spin-
Strom umgewandelt werden kann. Da die zugrundeliegenden physikalischen Mechanismen
auf der Spin-Bahn-Wechselwirkung beruhen und diese proportional zu Z 4 anwächst, eignen
sich nichtmagnetische Metalle mit großer Kernladungszahl Z wie z.B. Pt (θ SHE ≃ 0.182 ). Wir
haben in (9.7.33) ferner die Spin-Hall-Leitfähigkeit σSHE eingeführt, welche die transversale
Spin-Stromdichte mit dem longitudinalen elektrischen Feld verbindet. Geben wir die Spin-
Stromdichte in Einheiten der Ladungsstromdichte an [vergleiche (9.6.12)], so erhalten wir

J̃s = θ SHE (J↑q + J↓q ) = θ SHE σq E . (9.7.34)

Spin-Nernst-Effekt: Zur Diskussion des Spin-Nernst-Effekts benutzen wir die Tatsache,


dass ein longitudinaler Temperaturgradient über den Seebeck-Effekt eine longitudinale La-
dungsstromdichte
Jq = J↑q + J↓q = σq↑ S ↑ (−∇T) + σq↓ S ↓ (−∇T) (9.7.35)
erzeugt. Analog zu (9.7.33) erhalten wir dann
ħ
Js = θ SNE (σ ↑ S ↑ + σq↓ S ↓ ) (−∇T) . (9.7.36)
2q q
Hierbei ist θ SNE der Spin-Nernst-Winkel. Benutzen wir die bereits oben eingeführten Be-
ziehungen für die elektrische Leitfähigkeit σq = σq↑ + σq↓ und den Seebeck-Koeffizienten S =
(︀σq↑ S ↑ + σq↓ S ↓ ⌋︀⇑(︀σq↑ + σq↓ ⌋︀, ergibt sich
ħ
Js = θ SNE σq ST (−∇T⇑T) . (9.7.37)
2q
Geben wir die Spin-Stromdichte wieder in Einheiten der Ladungsstromdichte an, so erhalten
wir
J̃s = θ SNE σq ST (−∇T⇑T) . (9.7.38)
Für Pt beträgt θ SNE etwa -0.2.

9.8 Vertiefungsthema: Quanteninterferenzeffekte


Wir haben Elektronen in Festkörpern als Bloch-Wellen bzw. als Bloch-Wellenpakete be-
schrieben. Diese Wellen können miteinander interferieren. Allerdings sind die Interferenz-
82
J. Sinova, S.O. Valenzuela, J. Wunderlich, C.H. Back, T. Jungwirth, Spin Hall effects, Rev. Mod. Phys.
87, 1213–1259 (2015).
9.8 Vertiefungsthema: Quanteninterferenzeffekte 449

A B Abb. 9.38: Zur Berechnung der Wahrscheinlichkeit der


Elektronenbewegung von Punkt A nach Punkt B. Ein
Elektron kann alle möglichen Pfade benutzen.

korrekturen zu den Transportgrößen gering und haben lange Zeit nicht viel Aufmerksam-
keit erregt. Nachdem aber Festkörperstrukturen mit Abmessungen im Nanometerbereich
eine immer größere Rolle spielen, wurden die Quanteninterferenzeffekte wichtiger, da die
Kohärenzlänge der Elektronenwellen typischerweise ebenfalls im Nanometerbereich liegt.
Um solche Interferenzeffekte zur elektrischen Leitfähigkeit zu analysieren, betrachten wir
Abb. 9.38.83 Um die Wahrscheinlichkeit W für die Bewegung eines Elektrons von Punkt A
nach Punkt B zu bestimmen, müssen wir über die Wahrscheinlichkeiten für alle möglichen
Pfade aufsummieren und müssen dabei auch Interferenzterme zwischen verschiedenen Pfa-
den berücksichtigen. Falls die Elektronenwellen interferenzfähig sind, müssen wir die Wahr-
scheinlichkeit dadurch bestimmen, dass wir zuerst über alle Wahrscheinlichkeitsamplituden
aufsummieren und dann das Absolutquadrat bilden. Wir erhalten also:
2
W = ⨄︀∑ Pi ⨄︀ = ∑ ⋃︀Pi ⋃︀ + ∑ Pi P ∗j .
2
(9.8.1)
i i i≠ j

Hierbei repräsentiert der Term ∑ i ⋃︀Pi ⋃︀2 die Summe der Wahrscheinlichkeiten für die ver-
schiedenen Pfade und der Term ∑ i≠ j Pi P ∗j die Interferenz zwischen verschiedenen Pfaden.
Da die Länge der Pfade unterschiedlich ist, werden die Elektronenwellen an Punkt B mit
unterschiedlichen Phasendifferenzen
B B
1
∆φ = ∫ p ⋅ ds = ∫ k ⋅ ds (9.8.2)
ħ
A A

ankommen. Das bedeutet, dass sich die Interferenzbeiträge alle gegenseitig wegmitteln.
Es gibt allerdings eine Ausnahme, nämlich sich selbst kreuzende Pfade.84 Jeder dieser Tra-
jektorien können wir zwei Wahrscheinlichkeitsamplituden zuordnen, die sich hinsichtlich
der Richtung, mit der die Schleife durchlaufen wird, unterscheiden. Da eine Richtungsän-
derung der Bewegung in (9.8.2) dem Übergang p → −p und ds → −ds entspricht, bleibt ∆φ
unverändert. Das bedeutet, dass die Amplituden für die beiden in Abb. 9.39 gezeigten Pfade

83
Um Quantenkorrekturen zur elektrischen Leitfähigkeit zu berechnen, müssen Methoden der
Quantenfeldtheorie verwendet werden. Wir werden eine Argumentation verwenden, die von Lar-
kin und Khmel’nitskii (1982) motiviert wurde und von Al’tshuler in seiner Habilitationsschrift im
Jahr 1983 vorgestellt wurde.
84
Bei einer rein klassischen Betrachtung wären solche Pfade verboten. Betrachten wir aber die Tra-
jektorien der Elektronen als Schläuche mit einem Durchmesser, der durch die de Broglie Wellen-
länge λ dB = h⇑p gegeben ist, so erhalten wir eine endliche Wahrscheinlichkeit für Überkreuzungen.
450 9 Dynamik von Kristallelektronen

A
A O B
Abb. 9.39: Zur Berechnung der Wahrscheinlichkeit der Elektronenbewegung von Punkt A nach
Punkt B unter Berücksichtigung von sich selbst kreuzenden Trajektorien. Rechts sind A und B in den
Punkt O verschoben.

konstruktiv interferieren und wir deshalb die Wahrscheinlichkeit

⋃︀P1 + P2 ⋃︀2 = ⋃︀P1 ⋃︀2 + ⋃︀P2 ⋃︀2 + P1 P2∗ + P2 P1∗ = 4⋃︀P1 ⋃︀2 (9.8.3)

erhalten. Wir sehen, dass sich die Interferenzterme jetzt nicht wegheben, da die umschlos-
sene Fläche und damit die Phasendifferenzen ∆φ für beide Pfade gleich sind.
Wie auf der rechten Seite von Abb. 9.39 gezeigt ist, können wir die Punkte A und B in den
Punkt O zusammenlegen. Die Wahrscheinlichkeit ⋃︀P1 + P2 ⋃︀2 gibt dann die Rückstreuwahr-
scheinlichkeit in den Ausgangspunkt A an. Wir sehen, dass die links und rechts umlaufenden
Elektronenwellen immer konstruktiv interferieren, da die Phasendifferenz für beide Trajek-
torien unabhängig von der umschlossenen Fläche immer gleich groß ist. Die Rückstreuwahr-
scheinlichkeit ist damit um den Faktor 2 erhöht. Dies führt zu einer Erhöhung des elektri-
schen Widerstands.
Wir können die konstruktive Interferenz zerstören, indem wir ein Magnetfeld anlegen. In
Anwesenheit eines Magnetfeldes müssen wir p durch p − eA ersetzen, wobei A das Vektor-
potenzial ist. Ändern wir die Richtung, in der wir die geschlossene Schleife durchlaufen, so
müssen wir p durch −p ersetzen, das Vektorpotenzial A behält allerdings sein Vorzeichen.
Das Magnetfeld bewirkt somit eine Phasenschiebung
2e 2e 2e Φ
∆φ M = ∮ A ⋅ ds = ∫ ∇ × A dF = ∫ B dF = 2π . (9.8.4)
ħ ħ ħ Φ0
F F

Hierbei ist A das Vektorpotenzial, Φ der durch das Magnetfeld in die geschlossene Trajek-
torie der Fläche F eingeprägte magnetische Fluss und Φ 0 = h⇑2e das Flussquant. Wir sehen,
dass für unterschiedliche Flächen und Orientierungen der Trajektorien relativ zum Magnet-
feld der eingeprägte magnetische Fluss und damit die Phasendifferenzen ∆φ M unterschied-
lich sind. Dadurch wird die konstruktive Interferenz der geschlossenen Trajektorien zerstört.
Die Rückstreuwahrscheinlichkeit und damit der elektrische Widerstand wird deshalb durch
das angelegte Magnetfeld erniedrigt. Wir erhalten einen negativen Magnetwiderstand.

9.8.1 Mesoskopische Systeme


Quanteninterferenzeffekte treten zwar auch beim Ladungstransport in makroskopischen
Proben auf, stellen aber nur kleine Korrekturen dar und sind deshalb nur schwierig zu
beobachten. Dies ändert sich, wenn wir so genannte mesoskopische Systeme betrachten, die
9.8 Vertiefungsthema: Quanteninterferenzeffekte 451

(a) (b)
Au Lj
50 nm

Au
ℓ >> lF

(c) 0.8
G - <G> (e /h)

0.6
2

0.4

0.2
0.0
-0.2

-0.4
1 2 3 4 5 6 7
B (T)
Abb. 9.40: (a) Rasterelektronenmikroskopieaufnahme einer Gold-Nanobrücke. (b) Schematische Dar-
stellung der Störstellenkonfiguration und einer Trajektorie in der Probe. (c) Leitwert der Gold-Nano-
brücke als Funktion des angelegten Magnetfeldes bei T = 20 mK. Die rote und blaue Messkurve wur-
den an unterschiedlichen Tagen aufgenommen, ohne die Probe dazwischen aufzuwärmen (Quelle:
Walther-Meißner-Institut).

hinsichtlich ihrer Größe zwischen mikroskopischen (Atome, Moleküle) und makroskopi-


schen Systemen einzuordnen sind. Bezüglich des Ladungstransports sind mesoskopische
Systeme solche, deren geometrische Abmessungen klein gegenüber der Phasenkohärenz-
länge L φ der Elektronen sind. Ähnlich wie die Kohärenzlänge von Licht gibt L φ an, über
welche Längenskala die Elektronenwellen in einem Festkörper interferenzfähig bleiben. Bei
Raumtemperatur ist die Phasenkohärenzlänge in Metallen wesentlich kleiner als 100 nm.
Bei sehr tiefen Temperaturen im Bereich von 100 mK kann in reinen Metallen die Pha-
senkohärenzlänge aber in den Bereich von 1 µm kommen, so dass wir ein mesoskopisches
System bei Probenabmessungen im Bereich von einigen 100 nm vorliegen haben. Eine
solche Probe ist in Abb. 9.40a gezeigt.
Wir wollen eine Probe betrachten, deren mittlere freie Weglänge ℓ zwar noch klein gegen-
über der Probenabmessung L ist, letztere aber gleichzeitig klein gegenüber L φ ist:

ℓ ≪ L ≪ Lφ . (9.8.5)

In einer solchen Probe liegt wegen ℓ ≪ L nach wie vor ein diffusiver Ladungstransport vor,
allerdings bleiben die an Verunreinigungsatomen oder Gitterdefekten elastisch gestreuten
Elektronenwellen innerhalb des Probenvolumens wegen L ≪ L φ voll interferenzfähig. Die
Elektronen verlieren bei den elastischen Streuprozessen ihr Phasengedächtnis nicht.
452 9 Dynamik von Kristallelektronen

Der elektrische Widerstand einer solchen mesoskopischen Probe hängt von der jeweiligen
Anordnung der Streuzentren ab, da die Interferenzterme für jede individuelle Anordnung
einen anderen Beitrag ergeben. Dies liegt daran, dass sich jetzt die durch (9.8.2) gegebenen
Phasenschiebungen nicht mehr wie bei einer makroskopischen Probe wegmitteln. Falls wir
den mittleren Widerstand wissen wollten, müssten wir sehr viele Proben mit unterschied-
lichen Konfigurationen der Streuzentren untersuchen und eine Mittelwertbildung vorneh-
men. Dies ist allerdings technisch sehr schwierig85 und außerdem sehr zeitaufwändig. Ei-
ne elegantere Methode besteht darin, die Ensemble-Mittelung durch die Untersuchung der
Magnetfeldabhängigkeit zu ersetzen. Betrachten wir in Abb. 9.38 zwei unterschiedliche Tra-
jektorien, die von A nach B verlaufen, so ist die Phasendifferenz zwischen den beiden Tra-
jektorien bei Anwesenheit eines Magnetfeldes gegeben durch
1 e
∆φ = ∮ p ⋅ ds − ∮ A ⋅ ds , (9.8.6)
ħ ħ
wobei wir das Integral über die von beiden Trajektorien gebildete geschlossenen Schleife
ausführen. Der zweite Term ergibt gerade π ΦΦ0 , wobei Φ = ∫ B ⋅ dF der magnetische Fluss
durch die von den beiden Trajektorien gebildete Schleife ist. Für jedes Magnetfeld erhal-
ten wir einen anderen Beitrag des Feldes zur Phasendifferenz. Für eine mesoskopische Pro-
be werden sich die durch (9.8.6) gegebenen Phasendifferenzen nicht mehr wegmitteln, wir
werden aber für jedes Magnetfeld einen anderen Interferenzbeitrag zum elektrischen Wi-
derstand erhalten. Dies ist in Abb. 9.40c gezeigt, wo der Leitwert eines Gold-Nanodrahts
als Funktion des angelegten Magnetfeldes gezeigt ist. Die Magnetfeldabhängigkeit zeigt eine
ausgeprägte Struktur, die man zunächst als Rauschen oder Messungenauigkeit interpretie-
ren könnte. Misst man jedoch dieselbe Abhängigkeit an einem anderen Tag nochmals, so
erhält man dasselbe Resultat.86 Die gefundene Magnetfeldabhängigkeit ist mit der Anord-
nung der Verunreinigungsatome in der Probe verknüpft und wird auch als „magnetischer
Fingerabdruck“ der Störstellenkonfiguration bezeichnet. Es kann nun gezeigt werden, dass
die Messung des Probenwiderstands bei vielen Magnetfeldern exakt äquivalent zur Mes-
sung vieler Proben mit unterschiedlichen Störstellenkonfigurationen im Nullfeld ist. Das
Ensemblemittel des Widerstands können wir also auch dadurch erhalten, indem wir den
Widerstand einer einzigen Probe bei vielen unterschiedlichen Magnetfeldern messen. Die
in Abb. 9.40c gezeigte Variationen des elektrischen Leitwerts als Funktion des angelegten
Magnetfeldes werden als universelle Leitwertfluktuationen bezeichnet. Ihre Größenordnung
liegt bei ∆G = e 2 ⇑h = 1⇑R K = 1⇑25 812 Ω.

9.9 Vertiefungsthema: Magnetwiderstand


Wir haben in Abschnitt 9.5.2 bereits darauf hingewiesen, dass es sich beim Magnetwider-
stand um einen Effekt handelt, der im Gegensatz zu den thermomagnetischen Effekten, die
85
Man müsste Proben mit identischer Geometrie herstellen, was aber aufgrund der Fehlertoleranzen
der Lithographie nicht möglich ist.
86
Zwischen den Messungen darf die Probe allerdings nicht auf Raumtemperatur erwärmt werden,
da dies unter Umständen zu einer Änderung der Störstellenkonfiguration führt.
9.9 Vertiefungsthema: Magnetwiderstand 453

in der Ordnung ω c τ sind, von der Ordnung (ω c τ)2 ist. Wir wollen diesen Effekt zunächst in
Abschnitt 9.9.1 für freie Ladungsträger in einem Einband-Modell (nur ein Ladungsträger-
typ) behandeln. In Abschnitt 9.9.2 erweitern wir unsere Diskussion dann auf ein Zweiband-
Modell. In diesem Modell gehen wir nach wie vor von freien Ladungsträgern aus, nehmen
aber zwei unterschiedliche Ladungsträgertypen an. Mit einem solchen Modell können wir in
einigen Fällen gut Festkörper beschreiben, deren Fermi-Flächen elektronen- und lochartige
Bereiche haben. Wir können dann jedem Bereich in erster Näherung einen Ladungsträger-
typ mit eigener Beweglichkeit zuordnen. Hinsichtlich der Diskussion des Hochfeld-Magnet-
widerstands von Kristallelektronen verweisen wir auf die weiterführende Fachliteratur.87

9.9.1 Magnetwiderstand und Hall-Effekt im Einband-Modell


Wir betrachten freie Ladungsträger mit Ladung q = +e in einem isotropen parabolischen
Band. Wir gehen ferner von der linearisierten Boltzmann-Gleichung für ein homogenes
System (∇r g = 0) bei Anwesenheit eines elektrischen und magnetischen Feldes aus und ver-
wenden die Relaxationszeitnäherung. Das angelegte Magnetfeld soll immer senkrecht zur
Stromrichtung stehen, wir betrachten also den transversalen Magnetwiderstand. Aus der
linearisierten Boltzmann-Gleichung (9.4.12) ergibt sich88

∂ f0 g(k) e
eE ⋅ v(k) (− )= + )︀v(k) × B⌈︀ ⋅ ∇k g(k) . (9.9.1)
∂ε τ ħ
Wenn wir freie Ladungsträger mit ħk = mv annehmen, kann jeder Zustand statt durch k
durch seine Geschwindigkeit v gekennzeichnet werden. In Analogie zu (9.5.1) machen wir
den Ansatz
∂ f0
g(k) = (− ) τv(k) ⋅ 𝒜 , (9.9.2)
∂ε
wobei 𝒜 ein noch zu bestimmender Vektor ist.89 Wir können die Größe 𝒜 aber als die ge-
samte Kraft interpretieren, die auf die Ladungsträger bei Vorhandensein eines elektrischen
und magnetischen Feldes wirkt. Die im Folgenden abgeleiteten Ergebnisse entsprechen den-
jenigen, die wir bereits in Abschnitt 7.3.4 für das freie Elektronengas abgeleitet haben.
Durch Einsetzen von (9.9.2) in (9.9.1) erhalten wir

ev ⋅ E = v ⋅ 𝒜 + ( ) (v × B) ⋅ 𝒜 , (9.9.3)
m
was für alle Werte von v offenbar durch

eE = 𝒜 + (B × 𝒜) , (9.9.4)
m
87
Weiterführende Literatur: A. B. Pippard, Magnetoresistance in Metals, Cambridge University Press
(1989).
88
Für den Fall, dass nur elektrische und magnetische Felder wirksam sind, gilt ∇r δε = −q(E + v ×
B).
89
In Abwesenheit eines Magnetfeldes gilt natürlich 𝒜 = e E.
454 9 Dynamik von Kristallelektronen

− 𝑒𝜏Τ𝑚 𝑩 × 𝓐
𝑱𝒒

Abb. 9.41: Zur geometrischen Lö- 𝑩


sung der Vektorgleichung (9.9.4).

erfüllt ist. Dies ist eine Vektorgleichung, die wir nach 𝒜 auflösen können. Wie die Geometrie
in Abb. 9.41 zeigt, ist eine Lösung von (9.9.4) durch
eE − eτ
B × eE
𝒜= m
(9.9.5)
1 + m2 B
e 2 τ2 2

gegeben. Dieses Ergebnis ist vollkommen analog zu (7.3.44). Man beachte, dass 𝒜 und somit
auch die Stromdichte mit zunehmendem B abnimmt.
Mit Hilfe von (9.9.2) und (9.9.3) erkennen wir andererseits auch direkt, dass der elektrische
Strom gleich

Jq = σ0 (𝒜⇑e) (9.9.6)

ist, wobei σ0 die gewöhnliche Leitfähigkeit eines Metalls in Abwesenheit eines Magnetfeldes
ist. Dies folgt aus (9.5.2) bis (9.5.25), wenn wir E durch 𝒜 ersetzen. Aus (9.9.4) und (9.9.6)
folgt daher
1 eτ 1 eτ
E= Jq + (B × Jq ) = ρ 0 Jq + ρ 0 (B × Jq ) (9.9.7)
σ0 m σ0 m
wobei ρ 0 der spezifische Widerstand in Abwesenheit eines Magnetfeldes ist.
Gleichung (9.9.7) zeigt, dass das zur Erzeugung des Stromes parallel zu 𝒜 notwendige elek-
trische Feld zwei Komponenten besitzt. In Richtung von Jq ∥ 𝒜 gilt

E∥ = ρ 0 J q . (9.9.8)

Das heißt, dass der beobachtete Widerstand der Probe durch ein Magnetfeld nicht geändert
wird, d. h. in dem betrachteten Einbandmodell existiert kein Magnetwiderstand! Dieses Er-
gebnis haben wir bereits in Abschnitt 7.3.4 für freie Elektronen abgeleitet. Es kann so ver-
standen werden, dass die auf die sich bewegenden Ladungsträger wirkende Lorentz-Kraft
durch ein transversales Feld der Stärke (wir nehmen B ⊥ Jq an)


EH = B ρ0 J q , (9.9.9)
m
kompensiert wird. Das transversale Feld wird als Hall-Feld bezeichnet. Für freie Elektronen
ist der Hall-Koeffizient durch (vergleiche Abschnitt 7.3.4)

E H eτ 1
RH = = ρ0 = , (9.9.10)
BJ q m ne
9.9 Vertiefungsthema: Magnetwiderstand 455

gegeben, wenn (9.5.30) zur Elimination der Streuzeit verwendet wird. Häufig wird auch der
spezifische Hallwiderstand

EH B
ρH = = RH B = (9.9.11)
J ne
verwendet. Mit σ = n ⋃︀e⋃︀ µ erhalten wir die Hall-Beweglichkeit
σ
µH = = σ⋃︀R H ⋃︀ . (9.9.12)
n ⋃︀e⋃︀

Eine Größe, die direkt proportional zur Beweglichkeit ist, ist der Hall-Winkel

EH
tan θ H = = µH B . (9.9.13)
E∥

9.9.2 Magnetwiderstand und Hall-Effekt im Zweiband-Modell


Die Leitfähigkeit bestimmter Materialien kann auf gemischten elektron- und lochartigen
Beiträgen beruhen, die mit unterschiedlichen Bereichen der Fermi-Fläche verbunden sind.
So besitzen z. B. intrinsische Halbleiter bei T > 0 ein schwach gefülltes, elektronenartiges Lei-
tungsband, während im Valenzband Lochzustände mit viel geringerer Mobilität zurückblei-
ben. Wir können diese Situation näherungsweise dadurch beschreiben, dass wir zwei unter-
schiedliche Ladungsträgertypen annehmen, die den elektronen- und lochartigen Beiträgen
entsprechen. Ein anschauliches Beispiel dafür ist in Abb. 9.16 illustriert. Die dort gezeigte
Fermi-Fläche besitzt elektronen- und lochartige Bereiche, die aufgrund der fast kreisförmi-
gen Fermi-Fläche gut durch freie Ladungsträger beschrieben werden können. Obwohl es
selten vorkommt, dass die Fermi-Fläche eines realen Festkörpers eine so einfache Struktur
wie die in Abb. 9.16 gezeigte besitzt und man deshalb die Ladungsträger des Festkörpers so
einfach in zwei Gruppen mit jeweils einfachen Eigenschaften einteilen kann, illustriert das
so genannte Zweibandmodell viele Hauptgesichtspunkte des Hall-Effekts und des Magnet-
widerstands.
Das Vorhandensein von zwei Sorten von Ladungsträgern gibt Anlass zu den in Abb. 9.42 ge-
zeigten Kompensationseffekten, bei denen sich die Hall-Beiträge des elektronen- und lochar-
tigen Teilbandes teilweise aufheben, da Elektronen und Löcher zur gleichen Probenseite ab-
gelenkt werden. Bei einer Interpretation der gemessenen, zu niedrigen Hall-Spannung im
Einbandmodell finden wir dann eine physikalisch nicht sinnvolle, zu hohe Ladungsträger-
dichte.
Wir nehmen nun an, dass zwei verschiedene Sorten von freien Ladungsträgern (isotrope pa-
rabolische Bänder) mit Ladung q 1 und q 2 vorliegen. Für jede Sorte (i = 1, 2) gelten dieselben
Gleichungen (9.9.7)
1 eτ i 1
E= Jqi + (B × Jqi ) . (9.9.14)
σi mi σi
456 9 Dynamik von Kristallelektronen

Der Gesamtstrom ist durch (siehe Abb. 9.43)

Jq = Jq1 + Jq2 (9.9.15)

gegeben.
Mit einer Lösung vom Typ (9.9.5) für die beiden Teilgleichungen von (9.9.14) finden wir den
komplizierten Ausdruck

⎛ σ1 σ2 ⎞
Jq = ⎜ + ⎟E
q τ 2 q τ 2
⎝ 1 + ( m1 11 ) B 2 1 + ( m2 22 ) B 2 ⎠

⎛ q τ
σ1 m1 11
q τ
σ2 m2 22 ⎞
−⎜ 2 + 2
⎟B × E , (9.9.16)
⎝ 1 + ( m1 11 ) B 2 1 + ( m2 22 ) B 2 ⎠
q τ q τ

dessen geometrische Ableitung in Abb. 9.43 dargestellt ist.


Um den Hall-Koeffizienten zu berechnen, müssen wir (9.9.16) umkehren und E durch Jq
und B × Jq ausdrücken. Wir erhalten

R 1 ρ 22 + R 2 ρ 12 + R 1 R 2 (R 1 + R 2 )B 2
RH = . (9.9.17)
(ρ 1 + ρ 2 )2 + (R 1 + R 2 )2 B 2

Hierbei sind R 1 und R 2 die Hall-Konstanten für die entsprechenden Ladungsträgerarten


und ρ 1 = 1⇑σ1 sowie ρ 2 = 1⇑σ2 . Wir sehen, dass man einen Differenzwert erhält, falls R 1
und R 2 entgegengesetztes Vorzeichen besitzen. Für R 1 = −R 2 und ρ 1 = ρ 2 verschwindet die
Hall-Konstante vollkommen. Für R 1 = R 2 = R und ρ 1 = ρ 2 erhalten wir R H = R⇑2, also das
gleiche wie für eine Ladungsträgersorte mit doppelter Ladungsträgerdichte. In vielen Fällen
können die Beiträge in B 2 vernachlässigt werden, so dass sich der einfachere Ausdruck

R 1 ρ 22 + R 2 ρ 12 R 1 σ12 + R 2 σ22
RH = = (9.9.18)
(ρ 1 + ρ 2 )2 (σ1 + σ2 )2

ergibt.

𝑱𝒒
- 𝑼𝑯
- - - - -

Abb. 9.42: Kompensationseffekte beim


Hall-Effekt durch das Vorhanden- 𝑼||
sein von zwei Ladungsträgersorten.
9.9 Vertiefungsthema: Magnetwiderstand 457

𝑱𝒒𝟏

𝑞1 𝜏1
ൗ𝜎1 𝑚1 𝑩 × 𝑱𝑞1
𝑬
𝑱𝒒
𝑞2 𝜏2
ൗ𝜎2 𝑚2 𝑩 × 𝑱𝑞2

Abb. 9.43: Zur geometrischen Ablei-


𝑱𝒒𝟐 tung von Gleichung (9.9.16).

Die Diskussion des Magnetwiderstands ist etwas komplizierter. Hier müssen wir Jq mit der
Komponente von E in Jq -Richtung verbinden und erhalten
ρ = (Jq ⋅ E)⇑J q2 . (9.9.19)
Nach einigen Umformungsschritten ergibt sich der Ausdruck

ρ 1 ρ 2 (ρ 1 + ρ 2 ) + (ρ 1 R 22 + ρ 2 R 12 )B 2
ρ(B) = . (9.9.20)
(ρ 1 + ρ 2 )2 + (R 1 + R 2 )2 B 2 78

Für R 1 = R 2 = R und ρ 1 = ρ 2 = ρ erhalten wir einen magnetfeldunabhängigen spezifischen


Widerstand ρ(B) = ρ⇑2. Dies ist verständlich, da wir jetzt effektiv nur eine Ladungsträger-
sorte (Einbandmodell) mit doppelter Ladungsträgerdichte vorliegen haben. Der gesamte
spezifische Widerstand ist nur ρ⇑2, da beide Ladungsträgersorten in gleicher Weise zum
Ladungstransport beitragen. Für R 1 = −R 2 und ρ 1 = ρ 2 = ρ erhalten wir dagegen ρ(B) =
ρ⇑2 + (R 2 ⇑2ρ 2 )B 2 . Dieser Fall liegt bei so genannten kompensierten Metallen vor. Wir se-
hen, dass hier der Magnetwiderstand unbegrenzt proportional zu B 2 anwächst. Dies ist ver-
ständlich, da sich die Hall-Felder der beiden Ladungsträgersorten gerade kompensieren.
Die Formel (9.9.20) findet allerdings nur begrenzt Anwendung, da meist die Ladungsträger
nicht so einfach in zwei unabhängige Gruppen eingeteilt werden können und auch die An-
nahme von isotropen parabolischen Bändern oft eine schlechte Näherung ist. Sie zeigt aber
einige Hauptmerkmale des Phänomens Magnetwiderstand auf:

∎ ∆ρ = (︀ρ(B) − ρ(0)⌋︀⇑ρ(0) ist immer positiv.


∎ ∆ρ verschwindet nur für ⋃︀R 1 ⋃︀ = ⋃︀R 2 ⋃︀ und ρ 1 = ρ 2 . Ansonsten werden die beiden Grup-
pen von Ladungsträgern im Magnetfeld um unterschiedliche Beträge abgelenkt, da sie
unterschiedliche Massen, Ladungen oder Streuzeiten besitzen. Wir können dann kein
elektrisches Feld finden, das beide Komponenten des elektrischen Stromes in die gleiche
Richtung fließen lässt.
∎ ∆ρ ist für kleine Magnetfelder immer proportional zu B 2 . Ein typisches experimentelles
Ergebnis hierzu ist in Abb. 9.44 gezeigt.
∎ ∆ρ neigt bei großen Magnetfeldern zur Sättigung.90 Eine Ausnahme bilden die bereits
oben diskutierten kompensierten Metalle, für die R 1 ≃ −R 2 gilt.
90
Dieser Effekt ist aber mit der Wahl geschlossener Fermi-Flächen verbunden, die bei der Annahme
freier Elektronen immer gegeben ist. Im Allgemeinen lassen sich für viele Materialien kristallogra-
458 9 Dynamik von Kristallelektronen

10
100K 110K 125K

8 YBa2Cu3O7-d 150K

 / (10 )
-4
4
175K

200K
Abb. 9.44: Magneto- 2
225K
widerstandseffekt eines
YBa2 Cu3 O7−δ -Einkristalls
(nach J. M. Harris et al., 0
Phys. Rev. Lett. 75, 1391 275K 325K 375K
(1995), © (2012) Ame- 0 5 10 15
rican Physical Society). B (T)

Der obige Ausdruck für ρ(B) kann auf den Fall vieler Ladungsträgertypen erweitert werden,
die alle getrennt zum Strom beitragen und formal als unterschiedliche Ladungsträgertypen
behandelt werden können. Dadurch lassen sich auch komplizierte Fermi-Flächen behan-
deln, deren Teile unterschiedliche Werte für me τ∗ besitzen. Die Existenz eines endlichen Ma-
gnetwiderstands in Metallen kann als Beweis für die Änderung von me τ∗ auf der Fermi-Fläche
gewertet werden.
Die bisherige Betrachtung gilt für den transversalen Magnetwiderstand, d. h. für den Fall,
dass das Magnetfeld senkrecht zur Stromrichtung anliegt. Man beobachtet aber auch einen
longitudinalen Magnetwiderstand, d. h. für B ∥ Jq . Das einfache Zweiband-Modell liefert
keinen longitudinalen Magnetwiderstand, da es in jedem Band Kugelsymmetrie annimmt.
Die Ausdrücke für den longitudinalen Magnetwiderstand sind komplizierter, da wir hier
nicht-kugelsymmetrische Fermi-Flächen verwenden müssen.
Wir erkennen aus (9.9.20) einen weiteren wichtigen Sachverhalt. Nehmen wir an, dass bei-
∆ρ
de Ladungsträgertypen durch die gleiche Streuzeit charakterisiert sind, so ist ρ 0 nur eine
Funktion von τB. Da τ selbst wiederum umgekehrt proportional zu ρ 0 ist, können wir

∆ρ B
=F( ) (9.9.21)
ρ0 ρ0

schreiben. F ist dabei eine Funktion, die durch die genauen Eigenschaften des jeweiligen
Metalls bestimmt ist. Gl. (9.9.21) ist als Kohler-Regel91 bekannt, die bereits in Abschnitt 7.3.4
erwähnt und phänomenologisch begründet wurde.

phische Richtungen finden, in denen der Magnetwiderstand nicht sättigt. Dies hängt mit offenen
Bahnen auf der Fermi-Fläche in diese Richtungen zusammen.
91
M. Kohler, Zur magnetischen Widerstandsänderung reiner Metalle, Annalen der Physik 424, 211–
218 (1938).
9.10 Quantisierung der Bahnen 459

9.10 Quantisierung der Bahnen


Bei der Behandlung der Bewegung von Elektronen in einem homogenen Magnetfeld haben
wir eine semiklassische Betrachtungsweise benutzt. Dabei sind wir von Bloch-Zuständen
ausgegangen, die wir durch Lösung der Schrödinger-Gleichung für ein periodisches Po-
tenzial bei B = 0 erhalten haben. Die Bewegung dieser Bloch-Elektronen im homogenen
Feld haben wir dann rein klassisch behandelt. Wir haben gesehen, dass die Elektronen so-
wohl im k- als auch im Ortsraum auf geschlossenen Bahnen laufen. Vom quantenmecha-
nischen Standpunkt aus würden wir deshalb erwarten, dass die Elektronenwellen die Bohr-
Sommerfeld-Quantisierung erfüllen müssen. Das heißt, dass sich die Phasen der Elektro-
nenwellen nur um ganzzahlige Vielfache von 2π pro Umlauf ändern dürfen. Dies führt zu
einer Quantisierung der Bahnen.

9.10.1 Freie Ladungsträger


Um die Quantisierung der Bahnen in einem homogenen Feld abzuleiten, betrachten wir
zunächst freie Ladungsträger mit Ladung q = +e (Elektronen haben die Ladung q = −e). Sie
genügen der Schrödinger-Gleichung (siehe hierzu Anhang D)
2
1 ħ
( ∇ − eA) Ψ = ε Ψ . (9.10.1)
2m ı
Hierbei haben wir den Operator ħı ∇ des kanonischen Impulses durch den Operator
ħ
ı
∇ − eA des kinematischen Impulses ersetzt, wobei A das Vektorpotenzial ist. Da wir nur
die stationären Zustände suchen, betrachten wir nur die zeitunabhängige Schrödinger-
Gleichung.
Für das Vektorpotenzial wählen wir die Eichung

A = (0, Bx, 0) , (9.10.2)

so dass B = ∇ × A = (0, 0, B). Damit erhalten wir die Schrödinger-Gleichung zu


2
∂2 Ψ ∂ ıeB ∂ 2 Ψ 2mε
+ ( − x) Ψ + + 2 Ψ=0. (9.10.3)
∂x 2 ∂y ħ ∂z 2 ħ

Diese Gleichung besitzt eine Lösung der Form

Ψ(x, y, z) = e ı(β y+k z z) u(x) , (9.10.4)

wobei u(x) die Gleichung

∂2 u 2m̃ ε eB 2
+ { − (β − x) (︀ u = 0 (9.10.5)
∂x 2 ħ2 ħ

mit
460 9 Dynamik von Kristallelektronen

ħ2 2
̃
ε=ε− k (9.10.6)
2m z
erfüllen muss.
Wir sehen, dass die Bewegung parallel zum Magnetfeld, also in z-Richtung, genau diesel-
be ist wie für freie Ladungsträger. Ferner ist der Beitrag zur kinetischen Energie aufgrund
der Bewegung in z-Richtung derselbe wie für freie Ladungsträger. Für die Bewegung in der
x y-Ebene müssen wir allerdings eine neue Eigenwertgleichung lösen. Schreiben wir (9.10.5)
unter Benutzung von ω c = eB⇑m und ̃ x = x − (ħβ⇑eB) um, so erhalten wir
ħ2 ∂2 u 1
− + mω 2c ̃
x 2 u(x) = ̃
ε u(x) . (9.10.7)
2m ∂x 2 2
Diese eindimensionale Gleichung ist nichts anderes als die Schrödinger-Gleichung für die
Wellenfunktion eines einfachen harmonischen Oszillators mit der Zyklotronfrequenz

eB
ωc = = 1.758 820 088 (39) × 1011 s−1 × B [Tesla] , (9.10.8)
m
dessen Zentrum sich an der Stelle
ħβ 1 ħβ
x0 = = (9.10.9)
eB ω c m
befindet. Für die Energieniveaus des harmonischen Oszillators gilt
1
̃
ε = (n + ) ħω c (9.10.10)
2
und damit
1 ħ2 2
ε = (n + ) ħω c + k . (9.10.11)
2 2m z
Die Energie der Ladungsträgerzustände ergibt sich also als Summe der Translationsener-
gie der freien Bewegung in Feldrichtung und der quantisierten Energie der Kreisbewegung
in der Ebene senkrecht zum Magnetfeld. Die parabelförmigen Bänder freier Ladungsträger
spalten unter der Wirkung der Magnetfeldes in Subbänder auf, die als Landau-Niveaus92
bezeichnet werden. Dies ist in Abb. 9.45 gezeigt, wo wir die Ladungsträgerenergie für ver-
schiedene Subbänder gegen k z aufgetragen haben. Die Energieeigenwerte der verschiede-
nen Subbänder unterscheiden sich jeweils um ∆ε = ħω c . Bei einem Feld von 1 T beträgt ħω c
etwa 0.1 meV, was ħω c ⇑k B ≈ 1 K entspricht. Da für Metalle die Fermi-Temperatur TF typi-
scherweise weit oberhalb von 50 000 K liegt, ist bei einem Metall eine sehr große Zahl von
Landau-Niveaus besetzt. Bei Halbleitern ist dies anders. Wir werden in Kapitel 10 sehen, dass
hier wegen der viel kleineren Fermi-Energie oft nur wenige Landau-Niveaus besetzt sind.
Wir können die Energie (9.10.11) der Ladungsträgerzustände auch als
ħ2 2 ħ2 2
ε= k⊥,n + k (9.10.12)
2m 2m z
92
Lev Davidovich Landau, siehe Kasten auf Seite 466.
9.10 Quantisierung der Bahnen 461

𝜺𝒏 /ℏ𝝎𝒄
7
6
𝜺𝐅
5
4
3
Abb. 9.45: Ladungsträgerenergie im Magnet-
2 feld als Funktion der Wellenzahl k z parallel zur
Feldrichtung. Die gestrichelte Kurve zeigt die für
1 𝑩=𝟎 B = 0 erwartete Abhängigkeit. Der Abstand der
Subbänder (Landau-Niveaus) beträgt ħω c . Die
𝒌𝒛 Subbänder sind bis zur Fermi-Energie ε F besetzt.

mit dem Wellenvektor


}︂ }︂ 83
2m 1 1 2eB
k⊥,n = (n + ) ħω c = (n + ) (9.10.13)
ħ2 2 2 ħ
in der Ebene senkrecht zum Magnetfeld schreiben. Dies zeigt, dass die Zustände in der
k x k y -Ebene alle auf Kreisen mit Radius k⊥,n liegen müssen. Dies ist in Abb. 9.46 veran-
schaulicht.
Wir müssen uns noch überlegen, wie wir die Zustände abzählen müssen, das heißt, wir
müssen uns überlegen, wie viele Zustände pro Landau-Niveau vorhanden sind. Für freie
Ladungsträger sind wir von einem Potenzialkasten mit den Seitenlängen L x , L y und L z aus-
gegangen und wir haben aufgrund der Randbedingungen eine Quantisierung von k i in Ein-
heiten von 2π⇑L i erhalten. Für k z gilt diese Quantisierung nach wie vor. Ebenso würden
wir gemäß (9.10.4) erwarten, dass k y in Einheiten von 2π⇑L y quantisiert ist. Da aber die

(a) 𝒌𝒚 (b) 𝒌𝒚
n=3
n=2
n=1
n=0

𝒌𝒙 𝒌𝒙

Abb. 9.46: Quantisierungsschema für freie Ladungsträger (a) ohne und (b) mit Magnetfeld. Anschau-
lich kann man argumentieren, dass die ohne Magnetfeld im zweidimensionalen k-Raum gleichmäßig
verteilten Zustände durch das Magnetfeld auf Kreise in der ursprünglichen k x k y -Ebene gezwungen
werden. Aufeinander folgende Kreise entsprechen aufeinander folgenden Quantenzahlen n. Die Flä-
che zwischen aufeinander folgenden Kreisen ist ∆S = 2πeħ B = const.
84
462 9 Dynamik von Kristallelektronen

Energie unabhängig von β ist, könnten wir vermuten, dass für einen gegebenen Wert von n
jeder Wert von β zulässig ist. Dies ist aber nicht der Fall. Aus Gleichung (9.10.9) können wir
erkennen, dass die Funktionen u über ihren Mittelpunkt bei
1 ħβ v y
x0 = = (9.10.14)
ωc m ωc
von β abhängen. Das bedeutet tatsächlich, dass der mit der Geschwindigkeit v y loslaufende
Ladungsträger sich im Magnetfeld auf einem Kreis mit dem Mittelpunkt x 0 bewegen wird.
Der Weg des Ladungsträgers muss aber innerhalb des durch die Abmessungen des betrach-
teten Festkörpers vorgegebenen Kastens liegen, so dass

0 < x0 < L x (9.10.15)

gelten muss. Wir erhalten also eine Einschränkung für die Lage des Mittelpunkts der Kreis-
bahn. Über (9.10.14) stellt dies auch eine Einschränkung für den erlaubten Bereich von β
dar. β ist nicht nur in Einheiten von 2π⇑L y quantisiert, sondern muss auch die Bedingung
mω c eB
0<β≤ Lx = Lx (9.10.16)
ħ ħ
erfüllen. Es gibt daher nur eine beschränkte Zahl von möglichen β-Werten und zwar gerade
L y mω c e Φ
p= L x = ħω c D 2D = L x L y B = . (9.10.17)
2π ħ 2πħ 2Φ 0
Hierbei ist D 2D = 2πħ
m
2 L x L y die zweidimensionale Zustandsdichte für eine Spin-Richtung

(vergleiche (7.1.20)). Die Größe p gibt die Anzahl der möglichen Zustände pro Landau-
Niveau an und wird als Entartung des Niveaus bezeichnet. Das heißt, dass jedes Niveau
gemäß (9.10.11), welches einer speziellen Wahl von n und k z entspricht, p-fach entartet ist.
In (9.10.17) ist Φ = L x L y B der magnetische Fluss durch die Probe und Φ 0 = h⇑2e das ma-
gnetische Flussquant. Wir sehen also, dass die Entartung p bis auf den Faktor 1⇑2 durch die
Zahl der magnetischen Flussquanten durch die Probe gegeben ist.93 Wir sehen ferner, dass
die Entartung linear mit dem Feld zunimmt.
Obwohl die alten Quantenzahlen k x , k y und k z durch das anliegende Magnetfeld keine gu-
ten Quantenzahlen mehr sind, wollen wir den k-Raum benutzen, um die p neuen Zustände
für eine bestimmte, durch (9.10.11) gegebene Energie ε durch Flächen im k-Raum darzu-
stellen. Lassen wir zunächst k z außer Acht, so können wir für B = 0 die möglichen Zustände
in der k x k y -Ebene durch ein Punktmuster darstellen, wobei der Abstand der Punkte in or-
thogonale Richtungen 2π⇑L x und 2π⇑L y beträgt. Für B ≠ 0 liegen die möglichen Zustände
auf Flächen konstanter Energie, die wir als Kreise mit Radius k⊥ in der k x k y -Ebene darstel-
len können (siehe Abb. 9.46). Die neuen Zustände sind allerdings nicht an einem bestimm-
ten Punkt auf diesem Kreis fixiert, sie rotieren vielmehr mit der Frequenz ω c . Wir können
93
Das magnetische Flussquant wurde im Zusammenhang mit der Flussquantisierung in Supralei-
tern eingeführt, wo gepaarte Elektronen, so genannte Cooper-Paare, vorliegen. Deshalb steht im
Nenner des Flussquants nicht e sondern 2e. Im Zusammenhang mit der jetzt geführten Diskus-
̃ 0 = 2Φ 0 = h⇑e zu verwenden, da wir es mit
sion wäre es eigentlich sinnvoller, das Flussquant Φ
ungepaarten Elektronen zu tun haben. Damit würden wir die Entartung zu p = Φ⇑Φ ̃ 0 erhalten.
9.10 Quantisierung der Bahnen 463

𝑩
𝒌𝒛
𝒌𝒚

𝒌𝒙 Abb. 9.47: Landau-Zylinder für freie Ladungs-


träger. Die ohne Magnetfeld im dreidimensio-
nalen k-Raum gleichmäßig verteilten Zustände
innerhalb der Fermi-Kugel werden durch das
Magnetfeld auf Zylinder gezwungen werden.
Ebenfalls gezeigt ist die Projektion der Zylinder
auf die Fläche senkrecht zum Magnetfeld. Die
Fläche zwischen aufeinander folgenden Zylin-
dern ist ∆S = 2πeħ B = const.

aber die Zustände konstanter Energie im Magnetfeld durch die Kreise, auf denen sie liegen,
klassifizieren. Diese Kreise werden auch als Landau-Kreise bezeichnet. Berücksichtigen wir
nun noch k z , so liegt für B = 0 ein dreidimensionales Punktmuster vor, wobei der Punktab-
88
stand in k z -Richtung durch 2π⇑L z gegeben ist. Da die k z -Richtung durch B ∥ z nicht beein-
flusst wird, erhalten wir jetzt die in Abb. 9.47 gezeigten konzentrischen Zylinder, die wir als
Landau-Zylinder bezeichnen. Insgesamt wird der Radius der Zylinder in der k x k y -Ebene
und ihre Ausdehnung entlang von k z durch die Größe der Fermi-Kugel begrenzt.
Wir wollen jetzt noch zeigen, dass die Zahl der Zustände in einem bestimmten k-Raumbe-
reich im alten und neuen Schema exakt gleich ist. Dies erwarten wir natürlich, da die Zahl
der Zustände konstant bleiben sollte. Der Abstand der Energieniveaus ist durch ħω c gegeben.
Wir müssen nun berechnen, welcher Fläche ∆S in der k x k y -Ebene dieses Energieintervall
entspricht. Mit S n = πk⊥,n
2
und ħω c = ε n+1 − ε n erhalten wir sofort
2eB 2πeB
S n+1 − S n = ∆S = π[︀(n + 1 + 21 ) − (n + 12 )⌉︀
= . (9.10.18)
ħ ħ
Diese Beziehung können wir auch mit dem in Abschnitt 9.2.4 abgeleiteten allgemeinen Zu-
sammenhang zwischen der Flächenänderung dS und der Energieänderung dE erhalten. Wir
erhielten dort (vergleiche (9.2.30)):94
∂S 2πeB 1 2πm
= = 2 . (9.10.19)
∂ε ħ2 ωc ħ
Ersetzen wir den Differentialquotienten durch einen Differenzenquotienten und setzen ∆ε =
ħω c , so erhalten wir
2πm 2πeB
S n+1 − S n = ∆S =
2
ħω c = . (9.10.20)
ħ ħ
Wir sehen, dass im Magnetfeld die Flächen, die von den Ladungsträgerbahnen im k-Raum
eingenommen werden, quantisiert sind. Die Differenz der in Abb. 9.46 gezeigten Flächen ist
konstant und unabhängig von k z .
94
Da wir hier freie Elektronen betrachten, setzen wir m c = m.
464 9 Dynamik von Kristallelektronen

x y L L
Wir verwenden nun die Dichte (2π) 2 der Zustände in der k x k y -Ebene, um die Anzahl der

Zustände innerhalb der Fläche ∆S zu berechnen. Wir erhalten


Lx L y L x L y 2πeB Φ
∆S = = = p. (9.10.21)
(2π) 2 (2π)2 ħ 2Φ 0
Wir sehen also, dass die Entartung p gerade der Anzahl der Zustände entspricht, die zwi-
schen zwei benachbarten Landau-Kreisen in der k x k y -Ebene mit Radius k⊥,n+1 und k⊥,n lie-
gen. Zusammenfassend können wir festhalten, dass die Auswirkung des Magnetfeldes darin
besteht, die ohne Feld äquidistant in der k x k y -Ebene verteilten Zustände auf Kreise zu zwin-
gen (siehe Abb. 9.46). Die Zahl der Zustände auf jedem Kreis ist gleich der Zahl der erlaubten
Zustände innerhalb des ringförmigen Gebiets der Fläche ∆S zwischen den einzelnen Kreis-
bahnen. Nehmen wir wiederum die k z -Richtung hinzu, so kondensieren die erlaubten, ohne
Magnetfeld gleichmäßig im dreidimensionalen k-Raum verteilten Zustände bei Anwesen-
heit eines Magnetfeldes auf die konzentrischen Landau-Zylinder.

9.10.2 Zustandsdichte im Magnetfeld


Durch die Quantisierung der Ladungsträgerbewegung im Magnetfeld erhalten wir eine
beträchtliche Modifikation der elektronischen Zustandsdichte. In Abschnitt 7.1 haben wir
⌋︂ eines ein-, zwei- und dreidimensionalen
gesehen, dass die Zustandsdichte ⌋︂ freien Elektro-
nengases proportional zu 1⇑ ε, konstant und proportional zu ε ist. Wir wollen nun für
ein zwei- und dreidimensionales Elektronengas die Änderung der Zustandsdichte durch ein
angelegtes Magnetfeld diskutieren. Das Magnetfeld führt in der Ebene senkrecht zur Feld-
richtung zu einer Quantisierung der Energien, so dass nur noch diskrete Werte (n + 12 ) ħω c
vorliegen. Für ein zweidimensionales System erhalten wir dadurch eine vollständige Quan-
tisierung der Zustände. Wie Abb. 9.48a zeigt, geht die konstante Zustandsdichte für B = 0 in
eine Reihe von δ-Funktionen über, deren Gewicht durch den Entartungsgrad p gegeben ist.
Für das dreidimensionale System müssen wir noch die Richtung parallel zum Magnetfeld
berücksichtigen. Wie Abb. 9.48b zeigt, bekommen wir dadurch eine Überlagerung der
quantisierten Zustandsdichte eines zweidimensionalen Systems senkrecht zur Feldrichtung

(a) (b)
D ()

D ()

0 1 2 3 4 5 6 0 1 2 3 4 5 6
E𝜺(hℏ𝝎) (h𝒄c)
𝜺 E ℏ𝝎
c𝒄

Abb. 9.48: Elektronische Zustandsdichte eines zweidimensionalen (a) und dreidimensionalen (b) Ga-
ses freier Ladungsträger im2D
Magnetfeld. Die gestrichelten Linien und grauen
3D Flächen zeigen die jewei-
ligen Zustandsdichten im Nullfeld. Die Spinaufspaltung wurde in der Darstellung nicht berücksichtigt.
9.10 Quantisierung der Bahnen 465

mit derjenigen eines eindimensionalen freien Systems parallel zur Feldrichtung. Die Zu-
standsdichte ergibt⌋︂
sich dadurch als Kombination der δ-Funktionen des zweidimensionalen
Systems mit der 1⇑ ε-Abhängigkeit für ein eindimensionales freies Elektronengas. Da sich
durch das Magnetfeld die Verteilung, nicht aber die Zahl der Zustände ändert, muss die
Fläche unter den für B = 0 und B ≠ 0 erhaltenen D(ε)-Kurven gleich sein.

9.10.3 Kristallelektronen
Wir müssen die bis jetzt für freie Ladungsträger geführte Diskussion nun auf den allgemei-
nen Fall von Kristallelektronen erweitern. Dazu müssten wir eine ähnliche Rechnung wie
im vorangegangenen Abschnitt für Kristallelektronen durchführen. Onsager hat jedoch ei-
ne etwas einfachere quasiklassische Rechnung vorgeschlagen, die auf dem Bohrschen Kor-
respondenzprinzip beruht, welches bekanntlich für Teilchenzustände mit hohen Quanten-
zahlen gilt. Für magnetische Anregungen kommen hauptsächlich Ladungsträger in Frage,
die sich nahe bei der Fermi-Energie befinden. Diese Ladungsträger liegen aber auf Landau-
Zylindern mit sehr hoher Quantenzahl n ≃ ε F ⇑ħω c . Da ħω c für Felder von einigen Tesla
typischerweise weniger als 1 meV beträgt und ε F einige eV, ist n typischerweise weit größer
als 1 000.
Wir haben in Abschnitt 9.1 bereits gezeigt, dass für ein einzelnes Band eine semiklassische
Beschreibung der Dynamik der Kristallelektronen verwendet werden kann. Die Schrödin-
ger-Gleichung für den äquivalenten Hamilton-Operator besitzt im Magnetfeld Lösungen,
die für die vorliegenden großen Quantenzahlen dem Korrespondenzprinzip genügen und
daher nach der Bohr-Sommerfeld-Bedingung

∮ p ⋅ dr = (n + γ) 2πħ (9.10.22)

quantisiert werden.95 Dabei ist n eine ganze Zahl und γ ein Korrekturfaktor, der z. B. für
den harmonischen Oszillator gleich 12 ist. Mit dem kanonischen Impuls p = ħk + eA (wir
95
Mathematisch lässt sich die Quantisierung des Drehimpulses folgendermaßen darstellen:
1
L= p φ dφ = ħ(ℓ + 1) .
2π ∮
Die zweite Quantisierungsregel lautet
1
p r dr = ħ(n + γ) .
2π ∮
Hierbei sind jeweils φ, p φ = mr 2 φ̇ und r, p r = mṙ Paare von kanonisch konjugierten Orts- und
Impulsvariablen. Die Korrektur γ kann nicht analytisch ermittelt werden, sondern muss mit Nä-
herungsverfahren (z. B. mit der WKB-Methode) berechnet werden. Für den harmonischen Os-
zillator erhält man γ = 12 , womit sich die von null verschiedene Grundzustandsenergie ergibt. Die
angegebenen Integrale über einen geschlossenen Weg im Phasenraum, der durch die Orts- und Im-
pulskoordinaten aufgespannt wird, sind quantisiert und können nur Vielfache von ħ annehmen.
Durch Addition erhält man die Form
1
p ⋅ dr = ħ(n + γ) ,
2π ∮
wobei p = mṙ. Diese Form ist sogar invariant unter kanonischen Transformationen.
466 9 Dynamik von Kristallelektronen

Lev Davidovich Landau (1908–1968), Nobelpreis für Physik 1962


Lev Davidovich Landau wurde am 22. Januar 1908 in Baku ge-
boren. Er entstammt der jüdischen Familie Landau, aus der viele
namhafte Rabbiner und Gelehrte hervorgegangen sind. Er be-
endete bereits 1922 die Schule und studierte an der physika-
lisch-mathematischen und chemischen Fakultät der Universität
Baku. 1924 wechselte er zur physikalischen Abteilung der Uni-
versität Sankt Petersburg, wo er Assistent von Abram Fjodoro-
witsch Joffé wurde. 1929 erhielt Landau ein Forschungsstipendi-
um, das ihn zu Max Born, Paul Ehrenfest, Werner Heisenberg
und Wolfgang Pauli führte. Außerdem besuchte er Niels Bohr
und Ernest Rutherford. In dieser Zeit entwickelte sich auch die
© The Nobel Foundation.
Zusammenarbeit mit Rudolf Ernst Peierls.
Nach seiner Rückkehr nach St. Petersburg (1931) übernahm Landau 1932 die Abteilung
für Theoretische Physik am Physikalisch-Technischen Institut in Charkow, wo er 1933
auch eine Professur für Theoretische Physik am Institut für Mechanik und Maschinenbau
übernahm. Ohne Vorlage einer Dissertation wurde ihm 1934 die Habilitation verliehen.
1935 erhielt er eine Professur für Allgemeine Physik an der Universität Charkow, 1937
folgte er einem Ruf Pjotr Kapizas an das Physikalische Institut in Moskau und übernahm
dort die Leitung der Abteilung Theoretische Physik. 1938 wurde Landau auf Veranlassung
Stalins interniert. Nach seiner Entlassung 1939 kehrte er an das Moskauer Institut zurück,
wo er eine wissenschaftliche Schule gründete, aus der hervorragende Physiker hervor-
gingen. Landau war Mitglied vieler wissenschaftlicher Gremien, so gehörte er sowohl der
russischen Akademie der Wissenschaften an als auch der Dänemarks, der Niederlande
und der USA. Außerdem war er Mitglied der Royal Society. Vielfach ausgezeichnet
(u. a. Fritz London Preis 1960, Max-Planck-Medaille 1960) erhielt er 1962 für seine
richtungsweisenden Arbeiten zur Theorie der Kondensierten Materie (insbesondere zum
flüssigen Helium) den Nobelpreis für Physik.
Landau lieferte Arbeiten zu fast allen Bereichen der modernen Physik. Nach frühen For-
schungen zur Quantenmechanik und zum Magnetismus untersuchte er 1930 die diama-
gnetischen Eigenschaften von Metallen, 1935 formulierte er eine mathematische Darstel-
lung der Magnetisierungsmechanismen bei Ferromagnetika. Bei einer Arbeit über Höhen-
strahlung begründete er 1938 die Kaskadentheorie der Elektronenschauer. Im Anschluss
daran begann Landau mit Forschungen auf dem Gebiet der Tieftemperaturphysik. Bei Pha-
sentransformationen entdeckte er 1938 an flüssigem Helium das Phänomen der Supraflui-
dität. 1941 formulierte er die Theorie der Suprafluidität auf quantenmechanischer Grund-
lage, mit der erstmals die Eigenschaften von Flüssigkeiten vollständig beschrieben wurden.
1950 stellte Landau zusammen mit Vitaly Ginzburg die phänomenologische Theorie der
Supraleitung auf, welche die elektromagnetischen Eigenschaften dieser Leiter bei niedrigs-
ten Temperaturen zusammenfasste. In den 1950er Jahren arbeitete Landau über Elementar-
teilchentheorien. Zusammen mit Jewgeni M. Lifschitz verfasste er das zehnbändige, rich-
tungsweisende Lehrbuch der Theoretischen Physik.
1962 war Landau in einen tragischen Autounfall verwickelt, nach dem er 6 Wochen be-
wusstlos war. Obwohl er wieder das Bewusstsein erlangte und in vielerlei Hinsicht wieder
gesund wurde, konnte er nicht mehr kreativ arbeiten. Er starb 6 Jahre nach dem Unfall am
1. April 1968 in Moskau, ohne sich jemals vollständig erholt zu haben.
9.10 Quantisierung der Bahnen 467

betrachten Ladungsträger mit Ladung q = +e) und der Beziehung ħk̇ = ev × B = e dr


dt
× B,
woraus sich durch Integration ħk = er × B ergibt, erhalten wir96

∮ ħk ⋅ dr = e ∮ (r × B) ⋅ dr = −eB ⋅ ∮ r × dr = −2eΦ (9.10.23)

∮ eA ⋅ dr = e ∫ ∇ × A ⋅ dF = e ∫ B ⋅ dF = eΦ (9.10.24)

und damit insgesamt

∮ p ⋅ dr = −eΦ n = −eBA n = (n + γ) 2πħ . (9.10.25)

Wir sehen also, dass die Bahn eines Ladungsträgers (mit Ladung −e) so quantisiert ist, dass
der magnetische Fluss Φ n durch die von der Bahn im Ortsraum umschlossene Fläche A n
quantisiert ist:

Φ n = (n + γ)
h ̃0
= (n + γ) Φ (9.10.26)
(−e)
̃ 0 = h . Aus ħk = er × B folgt, dass das Wegelement dr in der Ebene
mit dem Flussquant Φ ⋃︀e⋃︀
senkrecht zum Magnetfeld mit dk über

ħ
⋃︀dr⋃︀ = ⋃︀dk⋃︀ (9.10.27)
eB
zusammenhängt. Wir können damit eine Beziehung zwischen der Fläche A n , die von der
Bahn im Ortsraum, und der Fläche S n , die von der Bahn im k-Raum umschlossen wird,
herstellen:

ħ 2
An = ( ) Sn . (9.10.28)
eB
Mit A n = Φ n ⇑B ergibt sich für die Quantisierung der Fläche im k-Raum der als Onsager-
Beziehung bekannte Zusammenhang97
2πe
S n = (n + γ) B (9.10.29)
ħ
und damit
2πm c 2πeB
S n+1 − S n = ∆S = ħω c = . (9.10.30)
ħ ħ
Das heißt, wir erhalten für die Kristallelektronen ein zum Ergebnis (9.10.20) für freie Elek-
tronen identisches Resultat. Das Ergebnis gilt aber jetzt nicht nur wie bei freien Elektronen
96
Wir benutzen die Identität a ⋅ (b × c) = −c ⋅ (b × a) und ferner die Tatsache, dass ∮ r × dr ein Vek-
tor parallel zu B mit der Länge 2A ist, wobei A die im Ortraum von der Trajektorie umschlossene
Fläche ist.
97
L. Onsager, Interpretation of the de Haas-van Alphen Effect, Phil. Mag. 43, 1006 (1952).
468 9 Dynamik von Kristallelektronen

für kreisförmige Bahnen, sondern auch dann, wenn die Landau-Bahnen nicht mehr kreis-
förmig sind. Der Effekt des Magnetfeldes kann also so beschrieben werden, dass die zu-
nächst äquidistant im Fermi-Körper verteilten Kristallelektronen auf konzentrische Landau-
Bahnen gezwungen werden, die senkrecht zur Magnetfeldachse verlaufen. Alle Kristallelek-
tronen mit gleicher Landau-Quantenzahl n kreisen mit der gleichen Zyklotron-Frequenz
um die Feldachse und umlaufen Bahnen, welche dieselbe Fläche umfassen aber durchaus
unterschiedliche Wellenvektoren k z parallel zum Magnetfeld haben können.
Für Experimente ist interessant zu wissen, welche Feldänderung ∆B zur gleichen Größe S
von zwei aufeinanderfolgenden Flächen S n und S n+1 führt. Aus S = (n + γ + 1) 2πe
ħ
B n+1 =
(n + γ) ħ B n bzw. 1⇑B n+1 = (n + γ + 1) ħS und 1⇑B n = (n + γ) ħS erhalten wir
2πe 2πe 2πe

1 1 1 2πe
∆( ) = ( − )= . (9.10.31)
B B n+1 B n ħS

Wir erhalten also durch gleiche Zunahmen in 1⇑B gleiche Bahnen im k-Raum. Aufgrund
dieser Tatsache zeigen physikalische Größen, die von der Dichte der Zustände an der Fermi-
Energie abhängen, ein magnetooszillatorisches Verhalten mit einer konstanten „Frequenz“
auf einer 1⇑B-Skala. Dieses Verhalten kann aber nur dann beobachtet werden, wenn die ther-
mische Verschmierung kleiner ist als der charakteristische Abstand ħω c zweier benachbarter
Landau-Zylinder. Das heißt, es muss gelten ħω c > k B T oder mit ω c = eB⇑m c
B mc kB
> = 0.78 T⇑K (9.10.32)
T ħe
für m c = m e . Wir sehen also, dass wir zu hohen Feldern im Bereich einiger Tesla und zu
tiefen Temperaturen im Bereich einiger Kelvin gehen müssen. Ein weiteres Kriterium für die
Beobachtbarkeit des oszillatorischen Verhaltens ist eine genügend lange Streuzeit τ. Obwohl
eine genaue Behandlung der Auswirkung der endlichen Streuzeit τ schwierig ist, können wir
eine grobe Abschätzung mit Hilfe der Unschärferelation machen. Mit ∆ε ≃ ħτ < ħω c folgt die
Bedingung
eB
ωc τ = τ >1, (9.10.33)
mc
also gerade die Bedingung für den Hochfeldgrenzfall. Wie bereits erwähnt können wir
ω c τ > 1 durch hohe Felder, tiefe Temperaturen und saubere Proben erreichen.

9.10.4 Vertiefungsthema: Magnetischer Durchbruch


Wir haben uns in den vorangegangenen Abschnitten mit Elektronen in starken Magnetfel-
dern beschäftigt. Dabei haben wir ein neues Quantisierungsschema kennen gelernt, in dem
die magnetischen Niveaus die erlaubten Bloch-Zustände aufnehmen. Diese Vorgehenswei-
se wird allerdings fraglich, wenn wir zu extrem hohen Feldern gehen, da dann Interband-
Übergänge möglich werden.
Um diesen Effekt zu verstehen, betrachten wir zunächst Elektronen in einem sehr starken
Magnetfeld, wo die Elektronenwellenfunktionen im Wesentlichen denjenigen von sich frei
9.10 Quantisierung der Bahnen 469

(a) (b)
A C A C
1. Band
ky
B
B 2. Band
kx
G

Abb. 9.49: (a) Bahn eines freien Elektrons im Magnetfeld. (b) Im periodischen Gitterpotenzial werden
die Bahnen an der Zonengrenze getrennt und man erhält offene Bahnen im 1. Band und geschlossene
Bahnen im 2. Band. In einem genügend starken Magnetfeld kann die Bahn aber wieder zurück auf die
ursprüngliche Bahn des freien Elektrons springen.

im Magnetfeld bewegenden Teilchen entsprechen. Wenn wir uns auf einen zweidimensiona-
len k-Raum senkrecht zum anliegenden Magnetfeld beschränken, haben wir einfache Kreis-
bahnen vorliegen (siehe Abb. 9.49a). Wir führen nun eine gitterperiodische Störung

V (x) = ∑ VG e ıG x (9.10.34)
G

ein, wobei G ein reziproker Gittervektor ist. Wir können die Störung als eine Schar von
Ebenen auffassen, die den Abstand 2π⇑G haben. Wenn die Bahn der Elektronen durch die
Zonengrenze verläuft, das heißt, wenn der Wellenvektor k x in x-Richtung gleich ±G⇑2 ist,
tritt Bragg-Reflexion auf. Dies führt zu stehenden Wellen und die Bahnen, die ja auf Flä-
chen ε(k) = const senkrecht zum Magnetfeld verlaufen, müssen die Zonengrenze senkrecht
schneiden. Statt die Bewegung entlang der Kreisbahn fortzusetzen, kann nun das Elektron
aufgrund der Reflexion seine Richtung ändern (siehe Abb. 9.49a). Ist die periodische Störung
groß genug, spalten sich die Bahnen am Punkt A bezüglich der Energie auf. Der Weg AC
wird bevorzugt und das Elektron bewegt sich somit auf einer offenen Bahn im periodischen
Zonenschema. Der Teil B der Bahn in Abb. 9.49b wird zu einem separaten Teil der Fermi-
Fläche, der völlig getrennt durchlaufen wird.
Erhöhen wir nun das Magnetfeld, so werden wir wiederum mehr zum Schema der freien
Elektronenbahnen in Abb. 9.49a zurückkehren. Anstatt entlang der offenen Bahn zu laufen,
kann das Elektron die kleine Energielücke durchbrechen bzw. das kleine Gebiet im k-Raum,
das die beiden Bahnen trennt, durchtunneln. Für den Tunnelprozess kann der Ausdruck
für das Zener-Tunneln benutzt werden, den wir hier nicht ableiten wollen.98 Beim Zener-
Tunneln kann ein elektrisches Feld E das Tunneln durch ein Gebiet mit einer Energielücke ε L
hervorrufen, falls
e ⋃︀E⋃︀ a ε F
>1. (9.10.35)
ε 2L

Hierbei ist a die Gitterkonstante und ε F die Fermi-Energie, die der kinetischen Energie des
Elektrons entspricht.

98
siehe z. B. Principles of the Theory of Solids, J. M. Ziman, Cambridge University Press, Cambridge
(1972).
470 9 Dynamik von Kristallelektronen

Wir müssen nun überlegen, welche Größe beim magnetischen Durchbruch dem elektrischen
Feld E in (9.10.35) entspricht. Ein Elektron, das den Punkt A im wiederholten Zonenschema
erreicht, hat die Geschwindigkeit

ħk F
v∼ , (9.10.36)
m
wobei der Fermi-Wellenvektor k F den Radius der Kreisbahn angibt. Dies gilt natürlich nur
näherungsweise an der Zonengrenze, da hier die Energiefläche durch die Existenz einer
Energielücke etwas gestört ist. Die Bewegung des Elektrons mit dieser Geschwindigkeit ver-
ursacht eine Lorentz-Kraft FL = −ev × B. Setzen wir diese der Kraft −eE durch ein äquiva-
lentes elektrisches Feld gleich, so erhalten wir das äquivalente elektrische Feld zu

⋃︀E⋃︀ ∼ ⋃︀v × B⋃︀ = vB . (9.10.37)

Dieses „elektrische Feld“ steht senkrecht zu v und kann ein Tunneln hervorrufen, wenn
(9.10.35) erfüllt ist, d. h. wenn gilt:

evBa ε F eħk F Ba ε F ε F ħω c ε F
2
≃ 2
≃ ħω c k F a 2 ≃ >1. (9.10.38)
εL m εL εL ε 2L

Hierbei haben wir k F a ≃ 1 gesetzt. Gleichung (9.10.38) ist das so genannte Blount-
Kriterium99 für den magnetischen Durchbruch. Dieses kann für einige Metalle bereits
bei Feldern in der Größenordnung von einigen Tesla erfüllt sein.

9.11 Experimentelle Bestimmung der


Fermi-Flächen
Die Fermi-Fläche ist eine Fläche konstanter Energie ε = ε F im k-Raum. Für Metalle trennt sie
bei T = 0 die besetzten von den unbesetzten Zuständen. Die Form der Fermi-Fläche ist eng
mit den Transporteigenschaften und den optischen Eigenschaften von Metallen verknüpft.
Die Kenntnis der Fermi-Fläche ist deshalb von großer Bedeutung, um über diese Eigen-
schaften Vorhersagen machen zu können. Ferner ist die experimentelle Bestimmung der
Fermi-Fläche auch für die Überprüfung von Bandstrukturrechnungen notwendig.
Es gibt eine Vielzahl experimenteller Methoden, die Aussagen über die Fermi-Flächen von
Metallen machen. Die Methoden basieren u. a. auf der Messung folgender Effekte und phy-
sikalischer Größen:

1. de Haas-van Alphen-Effekt
2. Shubnikov-de Haas-Effekt
3. Zyklotronresonanz
4. anomaler Skin-Effekt
99
E. I. Blount, Bloch Electrons in a Magnetic Field, Phys. Rev. 126, 1636 (1962).
9.11 Experimentelle Bestimmung der Fermi-Flächen 471

5. Magnetwiderstand
6. Ultraschallabsorption
7. optische Reflektivität
8. Photoelektronen-Spektroskopie (siehe Abschnitt 8.5.3)

Wir werden nur einige dieser Effekte diskutieren.100


Die Grundidee bei den meisten Methoden zur experimentellen Untersuchung von Fermi-
Flächen basiert überwiegend darauf, dass man im Experiment nur eine bestimmte Gruppe
von Elektronen der Fermi-Fläche herausgreift. Dies erreicht man durch die Verwendung
von Einkristallen oder entsprechend orientierten Oberflächen, deren Orientierung relativ
zu einem äußeren Magnetfeld variiert wird. Für die meisten Methoden sollte ω c τ = eBτ⇑m c
möglichst groß sein. Dies erreicht man durch die Verwendung hoher Magnetfelder, tiefer
Temperaturen und sehr reiner Proben.

9.11.1 De Haas-van Alphen-Effekt


Unter dem de Haas-van Alphen-Effekt 101 versteht man die Oszillation der Magnetisierung
eines Metalls als Funktion des angelegten Magnetfeldes. Der Effekt wurde im Jahr 1930 von
W. J. de Haas102 und P. M. van Alphen103 entdeckt, als sie die Magnetisierung von Wismut
bei der Siedetemperatur von flüssigem Wasserstoff (14.2 K, abgepumpt) als Funktion des an-
gelegten Magnetfeldes untersuchten. Um diesen Effekt für eine allgemeine Form der Fermi-
Fläche zu berechnen, müssten wir im Detail die freie Energie eines Ensembles von Fermio-
nen diskutieren.104 Dies wollen wir hier nicht tun, sondern nur den sehr anschaulichen Fall
eines zweidimensionalen Systems bei T = 0 betrachten. Bei der Diskussion dieses Falls wer-
den wir alle wichtigen physikalischen Ingredienzen kennen lernen.
Die Situation für ein zweidimensionales System bei T = 0 ist in Abb. 9.50 skizziert. Ohne Feld
haben wir für ein zweidimensionales System eine konstante Zustandsdichte D (vergleiche
Abschnitt 7.1.1) und alle Zustände sind bis zur Fermi-Energie besetzt. Schalten wir jetzt
das Magnetfeld ein, so werden die Zustände auf Landau-Kreise mit den Eigenenergien ε n =

100
Weiterführende Literatur:
A. P. Crackwell, K. C. Wong, Fermi Surfaces, Oxford University Press (1973).
L. M. Falicov, Fermi Surface Studies, in Electrons in crystalline solids, IAEA, Wien (1973).
A. B. Pippard, Dynamics of Conduction Electrons, Gordon and Breach, New York (1965).
M. Springford, Electrons at the Fermi Surface, Cambridge University Press (1980).
D. Shoenberg, Magnetic Oscillations in Solids, Cambridge University Press (1984).
C. R. Stewart, Heavy Fermion Systems, Rev. Mod. Phys. 56, 755 (1984).
101
W. J. de Haas, P. M. van Alphen, Leiden Comm. 208d and 212a (1930); Proc. Netherlands Roy.
Acad. Soc. 33, 1106 (1930).
102
Wander Johannes de Haas, geboren am 2. März 1878 in Lisse nahe Leiden, gestorben am 26. April
1960 in Bilthoven, niederländischer Physiker und Mathematiker.
103
P. M. van Alphen, 1906–1967.
104
siehe z. B. Principles of the Theory of Solids, J. M. Ziman, Cambridge University Press, Cambridge
(1972).
472 9 Dynamik von Kristallelektronen

𝑩=𝟎 𝑩𝟏 𝑩𝟐 𝑩=𝟎 𝑩𝟑
𝜺 5 𝜺
4
5
4 𝝁
𝝁
4 3
3
3
2
2
2
ℏ𝜔𝑐
1 1
1
0 0
𝑫 𝑫
(a) (b) (c) (d) (e)

Abb. 9.50: Zur Erklärung des de Haas-van Alphen-Effekts für ein zweidimensionales freies Elektronen-
gas. Gezeigt sind die besetzten Zustände (grau schattiert) für B = 0 (a und d) sowie die Landau-Niveaus
96
für verschiedene Magnetfelder (b, c und e). In (c) ist der Magnetfeldwert B 2 so gewählt, dass die Fermi-
Energie zu der im Nullfeld identisch ist. Durch Erhöhen des Feldes B 2 schieben wir die Landau-Niveaus
und damit die Fermi-Energie zunächst solange nach oben, bis alle Zustände wegen der zunehmenden
Entartung in die weiter unten liegenden Niveaus umverteilt werden können und die Fermi-Energie
um ein Landau-Niveau nach unten springt. Dies ist gerade beim Feld B 3 der Fall.

(n + 12 ) ħω c gezwungen. Die Fläche zwischen zwei Kreisen ist nach (9.10.30)

2πeB
∆S = S n+1 − S n = (9.11.1)
ħ
und die Entartung jedes Energieniveaus ist nach (9.10.21)
L x L y 2πeB
p= = ρB . (9.11.2)
(2π)2 ħ

Um den de Hass-van Alphen-Effekt zu verstehen, müssen wir die Abhängigkeit des Fermi-
Niveaus vom angelegten Magnetfeld betrachten. Hierzu nehmen wir an, dass wir N Elek-
tronen in dem betrachteten System haben. Bei T = 0 werden die Landau-Niveaus von unten
her aufgefüllt. Wir wollen annehmen, dass wir s Niveaus vollkommen gefüllt haben und
das Niveau s + 1 nur teilweise gefüllt ist. Das bedeutet, dass das chemische Potenzial im Ni-
veau s + 1 liegt. Erhöhen wir nun das Feld, so wird das Fermi-Niveau nach oben geschoben,
da die Energie ε s+1 = (s + 1 + 12 ) ħω c linear mit B anwächst. Allerdings wächst auch die Ent-
artung p der Niveaus linear mit B an (siehe Abb. 9.51), so dass immer mehr Zustände in die
weiter unten liegenden Niveaus verschoben werden können. Dies geht solange weiter, bis das
Niveau s + 1 vollkommen entvölkert ist und deshalb das chemische Potenzial schlagartig in
das Niveau s springt. Dies geschieht bei einem Feld
N
Bs = , (9.11.3)
ρs

bei dem das Produkt aus der Zahl s der gefüllten Landau-Niveaus und der Entartung ρ = p⇑B
genau die Zahl der Elektronen im System ergibt.
9.11 Experimentelle Bestimmung der Fermi-Flächen 473

(a) 120 (b) 120

s=4
90 90

s=3
s=2
Anzahl
Anzahl

60 60

s=1
30 30

0 0
0 4 8 12 16 20 0.0 0.5 1.0 1.5 2.0 2.5 3.0

B (T) 10 / B (1/T)

Abb. 9.51: Zahl der Teilchen in vollkommen besetzten Landau-Niveaus (durchgezogene Linie) und in
teilweise besetzen Niveaus (getönte Fläche) als Funktion von B (a) und 1⇑B (b). Es wurde N = 120 und
ρ = 5 angenommen.

Wir berechnen nun die Gesamtenergie aller Elektronen. Dazu betrachten wir zunächst die
Energie der s vollkommen gefüllten Landau-Niveaus. Mit ε n = (n + 12 ) ħω c und der Entar-
tung p der Landau-Niveaus erhalten wir, wenn wir von n = 1 anstelle von n′ = 0 zählen,
s s−1
ε tot,1 = ∑ pħω c (n − 12 ) = ∑ pħω c (n′ + 12 ) = 1
2
pħω c s 2 . (9.11.4)
n=1 n ′ =0

Im teilweise gefüllten Niveau s + 1 befinden sich noch (N − sp) Elektronen , so dass wir für
deren Energie

ε tot,2 = ħω c (s + 12 ) (N − sp) (9.11.5)

erhalten. Für die Gesamtenergie U des Elektronensystems ergibt sich somit

U= 1
2
p ħω c s 2 + ħω c (s + 12 ) (N − sp) = ħω c [︀N (s + 12 ) − 12 ps 2 − 12 ps⌉︀ . (9.11.6)

Dieses Ergebnis ist in Abb. 9.52 grafisch dargestellt. Wir sehen, dass die Gesamtenergie U
als Funktion von 1⇑B periodisch variiert. Dies ist anschaulich zu erwarten, da ja identische
Intervalle auf einer 1⇑B-Skala benötigt werden, um einen bestimmten Landau-Zylinder auf
die Position des jeweiligen benachbarten Zylinders zu schieben. Deshalb schieben wir mit
einer konstanten „Frequenz“ ∆(1⇑B) Landau-Zylinder über die Fermi-Energie, was zu einer
periodischen Variation den Gesamtenergie mit dieser Frequenz führt.
Die Magnetisierung M einer Probe ist gegeben durch

1 ∂F
M=− ( ) , (9.11.7)
V ∂B T,V
wobei F = U − T S die freie Energie ist. Da F = U für T = 0, ist auch die Magnetisierung M
eine periodischen Funktion in 1⇑B. Diese Oszillation der Magnetisierung als Funktion von
474 9 Dynamik von Kristallelektronen

Gesamtenergie
1.2 𝑵 = 𝟏𝟐𝟎, 𝝆 = 𝟓

1.0 µ
Abb. 9.52: Gesamtener-

U / U(B=0)
gie des Elektronensystems 0.8
(rot, durchgezogen) und 𝒔=𝟔
𝒔=𝟓
Energie der Elektronen in 0.6 𝒔=𝟒
den vollständig gefüllten
Niveaus (schwarz, durch- 𝒔=𝟑
gezogen) als Funktion 0.4
von 1⇑B. Die getönte Flä- 𝒔=𝟐
che gibt den Beitrag der 0.2
Elektronen in nicht vollstän-
dig gefüllten Niveaus zur 𝒔=𝟏
0.0
Gesamtenergie an. Es wurde 0.0 0.5 1.0 1.5 2.0 2.5 3.0
wie in Abb. 9.51 N = 120
und ρ = 5 angenommen. 1 / B (10/T)
98

105 , 106
1⇑B wird als de Haas-van Alphen-Effekt bezeichnet. Nach (9.10.31) ist die Oszillations-
frequenz ∆( B1 ) gegeben durch

1 2πe
∆( ) = . (9.11.8)
B ħS

Wir können also durch Messung von ∆( B1 ) die Größe der Schnittfläche S der Fermi-Fläche
senkrecht zum anliegenden Magnetfeld bestimmen.

9.11.1.1 Dreidimensionaler Fall


Wir haben bisher nur den zweidimensionalen Fall diskutiert. Betrachten wir eine dreidi-
mensionale Probe mit einer dreidimensionalen Fermi-Fläche, so gibt es unendlich viele
Schnittflächen durch den Fermi-Körper, die senkrecht zum Magnetfeld verlaufen. Diese
Schnittflächen haben unterschiedliche Flächen und führen deshalb zu unterschiedlichen
Perioden ∆( B1 ). Es kann gezeigt werden,107 dass aber nur so genannte extremale Bahnen
zum Signal beitragen (siehe hierzu Abb. 9.53). Für extremale Bahnen ist die Umlaufzeit
stationär gegenüber kleinen Änderungen von k z ∥ B. Der anschauliche Grund dafür, dass
nur extremale Bahnen beitragen, liegt darin begründet, dass für die nicht-extremalen Bah-
nen die Umlaufzeiten und damit die Phasenfaktoren benachbarter Bahnen stark variieren.
Die Beiträge interferieren sich dann gegenseitig weg. Nur in der Umgebung der extremalen
Bahn bleiben die Umlaufzeiten und die Phasen in etwa konstant.

105
W. J. de Haas, P. M. van Alphen, Leiden Comm. 208d and 212a (1930).
106
D. Shoenberg, Magnetic Oscillations in Metals, Cambridge University Press (1984).
107
siehe z. B. Principles of the Theory of Solids, J. M. Ziman, Cambridge University Press, Cambridge
(1972).
9.11 Experimentelle Bestimmung der Fermi-Flächen 475

Extremalbahn 𝒗
𝒗 𝒗𝒛 = 𝟎 𝒌𝒚
𝒌𝒙
𝒗𝒛 ≠ 𝟎
𝒌𝒛
B A
𝑩

Abb. 9.53: Elliptischer Fermi-Körper zur Veranschaulichung von Extremalbahnen. Für die Bahnen in
der Umgebung der Schnittfläche A sind die Umlaufzeiten konstant. Wir nennen die zur Schnittflä-
che A gehörige Bahn Extremalbahn. Für die Bahnen in der Umgebung der Schnittfläche B variieren
die Umlaufzeiten und Phasenfaktoren dagegen stark, so dass eine Auslöschung erfolgt.

9.11.1.2 Beispiele
Als Beispiele wollen wir den de Haas-van Alphen-Effekt für Kupfer und Gold diskutieren.
99

Beide Metalle haben fcc-Struktur und haben ein Valenzelektron pro Atom. Die Elektro-
nenkonzentration eines einwertigen Metalls mit fcc-Struktur ist n = 4⇑a 3 , da jede Einheits-
zelle 4 Atome besitzt. Für ein freies Elektronengas wäre der Radius der Fermi-Kugel k F =
(3π 2 n)1⇑3 ≃ 4.90⇑a.
⌋︂ Der kleinste Abstand des Randes der 1. Brillouin-Zone vom Zonen-
zentrum ist 2πa
3 = 10.99⇑a > 2k F , also größer als der Durchmesser der Fermi-Kugel. Für
ein freies Elektronengas würde deshalb die Fermi-Kugel den Rand der 1. Brillouin-Zone
nicht berühren. Da für Kristallelektronen aber die Bandenergie in der Nähe der Zonengren-
ze etwas erniedrigt ist, kommt es zu einer Berührung der Fermi-Fläche mit der hexagonalen
Fläche der 1. Brillouin-Zone (siehe Abb. 9.54). Es entstehen dort so genannte Hälse, die in
einem periodischen Zonenschema zu einer Verbindung der Fermi-Flächen führen.
Aufgrund der Hälse findet man sowohl für Kupfer als auch für Gold bei einer Feldrichtung
parallel zur [111]-Richtung zwei Feldperioden 1⇑B 111 . Für Gold misst man die Perioden
2.05 × 10−9 Gauss−1 und 6 × 10−8 Gauss−1 . Für ein Feld in [100]-Richtung misst man nur ei-
ne Periode 1⇑B 100 = 1.95 × 10−9 Gauss−1 . Die beiden Perioden 1⇑B 111 entsprechen den bei-
den Flächen S 111 von 4.8 × 1016 cm−2 und 1.6 × 1015 cm−2 . Die kleinere der beiden S 111 -Flä-
chen ist hierbei gerade die Fläche der Halsbahn. Die große S 111 -Fläche ist fast identisch zur

Hals- Hals- [100]


[100]
bahn bahn

[111] [111]

Abb. 9.54: Extremalbahnen


für die Fermi-Flächen von
Kupfer und Gold für ein
angelegtes Magnetfeld in
Cu Au [111]- und [100]-Richtung.
476 9 Dynamik von Kristallelektronen

S 100 -Fläche und entspricht in etwa der Fläche πk F2 = 4.5 × 1016 1⇑cm2 , die man für Gold im
Rahmen des freien Elektronengasmodells erwartet.
Abb. 9.55 zeigt die Magnetisierung des quasi-zweidimensionalen organischen Metalls
α-(BEDT-TTF)2 TlHg(SeCN)4 bei einer Temperatur von 110 mK und angelegten Feldern
zwischen 10 and 32 T. Das Magnetfeld wurde in etwa senkrecht zu den zweidimensionalen
Leitungsebenen des Metalls angelegt. Deutlich sind die Oszillationen der Magnetisierung
zu sehen, wobei die Oszillationsamplitude wie erwartet mit steigendem Feld zunimmt.
Variiert man den Winkel θ des Magnetfeldes relativ zu den zweidimensionalen Leitungs-
ebenen, so ändert sich die Oszillationsfrequenz, da die Querschnittsfläche der für das quasi-
zweidimensionale System zylindrischen Fermi-Fläche proportional zu 1⇑ cos θ ist.

Abb. 9.55: Magnetisierung des zwei-


dimensionalen organischen Me-
talls α-(BEDT-TTF)2 TlHg(SeCN)4
bei T = 110 mK zwischen 10 und
32 T. Das Magnetfeld wurde un-
ter einem Winkel von 5○ relativ
zur Normalen auf den BEDT-TTF-
Ebenen angelegt (M. Kartsovnik,
Walther-Meißner-Institut Garching,
Hochfeld-Magnetlabor Grenoble).

9.11.2 Shubnikov-de Haas-Effekt


Die Analyse im vorigen Abschnitt wurde für die freie Energie und die Magnetisierung eines
Elektronengases durchgeführt. Andere physikalische Eigenschaften wie die elektrische und
die thermische Leitfähigkeit weisen in starken Magnetfeldern ebenfalls eine oszillatorische
Abhängigkeit vom angelegten Magnetfeld auf. Die Analyse für diese Größen ist allerdings
wesentlich komplizierter und soll hier nicht im Detail durchgeführt werden.
Die Oszillationen der elektrischen Leitfähigkeit als Funktion des angelegten Magnetfeldes
werden Shubnikov-de Haas-Oszillationen genannt.108 Die theoretische Erklärung dieses
Phänomens wurde von Adams und Holstein gegeben.109 Ein qualitatives Verständnis für das
Auftreten von Oszillationen der elektrischen Leitfähigkeit kann gut mit dem von Pippard
gegeben Argument gewonnen werden, dass die Streuwahrscheinlichkeit und damit der
elektrische Widerstand direkt proportional zur Zustandsdichte am Fermi-Niveau ist. Diese

108
L. W. Shubnikov, W. J. de Haas, Proc. Netherlands Royal Academic Society 33, 130 and 160 (1930).
109
E. N. Adams, T. D. Holstein, Quantum Theory of Transverse Galvanomagnetic Phenomena, J. Phys.
Chem. Solids 10, 254–276 (1959).
9.11 Experimentelle Bestimmung der Fermi-Flächen 477

wiederum ist proportional zur Feldableitung der Magnetisierung:110

m c B 2 ∂M
D(ε F ) ∝ ( ) . (9.11.9)
S extr. ∂B
Hierbei ist S extr. die Fläche einer Extremalbahn im k-Raum. Als Beispiel sind in Abb. 9.56
die Shubnikov-de Haas-Oszillationen in dem zweidimensionalen organischen Metall
α-(BEDT-TTF)2 KHg(SCN)4 gezeigt. Wie oben erwähnt wurde [vergleiche (9.10.32)], hängt
die Amplitude der beobachteten Oszillationen vom Verhältnis ħω c ⇑k B T = ħeB⇑m c k B T ab.
Aus der gemessenen Temperaturabhängigkeit der Oszillationsamplitude kann deshalb die
Zyklotronmasse m c bestimmt werden.

α-(BEDT-TTF)2KHg(SCN)4
P = 2.3 kbar 2K
R ( a.u. )

2.5 K

3K

3.6 K Abb. 9.56: Shubnikov-de Haas-


Oszillationen in dem zweidimen-
5K sionalen organischen Metall α
(BEDT-TTF)2 KHg(SCN)4 bei ei-
nem Druck von 2.3 kbar (D. Andres,
20 22 24 26
Doktorarbeit TU-München (2005)).
B(T)

9.11.3 Vertiefungsthema: Zyklotronresonanz


Wir betrachten einen Festkörper in einem starken Magnetfeld, so dass ω c τ ≫ 1, und neh-
men ein zeitabhängiges elektrisches Feld der Frequenz ω mit räumlich konstanter Amplitu-
de an. Wir können dann von der Boltzmann-Gleichung (9.9.1) ausgehen und müssen noch
berücksichtigen, dass ∂ f ⇑∂t = ∂g⇑∂t ≠ 0. Da für den Fall ω c τ ≫ 1 eine Darstellung in kar-
tesischen Koordinaten umständlich ist, drücken wir (9.9.1) als Funktion der Energie ε, der
Komponente k z des Wellenvektors parallel zum Magnetfeld und des Winkels ϕ in der Ebene
senkrecht zum Magnetfeld aus. Mit ∇k g(k) = (∂g⇑∂t)⇑(dk⇑dt) und dk⇑dt = ħe (v(k) × B)
sowie ∂g⇑∂t = (∂g⇑∂ϕ)(dϕ⇑dt) = ω c (∂g⇑∂ϕ) erhalten wir

∂ f0 g(k) ∂g ∂g
eE ⋅ v(k) (− )= + ωc + . (9.11.10)
∂ε τ ∂ϕ ∂t

Mit dem Lösungsansatz

∂ f0
g(ε, k z , ϕ) = (− ) F(k z ) e ı(ϕ−ωt) (9.11.11)
∂ε

110
siehe z. B. Fundamentals of the Theory of Metals, A. A. Abrikosov, North-Holland, Amsterdam
(1988).
478 9 Dynamik von Kristallelektronen

erhalten wir die Lösung


eτ v ⋅ E
F(k z ) = (9.11.12)
1 + ı (ω c − ω)τ
Wir sehen, dass F(k z ) proportional zur Feldstärke, jedoch längs der Bahn mit dieser nicht
in Phase ist, außer wenn ω = ω c .
Setzen wir die Nichtgleichgewichtsverteilung in den Ausdruck für die elektrische Leitfähig-
keit ein, so erhalten wir
1 − ı (ω c − ω)τ
σ(ω) = σ(0) . (9.11.13)
1 + ı (ω c − ω)2 τ 2
Wir erhalten eine Resonanzlinie der Breite 1⇑τ bei der Frequenz ω = ω c . Diese kann durch
Messung der Frequenzabhängigkeit des Oberflächenwiderstandes, des Reflexionsvermögens
oder der Absorption untersucht werden. Daraus erhält man die Zyklotron-Frequenz und
damit die Zyklotron-Masse. Diese ist für eine anisotrope Fermi-Fläche natürlich richtungs-
abhängig. Wir sehen also, dass wir durch Messung der Zyklotronresonanz nicht direkt die
Fermi-Fläche, sondern die Zyklotron-Masse m c ∝ ∂S⇑∂ε erhalten.

Anmerkung: Gleichung (9.11.13) gilt für ein zirkular polarisiertes elektrisches Feld, bei
dem das elektrische Feld mit der natürlichen Zyklotronbewegung der Elektronen im Ma-
gnetfeld rotiert. Es ist evident, dass (9.11.13) für einen entgegengesetzt zirkular polarisier-
ten Strahl +ω statt −ω enthalten wird. Es tritt dann keine Resonanz auf. Allerdings trägt der
Imaginärteil von σ(ω) zum Realteil des komplexen Brechungsindex n bei111 und beeinflusst
somit die Phasengeschwindigkeit der elektromagnetischen Welle. Für eine linear polarisierte
Welle, die wir uns aus zwei entgegengesetzt zirkular polarisierten Wellen zusammengesetzt
denken können, pflanzen sich die beiden Komponenten mit unterschiedlichen Geschwin-
digkeiten fort, so dass die Polarisationsebene kontinuierlich gedreht wird. Dieses Phänomen
bezeichnen wir als Faraday-Effekt.

9.11.3.1 Zyklotronresonanz bei Metallen

⌈︂
Die bisherige Betrachtung gilt gut für Halbleiter, die aufgrund ihrer relativ schlechten Leitfä-
higkeit eine große Skin-Eindringtiefe δ = 2⇑µ 0 ωσ haben und deshalb das elektrische Feld
in diesem Fall als homogen angenommen werden kann. Für Metalle ist dies nicht mehr der
Fall. In reinen Metallen ist τ ∼ 10−10 s und σ ∼ 108 Ω−1 cm−1 . Bei Frequenzen ω = ω c ≥ 1⇑τ ∼
1010 s−1 ist die Skin-Eindringtiefe δ ≤ 0.1 µm. Die Skin-Eindringtiefe ist also so klein, dass
der Zyklotronradius der Elektronenbahnen (R c ≃ 10 µm bei B = 1 T) wesentlich größer als
die Eindringtiefe des elektrischen Feldes ist und dieses nicht mehr als homogen angenom-
men werden kann. Wir können auch nicht zu niedrigeren Frequenzen ausweichen, da wir
dann nicht mehr den Grenzfall ω c τ ≫ 1 erreichen können.
Zur Beobachtung der Zyklotron-Resonanz bei Metallen benutzt man üblicherweise die in
Abb. 9.57 gezeigte Azbel-Kaner-Geometrie. Bei dieser wird das Magnetfeld parallel zur Me-
talloberfläche angelegt und das elektrische Feld schwingt ebenfalls parallel zur Oberfläche.
111 1⇑2
Es gilt n = (1 + ı 4πσ
ω
) .
9.11 Experimentelle Bestimmung der Fermi-Flächen 479

𝜹 𝒆𝑬 𝑬

B
𝒚

𝑹𝒄 𝒙
𝒛 Abb. 9.57: Zur Geometrie bei der Beobachtung
der Azbel-Kaner-Resonanz.

Wir erhalten dann eine Resonanzabsorption für


Azbel-Kaner-Geometrie zur Beobachtung der Zyklotron-Resonanz in Metallen
eB
ω = nω c = n , n = 1, 2, 3, . . . . (9.11.14)
mc
Dies können wir anschaulich wie folgt verstehen: Das Elektron läuft auf der in Abb. 9.57 ge-
zeigten Bahn mit der Frequenz ω c um. Jedesmal wenn es an105der Oberfläche vorbeikommt,
erhält es durch das dort wirkende elektrische Feld einen Stoß. Ähnlich wie bei einer Schau-
kel kann das Elektron aus dem elektrischen Feld Energie aufnehmen, wenn dieses mit der
richtigen Frequenz, nämlich ω = nω c , und der richtigen Phasenlage anstößt. Es tritt eine Re-
sonanzabsorption auf, die als Azbel-Kaner-Resonanz bezeichnet wird. Im Experiment hält
man üblicherweise die Frequenz des Hochfrequenzfeldes konstant und variiert das angelegte
Magnetfeld. Man erhält dann Absorptionslinien bei
1 e
=n , n = 1, 2, 3, . . . . (9.11.15)
B ωm c

Ähnlich wie beim de Haas-van Alphen-Effekt kann man argumentieren, dass zu den beob-
achteten Resonanzen nur die Extremalbahnen beitragen und sich die Beiträge anderer Bah-
nen wegmitteln. Durch Messung der Azbel-Kaner-Resonanzen erhält man also Information
über die senkrecht zum Magnetfeld verlaufenden Extremalbahnen.

9.11.4 Vertiefungsthema: Anomaler Skin-Effekt


Die ersten Untersuchungen zur Fermi-Fläche von Kupfer wurden von Pippard112 durch Mes-
sung der Reflexion und Absorption von elektromagnetischen Wellen an einer Kupferober-
fläche in Abwesenheit eines Magnetfeldes gemacht.113 Falls die Frequenz nicht allzu hoch ist,
dringt das Hochfrequenzfeld in das Metall auf einer Längenskala
}︂
2
δ= (9.11.16)
µ0 σ ω

112
Sir Alfred Brian Pippard, geboren am 7. September 1920 in Earl’s Court, London, gestorben am
21. September 2008 in Cambridge.
113
A. B. Pippard, An Experimental Determination of the Fermi Surface in Copper, Phil. Trans. Roy. Soc.
A 250, 325–357 (1957).
480 9 Dynamik von Kristallelektronen

ein, die durch die klassische Skin-Eindringtiefe gegeben ist. Gleichung (9.11.16) gilt
allerdings nur dann, wenn die mittlere freie Weglänge ℓ klein gegenüber δ ist. Falls um-
gekehrt δ ≪ ℓ, erhält man einen anomalen Skin-Effekt. Das einfache Bild eines auf der
Längenskala δ exponentiell abfallenden elektrischen Feldes gilt hier nicht mehr. Für δ ≪ ℓ
wird das Eindringen des elektrischen Feldes und die Reflexion durch die Geometrie und
Form der Fermi-Fläche des Metalls bestimmt, weshalb diese durch Messung des anomalen
Skin-Effekts bestimmt werden kann. In den meisten Experimenten wird die Metalloberflä-
che als Teil eines Hohlraumresonators verwendet, dessen Oberflächenimpedanz vermessen
wird.

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10 Halbleiter
Unter einem Halbleiter verstehen wir einen Festkörper, den wir hinsichtlich seiner elektri-
schen Leitfähigkeit sowohl als Leiter als auch als Nichtleiter betrachten können. Aufgrund
der großen Variationsbreite ihrer elektrischen Eigenschaften und der Tatsache, dass ihre
elektrische Leitfähigkeit von außen über elektrische Felder gesteuert werden kann, haben
Halbleiter in unserer heutigen Elektronik eine enorme Bedeutung erlangt.
In Abschnitt 8.4 und 8.5 haben wir be-
reits diskutiert, dass wir Festkörper ent-
sprechend der vorliegenden Bandstruk-
tur in Metalle, Halbmetalle, Halbleiter
und Isolatoren unterteilen können. Wir
haben gelernt, dass vollkommen gefüll-
te und leere Bänder nicht zur elektri-
schen Leitfähigkeit beitragen und deshalb
Materialien, die nur vollkommen gefüll-
te und leere Bänder besitzen, Isolatoren
bzw. Halbleiter sind. Dabei haben wir ge-
sehen, dass der Unterschied zwischen Iso-
latoren und Halbleitern nur ein quantita-
tiver aber kein qualitativer ist. Ist die Bandlücke E g zwischen dem obersten vollkommen
gefüllten (Valenzband) und dem untersten vollkommen leeren Band (Leitungsband) nicht
allzu groß, so sind bei Raumtemperatur aufgrund der Verschmierung der Fermi-Funktion
einige Zustände im Leitungsband besetzt und einige Zustände im Valenzband leer. Wie wir
später sehen werden, nimmt der Anteil der thermisch angeregten Ladungsträger propor-
tional zu exp(−E g ⇑2k B T) zu und beträgt damit bei Raumtemperatur (k B T ≃ 25 meV) und
einer Energielücke von E g ≃ 0.5 eV etwa e−10 ≈ 5 × 10−5 . Sowohl die thermisch angeregten
Elektronen im Leitungsband als auch die Löcher im Valenzband führen zu einer endlichen
Leitfähigkeit und wir sprechen von einem Halbleiter. Ist die Bandlücke dagegen groß, so
ist die Zahl der thermischen angeregten Ladungsträger und damit die elektrische Leitfähig-
keit selbst bei Raumtemperatur verschwindend klein und wir sprechen von einem Isolator.
Bei E g = 3 eV ist der Anteil der thermisch angeregten Ladungsträger bei Raumtemperatur
nur noch etwa e−58 ≈ 5 × 10−26 .
Der Übergang zwischen Halbleitern und Isolatoren ist fließend und nicht genau festgelegt.
In den meisten Lehrbüchern werden üblicherweise diejenigen Materialien als Halbleiter be-
zeichnet, die bei Raumtemperatur einen spezifischen Widerstand im Bereich zwischen 10−2
und 109 Ωcm haben. Materialien mit einem höheren spezifischen Widerstand werden als
Isolatoren bezeichnet. Da die Ladungsträgerdichte und damit die elektrische Leitfähigkeit
484 10 Halbleiter

mit sinkender Temperatur etwa proportional zu exp(−E g ⇑2k B T) abnimmt, sind bei einer
Klassifizierung hinsichtlich des elektrischen Widerstands bei genügend tiefen Temperatu-
ren alle Halbleiter natürlich Isolatoren. Eine vernünftige Klassifizierung ist z. B. diejenige,
als Halbleiter alle Materialien mit einer endlichen Energielücke zu bezeichnen, die unter-
halb ihrer Schmelztemperatur noch eine beobachtbare elektrische Leitfähigkeit besitzen. Die
Tatsache, dass die elektrische Leitfähigkeit von Halbleitern mit der Temperatur abnimmt
unterscheidet sie fundamental von Metallen, deren elektrische Leitfähigkeit mit sinkender
Temperatur zunimmt (vergleiche Kapitel 7 und 9).
Der exponentielle Zusammenhang zwischen Ladungsträgerdichte und Bandlücke E g gilt
nur für so genannte intrinsische Halbleiter, bei denen freie Ladungsträger nur durch An-
regung aus dem vollen Valenzband ins leere Leitungsband erzeugt werden können. In die-
sem Fall könnten wir alternativ Materialien mit einer Energielücke kleiner als etwa 3 eV als
Halbleiter bezeichnen. Eine herausragende Eigenschaft von Halbleitern, die diese Material-
klasse gegenüber Metallen auszeichnet, ist aber die Möglichkeit, ihre Ladungsträgerdichte
und damit ihre elektrische Leitfähigkeit durch Verunreinigung mit kleinsten Mengen von
Fremdatomen, man spricht hier von Dotierung, über mehrere Größenordnungen zu ändern.
Durch die Wahl der Fremdatome kann ferner festgelegt werden, ob die erzielte Leitfähigkeit
elektron- oder lochartig ist. Die meisten Halbleiterbauelemente basieren auf dieser spezifi-
schen Eigenschaft von Halbleitern. In diesem Zusammenhang könnten wir auch alle Isolato-
ren, deren spezifischer elektrischer Widerstand sich durch Dotierung in den oben genannten
Bereich zwischen etwa 10−2 und 109 Ωcm bringen lässt, als Halbleiter bezeichnen. Dazu ge-
hört z. B. auch Diamant, den wir ohne Dotierung, also als intrinsisches Material, aufgrund
seiner großen Energielücke von etwa 5.5 eV den Isolatoren zuordnen müssen.
Halbleiter haben heute eine enorme Bedeutung für die Informations- und Kommunikati-
onstechnik (integrierte Schaltkreise), aber auch für die Leistungselektronik (Transistoren,
Thyristoren, Triacs), die Sensorik (Hall-Sensoren, Thermistoren, Photo-Detektoren, Druck-
sensoren), die Beleuchtungstechnik (Leuchtdioden), die Lasertechnik (Injektionslaser) oder
die Photovoltaik (Solarzellen). Wir wollen in diesem Kapitel die spezifischen Eigenschaf-
ten von Halbleitern näher diskutieren. Dabei werden wir zunächst eine Klassifizierung von
Halbleitern vornehmen und die grundlegenden Eigenschaften von intrinsischen und dotier-
ten Halbleitern wie ihre Ladungsträgerdichte und ihren elektrischen Widerstand diskutie-
ren. Anschließend werden wir uns mit räumlich inhomogenen Halbleitern und ihrer An-
wendung in elektronischen Bauelementen beschäftigen. Zum Abschluss des Kapitels über
Halbleiter werden wir niedrigdimensionale Elektronengase diskutieren, die mit Halbleiter-
systemen einfach realisiert werden können und in der heutigen Grundlagenforschung von
großer Bedeutung sind. An einem mit einer Halbleiterstruktur realisierten zweidimensiona-
len Elektronengas wurde zum Beispiel der Quanten-Hall-Effekt entdeckt.
10.1 Grundlegende Eigenschaften 485

10.1 Grundlegende Eigenschaften von Halbleitern


10.1.1 Klassifizierung von Halbleitern
Unabhängig von der chemischen Zusammensetzung unterscheiden wir zwischen

∎ intrinsischen und dotierten Halbleitern:


Bei intrinsischen Halbleitern können wir freie Ladungsträger im Leitungsband nur durch
Anregung aus dem Valenzband erzeugen. Bei dotierten Halbleitern ist dies nicht mehr
der Fall. Wir werden sehen, dass durch das Einbringen von Fremdatomen in Halbleiter
elektronische Niveaus in der Bandlücke erzeugt werden und wir dadurch freie Ladungs-
träger auch durch Anregung aus diesen Niveaus erzeugen können.
∎ direkten und indirekten Halbleitern:
Bei direkten Halbleitern (z. B. GaAs) liegt die Oberkante des Valenzbandes und die
Unterkante des Leitungsbandes bei demselben Wellenvektor (z. B. am Γ-Punkt der
Brillouin-Zone). Bei indirekten Halbleitern ist dies nicht der Fall. Zum Beispiel liegt
bei Ge die Oberkante des Valenzbandes am Γ-Punkt, während die Unterkante des
Leitungsbandes am L-Punkt liegt.
∎ kristallinen und amorphen Halbleitern:
Bezüglich ihrer kristallinen Ordnung können wir zwischen kristallinen und amorphen
Halbleitern unterscheiden. Wir werden uns im Folgenden hauptsächlich auf die Eigen-
schaften von kristallinen Halbleitern konzentrieren.
In amorphem Silizium (a-Si) bestehen etwa ab der vierten Bindungslänge keinerlei
Korrelationen in Abstand und Orientierung der Si-Atome mehr. Dadurch entstehen
viele nicht abgesättigte Bindungen (engl. dangling bonds), die durch Wasserstoffatome
gesättigt werden können. Man spricht dann von hydrogenisiertem amorphen Silizium
(a-Si:H). Amorphes Silizium verfügt über ein hohes Absorptionsvermögen und kann
daher bei Solarzellen mit besonders geringen Schichtdicken verwendet werden. Die
üblichen Schichtdicken sind dabei etwa um einen Faktor 100 kleiner als bei kristallinem
Silizium. Dies gleicht den durch die Defekte geringen Wirkungsgrad von nur etwa 6 bis
8% aus und macht a-Si für Anwendungen in der Photovoltaikindustrie wirtschaftlich
interessant.

Bezüglich ihrer chemischen Zusammensetzung und ihrer Funktionalität können wir weite-
re Grundtypen von Halbleitern unterscheiden, die wir im Folgenden kurz vorstellen. Eine
Zusammenstellung der wichtigsten Halbleitertypen ist in Tabelle 10.1 gezeigt.

10.1.1.1 Element-Halbleiter
Der zweifelsfrei am besten bekannte und für unser Alltagsleben sehr wichtige Halbleiter ist
der Element-Halbleiter Silizium. Ohne den Halbleiter Si wäre unsere heutige Informations-
und Kommunikationstechnologie undenkbar. Si kristallisiert wie andere Element-Halbleiter
der IV. Hauptgruppe (C, Ge und α-Sn) in der Diamantstruktur (siehe Abb. 1.24). In dieser
Struktur ist jedes Atom von 4 nächsten Nachbaratomen umgeben, die einen Tetraeder bil-
den. Diamant ist wegen seiner großen Energielücke von etwa 5.5 eV als intrinsisches Material
486 10 Halbleiter

ein guter Isolator. Seine Leitfähigkeit kann aber durch Einbringen von Dotieratomen in den
Bereich von Halbleitern erhöht werden. Einige Elemente der V. und VI. Hauptgruppe des
Periodensystems (z. B. P, S, Se, Te) sind ebenfalls Halbleiter. Die Atome in den jeweiligen
Kristallstrukturen sind allerdings nur dreifach (P) oder zweifach (S, Se, Te) koordiniert.
Elementhalbleiter können heute in sehr großer Reinheit hergestellt werden. Die Herstellung
von hochreinem Silizium mit Hilfe des Zonenschmelzverfahrens1 wurde 1954 von einem
Team um Eberhard Spenke2 bei der Siemens & Halske AG ermöglicht. Dies brachte Mitte
der 1950er Jahre den Durchbruch von Silizium als Halbleitermaterial für die Elektronik-
industrie und in den 1980er Jahren auch für die ersten Produkte der Mikrosystemtechnik.
Für die Herstellung von integrierten Schaltkreisen wird aber heute aus Kostengründen fast
ausschließlich mit dem Czochralski-Verfahren3 , 4 hergestelltes Silizium verwendet.

10.1.1.2 Verbindungshalbleiter
Die wichtigsten Vertreter der Verbindungshalbleiter sind die III-V-Halbleiter (z. B. GaAs,
GaN, InP, InSb, GaSb, AlSb), die aus Elementen der III. und V. Hauptgruppe bestehen,
und die II-VI-Halbleiter (z. B. ZnS, CdS, CdSe, CdTe, HgTe), die aus Elementen der II.
und VI. Hauptgruppe aufgebaut sind. Die Eigenschaften der III-V-Halbleiter sind sehr

1
Beim Zonenschmelzverfahren wird ein mit Hilfe einer Induktionsheizung erzeugter, aufgeschmol-
zener Bereich durch einen Stab mit noch polykristalliner Kristallstruktur bewegt. Damit die Zone
gleichmäßig aufschmilzt, rotiert der Stab langsam. Die aufgeschmolzene Zone wird anfangs mit
einem Impfkristall in Berührung gebracht und wächst unter Annahme seiner Kristallstruktur an
ihm an. Diese Schmelzzone wird dann langsam durch den Stab bewegt, wobei die wieder erkalten-
de Schmelze mit einer einheitlichen Kristallstruktur über die gesamte Materialbreite erstarrt und
somit hinter der Schmelzzone den gewünschten Einkristall bildet. Das Zonenschmelzverfahren
beruht auf der Tatsache, dass Verunreinigungen in der Schmelze eine energetisch günstigere che-
mische Umgebung (niedrigeres chemisches Potenzial) haben als im Festkörper und darum vom
Festkörper in die Schmelze wandern. Die Menge, die im Kristall eingebaut wird, hängt u. a. von
der Art der Verunreinigung und der Erstarrungsgeschwindigkeit ab. Fremdatome verbleiben also
weitestgehend in der Schmelzzone und lagern sich schließlich am Ende der Säule an, die nach dem
Erkalten entfernt wird. Durch mehrmaliges Zonenschmelzen kann die Reinheit weiter gesteigert
werden.
2
Eberhard Spenke, geboren am 5. Dezember 1905 in Bautzen, gestorben am 24. November 1992
in Pretzfeld. Er studierte an den Universitäten Bonn, Göttingen und Königsberg Physik, die Pro-
motion erfolgte im Jahr 1929. Er war dann von 1929 bis 1946 als wissenschaftlicher Mitarbeiter
im Berliner Zentrallaboratorium der Siemens & Halske AG tätig. Zusammen mit Walter Schottky
(1886–1976) untersuchte er dort die Eigenschaften und Leitungsvorgänge von Halbleitermateria-
lien.
3
Das Czochralski-Verfahren ist auch unter dem Begriff Tiegelziehverfahren bekannt. Im Tiegel wird
die zu kristallisierende Substanz wenig über dem Schmelzpunkt gehalten. Darin taucht der Keim,
z. B. ein kleiner Einkristall der zu züchtenden Substanz ein. Durch Drehen und langsames nach
oben Ziehen wächst das erstarrende Material zu einem Einkristall, der das Kristallgitter des Keims
fortsetzt. Das Czochralski-Verfahren wurde 1916 im Metall-Labor der AEG vom polnischen Che-
miker Jan Czochralski (1885–1953, 1904–1929 in Deutschland) durch ein Versehen entdeckt: er
tauchte seine Schreibfeder in einen Schmelztiegel mit flüssigem Zinn anstatt ins Tintenfass. Darauf-
hin entwickelte und verbesserte er das Verfahren und wies nach, dass damit Einkristalle hergestellt
werden können.
4
J. Czochralski, Ein neues Verfahren zur Messung der Kristallisationsgeschwindigkeit der Metalle,
Zeitschrift für Physikalische Chemie 92, 219–221 (1918).
10.1 Grundlegende Eigenschaften 487

Tabelle 10.1: Klassifizierung von Halbleitern.


Elementhalbleiter Verbindungshalbleiter organische Halbleiter
Ge, Si, α-Sn, III-V GaAs, GaP, InP, InSb, InAs, GaSb, GaN, Tetracen, Pentacen, Phthalo-
AlN, InN, Al x Ga1−x As cyanine, Polythiophene,
C (Diamant, II-VI ZnO, ZnS, ZnSe, ZnTe, CdS, CdSe, CdTe, PTCDA (C24 H8 O6 ), MePT-
Fulleren), HgS, Hg1−x Cd x Te, BeSe, BeTe, CDI (C26 H14 N2 O4 ),
B, Se, Te III-VI GaS, GaSe, GaTe, InS, InSe, InTe Chinacridon, Acridon,
IV-VI PbS, PbTe, SnS Flavanthron, Perinon,
unter Druck: IV-IV SiC, SiGe Indanthron,
Bi, Ca, Sr, Ba, I-VII CuCl Alq3 (C27 H18 AlN3 O3 )
Yb, P, S, I I-III- CuInSe2 , CuInGaSe2 , CuInS2 , CuInGaS2
VI

ähnlich zu denjenigen der Element-Halbleiter der IV. Hauptgruppe. Durch den Übergang
von Elementen der IV. Hauptgruppe zu III-V Verbindungen erhält die chemische Bindung
einen endlichen ionischen Charakter, da Ladung vom Gruppe-III zum Gruppe-V Element
transferiert wird. Dieser ionische Bindungsanteil führt üblicherweise zu einer Erhöhung
der Energielücke. Der Anteil und die Bedeutung der ionischen Bindung wird noch größer
für die II-VI-Halbleiter. Deshalb haben die meisten II-VI-Halbleiter Energielücken oberhalb
von 1 eV. Eine Ausnahme bilden hier die Systeme, die Hg enthalten. Diese haben kleine
Energielücken oder sind sogar Halbmetalle wie z. B. HgTe. II-VI-Halbleiter mit großen
Energielücken sind interessant für Displays und Laser, diejenigen mit kleiner Energielücke
finden Anwendung in Infrarotdetektoren.
Weitere Verbindungshalbleiter sind IV-IV-Halbleiter (SiC, SiGe), IV-VI-Halbleiter (PbS, Pb-
Te, PbSe, SnS) oder I-VII-Verbindungen (z. B. CuCl, AgBr). Letztere haben aufgrund des
sehr starken ionischen Charakters der Bindung große Energielücken (> 3 eV). Die binären
Verbindungen aus Gruppe-IV und Gruppe-VI Elementen haben dagegen sehr kleine Band-
lücken und kommen in Infrarotdetektoren zum Einsatz.
Zu den Verbindungshalbleitern zählen wir auch ternäre Systeme wie den I-III-VI-Halbleiter
CuInSe2 (CIS) oder das II-IV-V-System CdSnAs2 . CIS wird zusammen mit seinen komposi-
tionellen Abkömmlingen Cu(In,Ga)(S,Se)2 als Material für Dünnschichtsolarzellen benutzt,
wobei hier aber die begrenzte Verfügbarkeit von In ein Problem darstellt. Weitere ternäre
Systeme sind ZnCdTe oder HgCdTe (Anwendung in Infrarotdetektoren) sowie AlGaAs und
GaAsP (Anwendung in der Lasertechnik). Für die Herstellung von Lasern für die optische
Kommunikationstechnik bei Wellenlängen von 1.3 und 1.5 µm werden quaternäre Verbin-
dungshalbleiter wie (Ga,In)(As,P) verwendet.

10.1.1.3 Organische Halbleiter


Im Allgemeinen sind organische Materialien elektrisch isolierend. Besitzen allerdings Mole-
küle oder Polymere ein konjugiertes Bindungssystem, das aus Doppelbindungen, Dreifach-
bindungen und aromatischen Ringen besteht, können sie elektrisch leitend und als organi-
sche Halbleiter verwendet werden. Als erstes wurde dies 1976 bei Polyacetylen beobachtet.5
5
C. K. Chiang et al., Electrical Conductivity in Doped Polyacetylene, Phys. Rev. Lett. 39, 1098–1101
(1977).
488 10 Halbleiter

Bis heute wurden viele organische Verbindungen gefunden, die Halbleiter sind. Organische
Halbleiter sind sehr viel versprechend für Anwendungen (z. B. für OLEDs – Organic Light
Emitting Diodes oder OFETs – Organic Field Effect Transistors), da sie billig herzustellen
sind, leicht hinsichtlich ihrer elektrischen und optischen Eigenschaften modifiziert werden
können und biegbar sind. Zur Zeit haben allerdings Bauelemente basierend auf organischen
Halbleitern häufig noch Haltbarkeitsprobleme.6

10.1.1.4 Oxidische Halbleiter


Die meisten Oxide sind gute Isolatoren. Allerdings gibt es auch halbleitende Oxide wie CuO
oder CuO2 , das schon in den 1920er Jahren untersucht wurde und später in den 1950er
Jahren für grundlegende Untersuchungen zur Exzitonenphysik verwendet wurde. Der zur
Zeit wohl wichtigste Vertreter oxidischer Halbleiter ist ZnO. Es besteht hier die Hoffnung,
dass ZnO aufgrund seiner physikalischen Eigenschaften besser für optoelektronische Bau-
elemente im blauen und ultravioletten Bereich geeignet ist als GaN.
Bei starker Dotierung werden einige oxidische Halbleiter metallisch und bei tiefen Tempe-
raturen supraleitend. Der bekannteste Vertreter ist wohl das Materialsystem La2 CuO4 mit
einer Energielücke von etwa 2 eV, das bei einer genügend großen Lochdotierung (partielle
Substitution des dreiwertigen La durch zweiwertiges Ba oder Sr) metallisch und unterhalb
von etwa 40 K supraleitend wird. An der Substanz La2−x Bax CuO4 wurde von Bednorz und
Müller im Jahr 1986 die Hochtemperatur-Supraleitung entdeckt.7

10.1.1.5 Schicht-Halbleiter
Materialien wie PbI2 , MoS2 oder GaSe besitzen eine ausgeprägte Schichtstruktur. Die Bin-
dung innerhalb der Schichten ist kovalent, während zwischen den Schichten nur eine schwa-
che van der Waals Bindung vorliegt. Die Materialsysteme haben Interesse gefunden, da sie
intrinsisch quasi-zweidimensionale Elektronensysteme bilden und die Wechselwirkung der
Schichten durch Einbringung von Fremdatomen (Interkalation) variiert werden kann.

10.1.1.6 Magnetische Halbleiter


Durch die schnell wachsende Bedeutung des Arbeitsgebiets der Spin-Elektronik, in dem
versucht wird, den Spin-Freiheitsgrad von Elektronen zur Verbesserung von elektronischen
Bauelementen und zur Realisierung von neuartigen spintronischen Bauelementen auszunut-
zen, ist das Interesse an magnetischen Halbleitern stark gewachsen. Magnetische Halbleiter
könnten z. B. für die Erzeugung und Detektion spinpolarisierter Ströme verwendet werden.
Der wohl am längsten bekannte magnetische Halbleiter ist EuS. Heute werden ferromagneti-
sche Halbleiter häufig dadurch erzeugt, dass ein kleiner Teil (typischerweise einige Prozent)
der Halbleiteratome durch magnetische Atome wie Mn oder Co ersetzt werden. Typische
Beispiele sind (Ga,Mn)As oder (Zn,Co)O. Wir nennen solche Systeme verdünnte magneti-
sche Halbleiter (DMS: Diluted Magnetic Semiconductors).
6
M. Schwoerer, Physikalische Blätter 49, 52 (1994); H. Sixl, H. Schenk, N. Yu, Physikalische Blät-
ter 54, 225 (1998); Physik Journal 7, 29–32 (2008).
7
G. Bednorz, K. A. Müller, Possible high-Tc superconductivity in the Ba-La-Cu-O system, Zeitschrift
für Physik B 64, 189 (1986).
10.1 Grundlegende Eigenschaften 489

10.1.2 Intrinsische Halbleiter


10.1.2.1 Bandstruktur und effektive Masse
Wir haben in Abschnitt 8.5.2 bereits die Grundzüge der Bandstruktur von Element-Halblei-
tern der IV. Hauptgruppe diskutiert. In diesen Elementen liegt eine ausgeprägte sp3 -Hybridi-
sierung vor, was in einer für die Diamantstruktur charakteristischen tetragonalen Bindungs-
struktur resultiert. Die Bildung von sp3 -Hybridorbitalen führt zur Ausbildung von zwei
energetisch getrennten sp3 -Subbändern (vergleiche hierzu Abb. 8.19 in Abschnitt 8.4.1). Wie
Abb. 10.1 zeigt, ist das untere dieser Bänder mit den vier Valenzelektronen vollständig gefüllt,
das obere ist vollkommen leer. Die Fermi-Energie liegt bei T = 0 etwa in der Mitte der Band-
lücke. Bei Germanium liegt die kleinste Lücke von E g = 0.742 eV zwischen dem Γ-Punkt
(k = (︀000⌋︀, Oberkante des Valenzbandes) und dem L-Punkt (k = ⌋︂a3 (︀111⌋︀, Unterkante des
Leitungsbandes) vor. Die direkte Bandlücke am Γ-Punkt ist mit E g = 1.1 eV etwas größer.
Wir sprechen deshalb von einem indirekten Halbleiter. Die Situation ist ähnlich für Si, wo
die minimale Energielücke von E g = 1.17 eV zwischen dem Γ-Punkt (k = (︀000⌋︀, Oberkante
des Valenzbandes) und etwa dem 0.8-fachen des Abstandes zum X-Punkt (k0 = 0.82a(︀100⌋︀,
Unterkante des Leitungsbandes) vorliegt.
6
[001]
4

0
Energielücke [111]
Energie (eV)

-2

-4

-6
[010]
-8
Si
[100]
-10

-12

2
Energielücke
[001]
0

-2
Energie (eV)

-4
[111]
-6

-8
Ge
[010]
-10

-12 [100]
L G X U,K G
Wellenvektor

Abb. 10.1: Berechnete Bandstrukturen von Si und Ge (nach J. R. Chelikowski und M. L. Cohen, Phys.
Rev. B 14, 556 (1976)). Die vier Valenzbänder (unteres sp3 -Subband) sind farbig hinterlegt. Rechts sind
die Flächen konstanter Energie in der Nähe des Minimums des Leitungsbandes und die Diamantstruk-
tur gezeigt. Beide Materialien haben Diamantstruktur mit einem kubisch flächenzentrierten Bravais-
Gitter, so dass die 1. Brillouin-Zone ein Rhombendodekaeder ist. Aus Gründen der Symmetrie treten
immer mehrere Bandminima in äquivalente Richtungen des k-Raums auf. Für Si sind dies die {001}-,
für Ge die {111}-Richtungen.
490 10 Halbleiter

Wir haben in Abschnitt 8.3 auch bereits diskutiert, welche Abhängigkeit wir für die Größe
der Energielücke vom Abstand der Atome im Gitter erwarten. Wir haben gesehen, dass mit
wachsendem Abstand der Atome die Aufspaltung zwischen den Bändern abnimmt (verglei-
che Abb. 8.15). Da sich Festkörper mit zunehmender Temperatur aufgrund von anharmoni-
schen Effekte ausdehnen, erhalten wir also eine Zunahme des Abstands der Atome und da-
mit eine Abnahme der Energielücke mit zunehmender Temperatur. Neben der thermischen
Ausdehnung wirkt sich auch die Temperaturabhängigkeit der Phononenverteilung auf die
Bandstruktur und die Größe der Energielücke aus, da Elektron-Phonon-Streuung zu einer
Erniedrigung des effektiven Potenzials führt. Beide Effekte zusammen resultieren in einer
Abnahme von E g mit zunehmender Temperatur, die phänomenologisch mit der Varshni-
Formel8
aT 2
E g (T) = E g (0) − . (10.1.1)
T +b
beschrieben werden kann (Si: a = 4.73 × 10−4 eV/K, b = 636 K; Ge: a = 4.774 × 10−4 eV/K,
b = 235 K, GaAs: a = 5.405 × 10−4 eV/K, b = 204 K). Bei tiefen Temperaturen (T ≪ b) er-
gibt sich ein etwa quadratischer, bei Raumtemperatur ein etwa linearer Temperaturverlauf
der Energielücke. In Tabelle 10.2 sind die Werte der Bandlücke für einige Halbleiter bei 0 K
und 300 K angegeben.
Die für die elektronischen Eigenschaften von Halbleitern relevanten Zustände liegen alle an
der Oberkante des Valenz- bzw. der Unterkante des Leitungsbandes. Wir haben in Kapitel 8
bereits gesehen, dass wir den Bandverlauf in der Nähe der Bandkante gut durch eine Parabel
annähern können:
ħ2 1
E(k) = E c + ∑ ki ( ∗ ) k j (Elektronen) (10.1.2)
2 ij m ij

ħ2 1
E(k) = E v + ∑ ki ( ∗ ) k j (Löcher) . (10.1.3)
2 ij m ij

Hierbei ist E c die Energie an der Unterkante des Leitungsbandes, E v diejenige an der Ober-
kante des Valenzbandes und (m∗ −1 ) i j der durch (9.1.13) gegebene effektive Massetensor.

Tabelle 10.2: Werte der Energielücken von einigen Halbleitern bei T = 0 K (extrapolierte Werte) und
bei 300 K. Quelle: Handbook Series on Semiconductor Parameters, Vol. 1 and 2, edited by M. Levinstein,
S. Rumyantsev and M. Shur, World Scientific, London (1996, 1999).
Halbleiter Typ E g (0 K) E g (300 K) Halbleiter Typ E g (0 K) E g (300 K)
Si indir. 1.17 1.12 GaP indir. 2.32 2.26
Ge indir. 0.742 0.661 InP direkt 1.421 1.344
GaAs direkt 1.519 1.424 ZnO direkt 3.44 3.2
InSb direkt 0.24 0.17 ZnS – 3.91 3.6
InAs direkt 0.415 0.354 CdS direkt 2.58 2.42
AlSb indir. 1.65 1.58 CdTe direkt 1.61 1.45
GaN (Wurzit) indir. 3.47 3.39 GaN (ZnS) direkt 3.28 3.20

8
Y.Ṗ. Varshni, Temperature dependence of the energy gap in semiconductors, Physica 34, 149 (1967).
10.1 Grundlegende Eigenschaften 491

Wir werden im Folgenden diese parabolische Näherung häufig verwenden. Es ist zu be-
achten, dass (10.1.3) eine nach unten geöffnete Parabel darstellt, da die effektive Masse der
Löcher am Γ-Punkt negativ ist.
Da der effektive Massetensor reell und symmetrisch ist, können wir einen Satz von orthogo-
nalen Hauptachsen finden, bezüglich der die Energien die diagonale Form
k2 k2 k2
E(k) = E c + ħ 2 ( 1 + 2 + 3 ) (Elektronen) (10.1.4)
2m 1 2m 2 2m 3
k 12 k2 k2
E(k) = E v + ħ 2 ( + 2 + 3 ) (Löcher) (10.1.5)
2m 1 2m 2 2m 3
haben. Die Flächen konstanter Energie sind somit Ellipsoide, die durch Angabe der drei
Hauptachsen, der drei effektiven Massen und der Position im k-Raum eindeutig definiert
sind. Auf der rechten Seite von Abb. 10.1 sind diese Ellipsoide für Si und Ge skizziert. Beide
Materialien haben Diamantstruktur mit einem kubisch flächenzentrierten Bravais-Gitter, so
dass die 1. Brillouin-Zone ein Rhombendodekaeder ist.
Für Si hat das Leitungsband aus Symmetriegründen sechs Minima, die entlang der {100}
Richtungen liegen und zwar bei etwa 80% des Abstandes zum Zonenrand. Jedes der sechs
äquivalenten Ellipsoide muss rotationssymmetrisch bezüglich einer Rotation um die Wür-
felachsen sein. Wie Abb. 10.1 zeigt, sind die Ellipsoide zigarrenförmig in Richtung der Wür-
felachse gestreckt. Wir können zwei effektive Massen definieren. Während die longitudinale
effektive Masse m∗el entlang der Achse etwa der freien Elektronenmasse entspricht, ist die
transversale effektive Masse m∗et senkrecht zur Achse wesentlich kleiner und beträgt nur et-
wa 0.2 m. Für Si gibt es zwei entartete Valenzbandmaxima bei k = 0, die kugelsymmetrisch
sind mit effektiven Massen m∗lh = 0.16 m (lh = light holes) und m∗hh = 0.49 m (hh = heavy
holes).
Für Ge ist die Kristallstruktur und die Brillouin-Zone identisch zu Si. Allerdings treten die
Minima des Leitungsbandes jetzt an den äquivalenten L-Punkten der Brillouin-Zone, das
heißt, an den Zonenrändern entlang der {111} Richtungen auf (siehe hierzu Abb. 10.1). Die
Flächen konstanter Energie sind wiederum Ellipsoide, die jetzt aber entlang der {111} Rich-
tungen gestreckt sind mit effektiven Massen m∗el = 1.57 m und m∗et = 0.081 m. Da die Ellip-
soide mit der jeweiligen Nachbarzelle geteilt werden, haben wir bei Ge nur 8⇑2 = 4 äquiva-
lente Ellipsoide. Wie bei Si liegen zwei entartete Valenzbandmaxima bei k = 0 mit effektiven
Massen m∗lh = 0.043 m und m∗hh = 0.33 m vor. Die verschiedenen effektiven Massen von Si
und Ge und einiger anderer Halbleiter sind in Tabelle 10.3 zusammengestellt.

Halbleiter m∗e ⇑m m∗et ⇑m m∗el ⇑m m∗lh ⇑m m∗hh ⇑m m∗soh ⇑m ∆ (eV) Tabelle 10.3: Effektive Massen
Si 0.19 0.98 0.16 0.49 0.24 0.044
von Elektronen und Löchern so-
wie Spin-Bahn-Aufspaltung ∆
Ge 0.081 1.59 0.043 0.33 0.084 0.295 für Si und Ge. Quelle: Handbook
GaAs 0.063 0.082 0.51 0.14 0.341 Series on Semiconductor Para-
GaSb 0.041 0.04 0.4 0.15 0.80 meters, Vol. 1 and 2, edited by
GaP 1.12 0.22 0.14 0.79 0.25 0.08 M. Levinstein, S. Rumyantsev
and M. Shur, World Scientific,
InAs 0.023 0.026 0.41 0.16 0.41
London (1996, 1999).
InP 0.073 0.089 0.58 0.17 0.11
InSb 0.014 0.015 0.43 0.19 0.81
492 10 Halbleiter

Spin-Bahn-Aufspaltung Eine detailliertere Analyse zeigt, dass die Bandstruktur von Si


und Ge in der Nähe des Valenzbandmaximums beim Γ-Punkt etwas komplizierter ist. Neben
den beiden Bändern mit unterschiedlicher Krümmung existiert ein weiteres Band, das von
diesen Bändern um ∆ = 0.29 eV für Ge und ∆ = 0.044 eV für Si getrennt ist. Anschaulich
kann dies dadurch verstanden werden, dass die Bänder im Rahmen einer Tight-Binding-
Näherung aus den atomaren 2p-Zuständen (L = 1, S = 1⇑2) der freien Atome hervorgehen.
Als Folge der Spin-Bahn-Kopplung ℋso = λ(L ⋅ S) kommt es zu einer Aufspaltung der
Zustände mit Gesamtdrehimpuls J = L + S = 3⇑2 und J = L − S = 1⇑2 (vergleiche hierzu
Abschnitt 8.3.3 und 12.5.4). Die Zustände mit J = 3⇑2 (m J = −3⇑2, −1⇑2, +1⇑2, +3⇑2) wer-
den um 13 ∆ nach oben verschoben und bilden die entarteten hh- (J = 3⇑2, m J = ±3⇑2) und
l h-Bänder (J = 3⇑2, m J = ±1⇑2).9 Die Zustände mit J = 1⇑2 (m J = ±1⇑2) werden um − 23 ∆
nach unten verschoben und bilden das soh-Band. Die Valenzbandkante ist deshalb ge-
genüber dem Wert E v (λ = 0) ohne Spin-Bahn-Kopplung um 13 ∆ nach oben verschoben
und die Aufspaltung zwischen den hh, l h-Bändern und dem soh-Band beträgt ∆. Der
Energieunterschied ∆ ist ein Maß für die Stärke der Spin-Bahn-Wechselwirkung, die für
Ge (∆ = 290 meV) und GaAs (∆ = 350 meV) aufgrund der größeren Kernladungszahlen
wesentlich größer ist als für Si (∆ = 44 meV) oder Diamant (∆ = 6 meV). Das qualitative
Verhalten der Bänder in der Nähe des Γ-Punktes ist in Abb. 10.2 zusammengefasst.

𝑬
𝒌
𝟑
𝚫/𝟑 𝑱=𝑳+𝑺=
leichte 𝟐
𝑬𝑽 𝝀 = 𝟎 Löcher 𝟑 𝟏 𝟏 𝟑
𝚫 ∗
𝒎𝐥𝐡 𝒎𝑱 = − , − , + , +
schwere 𝟐 𝟐 𝟐 𝟐
𝟐𝚫/𝟑
Abb. 10.2: Qualitativer Verlauf der Löcher 𝒎∗𝐡𝐡 hh lh hh
Bandstruktur von Si und Ge in der Nä- Spin-Bahn 𝟏
𝑱=𝑳−𝑺=
aufgespaltene 𝟐
he des Valenzbandmaximums beim 𝟏 𝟏
Löcher 𝒎∗𝐬𝐨𝐡 𝒎𝑱 = − , +
Γ-Punkt. ∆ ist die Spin-Bahn-Aufspaltung. 𝟐 𝟐

Im Gegensatz zu den Element-Halbleitern der IV. Hauptgruppe hat die chemische Bindung
in den III-V Halbleitern einen ionischen Anteil. Den gemischten Charakter der Bindung
können wir uns so vorstellen, dass ein Elektron vom Ga zum As Atom transferiert wird, so
dass eine Ga+ As− Konfiguration vorliegt. Diese führt natürlich zu einer ionischen Bindung.
Dieser überlagert ist eine kovalente Bindung, die zu keinem Ladungstransfer führt und bei-
de Atome mit vier Elektronen belässt. Es kann sich dann wie für Si und Ge eine sp3 -Hybri-
disierung ausbilden. Wir können davon ausgehen, dass die kovalente Bindung dominiert,
da der Kristall sonst nicht in der tetraedrisch koordinierten Zinkblende-Struktur vorliegen
würde. Wie bei der Diamantstruktur sitzen hier die einzelnen Gitteratome im Mittelpunkt
eines Tetraeders, das von vier nächsten Nachbarn gebildet wird. Die Zinkblende-Struktur
unterscheidet sich nur dadurch von der Diamantstruktur, dass bei ihr die Basis zwei ver-
schiedenartige Atome enthält (vergleiche Abschnitt 1.2.9).
Der wichtigste Unterschied zwischen GaAs und Si bzw. Ge ist die Tatsache, dass GaAs ge-
nauso wie InAs, InSb oder InP ein direkter Halbleiter ist. Wie Abb. 10.3 zeigt, liegt das Ma-
9
Die schweren und leichten Löcher resultieren dabei aus den π 2p - und σ2p -Bindungen zwischen den
beteiligten 2p-Orbitalen. Da der Überlapp bei der σ2p -Bindung größer ist, resultiert gemäß dem
Tight-Binding-Modell eine größere Bandbreite und damit größere Banddispersion, woraus sich
eine geringere effektive Masse ergibt.
10.1 Grundlegende Eigenschaften 493

6
4
2
Energielücke
0
Energie (eV)

-2
Ga
-4
-6 As Abb. 10.3: Berechnete Band-
GaAs strukturen von GaAs (nach
-8 J. R. Chelikowski und M. L. Co-
-10 hen, Phys. Rev. B 14, 556 (1976)).
Die vier Valenzbänder (unteres
-12 sp3 -Subband) sind farbig hinter-
L G X U,K G legt. Rechts ist die Zinkblende-
Wellenvektor struktur von GaAs gezeigt.

ximum des Valenzbandes genauso wie das Minimum des Leitungsbandes beim Γ-Punkt.
Ähnlich zu Si und Ge besitzt GaAs auch drei Valenzbänder ähnlicher Form mit den effekti-
ven Massen m∗lh = 0.08 m, m∗hh = 0.51 m und m∗soh = 0.14 m sowie der Spin-Bahn-Aufspal-
tung ∆ = 0.34 eV. Die effektive Masse der Elektronen im Leitungsband beträgt m∗e = 0.063 m.

10.1.2.2 Optische Absorption


Die Größe der Energielücke von Halbleitern kann durch Messung der optischen Absorption
ermittelt werden. Bestrahlen wir einen Halbleiter mit Photonen, so kann durch Absorption
eines Photons mit Energie ħω und Wellenvektor kγ ein Elektron aus dem Valenzband ins
Leitungsband angeregt werden. Für solche Interband-Übergänge muss sowohl die Energie
als auch die Impulserhaltung

E g = ħω(kγ ) ± ħΩ(q) (10.1.6)

ħ∆k = ħkγ ± ħq (10.1.7)

gelten. Hierbei ist ∆k die Wellenvektordifferenz der beteiligten Zustände im Valenz- und Lei-
tungsband. Wegen des sehr kleinen Wellenvektors k γ = ω⇑c von Photonen muss für Über-
gänge, an denen nur Photonen beteiligt sind, ∆k sehr klein sein. Solche Übergänge müssen
im E(k) Diagramm quasi vertikal verlaufen. Übergänge mit größeren ∆k sind nur durch
die Beteiligung von weiteren Anregungen wie z. B. Phononen möglich. Da üblicherweise

𝑬 𝑬
Abb. 10.4: Schematische Darstellung
ℏΩ CB
von Interbandübergängen zwischen
𝑬𝒄 CB 𝑬𝒄
ℏΩ Valenzbandmaximum und Leitungs-
ℏΩ bandminimum in indirekten Halblei-
ℏΩ
tern bei (a) Emission und (b) Absorp-
𝑬𝑽 𝒒 𝑬𝑽 𝒒 tion eines Phonons mit Energie ħΩ
VB VB und Wellenvektor q. Der Wellenvektor
(a) 𝒌 (b) 𝒌 des Photons wurde vernachlässigt.
494 10 Halbleiter

(a) 4
InSb T = 300 K (b) 6 Si
10 T=5K 10
Absorptionskoeffizient  (cm )

Absorptionskoeffizient  (cm )
-1
-1
5
E 10 E
3
T = 300 K
10 4
10
T = 77 K
Ex 3
2 EL
10
10 Eg EG 1
X G L 2 Ex Eg G
10 X
[100] hh [111] D
D [100] [111]
lh 1 hh
1
10 10 lh
soh soh
0
10
0.2 0.4 0.6 0.8 1 2 4 6 8 10
Energie ћ (eV) Energie ћ (eV)

Abb. 10.5: (a) Schematische Bandstruktur und optische Absorption des direkten Halbleiters InSb bei 5
und 300 K. Der rote Pfeil markiert den Übergang mit kleinstmöglicher Energie. Bei höherer Photonen-
energie können auch höher liegende Elektronenzustände angeregt werden (gestrichelte Pfeile). Quelle:
E. J. Johnson, Semiconductors and Semimetals, R. K. Willardson und A. C. Beer, eds., Academic Press,
N. Y., Vol. 3, 153–258 (1967). (b) Schematische Bandstruktur und optische Absorption des indirekten
Halbleiters Si bei 77 und 300 K. Der rote Pfeil markiert wiederum den Übergang mit kleinstmöglicher
Energie, der allerdings nur unter der Beteiligung eines Phonons möglich ist. Die schwache indirekte
Absorption setzt bei ħω = E g − ħΩ ein und ist der bei höheren Photonenenergien (gestrichelte Pfeile)
möglichen, viel stärkeren direkten Absorption vorgelagert. Quelle: S. M. Sze, Physics of Semiconductor
Devices, John Wiley and Sons, N. Y. (1981).

die Phononenenergie ħΩ ≪ ħω und der Phononenimpuls ⋃︀q⋃︀ ≫ ⋃︀k⋃︀, liefert dabei das Pho-
ton die Energie und das Phonon den Impuls. Optische Übergänge in indirekten Halbleitern
mit Absorption und Emission eines Phonons sind in Abb. 10.4 schematisch dargestellt.
Abb. 10.5 zeigt typische Absorptionsspektren eines direkten (InSb) und indirekten Halblei-
ters (Si). Der Absorptionskoeffizient ist hierbei durch α = −I −1 (dI⇑dx) gegeben, also als die
relative Schwächung einer Lichtwelle mit Intensität I beim Durchlaufen eines Mediums in
x-Richtung. Bei direkten Halbleitern ist die Situation einfach. Da die Unterkante des Lei-
tungsbandes hier beim selben Wellenvektor wie die Oberkante des Valenzbandes liegt, sind
vertikale Übergänge ohne Beteiligung von Phononen möglich, sobald die Photonenener-
gie ħω ≥ E g wird. Die Absorption steigt deshalb bei ħω = E g stark an. Halbleiter sind des-
halb für Frequenzen ω ≤ E g ⇑ħ, die für viele Halbleiter im nahen Infraroten liegen, trans-
parent. Durch Messung der optischen Absorption als Funktion der Photonenenergie (siehe
Abb. 10.5a) kann der Wert der Energielücke einfach bestimmt werden. Bei höheren Tempe-
raturen steigt die Absorption an, da jetzt Prozesse unter Absorption eines Phonons häufiger
werden. Diese setzen bereits bei der Photonenenergie ħω = E g − ħΩ q ein.
Bei indirekten Halbleitern (siehe Abb. 10.4 und 10.5b) ist die Situation etwas komplizier-
ter. Da sich die Wellenvektoren für die Oberkante des Valenzbandes und die Unterkante des
Leitungsbandes um ∆k unterscheiden, ist für Übergänge zwischen diesen Bereichen zur Im-
pulserhaltung jetzt die Mitwirkung eines Phonons notwendig. Dies kann prinzipiell durch
Absorption oder Emission eines Phonons erfolgen. Führt man allerdings eine Absorptions-
messung bei tiefen Temperaturen durch, so sind aufgrund des Ausfrierens der Phononen
10.1 Grundlegende Eigenschaften 495

fast nur Phononenemissionsprozesse möglich. Das absorbierte Photon muss also zusätz-
lich zur Energie E g noch die Energie ħΩ zur Erzeugung des Phonons liefern. Die opti-
sche Absorption setzt deshalb nicht wie bei direkten Halbleitern bei ħω = E g , sondern erst
bei ħω = E g + ħΩ ein. Ferner ist die Absorptionsstärke im Vergleich zu direkten Halblei-
tern stark reduziert. Dies liegt an der reduzierten Wahrscheinlichkeit des jetzt notwendigen
Dreiteilchenprozesses. Dies ist in Abb. 10.5b gezeigt. Der Absorptionskoeffizient ist oberhalb
von ħω = E g + ħΩ zunächst klein und steigt erst dann stark an, wenn die Photonenenergie
ausreicht, um vertikale Übergänge ohne Beteiligung eines Phonons zu ermöglichen. Bei Si
ist dies bei ħω = E Γ1 = 3.4 eV der Fall. Bei höheren Temperaturen werden Prozesse unter Ab-
sorption eines Phonons häufiger. Diese setzen bereits bei der Photonenenergie ħω = E g − ħΩ
ein und erhöhen den Absorptionskoeffizienten. Für Übergänge vom Γ-Punkt zum X-Punkt
werden Phononen mit dem Wellenvektor q 0 benötigt. In der Nähe von q 0 verläuft die Di-
spersionskurve der in Frage kommenden transversal-akustisch (TA) und transversal-opti-
schen (TO) Phononen sehr flach, so dass ihre Energie in etwa konstant ist (TA: 18.7 meV,
TO: 58.1 meV).
Zur quantitativen Erklärung des Absorptionskoeffizienten müssen nach Fermis goldener Re-
gel die Übergangsmatrixelemente und die Zustandsdichten der Anfangs- und Endzustän-
de bekannt sein (vergleiche hierzu Abschnitt 11.6.4). Bei direkten Übergängen werden we-
gen k γ ≃ 0 Anfangs- und Endzustände mit quasi gleichem k-Wert verbunden, so dass
1 1 ħ2 k 2 ħ2 k 2
∆E i,f = ħω ≃ E c (k) − E v (k) = ( + ) = (10.1.8)
m∗e m∗h 2 2m∗komb
gilt. Hierbei ist m∗komb die so genannte kombinierte effektive Masse und wir können ∆E i,f (k)
als kombinierte Bandstruktur für den optischen Übergang betrachten, der wir die kombi-
nierte Zustandsdichte [vergleiche hierzu (7.1.18) sowie (10.1.15) und (10.1.16)]

V 2m∗komb
3⇑2
⌈︂
D komb (∆E i,f ) = ( ) ∆E i,f − E g (10.1.9)
2π 2 ħ2
zuordnen können. Wir erwarten deshalb einen in etwa wurzelförmigen Verlauf
⌉︂
α ∝ (m∗komb ) ħω − E g
3⇑2
(10.1.10)

des Absorptionskoeffizienten.
Bei indirekten Übergängen ist die Situation schwieriger, da hier über alle Zustände im
Valenz- und Leitungsband aufsummiert werden muss, die unter Phononenbeteiligung
mit ħω verbunden werden können. Im Allgemeinen ergibt sich ein quadratischer Ver-
lauf α ∝ (ħω − ħΩ − E g )2 , der sich aus der Faltung der Zustandsdichten der möglichen
Anfangs- und Endzustände ergibt. Eine weitergehende Diskussion der optischen Ei-
genschaften von Halbleitern erfolgt in Abschnitt 11.6.4 im Rahmen der Diskussion der
dielektrischen Eigenschaften von Festkörpern.

10.1.2.3 Zyklotron-Resonanz
Die effektiven Massen von Halbleitern können mit Hilfe der Zyklotron-Resonanz (siehe Ab-
schnitt 9.11.3) bestimmt werden. Hierzu wird eine Halbleiterprobe in ein statisches magne-
496 10 Halbleiter

tisches Feld gebracht und mit einem dazu senkrechten elektrischen Hochfrequenzfeld ange-
regt (siehe Abb. 10.6). Die Zyklotronresonanz tritt genau dann auf, wenn die Umlauffrequenz
der Ladungsträger um das statische Magnetfeld, d. h. die Zyklotronfrequenz ω c = eB⇑m c ,
mit der Frequenz des elektrischen Feldes übereinstimmt. Hierbei ist m c die Zyklotronmas-
se [vergleiche (9.2.31)]. Typischerweise liegen die Resonanzfrequenzen bei Magnetfeldern
von einigen 100 Gauss im Bereich von einigen GHz. Quantenmechanisch können wir uns
die Resonanzabsorption durch die Erzeugung von elektrischen Dipolübergängen zwischen
benachbarten Landau-Niveaus mit der Auswahlregel ∆n = ±1 vorstellen. Diese Übergänge
sollten nicht mit der Resonanzabsorption von magnetischen Dipolen in der Elektronenspin-
resonanz verwechselt werden. Hier werden Übergänge durch Umklappen der Spinrichtung
erzeugt.
Um die Zyklotronresonanz beobachten zu können, muss ferner ω c τ ≫ 1 gelten. Das heißt,
die Ladungsträger müssen innerhalb der Streuzeit mehrere Umläufe ausführen können. Dies
erreicht man durch Verwendung reiner Proben und tiefer Temperaturen. Da bei tiefen Tem-
peraturen allerdings nur ganz wenige bewegliche Ladungsträger vorhanden sind, müssen
diese durch Bestrahlung mit Licht (ħω ≥ E g ) erzeugt werden. Im Gegensatz zu Metallen
ist die Skin-Eindringtiefe des Hochfrequenzfeldes in Halbleitern aufgrund deren wesentlich

Elektronen
(a) Elektronen- f = 24 GHz
𝑩𝒛
orbit Si
T=4K

schwere Löcher
𝝎𝒄 = 𝒆𝑩/𝒎𝒄
Elektronen
leichte Löcher
Absorption

𝑬𝐫𝐟

𝑬 𝟏 0.0 0.1 0.2 0.3 0.4 0.5 0.6


(b) 𝑬𝒏 = 𝒏 + ℏ𝝎𝒄
𝟐
Ge
Elektronen

schwere Löcher
Elektronen

𝑛=3
Elektronen

𝑛=2
Absorption

ℏ𝝎𝒄
leichte Löcher

𝑛=1

𝑛=0

𝟎 𝒌𝒛 0.0 0.1 0.2 0.3 0.4 0.5


Magnetfeld (T)
28
Abb. 10.6: Zur Messung der Zyklotronresonanz in Halbleitern. (a) Klassisches Bild: Das Hochfre-
quenzfeld Erf steht senkrecht auf dem statischen Magnetfeld B und induziert eine Kreisbewegung der
Ladungsträger mit wachsendem Bahnradius und Umlaufgeschwindigkeit, aber konstanter Umlauffre-
quenz ω c . (b) Quantenmechanisches Bild: Das Hochfrequenzfeld induziert Dipolübergänge zwischen
benachbarten Landau-Niveaus. Rechts sind die Absorptionsspektren für Si und Ge bei 24 GHz und 4 K
gezeigt (Si: Feld in (110) Ebene unter 30○ Winkel zu [100]-Richtung. Ge: Feld in (110) Ebene unter
60○ Winkel zu [100]-Richtung, nach G. Dresselhaus et al., Phys. Rev. 98, 368 (1955)).
10.1 Grundlegende Eigenschaften 497

kleineren elektrischen Leitfähigkeit üblicherweise größer als die Probenabmessung, so dass


die Probleme, die mit einer kleinen Skin-Eindringtiefe verbunden sind, hier nicht auftreten.
Für ein homogenes Magnetfeld (z. B. entlang der z-Achse) kann leicht der Zusammenhang
zwischen der Zyklotronmasse m c und dem effektive Massetensor m∗ hergestellt werden. Es
gilt

det m∗ 1⇑2
mc = ( ) . (10.1.11)
m zz
Mit Hilfe der Eigenwerte und Hauptachsen des effektive Massetensors kann dies als

}︂ ⧸︂ cos2 θ sin2 θ −1
mc =
m1 m2 m3
= ⧸︂
⟩( + ) (10.1.12)
⧹︂2 m 1 + B
B ⧹︂2 m 2 + B
⧹︂2 m 3 m 2t mt ml
1 2 3

geschrieben werden. Hierbei sind B ⧹︂i die Komponenten des Einheitvektors in Feldrichtung
entlang der drei Hauptachsen. Das zweite Gleichheitszeichen gilt für Materialien, für die
die effektive Masse in einer Ebene senkrecht zu einer (longitudinalen) Hauptachsenrich-
tung gleich ist. Der Winkel θ ist dabei der Winkel zwischen der Magnetfeldrichtung und der
longitudinalen Hauptachse.

10.1.2.4 Ladungsträgerdichte
Wir bezeichnen Halbleiter als intrinsisch, wenn freie Elektronen und Löcher nur durch An-
regungen vom Valenzband ins Leitungsband erzeugt werden können. Wir wollen nun für
intrinsische Halbleiter die Dichte n c der Elektronen im Leitungsband und die Dichte pv der
Löcher im Valenzband ableiten. Diese Größen sind für die elektrischen Transporteigenschaf-
ten von Halbleitern von zentraler Bedeutung.
Wie in jedem Festkörper gehorcht die Besetzungswahrscheinlichkeit der elektronischen Zu-
stände in einem Halbleiter der Fermi-Statistik f (E, T), so dass wir schreiben können:

1
nc = ∫ D c (E) f (E, T)dE (10.1.13)
V
Ec

Ev
1
pv = ∫ Dv (E)(︀1 − f (E, T)⌋︀dE . (10.1.14)
V
−∞

Hierbei sind Dv (E) und D c (E) die Zustandsdichten der Löcher im Valenzband und der
Elektronen im Leitungsband. In der Nähe der Bandkante können wir die Bandstruktur gut
durch eine Parabel annähern und erhalten [vergleiche (7.1.18)]

V 2m∗
3⇑2
⌈︂
D c (E) = 2 ( e,DOS ) E − Ec (E ≥ E c ) (10.1.15)
2π ħ2

V 2m h,DOS
3⇑2
⌈︂
Dv (E) = ( ) Ev − E (E ≤ E v ) . (10.1.16)
2π 2 ħ2
498 10 Halbleiter

Die Zustandsdichte im Bereich der Energielücke, E v < E < E c ist natürlich null. Hierbei
sind m∗e und m∗h die Zustandsdichtemassen des Leitungs- und Valenzbandes, die in die
Berechnung der jeweiligen Zustandsdichten einfließen. Um die Form des isotropen Falls
beibehalten zu können, definieren wir die effektive Zustandsdichtemasse als
m∗DOS = p2⇑3 (m∗1 m∗2 m∗3 )
1⇑3
, (10.1.17)
wobei der Entartungsfaktor p die Zahl der äquivalenten Bandminima bzw. -maxima angibt
und m∗i die Eigenwerte des effektive Massetensors für die Elektronen und Löcher sind.
Für das Leitungsband ist p = 6 bzw. 4 für Si bzw. Ge, woraus sich m∗e,DOS = 1.08m e für
Si und m∗e,DOS = 0.55m e für Ge ergibt. Die Zustandsdichten der Valenzbänder (hh, l h,
soh) addieren sich, woraus sich m∗h,DOS 3⇑2 = m∗hh 3⇑2 + m∗lh 3⇑2 + m∗soh 3⇑2 ergibt. Wir erhalten
dann m∗h,DOS = 0.65m e für Si und m∗h,DOS = 0.34m e für Ge. Für Ge haben wir dabei nur
den Beitrag der hh- und l h-Bänder berücksichtigt. Das soh-Band kann meist vernachläs-
sigt werden, da es relativ weit (im Vergleich zu k B T bei Raumtemperatur) unterhalb der
Valenzbandkante liegt.
In einem intrinsischen Halbleiter stammen alle freien Elektronen im Leitungsband aus dem
Valenzband. Deshalb muss die Zahl der Elektronen im Leitungsband und die der Löcher im
Valenzband immer exakt gleich sein. Zur Veranschaulichung ist dies in Abb. 10.7 skizziert.
Falls die effektiven Zustandsdichtemassen der Elektronen und Löcher und damit ihre Zu-
standsdichten gleich sind, so liegt das chemische Potenzial µ in der Mitte der Energielücke.
Falls aber z. B. die Zustandsdichte der Elektronen im Leitungsband kleiner ist, so verschiebt
sich das chemische Potenzial in Richtung Leitungsbandkante, so dass die Besetzungsintegra-
le (10.1.13) und (10.1.14) gleich sind. Wir werden weiter unten den genauen Zusammenhang
zwischen µ und den effektiven Massen herleiten.
Da die Temperaturverschmierung der Fermi-Funktion (≈ 2k B T) üblicherweise klein gegen
die Energielücke E g des Halbleiters ist, können wir f (E, T) innerhalb des Valenzbandes und

(a) 𝑬 𝑬 (b) 𝑬 𝑬
𝑫𝒄 𝑬
𝑫𝒄 𝑬
𝑫𝒄 𝑬 𝒇 𝑬 𝑫𝒄 𝑬 𝒇 𝑬

𝑬𝒄 𝑬𝒄
𝝁
𝝁 𝒇 𝑬
𝒇 𝑬
𝑬𝑽 𝑬𝑽

𝑫𝑽 𝑬 𝟏 − 𝒇 𝑬 𝑫𝑽 𝑬 𝟏 − 𝒇 𝑬
𝑫𝑽 𝑬 𝑫𝑽 𝑬

𝑫 𝑬 ,𝒇 𝑬 𝒅𝒏/𝒅𝑬 𝑫 𝑬 ,𝒇 𝑬 𝒅𝒏/𝒅𝑬
𝒅𝒑/𝒅𝑬 𝒅𝒑/𝒅𝑬

Abb. 10.7: Fermi-Funktion, Zustandsdichten sowie Elektronen- und Löcherkonzentrationen für einen
intrinsischen Halbleiter für (a) Dv = D c und (b) Dv ≠ D c .
29
10.1 Grundlegende Eigenschaften 499

des Leitungsbandes durch eine Boltzmann-Verteilung annähern:


1
≃ e−(E−µ)⇑k B T (E ≥ E c ) (10.1.18)
e(E−µ)⇑k B T + 1
1
≃ e−(µ−E)⇑k B T (E ≤ E v ) . (10.1.19)
e(µ−E)⇑k B T +1
Voraussetzung für die Gültigkeit dieser Näherung ist immer, dass das chemische Potenzial
genügend weit von den Bandkanten entfernt ist. Mit dieser Näherung erhalten wir für die
Ladungsträgerdichte

1 2m∗e,DOS
3⇑2
⌈︂
nc = ( ) e µ⇑k B T ∫ E − E c e−E⇑k B T dE . (10.1.20)
2π 2 ħ2
Ec

Substituieren wir x c = (E − E c )⇑k B T, so ergibt sich



1 2m∗ ⌋︂
3⇑2
3⇑2 −(E c −µ)⇑k B T
n c = 2 ( e,DOS ) (k B T) e ∫ x c e−x c dx c . (10.1.21)
2π ħ2
0
⌋︂ ⌋︂
Mit ∫ x c e−x c dx c = π⇑2 erhalten wir schließlich

m∗e,DOS k B T
3⇑2
nc = 2 ( ) e−(E c −µ)⇑k B T = n eff
c e
−(E c −µ)⇑k B T
. (10.1.22)
2πħ 2

In analoger Weise erhalten wir für die Dichte der Löcher im Valenzband

m∗h,DOS k B T
3⇑2
pv = 2 ( ) e−(µ−E v )⇑k B T = peff
v e
−(µ−E v )⇑k B T
. (10.1.23)
2πħ 2

Die nur schwach temperaturabhängigen Faktoren vor den Exponentialfaktoren werden üb-
licherweise als effektive Ladungsträgerdichten n eff eff
c und p v bezeichnet. Lassen wir deren
Temperaturabhängigkeit außer Acht, so können wir (10.1.22) und (10.1.23) als Besetzungs-
dichten von zwei Energieniveaus interpretieren, die vom chemischen Potenzial die Abstän-
de E c − µ bzw. µ − E v haben.
Wir können jetzt die Tatsache n c = pv benutzten, um den Verlauf des chemischen Potenzials
zu bestimmen. Mit Hilfe von (10.1.22) und (10.1.23) erhalten wir:

1 3 m∗
µ = E v + E g + k B T ln h,DOS . (10.1.24)
2 4 m∗e,DOS

Wir sehen also, dass für m∗h,DOS = m∗e,DOS das chemische Potenzial genau in der Mitte zwi-
schen Valenz- und Leitungsbandkante liegt. Mit Gleichung (10.1.24) könnten wir nun das
chemische Potenzial aus (10.1.22) und (10.1.23) eliminieren. Wir erreichen dies aber auch
500 10 Halbleiter

einfach dadurch, dass wir die Ausdrücke für n c und pv miteinander multiplizieren. Wir er-
halten dadurch

kB T 3 ∗
n c ⋅ pv = 4 ( ) (m e,DOS m∗h,DOS )3⇑2 e−E g ⇑k B T . (10.1.25)
2πħ 2
Dieses Ergebnis entspricht dem Massenwirkungsgesetz der chemischen Reaktionskinetik.10
Bei seiner Herleitung müssen wir keinen Gebrauch von der Bedingung n c = pv machen. Wir
können diesen Ausdruck deshalb auch später bei der Diskussion der Störstellenleitung in do-
tierten Halbleitern benutzen. Eine direkte Folge aus dem Massenwirkungsgesetz (10.1.25) ist,
dass wegen n c ⋅ pv = const bei einer Änderung von n c (z. B. durch Dotierung) sich auch pv
ändern muss. Wichtig ist, dass dabei zwar n c ⋅ pv = const, sich aber n c + pv ändert. Da wir
wegen n c ⋅ pv = C für die Summe n c + pv = n c + C⇑n c erhalten, sehen wir durch Ableiten
dieses Ausdrucks sofort, dass n c + pv für n 2c = C und damit n c = pv minimal wird.

15 14 13
10 10 10

Ge Si 12
GaAs
14 10
10 13
10
11
10
Ladungsträgerdichte (cm )
-3

13
10
12
10 10
10
12
10
9
11 10
10
11
10
8
10
10
10
10
10 7
10

9 9 6
10 10 10
200 250 300 350 300 350 400 450 300 350 400 450

Temperatur (K) Temperatur (K) Temperatur (K)

Abb. 10.8: Temperaturabhängigkeit der intrinsischen Ladungsträgerdichte von Si, Ge und GaAs.

10
Um die Analogie zu einer chemischen Reaktionsgleichung zu verdeutlichen, können wir die Ra-
tengleichung für die Wechselwirkung eines intrinsischen Halbleiters mit dem Photonenfeld eines
schwarzen Strahlers der Temperatur T betrachten. Die zeitliche Änderung der Dichten n c und pv
der Elektronen im Leitungs- und der Löcher im Valenzband erfolgt durch eine Generationsra-
te A(T) und eine Rekombinationsrate B(T) n c ⋅ pv . Das heißt, im Gleichgewicht können wir für
die Reaktionsgleichung schreiben
dn c d pv
= A(T) − B(T)n c ⋅ pv = =0
dt dt
und damit
A(T)
n c ⋅ pv = = const = h(T) .
B(T)
10.1 Grundlegende Eigenschaften 501

Mit (10.1.25) ergibt sich die Ladungsträgerkonzentration n i = n c = pv in intrinsischen Halb-


leitern zu

⌋︂ k B T 3⇑2 ∗
ni = n c pv = 2 ( ) (m e,DOS m∗h,DOS )3⇑4 e−E g ⇑2k B T . (10.1.26)
2πħ 2

Der Verlauf der intrinsischen Ladungsträgerdichte ist in Abb. 10.8 für Si, Ge und
GaAs dargestellt. Bei Raumtemperatur beträgt die intrinsische Ladungsträgerdichte von
Ge (E g = 0.67 eV) 2.4 × 1013 cm−3 , für Si (E g = 1.12 eV) 1.5 × 1010 cm−3 und für GaAs
(E g = 1.42 eV) 5 × 107 cm−3 .

10.1.3 Dotierte Halbleiter


Die intrinsische Ladungsträgerdichte in Halbleitern ist für viele Anwendungen zu gering.
Ladungsträgerdichten, die um mehrere Größenordnungen größer sind, können durch Ein-
bringen von Verunreinigungen erzeugt werden. Für die meisten Halbleiter ist es sogar so,
dass sie gar nicht in genügend reiner Form hergestellt werden können, um die intrinsische
Ladungsträgerdichte beobachten zu können. Die geringste Verunreinigungskonzentration,
die heute in Halbleitern erreicht werden kann, liegt im Bereich von 1012 cm−3 . Deshalb kann
für Ge mit n i = 2.4 × 1013 cm−3 bei Raumtemperatur Eigenleitung beobachtet werden, nicht
aber für Si mit n i = 1.5 × 1010 cm−3 . Die reinsten GaAs Einkristalle besitzen heute Verunrei-
nigungskonzentrationen im Bereich von etwa 1016 cm−3 , was weit oberhalb der intrinsischen
Ladungsträgerdichte von 5 × 107 cm−3 liegt. Die gezielte Dotierung von Halbleitern, um de-
ren Eigenschaften für Anwendungen maßzuschneidern, ist ein zentraler Bestandteil der heu-
tigen Halbleitertechnologie. Im Gegensatz zu Halbleitern ist es für Metalle sehr schwierig,
die elektrische Leitfähigkeit über mehrere Größenordnungen zu ändern.

10.1.3.1 Donator- und Akzeptorniveaus


Elektrisch aktive Verunreinigungen in Halbleitern werden als Donatoren, wenn sie zusätz-
liche Elektronen im Leitungsband bereitstellen, bzw. als Akzeptoren bezeichnet, wenn sie
zusätzliche Löcher im Valenzband bereitstellen. Für die Element-Halbleiter der IV. Haupt-
gruppe sind typische Donatoren Elemente der V. Hauptgruppe wie P, As oder Sb. Wird ein
solches Donatoratom in einen Ge- oder Si-Kristall eingebaut, so werden von den fünf zur
Verfügung stehenden Valenzelektronen nur vier für die kovalente Bindung benötigt. Das
fünfte Elektron, welches nicht für die Bindung gebraucht wird, kann unter Aufwendung ei-
ner kleinen Energie vom Atomrupf getrennt werden und steht dann als freies Elektron für
den Ladungstransport zur Verfügung.
Um die Bindungsenergie des fünften Elektrons abzuschätzen, können wir das Bohrsche
Atommodell benutzen und die Energieniveaus dieses Elektrons im Coulomb-Potenzial des
einfach positiv geladenen Rumpfatoms berechnen. Dies entspricht formal gerade einem
Wasserstoffatom. Für die Energieniveaus des Wasserstoffatoms gilt:

me e4 1
E nH = . (10.1.27)
2(4πє 0 ħ)2 n 2
502 10 Halbleiter

Für den Grundzustand (n = 1) beträgt die Ionisierungsenergie 13.6 eV. Um von den Ener-
gietermen des Wasserstoffatoms zu denjenigen des Donatoratoms zu gelangen müssen wir
die freie Elektronenmasse m e durch die effektive Bandmasse m∗e eines Elektrons im Lei-
tungsband ersetzen. Ferner müssen wir die Abschirmung des Coulomb-Potenzials durch die
umgebenden Si-Atome berücksichtigen, indem wir im Ausdruck für die Energieniveaus des
Wasserstoffatoms die Dielektrizitätskonstante є des Halbleitermaterials einsetzen. Es ergibt
sich dann

m∗e e 4 1 m∗e H
En = = E . (10.1.28)
2
2(4πєє 0 ħ) n 2 m e є2 n

Für Si erhalten wir mit m∗e = (m∗et 2 m el )1⇑3 ≃ 0.3m e und є Si = 11.7 eine Ionisierungsener-
gie von E 1 ∼ 30 meV. Das heißt, der Donatorzustand E D befindet sich nur E d = E c − E D ≃
30 meV unterhalb der Leitungsbandkante, die wir mit dem Vakuumniveau des Wasserstoff-
atoms identifizieren. Da E d in der Größenordnung der thermischen Energie bei Raum-
temperatur (∼ 25 meV) liegt, kann der Donatorzustand leicht thermisch ionisiert werden.
Für Ge ist m∗e = (m∗et 2 m el )1⇑3 ≃ 0.2m e und є Ge = 15.8, so dass hier die Ionisierungsenergie
mit E 1 ∼ 10 meV noch kleiner ist.
In Abb. 10.9 ist die Bandstruktur von Si schematisch zusammen mit dem Grundzustands-
niveau (n = 1) des Donatoratoms gezeigt. Zwischen dem Grundzustand und der Unterkante
des Leitungsbandes befinden sich die angeregten Zustände (n > 1) des Donatoratoms, deren
Abstände mit zunehmender Quantenzahl stark abnehmen. Die Energieniveaus der angereg-
ten Zustände können z. B. mit optischer Spektroskopie bestimmt werden. Tut man dies, so
erkennt man, dass die Energieniveaus doch erheblich von denjenigen eines Wasserstoffspek-
trums abweichen. Dies wird durch das so genannte Kristallfeld der umgebenden Si-Atome
verursacht, das zu einer Aufhebung der Entartung der wasserstoffähnlichen Zustände führt.
Wir können mit Hilfe des Wasserstoffmodells eines Donatoratoms auch den Bohrschen Ra-
dius berechnen. In Analogie zum Wasserstoffatom erhalten wir

4πєє 0 ħ 2
rd = . (10.1.29)
m∗e e 2

(a) Si Si Si Si Si Si Si Si (b)
Si Si Si Si Si Si Si Si
Abb. 10.9: (a) Schematische e- Leitungsband
Darstellung der Wirkung Si Si Si Si Si Si Si Si
eines Phosphor-Atoms in 𝑬𝒅 𝑬𝒄
einem Si-Kristall. (b) La- Si Si Si P+ Si Si Si Si 𝑬𝑫
ge des Energieniveaus für 𝑬𝒈
Si Si Si Si Si Si Si Si
den Grundzustand des
Donatoratoms. E d ist die Si Si Si Si Si Si Si Si 𝑬𝑽
Ionisierungsenergie, die
Valenzband
aufgebracht werden muss, Si Si Si Si Si Si Si Si
um den Donatorzustand ins
Leitungsband anzuregen. Si Si Si Si Si Si Si Si

35
10.1 Grundlegende Eigenschaften 503

Wir sehen, dass der Bohrsche Radius des Donatorzustands um den Faktor єm e ⇑m∗e größer
als der Bohrsche Radius a B = 0.525 Å eines Wasserstoffatoms ist. Er beträgt für Si etwa 30 Å
und ist damit wesentlich größer als der Atomabstand der Siliziumatome von 2.35 Å. Das
bedeutet, dass das an das Donatoratom gebundene Elektron mehr als 10 Gitterabstände aus-
geschmiert ist. Dies rechtfertigt die Verwendung der Dielektrizitätskonstante von Silizium
zur Berücksichtigung der Abschirmung.
Verwenden wir als Verunreinigungsatom in einem Si oder Ge-Kristall ein dreiwertiges Ele-
ment wie z. B. B, Al, Ga oder In, so fehlt diesem für die tetraedrische Bindung ein Elektron.
Das heißt, das Dotieratom kann sehr einfach ein Elektron aufnehmen, das dann in seiner
Umgebung fehlt. Dieses fehlende Elektron können wir formal als Loch beschreiben, welches
das einfach negativ geladene Akzeptoratom umkreist. Dies ist in Abb. 10.10 schematisch
dargestellt.

(a) Si Si Si Si Si Si Si Si (b)
Si Si Si Si Si Si Si Si
e+ Leitungsband
Abb. 10.10: (a) Schemati-
Si Si Si Si Si Si Si Si sche Darstellung der Wir-
𝑬𝒄 kung eines Bor-Atoms in
Si Si Si B- Si Si Si Si einem Si-Kristall. (b) La-
𝑬𝒈 ge des Energieniveaus für
Si Si Si Si Si Si Si Si
𝑬𝑨 den Grundzustand des
𝑬𝒂
Si Si Si Si Si Si Si Si 𝑬𝑽 Akzeptoratoms. E a ist die
Ionisierungsenergie, die auf-
Valenzband
Si Si Si Si Si Si Si Si gebracht werden muss, um
den Akzeptorzustand ins
Si Si Si Si Si Si Si Si Valenzband anzuregen.

Die Beschreibung der Akzeptorniveaus können wir unter Verwendung des Lochkonzepts
formal gleich vornehmen. Wir müssen nur in Gleichung (10.1.28) die effektive Masse m∗h
eines Lochs im Valenzband verwenden. Eine Ionisierung des Akzeptoratoms
36 ist gleichbe-
deutend mit der Freisetzung eines Loches. Hierzu muss ein Elektron aus dem Valenzband
in ein Akzeptorniveau E A angehoben werden. Das Akzeptorniveau liegt also oberhalb der
Valenzbandkante, wobei sein Abstand von dieser Kante gerade der Ionisierungsenergie E a
entspricht (siehe Abb. 10.10). Der Wert von E a liegt in der gleichen Größenordnung wie der
von E d . In Tabelle 10.4 sind die Ionisierungsenergien einiger Donator- und Akzeptoratome
für Si und Ge zusammengestellt.

Tabelle 10.4: Ionisierungsenergien E d und E a einiger Donatoren und Akzeptoren in Si und Ge. Quelle:
Handbook Series on Semiconductor Parameters, Vol. 1 and 2, edited by M. Levinstein, S. Rumyantsev
and M. Shur, World Scientific, London (1996, 1999).

Halbleiter Donatoren Akzeptoren


P As Sb Bi B Al Ga In
Ed (meV) (meV) (meV) (meV) Ea (meV) (meV) (meV) (meV)
Si 45 54 43 69 45 72 74 157
Ge 13 14 9.6 13 11 11 11 12
504 10 Halbleiter

Enthält ein Halbleiter sowohl Donatoren als auch Akzeptoren, so kann das Elektron eines
Donators zu einem Akzeptor wandern und dort das fehlende Elektron ersetzen. Dadurch
heben sich die Wirkung von Donatoren und Akzeptoren gegenseitig auf, wir sprechen von
kompensierten Halbleitern. Überwiegt die Anzahl der Donatoren, so sprechen wir von ei-
nem n-Halbleiter, überwiegen die Akzeptoren, so sprechen wir von einem p-Halbleiter.

10.1.3.2 Ladungsträgerdichte und Fermi-Niveau


In einem dotierten Halbleiter kann ein Elektron im Leitungsband entweder aus dem Va-
lenzband oder einem Donatorniveau stammen. Ein Loch im Valenzband entspricht damit
entweder einem Elektron im Leitungsband oder einem ionisierten Akzeptorniveau. Zur Er-
mittlung der Ladungsträgerkonzentration in dotierten Halbleitern können wir nach wie vor
die Ausdrücke (10.1.22) und (10.1.23) für n c und pv verwenden. Bei ihrer Herleitung haben
wir lediglich vorausgesetzt, dass der Abstand des chemischen Potenzials von der Leitungs-
oder Valenzbandkante groß gegen k B T sein soll. Das heißt, es gilt nach wie vor die dem
Massenwirkungsgesetz entsprechende Beziehung
eff −E g ⇑k B T
n c ⋅ pv = n eff
c pv e , (10.1.30)

in der das chemische Potenzial µ nicht mehr auftaucht. Im Gegensatz zu intrinsischen Halb-
leitern können wir jetzt aber die Lage des chemischen Potenzials nicht mehr durch die ein-
fache Neutralitätsbedingung n c = pv herleiten, sondern müssen eine kompliziertere Bedin-
gung verwenden, die die Ladung der Verunreinigungen mit berücksichtigt.
Die Dichte der Donatoren lässt sich als

n D = n 0D + n+D (10.1.31)

schreiben, wobei n 0D die Dichte der neutralen und n+D diejenige der ionisierten Donatoren
ist. Äquivalent gilt für die Akzeptoren

n A = n 0A + n−A . (10.1.32)

Da insgesamt Ladungsneutralität vorliegen muss, erhalten wir die Bedingung

n c + n−A = pv + n+D . (10.1.33)

Um diese Neutralitätsbedingung für die Bestimmung der Lage des chemischen Potenzials
verwenden zu können, benötigen wir noch Ausdrücke für n−A und n+D .
Die Wahrscheinlichkeit dafür, dass eine Störstelle nicht ionisiert ist, das heißt, die Wahr-
scheinlichkeit n 0D ⇑n D bzw. n 0A ⇑n A dafür, dass sie als neutrale Störstelle vorliegt, können wir
mit Hilfe der Fermi-Dirac-Verteilung angeben:

n 0D 1
= 2 (E −µ)⇑k T (10.1.34)
nD e D B +1
n 0A 1
= 4 (µ−E )⇑k T . (10.1.35)
nA e A B +1
10.1 Grundlegende Eigenschaften 505

Hierbei berücksichtigt der Faktor 2 der rechten Seite die zweifache Spin-Entartung des Do-
natorzustands, d. h. effektiv liegt die Donatordichte 2n D vor. Der Faktor 4 resultiert aus den
beiden hh- und l h-Valenzbandzuständen mit jeweils zweifacher Spin-Entartung, aus de-
nen die Akzeptorzustände aufgebaut sind, d. h. effektiv liegt die Akzeptordichte 4n A vor. Bei
der nachfolgenden Abschätzung vernachlässigen wir diese zusätzlichen Faktoren. Mit Hil-
fe von (10.1.34) und (10.1.35) können wir aus (10.1.31) und (10.1.32) Ausdrücke für n+D
und n−A ableiten und in die Neutralitätsbedingung (10.1.33) einsetzen. Wir erhalten dadurch
eine Bestimmungsgleichung für µ, die allerdings bei gleichzeitiger Berücksichtigung von
Donatoren und Akzeptoren nur numerisch lösbar ist.
Wir beschränken uns hier auf die Diskussion eines n-Halbleiters mit n D ≫ n A . Entsprechen-
de Ergebnisse können in analoger Weise für p-Halbleiter erhalten werden. Für n D ≫ n A fan-
gen alle Akzeptoren ein Elektron ein, das ursprünglich zu einem Donator gehörte. Das heißt,
es kommen praktisch keine neutralen Akzeptoren vor, so dass wir n 0A ≃ 0 und n−A ≃ n A set-
zen können. Außerdem soll die Temperatur so niedrig sein, dass wir die Zahl der Elektronen,
die aus dem Valenzband ins Leitungsband angeregt werden, gegenüber den durch Ionisie-
rung von Donatoratomen erzeugten Elektronen vernachlässigen können, d.h n+D ≫ n c , pv .
Aus (10.1.33) folgt dann
n c = pv + n+D − n−A ≃ n+D − n A = n D − n 0D − n A . (10.1.36)
Benutzen wir jetzt noch (10.1.34), so erhalten wir
1
n c ≃ n D (1 − ) − nA . (10.1.37)
e(E D −µ)⇑k B T +1
Durch Umformen von
m∗e k B T 3⇑2 −(E c −µ)⇑k B T −(E c −µ)⇑k B T
nc = 2 ( ) e = n eff
c e (10.1.38)
2πħ 2
erhalten wir
n c E c ⇑k B T
e = e µ⇑k B T (10.1.39)
n eff
c

und können damit in (10.1.37) das chemische Potenzial eliminieren. Wir erhalten
nc nD
n c ≃ n D (1 − −E d ⇑k B T + n
) − nA = n c E d ⇑k B T − n A . (10.1.40)
n eff
c e c 1 + n eff
e
c

Hierbei haben wir den Abstand E d = E c − E D des Donatorniveaus vom Leitungsband be-
nutzt. Durch weiteres Umformen von (10.1.40) erhalten wir das Ergebnis

n c (n c + n A ) −E d ⇑k B T
= n eff
c e , (10.1.41)
nD − nA − nc
aus dem wir den Temperaturverlauf von n c bestimmen können. Für eine verschwindend
kleine Akzeptorkonzentration n A ergibt sich näherungsweise die quadratische Gleichung
n 2c E d ⇑k B T
e + nc − nD ≃ 0 (10.1.42)
n eff
c
506 10 Halbleiter

mit der Lösung


2n D
nc = ⌉︂ (10.1.43)
1 + 1 + 4 nneffD eE d ⇑k B T
c

Wir wollen im Folgenden die physikalische Bedeutung von (10.1.41) für verschiedene Tem-
peraturbereich diskutieren.

∎ Sehr tiefe Temperaturen, k B T ⋘ E d (Kompensationsbereich):


Bei sehr tiefen Temperaturen sind so wenige Ladungsträger angeregt, dass n c ≪ n A ≪
n D gilt. Damit ergibt sich aus (10.1.41)

n D n eff
nc ≃ c
e−E d ⇑k B T . (10.1.44)
nA
Setzen wir dies in (10.1.39) ein, so erhalten wir für die Lage des chemischen Potenzials
nD
µ ≃ E c − E d + k B T ln ( ). (10.1.45)
nA
Wir sehen, dass für T → 0 die Lage von µ durch die Donatoren bestimmt wird. Durch die
endliche Akzeptordichte werden alle von den Donatoren abgegebenen Elektronen von
den Akzeptoren aufgenommen. Wir sprechen von einem Kompensationseffekt. Da mit
zunehmender Temperatur die Donatoren auch Ladungsträger ins Leitungsband abgeben
können, bewegt sich, wie Abb. 10.11 zeigt, für zunehmende Temperatur µ von E c − E d
nach oben in Richtung Leitungsbandkante. Gleichzeitig nimmt die Ladungsträgerdichte
exponentiell zu.
∎ Tiefe Temperaturen, k B T ≪ E d (Bereich der Störstellenreserve):
Wird die Temperatur weiter erhöht, so können immer mehr Donatoren ihre Ladungs-
träger ins Leitungsband abgeben, so dass schnell n c ≫ n A gilt. Die Temperatur ist aber
immer noch so gering, dass e−E d ⇑k B T ≪ 1 und somit n c ≪ n D . Mit diesen Näherungen
ergibt sich aus (10.1.41)
⌈︂
−E d ⇑2k B T
n c ≃ n D n eff
c e . (10.1.46)

Für die Lage des chemischen Potenzials ergibt sich

Ed kB T n eff
µ ≃ Ec − − ln ( c ) . (10.1.47)
2 2 nD

Das chemische Potenzial liegt also etwa in der Mitte zwischen Leitungsbandunterkante
und Donatorniveau.
Gleichung (10.1.46) zeigt, dass im Temperaturbereich der Störstellenreserve die thermi-
sche Energie noch nicht ausreicht, um alle Donatoren zu ionisieren. Wie Abb. 10.11 zeigt,
nimmt mit sinkender Temperatur die Ladungsträgerdichte exponentiell ab, wie wir es
schon bei intrinsischen Halbleitern kennen gelernt haben. Wir sprechen von einem Aus-
frieren der Ladungsträger. Allerdings ist im Vergleich zu intrinsischen Halbleitern die
exponentielle Abnahme jetzt durch E d und nicht durch E g bestimmt. Wir sehen ferner,
10.1 Grundlegende Eigenschaften 507

𝐥𝐨𝐠 𝒏𝒄 ≃ −𝑬𝒈 /𝟐𝒌𝐁 𝑻


𝐥𝐨𝐠 𝒏𝒄

𝒏𝑫
𝒏𝒄 ≃ 𝒏𝑫 𝐥𝐨𝐠 𝒏𝒄 ≃ −𝑬𝒅 /𝟐𝒌𝐁 𝑻

𝐥𝐨𝐠 𝒏𝒄 ≃ −𝑬𝒅 /𝒌𝐁 𝑻

IV III II I
Eigenleitung Störstellenerschöpfung Störstellenreserve Kompensationsbereich

𝟏/𝑻
𝑬

Leitungsband
𝑬𝒄
𝑬𝒅
𝑬𝑫
𝝁 𝑻
𝑬𝒈
≃ 𝑬𝒈 /𝟐
𝑬𝑽
Valenzband
𝟏/𝑻
38

Abb. 10.11: Temperaturverlauf der Ladungsträgerdichte n c und des chemischen Potenzials µ in einem
dotierten n-Typ Halbleiter. Im Bereich I liegt Störstellenkompensation durch eine endliche Akzeptor-
dichte vor, im Bereich II dominiert reine Störstellenleitung, im Bereich III der Störstellenerschöpfung
sind sämtliche Störstellen ionisiert, so dass die Ladungsträgerdichte etwa konstant bleibt, und im Be-
reich IV tritt die Eigenleitung gegenüber der Störstellenleitung in den Vordergrund.

dass (10.1.46) formal dem Ausdruck (10.1.26) für die intrinsische Ladungsträgerdichte
entspricht, wenn wir E g durch E d und die Zustandsdichte im Leitungsband durch n D er-
setzen. Die thermische Anregung von Ladungsträgern direkt vom Valenz- ins Leitungs-
band kann im Bereich der Störstellenreserve vollkommen vernachlässigt werden.
∎ Mittlere Temperaturen, k B T ≳ E d (Bereich der Störstellenerschöpfung):
Bei genügend hohen Temperaturen k B T ≳ E d wird e−E d ⇑k B T ≃ 1 und wir erhalten
mit n c ≫ n A aus (10.1.41) die Beziehung n 2c ≃ n eff
c (n D − n c ). Da n c ≪ n c , folgt wei-
eff

ter n D − n c ≃ 0 und damit das einfache Ergebnis

nc ≃ nD (10.1.48)

und
n eff
µ ≃ E c − k B T ln ( c
). (10.1.49)
nD

Das Ergebnis ist einfach zu verstehen. Die Temperatur ist hoch genug, um alle Störstel-
len zu ionisieren, aber noch zu klein, um eine große Zahl von Ladungsträgern aus dem
Valenz- ins Leitungsband anzuregen. Wir sprechen deshalb vom Bereich der Störstellen-
erschöpfung. Das chemische Potenzial bewegt sich mit zunehmender Temperatur nach
unten in Richtung Bandmitte. Es sei hier noch erwähnt, dass sich für Si mit einer Phos-
508 10 Halbleiter

phor-Dotierung von n D = 3 × 1014 cm−3 der Bereich der Störstellenerschöpfung von et-
wa 45 bis 500 K erstreckt. Das heißt, bei Raumtemperatur sind alle Donatoratome ioni-
siert.
∎ Hohe Temperaturen, k B T ≫ E d (Bereich der Eigenleitung):
Wenn wir zu noch höheren Temperaturen gehen, müssen wir natürlich wieder die Dichte
der thermisch direkt aus dem Valenzband ins Leitungsband angeregten Ladungsträger
berücksichtigen, sobald diese in die Größenordnung von n D kommt. Die für (10.1.33)
gemachte Annahme n+D ≫ n c , pv ist dann nicht mehr zulässig.
In dem Bereich sehr hoher Temperaturen verläuft die Temperaturabhängigkeit der
Ladungsträgerdichte wieder wie bei intrinsischen Halbleitern. Es dominiert die Eigen-
leitung. Für die Ladungsträgerdichte und das chemische Potenzial gelten Gleichun-
gen (10.1.22) und (10.1.24).

10.1.4 Elektrische Leitfähigkeit


Um die Temperaturabhängigkeit der elektrischen Leitfähigkeit zu diskutieren, müssen wir
neben der Temperaturabhängigkeit der Ladungsträgerdichte auch noch etwas über die Tem-
peraturabhängigkeit der Streuzeit τ e und τ p oder äquivalent der Beweglichkeiten µ e und µ p
der Elektronen und Löcher wissen. Zum elektrischen Strom tragen sowohl die Elektronen im
Leitungsband als auch die Löcher im Valenzband bei, so dass wir für die elektrische Strom-
dichte11

Jq = e(n c µ e + pv µ p )E = σE (10.1.50)

schreiben können. Im Gegensatz zu Metallen, wo wir nur Elektronen bei der Fermi-Energie
berücksichtigen mussten, für deren Beweglichkeit µ e = µ e (E F ) gilt, sind die Beweglichkei-
ten µ e und µ p in einem Halbleiter die Mittelwerte für die Zustände, die Elektronen und
Löcher im Leitungsband bzw. Valenzband besetzen. Diese Mittelwerte können wie folgt aus-
gedrückt werden:

⋃︀vD ⋃︀ e ∐︀τ e (k)v 2 (k)̃︀


µe = = ∗ . (10.1.51)
⋃︀E⋃︀ me ∐︀v 2 (k)̃︀
Hierbei ist v(k) die Geschwindigkeit eines Elektrons im Zustand k und τ e (k) seine Streu-
zeit, vD ist die mittlere Driftgeschwindigkeit der Elektronen. Für µ h gilt ein entsprechender
Ausdruck.
Wir wollen im Folgenden nur eine qualitative Betrachtung durchführen und auf eine detail-
lierte Behandlung mit Hilfe der Boltzmann-Transportgleichung verzichten.12 Nach erhebli-
cher Vereinfachung ergibt (10.1.51), dass die Beweglichkeit proportional zu einer mittleren
11
Aufgrund ihrer entgegengesetzten Ladung driften Elektronen und Löcher antiparallel bzw. parallel
zu E. Die Driftbewegung der Elektronen mit Ladung −e antiparallel zu E resultiert allerdings in
einer Stromdichte Jq , die derjenigen von positiven Ladungen +e entspricht, die sich parallel zu E
bewegen.
12
Eine detailliertere Betrachtung findet man zum Beispiel in Fundamentals of Semiconductors,
P. Y. Yu, M. Cardona, Springer Verlag, Berlin (1996).
10.1 Grundlegende Eigenschaften 509

Streuzeit τ ist, d. h. µ e = eτ e ⇑m∗e bzw. µ h = eτ h ⇑m∗h . Da τ die mittlere Zeit zwischen zwei
Streuprozessen ist, können wir schreiben (vergleiche hierzu Abschnitt 9.3):
1 1
= ∝S. (10.1.52)
ℓ ∐︀ṽ︀τ
Hierbei ist S der Streuquerschnitt eines Streuzentrums für Elektronen bzw. Löcher. Im Ge-
gensatz zu Metallen, wo wir v = v F verwenden können, müssen wir für ∐︀ṽ︀ den thermischen
Mittelwert über alle Elektronen im Leitungsband bzw. Löcher im Valenzband benutzen.13
Gleichung (10.1.52) gibt dann die mittlere freie Weglänge von Elektronen bzw. Löchern an.
Da wir für Halbleiter⌈︂eine Boltzmann-Statistik verwenden dürfen, gilt für die mittlere Ge-
schwindigkeit ∐︀ṽ︀ = 3k B T⇑m∗ und wir erhalten
⌋︂
∐︀ṽ︀ ∝ T . (10.1.53)
Wir wollen im Folgenden verschiedene Streuprozesse diskutieren.

Streuung an akustischen Phononen: Wir beginnen mit der Streuung an akustischen Pho-
nonen. Wir haben in Abschnitt 9.3.2 abgeleitet, dass
S ph ∝ T für T ≫ ΘD . (10.1.54)
Aus (10.1.52) und (10.1.53) erhalten wir dann [vergleiche hierzu (9.3.28)]
µ ph ∝ T −3⇑2 . (10.1.55)
log µ

∝ 𝑻𝟑/𝟐 ∝ 𝑻−𝟑/𝟐

geladene Abb. 10.12: Qualitativer Temperaturverlauf


Phononen der Beweglichkeit in einem Halbleiter, in dem
Störstellen
hauptsächlich Streuung an akustischen Phono-
log T nen und geladenen Verunreinigungen vorliegt.

Streuung an optischen Phononen: In polaren Kristallen mit ionischem Bindungsanteil


(z. B. GaAs) spielt die Streuung von Ladungsträgern an longitudinal-optischen (LO) Phono-
nen eine große Rolle. Diese Phononen erzeugen lokale elektrische Felder, an welche die La-
dungsträger ankoppeln können und zur Streuung führen. Ist die Energie der Ladungsträger
groß gegen die Phononen-Energie, E(k) ≫ ħΩ LO , ergibt sich µ ∝ T −1⇑2 exp(−ħΩ LO ⇑k B T),
während sich im anderen Grenzfall, E(k) ≪ ħΩ LO , in etwa µ ∝ exp(−ħΩ LO ⇑k B T) ergibt.
40
Für eine Herleitung dieser Zusammenhänge wird auf die Fachliteratur verwiesen.
13
Für Halbleiter mit nicht allzu hoher Dotierung und bei nicht allzu tiefen Temperaturen gilt k B T >
E F . Es liegt deshalb kein entartetes Fermi-Gas wie in Metallen sondern ein klassisches Teilchengas
vor, dessen Geschwindigkeitsverteilung wir mit der Maxwell-Boltzmann-Verteilung beschreiben
können.
510 10 Halbleiter

(1)
Si
(2)

Beweglichkeit µ (cm /Vs)


5
10

2
Abb. 10.13: Temperaturabhän-
(3)
gigkeit der Beweglichkeit der La- 4
10
dungsträger in Si. (1) Hochreines Si,
n D < 1012 cm−3 ; (2) hochreines Si, (4)
n D < 4 × 1013 cm−3 ; (3) n D = 1.75 ×
1016 cm−3 , n A = 1.48 × 1015 cm−3 ; 10
3

(4) n D = 1.3 × 1017 cm−3 , n A = 2.2 × T 3/2 T -3/2


1015 cm−3 . Quellen: P. Norton et al.,
Phys. Rev. B 8, 5632 (1973); C. Canali 10 100
et al., Phys. Rev. B 12, 2265 (1975). Temperatur (K)

Streuung an geladenen Störstellen: Als nächstes wollen wir die Streuung an geladenen
Defekten diskutieren. Solche Defekte sind z.B. ionisierte Donatoren und Akzeptoren. Für
dieses Rutherford-artige Streuproblem erhalten wir14

S def ∝ ∐︀ṽ︀−4 ∝ T −2 , (10.1.56)


⌋︂
wobei wir den thermischen Mittelwert ∐︀ṽ︀ ∝ T für die Geschwindigkeit benutzt haben.
Der Zusammenhang S def ∝ ∐︀ṽ︀−4 ergibt sich sofort, wenn wir uns klar machen, dass der
Streuquerschnitt in einfachster Näherung eine kreisförmige Scheibe ist, deren Radius die
Entfernung r von dem geladenen Streuzentrum ist, bei der die Coulomb-Energie (∝ 1⇑r)
gerade gleich der kinetischen Energie (∝ ∐︀ṽ︀2 ) der Ladungsträger ist. Daraus ergibt sich der
Steuquerschnitt S def ∝ r 2 ∝ ∐︀ṽ︀−4 . Aus (10.1.52) und (10.1.53) erhalten wir dann wiederum
[vergleiche hierzu auch (9.3.16)]

µ def ∝ T 3⇑2 . (10.1.57)

Mehrere Streuprozesse: Nach der Matthiessen-Regel erhalten wir 1⇑µ tot , indem wir die
reziproken Mobilitäten addieren. Das Ergebnis ist in Abb. 10.12 schematisch dargestellt.
14
Für die Streuung an einer geladenen Störstelle mit Z = 1 erhalten wir den Wirkungsquerschnitt
[vergleiche (9.3.12) und (9.3.14)]
2
e2
σ(v, ϑ) = ( ) sin−4 (ϑ⇑2) ,
2єє 0 m∗ ∐︀ṽ︀2
woraus sich eine vom Streuwinkel ϑ abhängige Streurate 1⇑τ(ϑ) ∝ ∐︀ṽ︀σ(ϑ) ergibt. Die gesamte
Streurate erhalten wir durch Integration über alle Streuwinkel. Das Ergebnis dieser Integration ist
die Conwell-Weißkopf-Formel
⎨ ∗ 2 1⇑3 2 ⎬
1 2n D,A πe 4 ⎝
⎝1 + ( єє 0 m ∐︀ṽ︀ (3⇑4πn D,A ) ) ⎠ .

τ∝ = ln
µ (єє 0 m∗ )2 ∐︀ṽ︀3 ⎝ ⎝ 2e 2 ⎠

⎪ ⎮
Hierbei ist n D,A die Dichte der geladenen Donatoren bzw. Akzeptoren.
10.1 Grundlegende Eigenschaften 511

Tabelle 10.5: Beweglichkeiten von einigen Halbleitern bei 300 K. Quelle: Handbook Series on Semicon-
ductor Parameters, Vol. 1 and 2, edited by M. Levinstein, S. Rumyantsev and M. Shur, World Scientific,
London (1996, 1999).

Halbleiter Si Ge C GaAs InAs InSb InP


µ e (cm2 /Vs) 1 400 3 900 1 800 8 500 40 000 77 000 4 500
µ h (cm2 /Vs) 500 1 900 1 400 400 500 850 100

Die Beweglichkeit nimmt bei tiefen Temperaturen mit ansteigender Temperatur zunächst
proportional zu T 3⇑2 zu, durchläuft ein Maximum und nimmt dann proportional zu T −3⇑2
ab. Dies ist am Beispiel von Si in Abb. 10.13 gezeigt. In polaren Halbleitern nimmt die Be-
weglichkeit bei hohen Temperaturen aufgrund der hier dominierenden Streuung an LO-
Phononen deutlich stärker ab. Als weitere Streuprozesse kommen die Streuung an neutralen
Störstellen und die Streuung an transversal-akustischen (TA) Phononen hinzu, die in Vieltal-
Halbleitern wie Si und Ge wichtig ist. Diese sind aber in den meisten Fällen nicht dominant
und werden deshalb hier nicht näher erläutert. Die Beweglichkeiten von einigen Halbleitern
bei 300 K sind in Tabelle 10.5 aufgelistet.
Der in Abb. 10.12 gezeigte charakteristische Verlauf der Beweglichkeit spiegelt sich auch häu-
fig in der elektrischen Leitfähigkeit σ wider, da die Ladungsträgerdichte in dem Bereich der
Ladungsträgersättigung über ein großes Temperaturintervall konstant bleibt. Nur bei sehr
hohen und sehr tiefen Temperaturen dominiert die exponentielle Temperaturabhängigkeit
der Ladungsträgerdichte (vergleiche Abb. 10.11) die Leitfähigkeit.

10.1.5 Hall-Effekt
Bei Halbleitern erfolgt der Ladungstransport sowohl durch die Elektronen im Leitungsband
als auch durch die Löcher im Valenzband. Für den Hall-Koeffizienten müssen wir deshalb
den Zweiband-Ausdruck [vergleiche (9.9.18)]
σ1 emτ11 + σ2 emτ22
RH = . (10.1.58)
(σ1 + σ2 )2
verwenden, den wir in Abschnitt 9.9.2 für ein Zweiband-Modell hergeleitet haben. Hier-
bei müssen wir berücksichtigen, dass die Elektronen die Ladung −e und die Löcher die
Ladung +e transportieren. Unter Benutzung von σ1 = n c e µ e und σ2 = pv e µ h , sowie µ e =
eτ e ⇑m∗e und µ h = eτ h ⇑m∗h erhalten wir den Ausdruck
pv µ 2h − n c µ 2e
RH = . (10.1.59)
e(pv µ h + n c µ e )2
Bei reiner Eigenleitung ist n c = pv = n i und für die Hall-Konstante ergibt sich
1 µh − µe
R H,i = . (10.1.60)
ni e µh + µe
Wir sehen, dass die Hall-Konstante positiv oder negativ sein kann, je nachdem ob µ h > µ e
oder µ h < µ e .
512 10 Halbleiter

Bei reiner Störstellenleitung können wir jeweils eine Ladungsträgersorte vernachlässigen


und es ergibt sich aus (10.1.59)
1 1
R H,e = − oder R H,h = + , (10.1.61)
nc e pv e
je nachdem ob reine n-Leitung (pv = 0) oder reine p-Leitung (n c = 0) vorliegt. Dieser Aus-
druck entspricht dem bereits bekannten Ergebnis, das wir bei Vorliegen nur einer Ladungs-
trägersorte (Einband-Modell) abgeleitet haben (vergleiche hierzu Abschnitt 7.3.4).
Wir wollen nun noch diskutieren, wie wir durch Messung von R H wichtige Parameter von
Halbleitern bestimmen können:

∎ Zur Bestimmung der Energielücke E g messen wir R H,i als Funktion der Temperatur im
Bereich hoher Temperaturen, wo die Eigenleitung dominiert. Für die Temperaturabhän-
gigkeit der intrinsischen Ladungsträgerdichte gilt
n i (T) ∝ T 3⇑2 e−E g ⇑2k B T . (10.1.62)
µ h −µ e
Der Term in (10.1.60) zeigt keine Temperaturabhängigkeit, da sich diese durch die
µ h +µ e
Quotientenbildung heraushebt. Wir erhalten dann
Eg 1
ln(⋃︀R H,i ⋃︀T 3⇑2 ) = const + . (10.1.63)
2k B T
Tragen wir also ln(⋃︀R H,i ⋃︀T 3⇑2 ) gegen 1⇑T auf, so erhalten wir eine Gerade mit der Stei-
gung E g ⇑2k B .
∎ Zur Bestimmung der Ionisierungsenergie E d in einem n-Halbleiter mit Hilfe des Hall-
Effekts müssen wir den Hall-Effekt in dem Temperaturbereich messen, der durch das
Ausfrieren der Ladungsträger dominiert wird (Störstellenreserve). Wir dürfen für n c
dann den Ausdruck (10.1.46)
⌈︂
−E d ⇑2k B T
n c ≃ n D n eff
c e ∝ T 3⇑4 e−E d ⇑2k B T (10.1.64)
verwenden und erhalten
Ed 1
ln(⋃︀R H,e ⋃︀T 3⇑4 ) = const + . (10.1.65)
2k B T
Tragen wir wiederum ln(⋃︀R H,e ⋃︀T 3⇑4 ) gegen 1⇑T auf, so erhalten wir eine Gerade mit der
Steigung E d ⇑2k B . Eine analoge Betrachtung gilt für die Bestimmung der Ionisierungs-
energie E a in einem p-Halbleiter.
∎ In einem n-Halbleiter, der keine Akzeptoren enthält, ist in einem weiten Temperatur-
bereich die Ladungsträgerdichte n c = n D = const (Bereich der Störstellenerschöpfung).
Nach (10.1.61) gilt für diesen Bereich dann
1
nD = − . (10.1.66)
R H,e e
Für einen p-Halbleiter ohne Donatoren gilt entsprechend
1
nA = + . (10.1.67)
R H,h e
10.1 Grundlegende Eigenschaften 513

∎ Die Beweglichkeiten µ e und µ h hängen über die Streuzeiten τ e und τ h von der Tempera-
tur ab. Für den Temperaturbereich, in dem reine Eigenleitung vorliegt, erhält man die Be-
weglichkeiten durch eine kombinierte Messung von R H,e bzw. R H,h und σ. Aus (10.1.61)
folgt
µ e = R H,e σ und µ h = R H,h σ , (10.1.68)
Bei reiner Eigenleitung gilt ferner
σ = e(n c µ e + pv µ p ) , (10.1.69)
woraus sich mit Hilfe von (10.1.60) die Beziehung
R H,i σ = µ h − µ e (10.1.70)
ergibt. Um aus den beiden Gleichungen (10.1.69) und (10.1.70) die Beweglichkeiten µ e
und µ h zu berechnen, benötigen wir außer den gemessenen Größen R H,i und σ noch die
Elektronendichte n i bei Eigenleitung. Diese können wir nach (10.1.26) berechnen, wenn
wir neben der Energielücke E g noch die effektiven Massen m∗e und m∗h kennen. Letztere
können z. B. mit Hilfe der Zyklotron-Resonanz bestimmt werden.

Insgesamt sehen wir, dass wir durch Messung der elektrischen Leitfähigkeit und des Hall-
Effekts sowie durch die Bestimmung der effektiven Massen mit Hilfe der Zyklotron-Reso-
nanz alle relevanten Halbleiterparameter wie E g , E a , E d , n D , n A , µ e oder µ h bestimmen
können.

10.1.6 Vertiefungsthema: Seebeck- und Peltier-Effekt


Nach Gleichung (9.5.43) gilt J h = ΠJq . Um den Peltier-Koeffizienten Π von Halbleitern ab-
zuschätzen, müssen wir uns überlegen, welche Wärmemenge ein Ladungsträger in einem
Halbleiter transportiert. Ein Elektron im Leitungsband hat bezogen auf das chemische Po-
tenzial die Energie (E c − µ) + 32 k B T und transportiert deshalb nicht nur die Wärmemen-
ge 32 k B T sondern (E c − µ) + 32 k B T. Ein Loch im Valenzband transportiert entsprechend die
Energie (µ − E v ) + 32 k B T. Das heißt, der mit dem Ladungsfluss Jq = n c (−e)v e,D der Elek-
tronen bzw. Jq = pv (+e)v h,D der Löcher verbundene Wärmefluss J h ist gegeben durch

J h = n c (E c − µ + 32 k B T) v e,D (10.1.71)

J h = pv (µ − E v + 32 k B T) v h,D . (10.1.72)
Hierbei sind v h,D = µ h E und v e,D = −µ e E die Driftgeschwindigkeiten der Löcher und Elek-
tronen. Damit erhalten wir mit J h = ΠJq die Peltier-Koeffizienten

E c − µ + 32 k B T
Πe = − (10.1.73)
e
µ − E v + 32 k B T
Πh = + . (10.1.74)
e
514 10 Halbleiter

Die Thermokraft bestimmen wir über die Kelvin-Beziehung Π = S ⋅ T. Der Temperaturver-


lauf des Peltier-Koeffizienten ist durch die Temperaturabhängigkeit des chemischen Potenzi-
als gegeben, die für einen n-Halbleiter in Abb. 10.11 gezeigt ist. Für nicht allzu hohe Tempe-
raturen ist (E c − µ) ≫ k B T bzw. (µ − E v ) ≫ k B T. Das bedeutet, dass der Peltier-Koeffizient
bzw. die Thermokraft für einen n-Halbleiter negativ bzw. für einen p-Halbleiter positiv ist.
Wir können deshalb durch Messung der Thermokraft sehr einfach bestimmen, ob wir einen
n- oder einen p-Halbleiter vorliegen haben. Außerdem sind Peltier-Koeffizient und Ther-
mokraft von Halbleitern üblicherweise wesentlich größer als bei Metallen.

10.2 Inhomogene Halbleiter


Viele Entwicklungen im Bereich der modernen Festkörperphysik sind mit dem großen Er-
folg von Halbleiterbauelementen und der halbleiterbasierten Festkörperelektronik verbun-
den. Da die Funktionsweise der Mehrzahl der Halbleiterbauelemente auf Phänomenen be-
ruht, die mit räumlich inhomogenen Halbleiterstrukturen zusammenhängen, wollen wir uns
in diesem Abschnitt mit solchen Halbleitersystemen beschäftigen. Dabei konzentrieren wir
uns auf Systeme, die eine räumlich inhomogene Konzentration von Donatoren und Akzep-
toren enthalten. Wir werden uns dabei auf die Diskussion der grundlegenden Aspekte und
der zentralen Strukturen wie des p-n-Übergangs beschränken. Die theoretischen Grundla-
gen zum p-n-Übergang wurden von William B. Shockley15 erarbeitet.16 , 17 Eine umfassende
Diskussion verschiedener Halbleiter-Bauelemente kann in speziellen Lehrbüchern gefunden
werden.18 , 19
Wir betrachten einen Halbleiter (z. B. Silizium) der auf der linken Seite p- und auf der rech-
ten Seite n-dotiert sein soll (siehe Abb. 10.14). Die Konzentration der Dotieratome soll sich
an der Grenzfläche, die senkrecht zur x-Richtung verläuft, abrupt ändern, so dass die Kon-
zentration von Donatoren und Akzeptoren wie folgt geschrieben werden kann:
)︀
⌉︀ )︀
⌉︀
⌉︀n A für x<0 ⌉︀0 für x<0
n A (x) = ⌋︀ , n D (x) = ⌋︀ . (10.2.1)
⌉︀
⌉︀0 für x>0 ⌉︀
⌉︀ n für x>0
]︀ ]︀ D
Solche abrupten Übergänge sind nicht nur konzeptionell interessant, sondern haben auch
große Anwendungsrelevanz. Die Herstellung eines solchen abrupten Übergangs ist aller-
dings schwierig. Wir werden aber später sehen, dass im Rahmen einer physikalischen Mo-
dellierung abrupt nur bedeutet, dass die Breite des Bereichs, innerhalb dessen sich die Do-
tierung ändert, kleiner als die am Übergang auftretende Ladungsträgerverarmungszone sein
15
William Bradford Shockley, siehe Kasten auf Seite 516.
16
W. Shockley, The Theory of p-n Junctions in Semiconductors and p-n Junction Transistors, Bell. Syst.
Tech. J. 28, 435 (1949).
17
C. T. Sah, R. N. Noyce, W. Shockley, Carrier generation and recombination in p-n junctions and p-n
junction characteristics, Proc. IRE 45, 1228 (1957).
18
Semiconductor Devices: Physics and Technology, S. M. Sze, Wiley, New York (1985).
19
The Physics of Semiconductor Devices, S. M. Sze and K. Ng Kwok, John Wiley & Sons, New York
(1981).
10.2 Inhomogene Halbleiter 515

muss. Diese Anforderung bedeutet, dass die Übergangsbreite im Bereich von 10 nm und
mehr sein darf.
Um die Reaktion eines inhomogenen Halbleiters auf ein äußeres elektrostatisches Potenzial
zu beschreiben oder um einfach die Ladungsverteilung in Abwesenheit eines elektrostati-
schen Potenzials zu berechnen, wird üblicherweise ein semi-klassisches Modell benutzt. Wie
wir in Kapitel 9 ausführlich diskutiert haben, dürfen wir eine semi-klassische Beschreibung
immer dann vornehmen, wenn sich das elektrostatische Potenzial ϕ(r) auf einer Längen-
skala ändert, die groß gegenüber dem Gitterabstand der Atome ist, also groß gegenüber der
Längenskala auf der sich das periodische Potenzial des Festkörpers ändert (vergleiche hierzu
Abschnitt 9.1.2).

10.2.1 p-n Übergang im thermischen Gleichgewicht


Wir betrachten zunächst einen p-n Übergang im thermischen Gleichgewicht ohne ein von
außen angelegtes elektrisches Potenzial. Wir beginnen unsere Diskussion mit zwei völlig ge-
trennten p- und n-dotierten Halbleitern (Abb. 10.14a). In diesem Fall liegt das chemische
Potenzial in beiden Materialien auf einer gemeinsamen Energieskala bei unterschiedlichen
Werten. Stellen wir den Kontakt zwischen den beiden Seiten her, so muss im thermischen
Gleichgewicht das elektrochemische Potenzial über die ganze Struktur konstant sein. Das
bedeutet, dass sich in einer Übergangszone auf beiden Seiten der Kontaktfläche die Valenz-
und Leitungsbänder der beiden Halbleiter verbiegen müssen (Abb. 10.14b). Im Rahmen der
semiklassischen Beschreibung kann diese Situation durch ein inneres elektrostatisches Po-
tenzial oder Makropotenzial ϕ(x) beschrieben werden, welches der Bandverbiegung Rech-
nung trägt. Voraussetzung ist, dass sich das Potenzial nur wenig auf der Längenskala der
Gitterkonstante ändert.20 Mit dem Makropotenzial ϕ(x) erhalten wir die potenzielle Energie
der Löcher (Ladung +e) zu +eϕ(x) und die potenzielle Energie der Elektronen (Ladung −e)
zu −eϕ(x).
Nach der Poisson-Gleichung ist das Makropotenzial ϕ(x) mit einer Raumladung ρ(x) ver-
bunden:
∂ 2 ϕ(x) ρ(x)
−∇2 ϕ = − = . (10.2.2)
∂x 2 єє 0
Die Entstehung der Raumladungszone können wir qualitativ dadurch verstehen, dass ein
Teil der im n-Halbleiter überwiegend vorhandenen Elektronen und der im p-Halbleiter
überwiegend vorhandenen Löcher in das Gebiet mit der jeweils anderen Dotierung dif-
fundiert und dort teilweise rekombiniert. Wir sprechen in diesem Zusammenhang deshalb
von einem Diffusionsstrom oder auch Rekombinationsstrom. Wir bezeichnen Elektronen im
n-Gebiet bzw. Löcher im p-Gebiet als Majoritätsladungsträger, da sie dem vorherrschenden
Ladungstyp entsprechen. Da aber Elektronen ins p- und Löcher ins n-Gebiet diffundieren
20
Das bei der Einstellung des thermodynamischen Gleichgewichts erzeugte Makropotenzial ϕ(x)
wird üblicherweise in das chemische Potenzial einbezogen, so dass µ = const. Im Gegensatz dazu
wird ein von außen angelegtes elektrostatisches Potenzial (z. B. angelegte Spannung U) explizit
hinzugefügt, so dass µ + eU(x) = const. Das chemische Potenzial µ wird dann als verbogene Kurve
gezeichnet.
516 10 Halbleiter

William Bradford Shockley (1910–1989)


William Bradford Shockley wurde am 13. Februar 1910 in
London. Er starb am 12. August 1989 in Stanford.
William Shockley machte seine Ausbildung in Kalifornien
und erhielt 1932 seinen B. Sc. vom California Institute of
Technology (Caltech). Er promovierte dann 1936 bei John
C. Slater am Massachusetts Institute of Technology (MIT)
über die Struktur der Energiebänder in NaCl. Anschließend
ging er zu den Bell Telephone Laboratories, wo er bis auf
kurze Unterbrechungen arbeitete, z. B. in der Gruppe von
Clinton Davisson. Im Jahr 1946 war er Gastprofessor an der
Princeton University und 1954 am California Institute of
Technology. Er war ferner für ein Jahr (1954/55) stellvertre-
tender Direktor der Weapon Systems Evaluation Group des ©The Nobel Foundation.
US-Verteidigungsministeriums.
Im Jahr 1955 wechselte Shockley als Direktor zum Shockley-Halbleiterlaboratorium bei
Beckman Instruments in Mountain View, Kalifornien, um dort den neuen Transistor und
weitere Halbleiterbauelemente weiterzuentwickeln und zu produzieren. Er wurde 1963
zum Alexander M. Poniatoff Professor für Ingenieurwissenschaften an der Stanford Uni-
versity ernannt. Seit 1951 war er Mitglied des wissenschaftlichen Beraterstabes der US Ar-
my und ab 1958 der US Air Force. Im Jahr 1962 wurde er in den wissenschaftlichen Bera-
terstab des US-Präsidenten berufen.
In seiner wissenschaftlichen Arbeit beschäftigte sich Shockley mit den Energiebändern
von Festkörpern, mit Legierungen, der Theorie der Vakuumröhren, mit theoretischen Mo-
dellen zu Versetzungen und Korngrenzen, mit ferromagnetischen Domänen, sowie mit
Photoelektronen in Silberchlorid. Nach der Entwicklung des Transistors (kurz vor Weih-
nachten 1947) beschäftigte er sich mit den verschiedenen Aspekten der Transistorphysik.
Daneben betrieb er „Operations Research“ über den Einfluss des Gehaltes auf die indi-
viduelle Produktivität in Forschungslaboratorien. Nach 1963 widmete sich Shockley, ob-
wohl er keine Ausbildung im Fach Psychologie genossen hatte, der Erforschung von Zu-
sammenhängen zwischen Rasse und Intelligenz sowie Themen aus dem Bereich Eugenik.
Diese unrühmlichen Arbeiten mündeten in einigen unhaltbaren rassistischen Thesen. So
sah Shockley in der größeren Kinderzahl der schwarzen US-Bürger eine Bedrohung für die
Zukunft der USA, da diese Bevölkerungsgruppe weniger intelligent sei als die weiße US-
Bevölkerung und forderte die Sterilisation für Menschen mit einem niedrigeren IQ als 100
und die verstärkte Fortpflanzung Intelligenter.
Shockley erhielt für seine physikalischen Arbeiten mehrere Auszeichnungen, u. a. die Me-
dal for Merit (1946), den Morris Leibmann Memorial Prize des Institute of Radio Engi-
neers (1952), den Oliver E. Buckley Solid State Physics Prize der American Physical So-
ciety (1953) und den Cyrus B. Comstock Award der National Academy of Sciences (1954).
Zusammen mit Walter H. Brattain und John Bardeen wurde Shockley 1956 mit dem Nobel-
preis für Physik “für ihre Untersuchungen über Halbleiter und ihre Entdeckung des Tran-
sistoreffekts“ ausgezeichnet.
10.2 Inhomogene Halbleiter 517

(a) 𝑬 𝑬𝒄 𝑬𝒄
p 𝑬𝑫
𝝁 𝝁
𝑬𝑨 n
𝑬𝑽 𝑬𝑽
(b) 𝝓
𝝓 ∞ − 𝝓 −∞ = 𝑽𝑫

𝒙
(c) 𝑬 𝒑
𝑬𝒄 𝒆𝑽𝑫
𝝁 −𝒆𝑽𝒑
p 𝑬𝒈 ++ 𝑬𝒏𝒄
𝑬𝑨 𝑬𝑫
𝒑 −𝒆𝑽𝒏 𝝁
𝑬𝑽 n
𝑬𝒏𝑽
(d) 𝝆 n-Diffusions- oder n-Drift- oder
Rekombinationsstrom Generationsstrom
+
𝒙
p-Drift- oder p-Diffusions- oder
Generationsstrom Rekombinationsstrom
(e) 𝒏−
𝐥𝐨𝐠 𝒏, 𝒑

𝑨
𝒑𝒑 𝒏+
𝑫
𝒏𝒏
𝒏𝒊 𝒏𝒊
𝒏𝒑 𝒑𝒏
𝟎 𝒙 46

Abb. 10.14: Schematische Darstellung eines p-n Übergangs im thermischen Gleichgewicht: (a) Bän-
derschema im p- und n-Halbleiter bei völliger Trennung, (b) Potenzialverlauf und (c) Bandverlauf im
p-n Übergang im thermischen Gleichgewicht nach Herstellung des Kontakts, (d) Verlauf der Raum-
ladungszone ρ(x) im Bereich des p-n Übergangs und (e) qualitativer Verlauf der Konzentration der
Donatoren n+D und Akzeptoren n−A sowie der Elektronen im Leitungsband und Löcher im Valenzband.
Wir nehmen an, dass alle Donatoren und Akzeptoren ionisiert sind, so dass n D = n+D und n A = n−A .
Auf der n-Seite ist VD positiv, so dass die potenzielle Energie der Elektronen auf der n-Seite um -eVD
abgesenkt ist.

können, erhalten wir eine Konzentration n p von Elektronen im p-Gebiet und p n von Lö-
chern im n-Gebiet. Wir bezeichnen diese Ladungsträger als Minoritätsladungsträger.21
Durch das Abwandern von Elektronen aus der Grenzschicht des n-Halbleiters entsteht dort
eine positive Raumladungszone, da die ortsfesten ionisierten Donatoren dort zurückbleiben.
Umgekehrt entsteht durch das Abwandern von Löchern aus der Grenzschicht des p-Halb-
leiters dort eine negative Raumladungszone, da die ortsfesten ionisierten Akzeptoren dort
zurückbleiben. Die resultierende Raumladungszone ρ(x) ist in Abb. 10.14c gezeigt. Auf die-
se Weise wird in der Grenzschicht ein elektrisches Feld erzeugt, welches dem von dem Kon-
zentrationsgradienten der Elektronen und Löcher verursachten Diffusionsstrom entgegen-
wirkt. Die gesamte zwischen dem p- und n-Bereich resultierende Potenzialdifferenz ϕ(∞) −
ϕ(−∞) wird als Diffusionsspannung VD bezeichnet. Sie führt zu einem Driftstrom, der im

21
Generell geben wir mit dem Index an, in welchem Halbleitertyp sich der jeweilige Ladungsträger
befindet.
518 10 Halbleiter

thermischen Gleichgewicht den Diffusionsstrom gerade kompensiert. Der Driftstrom setzt


sich aus einem Strom von Elektronen und Löchern zusammen, die jeweils aus dem p- und
n-Halbleiter kommen. Der Driftstrom wird also von den jeweiligen Minoritätsladungsträ-
gern getragen. Da diese in den jeweiligen Halbleitertypen ständig neu erzeugt werden müs-
sen, bezeichnet man den Driftstrom auch als Generationsstrom. Weit außerhalb der Raum-
ladungszone werden die ionisierten Donatoren n+D bzw. Akzeptoren n−A im n- und p-Gebiet
durch die hohe Konzentration n n der Elektronen im n-Gebiet bzw. die hohe Konzentrati-
on p p der Löcher im p-Gebiet kompensiert, so dass hier ρ(x) = 0 (siehe Abb. 10.14c und d).
Wir wollen nun Ausdrücke für die Ladungskonzentrationen sowie den Verlauf und die Grö-
ße des Makropotenzials ableiten. Wir benutzen dazu die Tatsache, dass im thermischen
Gleichgewicht das Massenwirkungsgesetz (n 2i = n ⋅ p) erfüllt sein muss. Für die Konzen-
trationen der Majoritätsladungsträger weit weg von der Grenzfläche gilt mit den in Ab-
schnitt 10.1.3 benutzen Argumenten

E cn (∞) − µ eVn
n n (∞) = n eff
c exp (− ) = n eff
c exp (− ) (10.2.3)
kB T kB T

µ − E v (−∞)
p
eVp
p p (−∞) = peff
v exp (− ) = peff
v exp (− ). (10.2.4)
kB T kB T

Hierbei sind −eVn = E cn (∞) − µ und −eVp = µ − E v (−∞) die Abstände der Leitungs- und
p

Valenzbandkante vom chemischen Potenzial und (siehe Abb. 10.14b) und es gilt

E g = eVD − eVn − eVp . (10.2.5)

Wir können (10.2.3) und (10.2.4) nach Vn und Vp auflösen und erhalten

nn
eVn = k B ln ( ) (10.2.6)
n eff
c

pp
eVp = k B ln ( ). (10.2.7)
peff
v

Damit lässt sich (10.2.5) umschreiben in

nn p p
eVD = E g + k B T ln ( ). (10.2.8)
n eff
c pv
eff

Schreiben wir noch (10.1.26) in E g = k B T ln (n eff


c p v ⇑n i ) um, können wir E g in (10.2.8)
eff 2

ersetzen und erhalten

nn p p
eVD = k B T ln ( ). (10.2.9)
n 2i

Für Si mit n i = 1.5 × 1010 cm−3 bei Raumtemperatur erhalten wir zum Beispiel für
n n = 1015 cm−3 und p p = 1018 cm−3 eine Diffusionspannung von eVD = 0.75 eV.
10.2 Inhomogene Halbleiter 519

Die Ladungsträgerdichte für einen beliebigen Ort x erhalten wir, indem wir in (10.2.3)
und (10.2.4) die ortsabhängigen Werte E cn (x) = E c − eϕ(x) und E v (x) = E v − eϕ(x) für
p

die Bandkanten einsetzen. Alternativ können wir ein ortsabhängiges elektrochemisches Po-
tenzial ̃
µ(x) = µ + eϕ(x) verwenden. Mit ̃µ(x) werden die Ausdrücke (10.2.3) und (10.2.4)
äquivalent zu den Ausdrücken (10.1.22) und (10.1.23) für die Ladungsträgerdichten in
einem homogenen Halbleiter:

E c − eϕ(x) − µ ̃(x)
Ec − µ
n(x) = n eff
c exp (− ) = n eff
c exp (− ) (10.2.10)
kB T kB T

µ − E v + eϕ(x) ̃
µ(x) − E v
p(x) = peff
v exp (− ) = peff
v exp (− ). (10.2.11)
kB T kB T
Wir haben oben bereits qualitativ argumentiert, dass sich im thermischen Gleichgewicht die
Diffusions- und Driftströme an der Grenzfläche kompensieren müssen. Wir wollen diesen
Zusammenhang jetzt quantitativ diskutieren. Mit den Diffusionskonstanten D n und D p für
die Elektronen und Löcher erhalten wir für die Ströme
∂n ∂p
J diff = J ndiff + J diff
p = e (D n − Dp ) (10.2.12)
∂x ∂x
J drift = J ndrift + J drift
p = e (nµ n + pµ p ) E x . (10.2.13)

Aus J diff + J drift = 0 folgt, dass die Beiträge der Elektronen und Löcher einzeln verschwin-
den müssen, da sich weder Elektronen noch Löcher in irgendeinem Teilgebiet ansammeln
können. Es muss deshalb sowohl für Elektronen als auch für Löcher gelten:
∂n ∂ϕ(x) ∂p ∂ϕ(x)
Dn = nµ n − Dp = pµ p . (10.2.14)
∂x ∂x ∂x ∂x
Hierbei haben wir E x = −∂ϕ⇑∂x verwendet. Mit den durch (10.2.10) und (10.2.11) gegebe-
nen Ladungsträgerdichten erhalten wir
∂n e ∂ϕ(x) ∂p e ∂ϕ(x)
=n = −p (10.2.15)
∂x k B T ∂x ∂x k B T ∂x
und damit nach Substitution in (10.2.14)

kB T kB T
Dn = µn Dp = µp . (10.2.16)
e e
Diese Beziehungen werden Einstein-Relationen genannt und gelten immer dann, wenn Dif-
fusions- und Driftströme durch denselben Ladungsträgertyp getragen werden.
Wir können nun die Poisson-Gleichung (10.2.2) dazu benutzen, eine Beziehung zwi-
schen ϕ(x) und ρ(x) herzustellen. Nehmen wir an, dass alle Akzeptoren und Donatoren
ionisiert sind (n A = n−A und n D = n+D ), so ergibt sich die Ladungsdichte durch die Dotiera-
tome und die Ladungsträgerdichte zu

ρ(x) = e(︀n D (x) − n A (x) − n(x) + p(x)⌋︀ . (10.2.17)


520 10 Halbleiter

Setzen wir die entsprechenden Ausdrücke (10.2.1), (10.2.10) und (10.2.11) in diese Glei-
chung ein und substituieren das Ergebnis in die Poisson-Gleichung, so erhalten wir eine
nichtlineare Differentialgleichung für ϕ(x), die sich nur numerisch lösen lässt. Wir wollen
im Folgenden eine näherungsweise Betrachtung machen, die als Schottky-Modell der Raum-
ladungszone bekannt ist.
Mit der Voraussetzung eines abrupten p-n-Übergangs können wir die Ladungsträgerdichte
schreiben als

ρ(x < 0) = e(︀−n A − n(x) + p(x)⌋︀ (10.2.18)


ρ(x > 0) = e(︀+n D − n(x) + p(x)⌋︀ . (10.2.19)

Die ortsabhängigen Ladungsträgerkonzentrationen n(x) und p(x) hängen vom Abstand


der jeweiligen Bandkante vom chemischen Potenzial µ ab. Obwohl sich dieser Abstand nur
langsam ändert (siehe Abb. 10.14b), bewirkt die Fermi-Verteilungsfunktion, dass sich die
Besetzungswahrscheinlichkeit innerhalb eines schmalen Energiefensters von etwa 2k B T ≃
50 meV, das viel kleiner als der Bandabstand E g ist, von null auf den maximalen Wert än-
dert. Vernachlässigen wir nun diese schmalen Übergangsbereiche, so können wir die Kon-
zentrationen n+D und n−A der geladenen Donatoren und Akzeptoren, die nicht durch freie
Ladungsträger kompensiert werden, durch Stufenfunktionen annähern. In dieser Näherung
können wir die Raumladungsdichte schreiben als
)︀
⌉︀ x < −d p
⌉︀
⌉︀
⌉︀
0 für
⌉︀
⌉︀
⌉︀−en A für − dp < x < 0
ρ(x) = ⌋︀ . (10.2.20)
⌉︀
⌉︀
⌉︀+en D für 0 < x < dn
⌉︀
⌉︀
⌉︀
⌉︀
]︀0 für x > dn

Hierbei geben die Längen d p und d n die Ausdehnung der Raumladungszone im p- und
n-Halbleiter an. Mit dieser stückweise konstanten Raumladungsdichte erhalten wir die Pois-
son-Gleichung zu
)︀
⌉︀ für x < −d p
⌉︀
⌉︀
⌉︀
0
⌉︀
⌉︀
∂ ϕ ⌉︀ +eєєn0 A
2 für − d p < x < 0
= ⌋︀ −e n D . (10.2.21)
∂x 2 ⌉︀
⌉︀
⌉︀ für 0 < x < d n
⌉︀
⌉︀
⌉︀
єє 0
⌉︀
]︀0 für x > d n

Durch Integration ergibt sich

)︀
⌉︀ x < −d p
⌉︀
⌉︀
⌉︀
ϕ(−∞) für
⌉︀
⌉︀
⌉︀ϕ(−∞) + ( 2єєA0 )(d p + x)
en 2
für − dp < x < 0
ϕ(x) = ⌋︀ . (10.2.22)
⌉︀
⌉︀
⌉︀ ϕ(+∞) − ( 2єє
e nD
)(d n − x)2 für 0 < x < dn
⌉︀
⌉︀
⌉︀
0
⌉︀
]︀ϕ(+∞) für x > dn

Der Verlauf von ϕ(x) sowie seiner 1. (elektrisches Feld) und 2. Ableitung (Raumladungs-
dichte) sind in Abb. 10.15 dargestellt.
10.2 Inhomogene Halbleiter 521

(a) 𝝆
+𝒆𝒏𝑫
p + n
−𝒅𝒑
𝟎
+𝒅𝒏 𝒙
−𝒆𝒏𝑨
(b) 𝑬𝒙 −𝒅𝒑 𝟎 +𝒅𝒏
0
𝒙 Abb. 10.15: Schottky-Modell der
Raumladungszone eines p-n-Über-
gangs: (a) Raumladungsdichte ρ(x)
(gestrichelt ist die realistische Form
(c) 𝝓 von ρ(x) angegeben, die im Rah-
𝝓(∞) men des Schottky-Modells durch eine
Stufenfunktion approximiert wird).
(b) Verlauf des elektrischen Feldes und
𝑽𝑫 = 𝝓 ∞ − 𝝓 −∞
(c) Verlauf des Makropotenzials ϕ(x).
Die potenzielle Energie der Elektronen
𝟎
𝟎 𝒙 (Ladung −e) beträgt −eϕ(x).

50
Die Randbedingungen (Stetigkeit von ϕ(x) und seiner 1. Ableitung) werden von der Lösung
bei x = d n und x = −d p explizit erfüllt. Damit die 1. Ableitung von ϕ(x) auch bei x = 0 stetig
ist, muss

nD dn = nAd p (10.2.23)

gelten. Diese Forderung stellt sicher, dass die negative Raumladung im p-Halbleiter mit der
positiven im n-Halbleiter übereinstimmt. Damit ϕ(x) bei x = 0 stetig ist, muss
e
(n D d n2 + n A d 2p ) = ϕ(+∞) − ϕ(−∞) = VD (10.2.24)
2єє 0
gelten.
Aus (10.2.23) und (10.2.24) können wir bei bekannten Verunreinigungskonzentrationen die
Ausdehnung der Raumladungszone berechnen. Wir erhalten

2єє 0 VD n A ⇑n D
1⇑2
dn = ( ) (10.2.25)
e nA + nD

2єє 0 VD n D ⇑n A
1⇑2
dp = ( ) . (10.2.26)
e nA + nD

Üblicherweise ist für die meisten Halbleitermaterialien eVD ≃ E g . Mit E g ∼ 1 eV und typi-
schen Verunreinigungskonzentrationen im Bereich von 1014 bis 1018 cm3 liegen d p und d n
zwischen 10 und 1000 nm. Die Feldstärke innerhalb der Raumladungszone ist VD ⇑(d p + d n )
und liegt bei einer Energielücke von 1 eV im Bereich zwischen 106 und 108 V/cm.
522 10 Halbleiter

10.2.2 p-n Übergang mit angelegter Spannung


Wir betrachten nun den Fall, dass eine zeitunabhängige externe Spannung U am p-n Über-
gang anliegt. Wir nehmen U als positiv an, wenn sie das Potenzial auf der p-Seite bezüglich
der n-Seite anhebt. In den Abbildungen zeichnen wir allerdings immer die potenzielle Ener-
gie der Elektronen ein. Für eine positive Spannung über den p-n-Kontakt ist die potenzielle
Energie der Elektronen im p-Bereich um −eU abgesenkt bzw. im n-Bereich um +eU ange-
hoben. Wir haben im vorangegangenen Abschnitt gesehen, dass im thermischen Gleichge-
wicht am p-n Übergang eine Verarmungszone mit einer Breite zwischen 10 und 1000 nm
entsteht. Aufgrund der sehr geringen Ladungsträgerdichte in dieser Zone können wir in gu-
ter Näherung annehmen, dass die gesamte angelegte Spannung über die Verarmungszone
abfällt. Das bedeutet, dass sich das in Abb. 10.14b gezeigte Bandschema nur in dem Bereich
der Raumladungszone ändert. Außerhalb der Raumladungszone verlaufen die Bänder und
das Potenzial ϕ(x) nach wie vor horizontal. Die Potenzialänderung über die Raumladungs-
zone erhält mit der angelegten Spannung U den Wert
ϕ(∞) − ϕ(−∞) = VD − U . (10.2.27)
Die angelegte Spannung U verändert nun die Breite der Raumladungszone, da die Größe VD
in (10.2.25) und (10.2.26) durch VD − U ersetzt werden muss. Wir erhalten damit

U 1⇑2
d n = d n (U = 0) (1 − ) (10.2.28)
VD
U 1⇑2
d p = d p (U = 0) (1 − ) . (10.2.29)
VD
Wir sehen, dass die Raumladungszone für positive Spannungen, wir nennen diese Richtung
die Durchlassrichtung, abnimmt, während sie für negative Spannungen, wir nennen diese
Richtung die Sperrrichtung, zunimmt.
Mit der Ausdehnung d n der Raumladungszone ändert sich auch die in dieser Zone gespei-
cherte Ladung
Q R = en D d n (U)A . (10.2.30)
Um die Kapazität der Raumladungszone bei einer angelegten Gleichspannung U 0 abzuschät-
zen, müssen wir überlegen, welche Ladungsmenge durch eine kleine Wechselspannung δU
an den Rändern der Verarmungszone hinzugefügt und entfernt wird. Die Ladungsmenge ist
gegeben durch
d dn d dp
δQ R = en D A ⨄︀ δU + en A A ⨄︀ δU . (10.2.31)
dU U 0 dU U 0
Hierbei können wir δQ R als diejenige Ladungsmenge betrachten, die durch die Wechsel-
spannung mit Amplitude δU auf einen Plattenkondensator der Fläche A geschoben wird.
Wir können dann die spannungsabhängige Kapazität des p-n-Übergangs schreiben als

dQ R d U 1⇑2
C R (U 0 ) = ⋀︀ ⋀︀ = )︀en D Ad n (0) + en A Ad p (0)⌈︀ ⋁︀ (1 − ) ⋁︀ . (10.2.32)
dU dU VD U0
10.2 Inhomogene Halbleiter 523

Mit den Ausdrücken (10.2.25) und (10.2.26) sowie (10.2.28) und (10.2.29) erhalten wir
1⇑2
nAnD eєє 0
C R (U 0 ) = A ( ) . (10.2.33)
n A + n D (VD − U 0 )
Messen wir die Raumladungskapazität C R als Funktion der angelegten Spannung, so kön-
nen wir Informationen über die Verunreinigungskonzentrationen gewinnen. Ferner können
wir durch Auftragung von 1⇑C R2 gegen U und Extrapolation auf U = 0 die Diffusionsspan-
nung VD bestimmen. Für n A ≫ n D erhalten wir
1 1 1 (VD − U 0 )
= . (10.2.34)
C R2 A2 n D eєє 0

10.2.2.1 Strom-Spannungs-Charakteristik
Wir wollen jetzt die Strom-Spannungs-Charakteristik eines p-n Kontakts diskutieren. Im
letzten Abschnitt haben wir gesehen, dass für U = 0 die Drift- und Diffusionsströme sich
gegenseitig kompensieren, so dass der Gesamtstrom verschwindet. Im Fall einer von außen
angelegten Spannung trifft dies nicht mehr zu. Wir betrachten im Folgenden den Elektro-
nenstrom. Wir müssen einerseits den Driftstrom der Minoritätsladungsträger (Elektronen
im p-Material) berücksichtigen, der vom p- in den n-Bereich fließt. Da die Minoritätsla-
dungsträger im p-Bereich durch thermische Aktivierung ständig neu erzeugt werden müs-
gen
sen, nennen wir diesen Strom auch den Generationsstrom I n . Für eine genügend dünne
Raumladungszone wird jedes Elektron, das aus dem p-Material in den Raumladungsbereich
gelangt, durch das elektrische Feld innerhalb der Raumladungszone in den n-Bereich ge-
trieben. Dieser Strom wird in erster Näherung unabhängig von der Größe des elektrischen
Feldes und damit auch von der angelegten Spannung sein.
Andererseits müssen wir den Diffusionsstrom der Majoritätsladungsträger (Elektronen im
n-Bereich) berücksichtigen, der vom n- in den p-Bereich fließt. Diesen Strom nennen wir
Rekombinationsstrom I nrec , da die Elektronen nach Diffusion in den p-Bereich mit den dort
vorhandenen zahlreichen Löchern rekombinieren. In der Richtung von n nach p bewegen
sich die Elektronen gegen die Potenzialschwelle der Diffusionsspannung. Je nach Vorzei-
chen wird diese Potenzialschwelle durch die angelegte Spannung erhöht oder erniedrigt.
Der Anteil der Elektronen, der die Potenzialschwelle überwinden kann, wird durch einen
Boltzmann-Faktor exp(−e(VD − U)⇑k B T) bestimmt und hängt somit stark von der ange-
legten Spannung ab. Aufgrund unserer Diskussion können wir folgende Spannungsabhän-
gigkeit der Rekombinationsstromdichte angeben:

J nrec (U) ∝ e−e(VD −U)⇑k B T . (10.2.35)


Benutzen wir nun die Tatsache, dass der Generationsstrom in etwa unabhängig von U ist und
für U = 0 der Rekombinations- und Generationsstrom gleich sein müssen, J nrec (U = 0) =
J n (U = 0), so erhalten wir wegen J nrec (0) ∝ e−e VD ⇑k B T = J n (0) = J n (U)
gen gen gen

J nrec (U) = J n e eU⇑k B T .


gen
(10.2.36)
Die Gesamtstromdichte ergibt sich dann zu

J n = J nrec − J n = J n (e eU⇑k B T − 1) .
gen gen
(10.2.37)
524 10 Halbleiter

p n
6
+
Sperrrichtung

J / (Jn +Jp )
4

gen
gen
Durchlass-
2 richtung

Abb. 10.16: Strom-Spannungs- p n


0
Charakteristik eines p-n-Kon-
takts. Der maximale Strom in +
Sperrrichtung ist durch die Sum- -4 -2 0 2 4
me der Generationsströme für die
Elektronen und Löcher gegeben. U / kBT

Die gleiche Analyse können wir für den Löcherstrom durchführen und erhalten

J p = J rec
p − Jp = J p (e eU⇑k B T − 1) .
gen gen
(10.2.38)
Für den Gesamtstrom aus Elektronen und Löchern ergibt sich somit

J(U) = (J p + J n ) (e eU⇑k B T − 1) .
gen gen
(10.2.39)

Die entsprechende Strom-Spannungs-Charakteristik ist in Abb. 10.16 dargestellt. Sie ist be-
züglich der beiden Polaritäten der angelegten Spannung extrem asymmetrisch und resultiert
in einem gleichrichtenden Verhalten des p-n Kontakts.

10.2.2.2 Vertiefungsthema: Sättigungsstrom


Um einen quantitativen Ausdruck für den Sättigungsstrom in Sperrrichtung abzuleiten,
müssen wir eine detailliertere Betrachtung des stationären Zustandes bei Anliegen einer
Sperrspannung machen. Unsere obige Betrachtung hat gezeigt, dass eine Störung des
Gleichgewichts hauptsächlich durch die Diffusionsströme erfolgt, wogegen der Einfluss der
Spannung auf die Driftströme in guter Näherung vernachlässigt werden kann. Wir werden
im Folgenden die so genannte Diffusionsstrom-Näherung diskutieren, in der es ausreicht,
nur die Diffusionströme unter dem Einfluss einer äußeren Spannung zu diskutieren.
Wir betrachten einen p-n-Kontakt in Durchlassrichtung (siehe Abb. 10.17). Die Ladungs-
trägerdichte nimmt durch die anliegende Spannung im Bereich der Raumladungszone zu.
Das Massenwirkungsgesetz n 2i = n ⋅ p ist in diesem Fall nicht mehr gültig. Die elektroche-
mischen Potenziale weit außerhalb der Raumladungszone unterscheiden sich genau um die
der anliegenden Spannung U entsprechende Energie −eU. Da im Bereich der Raumladungs-
zone die Ladungsträger nicht im Gleichgewicht sind, können wir hier kein gemeinsames
elektrochemisches Potenzial mehr definieren. Elektronen und Löcher stehen allerdings je-
weils untereinander im Gleichgewicht, so dass wir zwei getrennte Quasi-Potenziale µ e (x)
und µ p (x) definieren können, die wir unabhängig voneinander behandeln können. Die-
se sind in Abb. 10.17 durch gepunktete und gestrichelte Linien gezeichnet. Falls ferner der
10.2 Inhomogene Halbleiter 525

(a) Durchlassrichtung Sperrrichtung


p n p n
𝒑 + 𝒑 +
𝑬 𝑬𝒄 𝑬 𝑬𝒄
−𝒆 𝑽𝑫 − 𝑼
𝝁𝒆 𝑬𝒏𝒄 −𝒆 𝑽𝑫 − 𝑼
+𝒆𝑼 𝝁𝒑
𝝁𝒑
−𝒆𝑼
𝒑 𝒑 𝑬𝒏𝒄
𝑬𝑽 𝑬𝒏𝑽 𝑬𝑽
𝝁𝒆
p n
p n 𝑬𝒏𝑽

𝟎 𝒙 𝟎 𝒙
(b)
𝐥𝐨𝐠 𝒏, 𝒑

𝐥𝐨𝐠 𝒏, 𝒑
𝒑𝒑 𝒑𝒑
𝒏𝒏 𝒏𝒏
𝒏𝒊 𝒏𝒊
𝒏𝒊 𝒏𝒊

𝒏𝒑 pn 𝒏𝒑 pn

−𝒅𝒑 𝟎 +𝒅𝒑 𝒙 −𝒅𝒑 𝟎 +𝒅𝒑 𝒙


52

Abb. 10.17: p-n-Kontakt in Durchlass- (links) und Sperrrichtung (rechts). (a) Verlauf der Leitungs-
und Valenzbandkante sowie des elektrochemischen Quasi-Potenzials für Elektronen (gepunktet) und
Löcher (gestrichelt). In Durchlassrichtung ist U negativ auf der n-Seite, so dass die potenzielle Ener-
gie (−e)(−U) der Elektronen positiv ist. (b) Räumliche Variation der Elektronenkonzentration n
und der Löcherkonzentration p im Fall einer anliegenden Spannung (durchgezogene Linien) und
im Fall U = 0 (gepunktete Linien). Die Konzentrationen weit weg von der Raumladungszone werden
mit p p , n p , n n und p n bezeichnet.

stationäre Zustand nicht stark vom Gleichgewichtszustand abweicht (dieses wollen wir im
Folgenden annehmen), können wir nach wie vor die Situation näherungsweise mit Hilfe der
Boltzmann-Statistik beschreiben.
In der Näherung, dass wir die Rekombination von Elektronen und Löchern im Bereich der
Raumladungszone vernachlässigen können, ist es ausreichend, die Änderung der Diffusi-
onsstromdichten am Rand der Raumladungszonen bei −d p und +d n zu betrachten. Da die
Berechnung für Elektronen und Löcher völlig analog ist, beschränken wir uns im Folgenden
auf die Berechnung der Löcherstromdichte.
Für den Diffusionsstrom bei x = d n folgt aus (10.2.12)

∂p
p (x = d n ) = −eD p
J diff ⋀︀ . (10.2.40)
∂x x=d n

Wir werden im Folgenden zeigen, dass die Diffusionstheorie einen einfachen Ausdruck
∂p
zwischen dem Konzentrationsgradienten ∂x und der Zunahme der Lochkonzentration
bei x = −d n liefert. Die Lochkonzentration p(x = d p ) und p(x = d n ) können wir mit
Hilfe der Boltzmann-Statistik erhalten. Wir benutzen hierzu Gleichung (10.2.11) und
526 10 Halbleiter

verwenden ϕ(−d p ) = VD − U sowie ϕ(d n ) = −U. Wir erhalten dann

µ − E v + e(VD − U)
p(x = −d p ) = peff
v exp (− )
kB T
µ − Ev e(VD − U) e(VD − U)
= peff
v exp (− ) exp (− ) = p p exp (− )
kB T kB T kB T
(10.2.41)

sowie
µ − E v − eU
p(x = d n ) = peff
v exp (− )
kB T
µ − Ev eU eU
= peff
v exp (− ) exp ( ) = p n exp ( ). (10.2.42)
kB T kB T kB T
Hierbei sind d p und d n die Breiten der Raumladungszonen im thermischen Gleichge-
wicht (U = 0). Die für die Durchlassrichtung um den Faktor e eU⇑k B T erhöhte Löcherkon-
zentration im n-Bereich führt zu einer erhöhten Rekombinationsrate, so dass diese schnell
abklingt. Fern vom p-n-Übergang wird der Strom deshalb im n-Gebiet von Elektronen und
umgekehrt im p-Gebiet von Löchern getragen.
Um das Abklingen der Löcherkonzentration im n-Gebiet zu berechnen, benutzen wir die
Kontinuitätsgleichung. Diese erfordert, dass die Löcherkonzentration in einem bestimm-
ten Volumenelement sich nur durch Zu- oder Abfluss, durch thermische Generation sowie
durch Rekombination ändert. Die Rekombinationsrate beschreiben wir mit Hilfe einer Re-
kombinationszeit τ p und erhalten damit

∂p 1 p − pn
= − ∇ ⋅ Jdiff
p − . (10.2.43)
∂t e τp

Hierbei beschreibt der 1. Term auf der rechten Seite den Zu- bzw. Abfluss und der 2. Term die
Rekombination (p > p n ) bzw. die Generation (p < p n ). Im stationären Zustand ist ∂t = 0, so
∂p

dass wir unter Benutzung von (10.2.40)

∂p ∂2 p p − p n
= Dp 2 − =0 (10.2.44)
∂t ∂x τp

und somit
∂2 p 1
2
= (p − p n ) (10.2.45)
∂x Dpτp

erhalten. Die Lösung dieser Differentialgleichung ergibt das Diffusionsprofil


⌈︂
p(x) = p n − p n e−x⇑ Dp τp
= p n (1 − e−x⇑L p ) . (10.2.46)
⌈︂
Hierbei ist L p = D p τ p die Diffusionslänge für die Löcher im n-Material.
10.2 Inhomogene Halbleiter 527

Für die Ableitung des Diffusionsprofils an der Stelle x = d n erhalten wir unter Benutzung
von (10.2.42):

∂p p(x = d n ) − p n p n (e eU⇑k B T − 1)
⋀︀ =− =− . (10.2.47)
∂x x=d n Lp Lp
Setzen wir diesen Ausdruck in (10.2.40) ein, so ergibt sich
eD p
p (x = d n ) =
J diff p n (e eU⇑k B T − 1) . (10.2.48)
Lp
Eine völlig analoge Rechnung können wir für den Diffusionsstrom der Elektronen im p-Ge-
biet durchführen:
eD n
J ndiff (x = −d p ) = n p (e eU⇑k B T − 1) . (10.2.49)
Ln
Wie oben bereits diskutiert wurde, müssen wir die Driftströme nicht berücksichtigen. Ih-
re Komponenten bleiben in der gemachten Näherung unverändert gegenüber dem thermi-
schen Gleichgewicht und kompensieren gerade die Gleichgewichtsanteile der Diffusions-
ströme. Der gesamte Strom über den p-n-Kontakt ergibt sich aus der Summe der beiden
Diffusionsströme (10.2.48) und (10.2.49) zu

eD p eD n
J(U) = ( pn + n p ) (e eU⇑k B T − 1) . (10.2.50)
Lp Ln

Wir sehen, dass wir jetzt die Generationsströme in Gleichung (10.2.39) als Funktionen der
Diffusionskonstanten und Diffusionslängen der Elektronen und Löcher sowie der Minori-
tätsladungsträgerdichten p n und n p ausgedrückt haben.

10.2.3 Schottky-Kontakt
Wir wollen in diesem Abschnitt einen Kontakt zwischen einem Halbleiter und einem Metall
diskutieren, den wir als Schottky-Kontakt bezeichnen.22 Solche Kontakte sind wichtige Ele-
mente von elektronischen Schaltkreisen. Bei der Diskussion eines solchen Kontakts können
wir konzeptionell ähnlich vorgehen, wie bei der Behandlung eines p-n-Kontakts. Abb. 10.18
und 10.19 zeigen, was passiert, wenn wir einen n-Halbleiter und ein Metall in Kontakt brin-
gen. Da die Abstände Φ H und Φ M zwischen chemischem Potenzial und Vakuumniveau für
einen Halbleiter und ein Metall nicht gleich sein müssen, sind die chemischen Potenziale im
Halbleiter und Metall um den Betrag Φ M − Φ H gegeneinander verschoben. Im Metall ent-
spricht eΦ M gerade der Austrittsarbeit. Im Halbleiter ist eΦ H = e χ + eVn der Abstand des
chemischen Potenzials vom Vakuumniveau. Der Abstand e χ der Leitungsbandkante vom
Vakuumniveau ist die Elektronenaffinität.
Wir betrachten zuerst den Fall Φ M > Φ H . Bringen wir die beiden Materialien in Kontakt,
so muss im thermischen Gleichgewicht das chemische Potenzial horizontal verlaufen, was
22
Walter H. Schottky, siehe Kasten auf Seite 530.
528 10 Halbleiter

(a) 𝑬 n-Halbleiter Metall


𝑬𝐯𝐚𝐜 𝑬𝐯𝐚𝐜

𝒆𝑽𝒏 𝒆𝝌 𝒆𝚽𝑯
𝒆𝚽𝑴
𝑬𝒏𝒄
𝑬𝑫
µ 𝒆 𝚽𝑯 − 𝚽𝑴
µ
𝑬𝒏𝒗

(b) 𝑬 𝑬𝐯𝐚𝐜

𝑬𝐯𝐚𝐜
𝒆𝑽𝒏
𝒆 𝚽𝑯 − 𝚽𝑴 + 𝒆𝚽𝑩 = 𝒆 𝚽𝑯 − 𝚽𝑴 + 𝒆𝑽𝒏
𝑬𝒏𝒄 +
+
𝑬𝑫 µ
µ
𝑬𝒏𝒗
−𝒅𝒏 𝟎 𝒙
Abb. 10.18: Schematische Darstellung eines Schottky-Kontakts im thermischen Gleichgewicht
für Φ M > Φ H : (a) Bänderschema im Metall (rechts) und n-Halbleiter (links) bei völliger Trennung,
54
(b) Bandverlauf im Schottky-Kontakt im thermischen Gleichgewicht nach Herstellung des Kontakts.

(a) 𝑬 n-Halbleiter Metall


𝑬𝐯𝐚𝐜 𝑬𝐯𝐚𝐜
𝒆𝝌 𝒆𝚽𝑴
𝒆𝑽𝒏 𝒆𝚽𝑯
𝝁
𝑬𝒏𝒄 𝒆 𝚽𝑯 − 𝚽𝑴
𝑬𝑫
𝝁
𝑬𝒏𝒗

(b) 𝑬 𝑬𝐯𝐚𝐜
𝒆𝝌 𝑬𝐯𝐚𝐜
𝒆𝑽𝒏
+ 𝒆𝚽𝑴
𝑬𝒏𝒄 +
+
𝑬𝑫 𝝁
𝝁 𝒆 𝚽𝑯 − 𝚽𝑴 𝒆𝚽𝑩 = 𝒆 𝚽𝑯 − 𝚽𝑴 + 𝒆𝑽𝒏

𝑬𝒏𝒗

−𝒅𝒏 𝟎 𝒙
Abb. 10.19: Schematische Darstellung eines Schottky-Kontakts im thermischen Gleichgewicht
für Φ M < Φ H : (a) Bänderschema im Metall (rechts) und n-Halbleiter (links) bei völliger Trennung,
55
(b) Bandverlauf im Schottky-Kontakt im thermischen Gleichgewicht nach Herstellung des Kontakts.
Im Halbleiter bildet sich an der Grenzfläche eine starke Anreicherung von Elektronen.
10.2 Inhomogene Halbleiter 529

zu der in Abb. 10.18 gezeigten Bandverbiegung führt. Aus den gleichen Gründen wie beim
p-n-Kontakt erhalten wir auch beim Schottky-Kontakt eine Raumladungszone. In dem in
Abb. 10.18 gezeigten Beispiel ist die Raumladungszone im Halbleiter positiv und im Me-
tall negativ geladen. Aufgrund der hohen Ladungsträgerdichte im Metall ist allerdings ihre
räumliche Ausdehnung im Metall verschwindend klein (typischerweise kleiner als 1 nm).
Die Entstehung der Raumladungszone können wir qualitativ dadurch verstehen, dass ein
Teil der im n-Halbleiter vorhandenen Elektronen in das Metall diffundiert. In der Grenz-
schicht des n-Halbleiters entsteht dann eine positive Raumladungszone, da die ortsfesten
ionisierten Donatoren dort zurückbleiben. Umgekehrt können aber die Elektronen aus dem
Metall nicht in den Halbleiter diffundieren, da dort auf der Höhe des chemischen Potenzials
keine Zustände vorhanden sind.
Im Rahmen des auch für den p-n-Kontakt verwendeten Schottky-Modells erhalten wir im
Bereich −d n < x < 0 [vergleiche (10.2.21)]

∂2 ϕ en D
=− . (10.2.51)
∂x 2 єє 0

Durch Integration erhalten wir ϕ(x) = 2єє x + Bx + C. Die Integrationskonstanten B und C


nD e 2
0
ergeben sich aus den Randbedingungen ϕ(x = −d n ) = Φ M − Φ H und ∂x ⨄︀ = 0 zu C =
∂ϕ

Φ M − Φ H + 2єє 0 d n und B = єє 0 d n . Damit erhalten wir


nD e 2 nD e x=−d n

en D
ϕ(x) = (Φ M − Φ H ) − (x + d n )2 . (10.2.52)
2єє 0

Hierbei entspricht (Φ M − Φ H ) der Diffusionspannung VD beim p-n-Kontakt. Die Ausdeh-


nung der Raumladungszone im Halbleiter erhalten wir wegen Φ(x = 0) = 0 zu
1⇑2
2єє 0
dn = ( (Φ M − Φ H )) . (10.2.53)
en D
Wichtig ist, dass die Breite der Raumladungszone umgekehrt proportional zur Verunreini-
gungsdichte n D des Halbleiters ist.
Für den in Abb. 10.19 gezeigten Fall Φ M < Φ H ist die Situation anders. Jetzt fließen aufgrund
der kleineren Austrittsarbeit des Metalls Elektronen vom Metall in den Halbleiter. Durch die
negative Raumladung im Halbleiter werden die Leitungsbandkanten des Halbleiters nach
unten gebogen. Das Fermi-Niveau liegt dadurch im Leitungsband des n-Halbleiters und es
kommt im Halbleiter zu einer starken Anreicherung von Elektronen. Legt man eine äußere
Spannung an, so können die Elektronen ohne Behinderung über die Grenzfläche fließen.
Der Kontakt zeigt dadurch ohmsches Verhalten.

10.2.4 Schottky-Kontakt mit angelegter Spannung


Abb. 10.20 zeigt den Bandverlauf für einen Schottky-Kontakt mit angelegter Spannung für
den Fall Φ M > Φ H . Für eine positive Spannung (Durchlassrichtung) wird das Potenzial auf
der Seite des Metalls angehoben, wodurch die potenzielle Energie der Elektronen abgesenkt
530 10 Halbleiter

Walter Hermann Schottky (1886–1976)


Walter Hermann Schottky wurde am 23. Juli 1886 in Zürich
geboren. Er starb am 4. März 1976 in Pretzfeld.
Walter Schottky studierte Physik an der Humboldt Univer-
sität in Berlin, wo er 1912 mit einer Doktorarbeit zur Spe-
ziellen Relativitätstheorie promovierte, die von Albert Ein-
stein sieben Jahre vorher veröffentlicht wurde. Schottky’s
Tutor war Max Planck. Nach Abschluss seiner Doktorar-
beit ging Schottky nach Jena, wo er mit Max Wien arbei-
tete. Dort wechselte er sein Arbeitsgebiet von der Relativi-
tätstheorie hin zu dem Gebiet, das sein Lebenswerk werden
sollte: die Wechselwirkung von Elektronen und Ionen im
Vakuum und in Festkörpern.
Für etwa 15 Jahre wechselte Schottky zwischen universitärer Quelle Wikimedia Commons.
und industrieller Forschung. Er begann mit einigen Jahren
bei Max Wien in Jena, wonach er zu den Siemens Forschungslaboratorien in Berlin wech-
selte und dort bis 1919 blieb. Im Jahr 1920 kehrte er wieder an die Universität zurück und
arbeitet mit Wilhelm Wien in Würzburg. Dort qualifizierte er sich auch zum Hochschul-
lehrer. Nach 3 Jahren mit Wilhelm Wien wurde Schottky zum Professor für Theoretische
Physik an die Universität Rostock berufen. Im Jahr 1927, also im Alter von 41 Jahren, ging
Schottky zum letzten mal zurück in die industrielle Forschung, indem er zur Siemens AG
wechselte. Dort blieb er bis zu seiner Pensionierung im Jahr 1958.
Walter Schottky beeinflusste durch seine theoretischen Untersuchungen ab 1912 maßgeb-
lich die Entwicklung der Nachrichtentechnik. Die Erfindung der Raumladungsgitterröh-
re und der Schirmgitterröhre, das Aufstellen der Theorie des Schroteffekts und die Erfin-
dung des Überlagerungsempfängers gehen auf Schottky zurück, der sich von 1915 bis 1919
als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Schwachstromkabel-Laboratorium von Siemens &
Halske mit diesen Arbeiten beschäftigte. 1915 erfand Schottky die Tetrode, eine Schirm-
gitterröhre. Im Jahr 1918 entwickelte er das Superhet-Prinzip, einen besonders hochwerti-
gen Rundfunkempfangskreis, der mit einer Zwischenfrequenz arbeitet. Nach seiner Lehr-
tätigkeit an den Universitäten Würzburg und Rostock war Schottky von 1927 bis 1951
wieder im Forschungslaboratorium bei Siemens & Halske und den Siemens-Schuckert-
werken in Berlin und Pretzfeld tätig. Neben anderen wichtigen Arbeiten entwickelte er
1938 seine Randschichttheorie (auch Raumladungstheorie der Sperrschichten genannt),
die sich als bahnbrechend für die Halbleitertechnik erwies. Nach Schottky benannt wurde
der Schottky-Effekt (Glühemission, wichtig für die Röhrentechnik), die Schottky-Diode,
die Schottky-Barriere, die Schottky-Fehlstellen und die Schottky-Gleichung (auch Lang-
muir-Schottkysches Raumladungsgesetz genannt).
Schon zu Lebzeiten erhielt der 1976 gestorbene Wissenschaftler zahlreiche Ehrungen. Nach
ihm ist der Walter-Schottky-Preis der Deutschen Physikalischen Gesellschaft für hervor-
ragende Leistungen in der Festkörperphysik sowie das Walter Schottky Institut der Tech-
nischen Universität München benannt.
10.2 Inhomogene Halbleiter 531

(a) n-Halbleiter Metall


𝒆 𝚽𝑯 − 𝚽𝑴 − 𝒆𝑼
𝑬𝒏𝒄 𝒆𝚽𝑩 n Metall
𝑬𝑫 −𝒆𝑼
𝝁 𝝁 +
Durchlassrichtung
−𝒅𝒏 𝟎
(b)
𝒆𝚽𝑩
𝒆 𝚽𝑯 − 𝚽𝑴 + 𝒆𝑼
𝝁
n Metall
𝑬𝒏𝒄 +𝒆𝑼
𝑬𝑫
𝝁
+
Sperrrichtung
𝑬𝒏𝒗
−𝒅𝒏 𝟎

Abb. 10.20: Schematische Darstellung eines Schottky-Kontakts mit angelegter Spannung. Oben:
Durchlassrichtung, unten: Sperrrichtung. In Durchlassrichtung ist die Spannung am Metall positiv,
so dass die potenzielle Energie −eU der Elektronen auf der Seite des Metalls abgesenkt ist.56

wird. Für eine negative Spannung (Sperrrichtung) ist es genau umgekehrt. In Durchlassrich-
tung wird die Potenzialschwelle, welche die Elektronen im Leitungsband des n-Halbleiters
überwinden müssen, um ins Metall zu gelangen, abgesenkt, so dass der Strom exponentiell
mit der Spannung ansteigt. Umgekehrt wird in Sperrichtung die Potenzialschwelle vergrö-
ßert, so dass der Strom mit zunehmender negativer Spannung einen Sättigungswert erreicht,
weil die Elektronen die Potenzialschwelle nicht mehr überwinden können. Der Wert des Sät-
tigungsstroms I s wird durch den Tunnelstrom durch die Potenzialbarriere bestimmt und soll
hier nicht näher diskutiert werden.
Mit der gleichen Argumentation wie in Abschnitt 10.2.2 erhalten wir für die Strom-
Spannungs-Charakteristik den Ausdruck [vergleiche (10.2.39)]

J(U) = J s (e eU⇑k B T − 1) . (10.2.54)

Die Dicke der Raumladungszone (Schottky-Randschicht) wird durch die angelegte Span-
nung verkleinert (Durchlassrichtung) bzw. vergrößert (Sperrrichtung). Analog zu (10.2.53)
erhalten wir
1⇑2
2єє 0
dn = ( (Φ M − Φ H ± eU)) . (10.2.55)
en D
Die spannungsabhängige Dicke der Schottky-Randschicht führt wie beim p-n-Kontakt zu
einer spannungsabhängigen Kapazität
}︂
1 en D 1
CR ∝ ∝ . (10.2.56)
dn 2єє 0 Φ M − Φ H ± eU

Tragen wir 1⇑C R2 als Funktion von U auf, so können wir durch Extrapolation auf U = 0 den
Wert von Φ M − Φ H bestimmen. Der gemessene Wert weicht allerdings oft von dem erwar-
532 10 Halbleiter

teten Ergebnis ab. Die Ursache dafür sind Oberflächenladungen, die wir in unserer Analyse
nicht berücksichtigt haben, in der Praxis aber meistens nicht zu vermeiden sind.

10.3 Halbleiter-Bauelemente
Wir wollen in diesem Abschnitt einige einfache Halbleiter-Bauelemente diskutieren, die auf
dem p-n-Übergang basieren. Im Einzelnen werden dies die Zener-Diode, die Esaki-Diode,
die Solarzelle und der bipolare Transistor sein.

10.3.1 Zener-Diode
In Sperrrichtung eines p-n-Kontakts kann keine beliebig hohe Spannung angelegt werden.
Aufgrund der bei hohen Spannungen auftretenden hohen elektrischen Feldstärken treten
neue Effekte auf:

∎ Lawinendurchbruch:
Falls die elektrische Feldstärke in der Verarmungszone groß genug wird, können die La-
dungsträger durch die Beschleunigung im elektrischen Feld so viel Energie gewinnen,
dass sie in der Verarmungszone Elektron-Loch-Paare durch einen Ionisationsprozess er-
zeugen. Da diese zusätzlich erzeugten Ladungsträger wiederum selbst beschleunigt wer-
den und Elektron-Loch-Paare erzeugen können, kommt es zu einem lawinenartigen An-
stieg der Ladungsträgerdichte und damit des Stroms, den wir Lawinendurchbruch nen-
nen.
∎ Zener-Tunneln:
Falls die Breite der Verarmungszone nicht allzu groß ist, können Elektronen aus dem
Valenzband des p-Halbleiters direkt ins Leitungsband des n-Halbleiters tunneln. Man
spricht vom Zener-Effekt bzw. vom Zener-Tunneln.23 , 24 , 25 Die effektive Breite d eff der Zo-
ne, die durchtunnelt werden muss, ist durch den Abstand des Valenzbandes des p-Halb-
leiters vom Leitungsband des n-Halbleiters gegeben. Da d eff mit wachsender Sperrspan-
nung immer dünner wird, tritt dieser Effekt ab einer genügend hohen Spannung auf (sie-
he Abb. 10.21). Die Tunnelwahrscheinlichkeit durch die Verarmungszone der Breite d eff
ist

T ∝ e−2κd eff , (10.3.1)

23
Clarence Melvin Zener, US-amerikanischer Physiker und Elektrotechniker, geboren am 1. De-
zember 1905 in Indianapolis, Indiana, USA; gestorben am 2. Juli 1993 in Pittsburgh, USA.
24
C. M. Zener Non-adiabatic Crossing of Energy Levels, Proceedings of the Royal Society of Lon-
don A 137 (6), 696–702 (1932).
25
E. C. G. Stückelberg, Theorie der unelastischen Stöße zwischen Atomen, Helvetica Physica Acta 5,
369–422 (1932).
10.3 Halbleiter-Bauelemente 533

p n
𝑬
Abb. 10.21: Schematischer Band-
𝒑 + verlauf bei einer Zener-Diode. Bei
𝑬𝒄
𝝁 p Zener-Tunneln
genügend hoher Spannung in Sperr-
richtung können die Ladungsträger
𝒑
𝑬𝒗 die grün hinterlegte Verarmungszone
−𝒆𝑼 durchtunneln, was zu einem starken
𝒅𝐞𝐟𝐟 𝑬𝒏𝒄 Anstieg des Sperrstroms führt. In
𝝁 Sperrrichtung liegt der Pluspol der
Verarmungszone n Spannungsquelle am n-Gebiet, so dass
d 𝑬𝒏𝒗
dort die potenzielle Energie der Elek-
𝒙 tronen um (−e)U abgesenkt wird.

wobei die Abklingkonstante


}︂
2m∗ (V0 − E)
κ∝ (10.3.2)
ħ2 58

von der Barrierenhöhe V0 und der Energie E der Ladungsträger abhängt. Wir sehen, dass
die Dicke der Barriere exponentiell in die Tunnelwahrscheinlichkeit eingeht, so dass auf-
grund der Abnahme der effektiven Barrierendicke d eff mit zunehmender Sperrspannung
die Tunnelwahrscheinlichkeit und damit der Strom exponentiell ansteigt.26

Es stellt sich die Frage, unter welchen Bedingungen bei hohen Sperrspannungen ein Lawi-
nendurchbruch und wann Zener-Tunneln auftritt. Um diese Frage zu diskutieren, nehmen
wir an, dass der p- und n-Halbleiter die gleiche Konzentration von Verunreinigungen haben,
so dass n D = n A = n. In diesem Fall erhalten wir nach (10.2.25) und (10.2.26)
}︂
єє 0 VD
dn = d p = . (10.3.3)
en
Wir sehen, dass bei schwacher Dotierung d = d n + d p groß und damit die Tunnelwahr-
scheinlichkeit sehr klein wird. In diesem Fall werden wir bei großen Spannungen einen
Lawinendurchbruch erhalten. Mit zunehmender Dotierung wird d = d n + d p immer klei-
ner und die Tunnelrate wird irgendwann bereits bei Spannungen, die kleiner als die für
einen Lawinendurchbruch erforderliche Spannung sind, stark ansteigen. Wir nennen diese
Spannung Zener-Spannung. Wir erwarten also, dass bei hoher Dotierung der Sperrstrom
durch das Zener-Tunneln und nicht durch den Lawinendurchbruch ansteigt. Dies ist in
Abb. 10.22 gezeigt. Mit abnehmender Dotierung verschiebt sich der Zener-Durchbruch
zu höheren Spannungswerten und es tritt dann wieder ein Lawinendurchbruch auf. Für
Silizium kann die Zener-Spannung bei der Herstellung durch Variation der Dotierung im
Bereich zwischen etwa 2 bis 600 V eingestellt werden. Die Zener-Diode wird bei Anwen-
dungen überwiegend in Sperrrichtung betrieben. In Durchlassrichtung arbeitet sie wie ein
normale Diode.

26
The Physics of Semiconductor Devices, S. M. Sze and K. Ng Kwok, John Wiley & Sons, New York
(1981).
534 10 Halbleiter

Backward-Diode
Lawinendurchbruch

Zener-Durchbruch
2

J / Js
0

-2
Abb. 10.22: Strom-Spannungs-
Charakteristiken für den Fall des
Lawinen- und des Zener-Durch- -4
bruchs. Ebenfalls gezeigt ist die Strom-
Spannungs-Charakteristik einer -8 -6 -4 -2 0 2
Rückwärtsdiode (Backward Diode). U (bel. Einheiten)

10.3.1.1 Rückwärtsdiode
Bei extrem hoher Dotierung nähert sich das chemische Potenzial im p-Halbleiter der Valenz-
bandkante und im n-Halbleiter der Leitungsbandkante an. Außerdem wird die Breite der
Verarmungszone extrem klein. Diese Situation ist in Abb. 10.23 gezeigt. Wir sehen, dass be-
reits bei sehr kleinen Spannungen in Sperrrichtung ein starker Tunnelstrom einsetzen kann.
Dieser Tunnelstrom kann größer sein als der Strom bei der entsprechenden Spannung in
Durchlassrichtung, d. h. I(U < 0) > I(U > 0). Wir sprechen in diesem Fall von einer Rück-
wärtsdiode (engl.: Backward Diode).

𝑬 p n

𝑬𝒄
𝒑 +
Abb. 10.23: Schematischer Bandver-
lauf bei einer Rückwärtsdiode. Der
𝝁
p
Tunnelstrom in Sperrrichtung setzt
𝒑
bereits bei sehr kleinen Spannungen 𝑬𝒗 −𝒆𝑼
𝑬𝒏𝒄
ein und führt zu I(U < 0) > I(U > 0).
𝝁
Für die gezeigte Sperrrichtung liegt
der Pluspol der Spannungsquel- n
𝑬𝒏𝒗
le am n-Gebiet an, so dass die po- Verarmungszone
d
tenzielle Energie der Elektronen
dort um (−e)U abgesenkt wird. 𝒙

10.3.2 Esaki- oder Tunneldiode


Die Tunneldiode oder Esaki-Diode ist nichts anderes als ein p-n-Kontakt, bei dem sowohl
der n- als auch der p-Halbleiter so stark dotiert sind, dass das chemische Potenzial im
Leitungs- bzw. Valenzband liegt (siehe Abb. 10.24a). Wir bezeichnen solche Halbleiter als 60

entartet. Das chemische Potenzial liegt typischerweise einige k B T von der Leitungs- bzw.
Valenzbandkante entfernt und die Breite der Verarmungszone beträgt aufgrund der extrem
hohen Dotierung nur etwa 10 nm.
10.3 Halbleiter-Bauelemente 535

𝒑
𝑬𝒄 1 𝑼=𝟎 𝒑
𝑬𝒄 3 𝑼>𝟎
klein
p p
𝒑 𝝁 +𝒆𝑼 𝝁
𝑬𝒗 𝒑
𝑬𝒗
𝝁 𝑬𝒏𝒄 𝑬𝒏𝒄
𝝁
n n
𝑬𝒏𝒗 𝑬𝒏𝒗
𝒑
𝑬𝒄 2 𝑼<𝟎 4
𝒑
𝑬𝒄 klein
p +𝒆𝑼 𝝁
𝒑
𝑬𝒗 p
−𝒆𝑼 𝝁 𝒑
𝑬𝒗 𝑬𝒏𝒄
𝝁
𝑬𝒏𝒄 𝝁 n
n 𝑬𝒏𝒗
𝑬𝒏𝒗
I 5 𝑼>𝟎
5 groß
3 𝝁
4
1 p 𝑬𝒏𝒄
+𝒆𝑼
U n
p n 𝝁 𝑬𝒏𝒗
2
+
63
Abb. 10.24: Schematischer Bandverlauf bei einer Esaki-Diode für verschiedene Spannungen und die
daraus resultierende Strom-Spannungs-Kennlinie. In Durchlassrichtung ist der Plus-Pol der Span-
nungsquelle mit dem p-Halbleiter verbunden. Dadurch wird für eine positive Spannung die poten-
zielle Energie der Elektronen im p-Gebiet um (−e)U abgesenkt, oder äquivalent im n-Gebiet um eU
angehoben.

Wie bei der Rückwärtsdiode tritt bei der Esaki-Diode für die Sperrrichtung ein hoher Tun-
nelstrom auf (siehe Abb. 10.24(2)). Aufgrund der Tatsache, dass das chemische Potenzial auf
der p- bzw. der n-Seite im Valenz- bzw. Leitungsband liegt, erhalten wir im Gegensatz zur
Rückwärtsdiode auch für die Durchlassrichtung bei kleinen Spannungen einen hohen Tun-
nelstrom (siehe Abb. 10.24(3)). In diesem Spannungsbereich können Elektronen aus dem
Leitungsband des n-Halbleiters direkt in freie Zustände des p-Halbleiters tunneln. Für grö-
ßere Spannungen in Durchlassrichtung ist dies nicht mehr der Fall, so dass der Strom zu-
nächst wieder abnimmt und erst bei höheren Spannungswerten aufgrund der Abnahme der
Breite der Potenzialbarriere für den Strom der Elektronen aus dem n- in den p-Bereich wie-
der exponentiell ansteigt. Der daraus resultierende negativ differentielle Widerstand wird
in vielen Bauelementen ausgenutzt. Insbesondere erlaubt er die einfache Realisierung von
Mikrowellenoszillatoren. Dabei wird die Esaki-Diode z. B. parallel zu einem LC-Schwing-
kreis geschaltet. Die Verluste des Schwingkreises, die mit einem ohmschen Widerstand cha-
rakterisiert werden können, werden dabei durch den negativ differentiellen Widerstand der
Esaki-Diode gerade kompensiert.
536 10 Halbleiter

Leo Esaki (geb. 1925), Nobelpreis für Physik 1973


Leo Esaki wurde am 12. März 1925 in Osaka, Japan, gebo-
ren. Bekannt wurde er vor allem durch die Erfindung der
nach ihm benannten Esaki-Diode.
Esaki studierte Physik auf der Universität Tokio und mach-
te dort 1947 seinen Bachelor of Science, sowie anschließend
1959 seine Doktorarbeit. Esaki arbeitete von 1960 an am
IBM Thomas J. Watson Research Center, Yorktown Heights,
New York, im Bereich der Halbleiterforschung. Im Jahr 1967
wurde er zum IBM Fellow ernannt. Bevor er zu IBM ging,
arbeitete er bei der Sony Corp., wo seine Forschungsarbei-
ten an stark dotiertem Ge and Si in der Entdeckung der Esa-
ki Tunneldiode resultierten. Seit etwa 1969 beschäftigte sich
Esaki hauptsächlich mit Halbleiter-Quantenstrukturen auf
der Basis von künstlichen Halbleiter-Heterostrukturen. © The Nobel Foundation.
Leo Esaki erhielt 1973 zusammen mit Ivar Giaever den No-
belpreis für Physik für experimentelle Entdeckungen, die das Tunnel-Phänomen in Halb-
beziehungsweise Supraleitern betrafen. Weitere Auszeichnungen, die für diese Entdeckung
an Esaki verliehen wurden sind der Nishina Memorial Award (1959), der Morris N. Lieb-
mann Memorial Prize (1961), die Stuart Ballantine Medal des Franklin Instituts (1961),
der Japan Academy Award (1965), und der Order of Culture der japanischen Regierung
(1974).
Im Jahr 1993 verließ Esaki IBM und wurde Präsident der University of Tsukuba in Japan.

10.3.3 Solarzelle
Die Solarzelle wurde erstmals von Chapin, Fuller und Pearson im Jahr 1954 entwickelt.27
Sie verwendeten diffundierte Si p-n-Kontakte. Bis heute wurden Solarzellen aus verschiede-
nen anderen Halbleitermaterialien hergestellt, wobei verschiedene Bauelementkonfiguratio-
nen auf der Basis von einkristallinen, polykristallinen und amorphen Dünnschichtstruktu-
ren verwendet wurden. Solarzellen werden seit vielen Jahren erfolgreich für die Energiever-
sorgung von Satelliten und Raumfahrzeugen eingesetzt. Aufgrund des weltweit steigenden
Energiebedarfs und den knapper werdenden fossilen Brennstoffen werden Solarzellen auch
zunehmend für terrestrische Anwendungen interessant. Für eine breite Anwendung ist aber
eine kostengünstigere und mit geringerem Energieaufwand auskommende Herstellung not-
wendig.
Die klassische Silizium-Solarzelle besteht aus einer ca. 1 µm dicken n-Schicht, welche in
das ca. 0.6 mm dicke p-leitende Si-Substrat eingebracht wurde. Bei der monokristallinen
Silizium-Solarzelle wird die n-Schicht durch oberflächennahes Einbringen (Dotieren) von
ca. 1019 Phosphor-Atomen pro cm3 in das p-leitende Si-Substrat erzeugt. Die n-Schicht ist
so dünn, damit das Sonnenlicht hauptsächlich in der Raumladungszone am p-n-Übergang
27
D. M. Chapin, C. S. Fuller, G. L. Pearson, A New Silicon p-n Junction Photocell for Converting Solar
Radiation into Electrical Power, J. Appl. Phys. 25, 676 (1954).
10.3 Halbleiter-Bauelemente 537

(a) 𝒉𝝂 Front- Sonnenlicht Antireflex-


Kontakt Schicht
𝒑
𝑬𝒄

p
𝝁 𝑬𝒏𝒄
𝒑
n-Halbleiter 𝑼
𝑬𝒗 𝝁
n p-Halbleiter
+
𝑬𝒏𝒗 Rückseitenkontakt
(b)
𝒑
𝑬𝒄
𝑬𝒏𝒄
p 𝝁
𝝁 +𝒆𝑼𝒐𝒄
𝒑
𝑬𝒗 n
d 𝑬𝒏𝒗

Abb. 10.25:
positiv
Zuraufgeladen:
Funktionsweise einer negativ aufgeladen:
Solarzelle. In (a) ist der schematische Bandverlauf vor Einstrah-
𝐸𝑝𝑜𝑡 der
lung von Licht Elektronen
gezeigt. 𝐸𝑝𝑜𝑡 der Elektronen
um Lichteinstrahlung
Durch um in der positive
werden Spannung Uoc des
Verarmungszone über p-n-Übergangs
pn-Kontakt
(−𝑒)(+𝑈) abgesenkt
Elektron-Loch-Paare erzeugt. Diese (−𝑒)(−𝑈)
werden im angehoben
elektrischen Feld der Verarmungszone getrennt,65 wobei
die Löcher ins p- und die Elektronen ins n-Material driften. Dies führt zu einer positiven bzw. nega-
tiven Aufladung des p- bzw. n-Gebiets (b) und damit zu einer Spannung U oc (open circuit), die von
außen abgegriffen werden kann. Rechts ist schematisch der Aufbau und ein Bild einer monokristalli-
nen Si-Solarzelle gezeigt (Photo: Stephan Kambor).

absorbiert wird. Das p-leitende Si-Substrat muss dick genug sein, um die tiefer eindringen-
den Sonnenstrahlen absorbieren zu können und um der Solarzelle mechanische Stabilität zu
geben.
Eine Solarzelle ist nichts anderes als ein p-n-Kontakt, in dessen Verarmungszone durch
Lichteinstrahlung Elektron-Loch-Paare erzeugt werden. Die Funktionsweise einer Solarzel-
le können wir uns anhand von Abb. 10.25 veranschaulichen. Ohne Bestrahlung liegt das in
Abb. 10.25a gezeigte Bandschema vor. Wird die Solarzelle nun beleuchtet, werden in dem in
der Verarmungszone des p-n-Kontakts existierenden elektrischen Feld die durch die Licht-
einwirkung erzeugten Elektron-Loch-Paare getrennt, wobei die Löcher ins p- und die Elek-
tronen ins n-Material driften. Dadurch lädt sich das p-Gebiet positiv und das n-Gebiet ne-
gativ auf. Die potenzielle Energie der Elektronen im n-Gebiet wird um (−e)(−U), diejenige
der Löcher im p-Gebiet ebenfalls um (+e)(+U) angehoben. Dies führt zu einer positiven
Spannung über den p-n-Kontakt, die wir von außen abgreifen können. Ohne äußere Last
baut sich die „open circuit“ Spannung U oc auf.
Prinzipiell können nicht mehr Elektron-Loch-Paare erzeugt werden, als Lichtquanten auf die
Zelle treffen. Von den Lichtquanten kann auch nur der Anteil genutzt werden, dessen Ener-
gie hν größer als der Bandabstand E g , also groß genug ist, ein Elektron-Loch-Paar durch
Anregung eines Elektrons aus dem Valenzband ins Leitungsband zu erzeugen. Weiterhin
kann ein Lichtquant relativ hoher Energie nur den Teil in nutzbare elektrische Energie um-
wandeln, der dazu benötigt wird, das Elektron-Loch-Paar zu erzeugen. Daraus resultiert für
kommerziell verfügbare, mit vertretbarem Aufwand herstellbare Solarzellen – z. B. polykris-
538 10 Halbleiter

Tabelle 10.6: Einteilung Halbleitermaterial Kristallinität/ Wirkungsgrad Wirkungsgrad


von Solarzellen nach Halb- Schichtstruktur Labor (%) Produktion (%)
leitermaterial und Kristalli-
nität bzw. Schichtstruktur. Si amorph 13 5–8
Angegeben sind auch Wir- polykristallin 20 13–16
kungsgrade, die im Labor monokristallin 25 14–17
und in der Produktion er- GaAs Einschicht 25 15–22
reicht werden (Stand 2012). GaAs/GaInP/GaInAs Mehrschicht 40 20–28
Cu(In,Ga)Se2 Einschicht 20 13–15
CdTe Einschicht 16.5 5–12
Organische Halbleiter Einschicht 6.5 —

talline Siliziumzellen – ein Wirkungsgrad von etwa 15%. Von den maximal etwa 1000 W
Sonneneinstrahlung pro Quadratmeter können also nur 150 W in Form elektrischer Leis-
tung verfügbar gemacht werden. Die Angabe des Wirkungsgrades kann auf zwei Flächenan-
gaben bezogen werden: einmal auf die Zellenfläche, zum anderen auf die Modulfläche. Im
ersten Fall wird nur die Zellentechnik berücksichtigt, im zweiten Fall zusätzlich die durch
die Zellengeometrie benötigte Fläche.28 Eine grobe Einteilung von Solarzellen können wir
nach dem in Tabelle 10.6 gezeigten Schema vornehmen.
Um den Wirkungsgrad einer Solarzelle abzuschätzen, betrachten wir das in Abb. 10.26 ge-
zeigte Ersatzschaltbild. Die durch das Generieren von Elektron-Loch-Paaren erzeugte elek-
trische Stromdichte J L kann durch eine Stromquelle beschrieben werden, die zum p-n-Kon-
takt parallel geschaltet ist und einen Strom erzeugt, der parallel zum Sperrstrom gerichtet ist.
Ohne äußere Last (R L → ∞) ist der Strom im äußeren Kreis null und wir können den Span-
nungsabfall U oc dadurch bestimmen, dass wir die Stromdichte des p-n-Kontakt der durch

𝑱𝑳 U RL Um
0

Uoc
-5
𝑷𝒎 = 𝑱𝒎 𝑼𝒎
J / Js

-10
𝑱𝒎

Abb. 10.26: Ersatzschaltbild und -15


Strom-Spannungs-Kennlinie −𝑱𝑳
einer Solarzelle. Die maxima- −𝑱𝒔 − 𝑱𝑳
le Flächenleistung der Solar- -20
zelle ergibt sich aus der maxi- -3 -2 -1 0 1 2 3
malen Fläche Pm = ⋃︀J m ⋃︀ ⋅ U m .
U /kBT
67
28
So kann der zellenbezogene Wirkungsgrad für eine kreisförmige Zelle sehr hoch sein, in einem
Modul wird er niedriger, weil kreisförmige Zellen nicht flächendeckend angeordnet werden kön-
nen.
10.3 Halbleiter-Bauelemente 539

die Lichtbestrahlung erzeugten Stromdichte J L gleichsetzen. Wir erhalten mit (10.2.54)

J = 0 = J s (e eU oc ⇑k B T − 1) − J L . (10.3.4)

Auflösen nach U oc ergibt die open circuit Spannung


kB T JL kB T JL
U oc = ln ( + 1) ≃ ln ( ) . (10.3.5)
e Js e Js
Schließen wir die Solarzelle von außen kurz (R L → 0), so ist der Spannungsabfall über den
p-n-Kontakt null und es muss J s = −J L gelten. Insgesamt erhalten wir die in Abb. 10.26 ge-
zeigte Strom-Spannungs-Kennlinie

J = J s (e eU⇑k B T − 1) − J L . (10.3.6)

Die maximale Flächenleistung, die aus der Solarzelle gewonnen werden kann, ergibt sich aus
der maximalen Fläche Pm = ⋃︀J m ⋃︀ ⋅ U m des in Abb. 10.26 eingezeichneten Rechtecks. Setzen
wir dP⇑dU = 0, so erhalten wir

⎛ 1 − JJLs eU
kB T ⎞
m

⋃︀J m ⋃︀ = J L 1 − (10.3.7)
⎝ 1 + eU m
kB T

kB T ⎛ J S + 1 ⎞
L J
kB T eU m
Um = ln eU m = U oc − ln ( + 1) (10.3.8)
e ⎝ k T + 1⎠ e kB T
B

und damit Pm = JeL ⋅ E m . Hierbei ist JL


e
die durch die Beleuchtung erzeugte Ladungsträger-
stromdichte und
eU m
E m = eU oc − k B T ]︀ln ( + 1) + 1{︀ (10.3.9)
kB T

diejenige Energie, die pro erzeugtem Ladungsträger maximal an die Last abgegeben wird.
Die Gleichungen (10.3.7) bis (10.3.9) zeigen, dass wir ein großes Verhältnis J L ⇑J s benötigen,
um E m groß zu machen. Für ein bestimmtes Halbleitermaterial kann die Sättigungsstrom-
dichte nach Gleichung (10.2.50) berechnet werden. Bei 300 K liegt für Silizium die kleinste
erreichbare Sättigungsstromdichte im Bereich J s ∼ 10−15 A/cm2 . Eine Erhöhung von J L ⇑J s
bei vorgegebenem Material und Beleuchtungsstärke kann durch Erniedrigung der Tempe-
ratur oder Verwendung von Konzentratorzellen erzielt werden.
Um den Wirkungsgrad einer Solarzelle anzugeben, müssen wir überlegen, wie effizient die
ankommende Strahlungsleistung in elektrische Leistung umgesetzt wird. Dabei gehen un-
ter anderem folgende Faktoren ein: (i) Photonen mit hν < E g können keine Elektron-Loch-
Paare anregen und tragen deshalb nicht zur elektrischen Leistung bei. (ii) Photonen mit hν >
E g regen zwar Elektron-Loch-Paare an, die pro absorbiertes Photon an die Last abgegebene
Energie ist aber E m < hν. (iii) Photonen können an der Oberfläche der Zelle reflektiert wer-
den und tragen dann nicht zur elektrischen Leistung bei. (iv) Durch Kontaktierungsschich-
ten und Montagevorrichtungen ist die effektive Zellfläche kleiner als 100 %. Um den Ein-
fluss der Bandlücke E g zu diskutieren, betrachten wir die Kurzschlussstromdichte J L . Diese
540 10 Halbleiter

6000 K Schwarzkörperstrahlung

Strahlungsfluss (10 Jm s µm )
-1
2.0
AM0 (1366.1 W/m²)

-2 -1
AM0
1.5 GaAs

3
Atmosphäre
AM0 q AM1
1.0 Si cos q
Erdoberfläche

0.5 Ge

AM1.5
(1000 W/m²)
0.0
0.0 0.4 0.8 1.2 1.6 2.0
 (m)

Abb. 10.27: Von der Sonne abgestrahlter Strahlungsfluss als Funktion der Wellenlänge. Die Pfeile mar-
kieren die maximale Wellenlänge λ g = hc⇑E g , bis zu der bei den verschiedenen Halbleitern Band-Band-
Übergänge möglich sind. Das langwellige Spektrum rechts der Pfeile kann in Solarzellen aus dem jewei-
ligen Material nicht ausgenutzt werden. Das extraterrestrische Spektrum ohne Abschwächung durch
die Erdatmosphäre wird mit AM0 (air mass zero) bezeichnet. Es besitzt eine integrierte Strahlungsleis-
tung von 1366.1 W/m2 . Der Strahlungsfluss ist in J/m2 s µm angegeben und kann in einen Photonen-
fluss d J ph ⇑d(hν) pro Energieintervall umgerechnet werden, der üblicherweise in Photonen/eV m2 s
angegeben wird. Im Maximum der AM0-Kurve hat man etwa 4 × 1021 Photonen/eV m2 s. Durch die
Drehung der Erde um die Sonne ändert sich der Einfallswinkel der Strahlung und damit auch die Länge
des Weges durch die Atmosphäre. Um diese Änderung zu charakterisieren, wurde der Begriff der „Air
Mass“ (AM) eingeführt. AM1 kennzeichnet den Strahlungsfluss auf der Erdoberfläche (Meereshöhe)
bei senkrechtem Einfall des Sonnenlichtes und besitzt durch die Absorption der Atmosphäre eine in-
tegrierte Strahlungsleistung von nur etwa 925 W/m2 (AM1). Für einen Zenitwinkel θ der Sonne ergibt
sich ein entsprechendes AMX-Spektrum mit X = 1⇑ cos θ, z. B. AM1.5 für θ = 48.19○ . Für Testzwecke
wurde das AM1.5 Spektrum (ISO 9845-1) definiert. Es besitzt die typische spektrale Verteilung auf der
Erdoberfläche mit einer integrierten Strahlungsleistung von 1000 W/m2 . Diese ist höher als der Wert
von 844 W/m2 , der für die tatsächliche terrestrische Sonnenstrahlung bei einer Luftmasse von 1.5 ge-
messen wird.

hängt davon ab, wie der von der Sonne kommende Photonenfluss (Photonen pro Fläche
und Zeit) mit spektraler Verteilung J ph (ν) (siehe Abb. 10.27) in eine elektrische Stromdich-
te J L umgesetzt wird. Dazu müssen wir berücksichtigen, dass nur Photonen mit Frequen-
zen ν ≥ ν g = E g ⇑h Elektron-Loch-Paare generieren können. Um die vom Photonenfluss er-
zeugte elektrische Stromdichte zu erhalten, integrieren wir den Photonenfluss der Sonne
von v g bis ∞ und erhalten

d J ph (ν)
J L (ν g ) = eJ ph (ν g ) = e ∫ dν . (10.3.10)

ν=ν g

Das Ergebnis der Integration ist in Abb. 10.28 gezeigt. Nachdem wir die Sättigungs-
stromdichten J s und J L kennen, können wir E m durch numerische Lösung der Gleichun-
gen (10.3.5), (10.3.8) und (10.3.9) erhalten. Da J s und damit E m von den Materialeigenschaf-
10.3 Halbleiter-Bauelemente 541

4 64
Ge

3 48
Jph (10 m s )
-2 -1

JL (mA / cm )
2
Si
21

2 GaAs 32

𝑱𝑳 (𝒉𝝂𝐠 )
31 %
1 𝑬𝒎 (𝒉𝝂𝐠 ) 16
𝑬𝒎 𝑬𝒈 -𝑬𝒎
𝑬𝒈 =
𝑬𝒎 = 𝟎. 𝟗 eV 𝟏. 𝟑𝟓 eV
0 0
0 1 2 3
hg (eV)
76

Abb. 10.28: Schematische Darstellung des Photonenflusses J ph bzw. äquivalent von J L = eJ ph als Funk-
tion der Photonenenergie hν g = E g berechnet nach (10.3.10) für AM1.5. J ph (hν g ) gibt die Anzahl der
Photonen mit ν ≥ ν g an, die pro Fläche und Zeit auf die Erdoberfläche einfallen. Ebenfalls gezeigt ist die
zu J L gehörende charakteristische Energie E m als Funktion der Photonenenergie hν g . Die eingezeich-
neten Rechtecke veranschaulichen die grafische Bestimmung der Konversionseffizienz η. Die Pfeile
markieren die Bandlücke von Ge, Si und GaAs.

ten des Halbleiters abhängt, müssen zum Erreichen der optimalen Effizienz einer Solarzelle
die Materialparameter so optimiert werden, dass J s minimal wird.
Die charakteristische Energie E m ist ebenfalls in Abb. 10.28 als Funktion von hν g = E g ge-
zeigt. Die ideale Konversionseffizienz einer Solarzelle ist gegeben durch
E
Pm J L em
η= = , (10.3.11)
Pin Pin
das heißt, durch das Verhältnis der maximalen Ausgangsleistung Pm und der einfallenden
Strahlungsleistung Pin pro Fläche. Da Pm durch die maximal mögliche Rechtecksfläche un-
ter der Kurve E m (E g ) und Pin durch die gesamte Fläche unter der Kurve J L (E g ) gegeben
ist, kann die ideale Konversionseffizienz grafisch mit Hilfe von Abb. 10.28 ermittelt werden.
Für E g → 0 geht die rote Fläche und damit η gegen null, da zwar alle ankommenden Pho-
tonen Elektron-Loch-Paare erzeugen können, die pro absorbiertes Photon an die Last abge-
gebene Energie E m aber gegen null geht. Für sehr große E g Werte wird zwar E m groß, aber
nur wenige Photonen können jetzt noch Elektron-Loch-Paare anregen und damit wird η
auch hier klein. Die maximal mögliche Rechtecksfläche ergibt sich für E g ≃ 1.35 eV, was
dem Energielückenwert von GaAs nahe kommt. Man erhält für diesen Wert eine maximale
Effizienz von etwa 31 %. Die ideale Konversionseffizienz besitzt ein breites Maximum zwi-
schen E g = 1 und 1.5 eV, hängt also über einen weiten Bereich nicht kritisch von E g ab. Glück-
licherweise gibt es mehrere Halbleitermaterialien mit Energielücken in diesem Bereich. Die
Effizienz, die in der Praxis erhalten wird, liegt mehr oder weniger weit unter der erreichba-
542 10 Halbleiter

ren idealen Effizienz. Einige Ursachen dafür wurden oben bereits genannt, sollen hier aber
nicht im Einzelnen diskutiert werden.
Aufgrund der großen Bedeutung des Wirkungsgrades von Solarzellen für die Anwendung
wurden verschiedene Strategien entwickelt, mit denen die Effizienz von Solarzellen optimiert
werden kann:

∎ Oberflächenstrukturierung zur Verminderung von Reflexionsverlusten: Die Zelloberflä-


che kann z. B. in einer Pyramidenstruktur aufgebaut werden, damit einfallendes Licht
mehrfach auf die Oberfläche trifft.
∎ Neue Materialien: Neben Silizium kommen zum Beispiel Galliumarsenid (GaAs), Cad-
miumtellurid (CdTe), Kupfer-Indium-Diselenid (CuInSe2 )29 oder organische Halblei-
ter30 zum Einsatz. Mit GaAs-Zellen, die auf Ge-Substraten gewachsen wurden, konnte
vor kurzem ein Wirkungsgrad von 24.7 % mit U oc = 999 mV und J L = 29.7 mA/cm2 er-
reicht werden.
∎ Tandem- oder Stapelzellen: Um ein breiteres Strahlungsspektrum nutzen zu können,
werden unterschiedliche Halbleitermaterialien, die für verschiedene Spektralbereiche ge-
eignet sind, übereinander angeordnet.
∎ Konzentratorzellen: Durch die Verwendung von Spiegel- und Linsensystemen wird eine
höhere Lichtintensität auf die Solarzellen fokussiert. Diese Systeme werden der Sonne
nachgeführt, um stets die direkte Strahlung auszunutzen. Durch die Kombination von
Konzentrator- und Stapelzellen konnte vor kurzem ein Wirkungsgrad oberhalb von 40%
erreicht werden.31 Dieser Wirkungsgrad liegt oberhalb des theoretisch maximalen Wir-
kungsgrades von 31 % von Einzelzellen.
∎ MIS-Inversionsschicht-Zellen: Das innere elektrische Feld wird nicht durch einen
p-n-Übergang erzeugt, sondern durch den Übergang einer dünnen Oxidschicht (I) zu
einem Halbleiter (S).
∎ Grätzel-Zelle: Es wird eine elektrochemische Flüssigkeitszelle mit Titandioxid als Elek-
trolyten und einem Farbstoff zur Verbesserung der Lichtabsorption verwendet.

10.3.4 Bipolarer Transistor


Der bipolare Transistor wurde im Jahr 1947 von John Bardeen,32 Walter H. Brattain33
und William Bradford Shockley34 entwickelt (siehe Abb. 10.29).35 Sie erhielten dafür im
Jahr 1956 den Nobelpreis für Physik.

29
Miguel Contreras et al., 19.9%-efficient ZnO/CdS/CuInGaSe2 solar cell with 81.2% fill factor, Pro-
gress in Photovoltaics: Research and Applications 16, 235 (2008).
30
J-Y. Kim et al., Efficient tandem polymer solar cells fabricated by all-solution processing, Science 317,
222 (2007).
31
R. R. King et al., 40% efficient metamorphic GaInP/GaInAs/Ge multijunction solar cells, Applied
Physics Letters 90, 183516 (2007).
32
John Bardeen, geboren am 23. Mai 1908 in Madison Wisconsin, gestorben am 30.01.1991 in Bos-
ton.
10.3 Halbleiter-Bauelemente 543

Bardeen, Shockley, Brattain


Abb. 10.29: Links: John Bardeen, William B. Shockley und Walter Brattain (von links nach rechts im
Jahr 1956) entwickelten den Transistor im Dezember 1947 in den Bell Laboratories, Murray Hill (Pho-
to: Nick Lazarnick, Bell Laboratories, mit freundlicher Genehmigung durch AIP Emilio Segre Visual
Archives). Rechts: Photographie des Versuchsaufbaus (Quelle: Lucent Technologies).

Der schematische Aufbau und der Bandverlauf eines bipolaren npn-Transistors ist in
Abb. 10.30 gezeigt. Ein bipolarer Transistor besteht aus zwei p-n-Übergängen, wobei der ei-
ne (Emitter-Basis-Kontakt) in Durchlassrichtung und der andere (Basis-Kollektor-Kontakt)
in Sperrrichtung geschaltet ist. Bei dem in Durchlassrichtung geschalteten Emitter-Basis-
Kontakt bewirkt eine kleine Änderung δU EB der Emitter-Basis-Spannung eine große Ände-
rung des Emitter-Basis-Stroms I EB . Bei dem in Sperrrichtung geschalteten Basis-Kollektor-
Kontakt bewirkt dagegen eine Veränderung δU BC der Basis-Kollektor-Spannung kaum
eine Veränderung des Basis-Kollektor-Stroms I BC . Der über den Emitter-Basis-Kontakt in
die Basisschicht injizierte Strom (in dem in Abb. 10.30 gezeigten npn-Transistor sind dies
überwiegend Elektronen) kann entweder über die Basis oder den Kollektor abfließen. Da
die Breite der Basis viel kleiner als die Diffusionslänge der Ladungsträger im Basismaterial
ist, werden fast alle über den Emitter-Basis-Kontakt injizierten Ladungsträger über den
Basis-Kollektor-Kontakt abgesaugt. Das bedeutet, dass der Emitterstrom I EB etwa gleich

33
Walter H. Brattain, geboren am 10. Februar 1902 in Amoy, China, gestorben am 13. Oktober 1987
in Seattle.
34
William Bradford Shockley, geboren am 13. Februar 1910 in London, gestorben am 12. August
1989 in London.
35
Die Erfindung des bipolaren Transistors wird allgemein auf Dezember 1947 in den Bell Labora-
tories datiert. Beteiligt an der Erfindung waren William B. Shockley, John Bardeen und Walter
Brattain, die 1956 den Nobelpreis dafür erhielten. In den 1950er Jahren gab es einen Wettlauf zwi-
schen Röhre und Transistor, in dessen Verlauf die Chancen des Transistors häufig eher skeptisch
beurteilt wurden.
Zuerst wurden Transistoren aus Germanium hergestellt und ähnlich wie Röhren in winzige Glas-
röhrchen eingeschmolzen. Das Germanium wurde später durch Silizium ersetzt. Es werden auch
Mischmaterialien benutzt, diese sind aber seltener vertreten.
Wenn man alle Transistoren in sämtlichen bislang hergestellten Schaltkreisen (Speicher, Prozesso-
ren usw.) zusammenzählt, ist der Transistor inzwischen diejenige technische Funktionseinheit, die
bis heute von der Menschheit mit der höchsten Gesamtstückzahl produziert wurde. Heute werden
pro Jahr weit mehr als eine Trillion Transistoren produziert.
544 10 Halbleiter

𝑰𝑬𝑩 Emitter Basis Kollektor 𝑰𝑩𝑪

n++ p+ n+
+ 𝑰𝑩 +
𝑼𝑬𝑩 𝑼𝑩𝑪

𝑬𝒏𝒄
𝝁 +𝒆𝑼𝑬𝑩 p
n
𝑬𝒏𝒗 +
+ −𝒆𝑼𝑩𝑪

𝑬𝒏𝒄
𝝁
n

𝑬𝒏𝒗
+

Abb. 10.30: Schematischer Aufbau (oben) eines npn-Transistors und Bandverlauf für die Situation,
90
dass der Emitter-Basis-Kontakt in Durchlass- und der Basis-Kollektor-Kontakt in Sperrrichtung ge-
schaltet ist (unten). Die Breite der Basisschicht ist klein gegenüber der Diffusionslänge der Ladungs-
träger im Basismaterial, so dass die über die Emitter-Basis-Diode injizierten Ladungsträger fast alle
zum Basis-Kollektor-Übergang diffundieren können und dort durch die anliegende Sperrspannung
abgesaugt werden. Mit den dicken blauen Pfeilen bzw. dünnen roten Pfeilen wird der Majoritätsla-
dungsträger- bzw. Minoritätsladungsträgerstrom angedeutet.

dem Kollektorstrom I BC ist und somit

I EB ≃ I BC ⇒ IB ≃ 0 (10.3.12)

gilt. Wir können daraus sofort ersehen, dass die Leistung im Eingangskreis PEB = I B ⋅ U EB ≃ 0
und die Leistung im Ausgangskreis aufgrund der großen Basis-Kollektor-Spannung PBC =
I BC ⋅ U CB ≫ 0.
Auf der Basis der bisherigen Diskussion können wir einfach verstehen, wie wir einen bi-
polaren Transistor als verstärkendes Bauelement verwenden können. Das zu verstärkende
Spannungssignal wird an die Emitter-Basis-Diode angelegt und resultiert in einer großen
Änderung δI EB des Emitter-Basis-Stroms. Da der injizierte Strom fast vollständig über die
Basis-Kollektor-Diode abgesaugt wird, d. h. δI EB ≃ δI BC , erfolgt die Steuerung im Eingangs-
kreis wegen I B ≃ 0 quasi leistungslos. Im Ausgangskreis erhalten wir dagegen eine große
Leistungsänderung δPBC = δI EB ⋅ U BC .
Für eine optimale Funktion des bipolaren Transistors sollte die Basisschicht möglichst dünn
sein (typischerweise 5–25 µm), damit in dieser keine Rekombination der injizierten Elek-
tronen mit den dort in großer Dichte vorhandenen Löchern erfolgt. Bei einer endlichen Re-
kombinationsrate wird I B > 0, das heißt, wir erhalten eine endliche Verlustleistung im Ein-
gangskreis. Die Dicke d B der Basis bestimmt ferner die obere Grenzfrequenz des Transistors.
Mit der charakteristischen Driftgeschwindigkeit v D der Ladungsträger kann die Größenord-
10.3 Halbleiter-Bauelemente 545

nung der Grenzfrequenz zu f G = v D ⇑d B abgeschätzt werden. Durch Reduktion der Dicke der
Basisschicht kann deshalb auch die Grenzfrequenz des Bauelements erhöht werden.

10.3.4.1 Dreitor-Bauelemente
Der bipolare Transistor gehört zu den so genannten Dreitor-Baulementen, die in sehr allge-
meiner und anschaulicher Weise mit dem Landauerschen Flüssigkeitsmodell36 beschrieben
werden können (siehe Abb. 10.31). In diesem Modell wird eine Flüssigkeit A, die sich ent-
lang einer Röhre bewegt (z. B. Elektronenflüssigkeit vom Emitter zum Kollektor) durch einen
Kolben gesteuert (z. B. durch Emitter-Basis-Spannung). Falls der Kolben dicht ist, d. h. falls
die Steuerflüssigkeit B sich nicht mit der in der Röhre strömenden Flüssigkeit A vermischen
kann, ist der Fluss der Steuerflüssigkeit null und die Steuerung erfolgt leistungslos.
Als Flüssigkeit kann eine gewöhnliche Flüssigkeit wie Wasser, aber auch Elektronen, wie z. B.
in Halbleiter-Transistoren oder Elektronenröhren, oder Flussquanten, wie z. B. in den flu-
xonischen Bauelementen der Supraleitungselektronik verwendet werden. Entscheidend für
die gute Funktionsweise und die maximale Geschwindigkeit eines Dreitor-Bauelements ist,
dass sich die Flüssigkeit gut steuern lässt und sich die Flüssigkeitsteilchen schnell bewegen.
Wie oben bereits diskutiert wurde, ist die obere Grenzfrequenz des Bauelements durch f G =
v D ⇑d B gegeben, wobei v D die Driftgeschwindigkeit der Flüssigkeitsteilchen und d B die Ka-
nallänge unter dem Kolben ist. Beide Voraussetzungen sind für elektronische Bauelemente
gut erfüllt. Elektronen können durch elektrische Felder leicht beeinflusst werden und besit-
zen ferner hohe Geschwindigkeiten. Das gleiche gilt für Fluxonen in supraleitenden Bau-
elementen, die sich gut mit Magnetfeldern steuern lassen und sich mit Geschwindigkeiten
bis etwa 1/10 der Lichtgeschwindigkeit bewegen können. Hinsichtlich der Geschwindigkeit
wären Photonen ideal, die sich mit Lichtgeschwindigkeit bewegen. Allerdings lassen sich

E C
Flüssigkeit A
𝒅𝑩 𝒗𝑫

Flüssigkeit Abb. 10.31: Veranschaulichung der


𝑼𝑬𝑩
B B 𝑼𝑩𝑪 prinzipiellen Funktionsweise eines
+ 𝑰𝑩 + Dreitor-Bauelements mit Hilfe des
Landauerschen Flüssigkeitsmodells.

36
Rolf Landauer, geboren am 4. Februar 1927 in Stuttgart, gestorben am 27. April 1999 in Briarcliff
Manor, New York.
Landauer musste aufgrund seiner jüdischen Herkunft Deutschland bereits in früher Jugend ver-
lassen. Er studierte Physik an der Havard University. Nach seinem Studium arbeitete er für etwa
91
2 Jahre bei dem National Advisory Committee for Aeronautics (der späteren NASA) bevor er 1952
zu IBM ans Thomas J Watson Research Center in Yorktown Heights, New York wechselte. Dort
arbeitete er 47 Jahre lang, im Jahr 1967 wurde er zum IBM Fellow ernannt. Landauer interessierte
sich unter anderem für die Grenzen der Datenverarbeitung. Bereits 1961 zeigte er, dass Rechenope-
rationen im Prinzip keine Energie verbrauchen, dass allerdings das Löschen von Information mit
einer Dissipation verbunden ist. Landauer beschäftigte sich außerdem intensiv mit dem Verhalten
von Elektronen in Festkörpern, insbesondere in Halbleitern und Nanostrukturen.
546 10 Halbleiter

Photonen nur schwer beeinflussen, d. h. es ist schwierig, einen einfachen Kolben zur Steue-
rung des Photonenflusses zu realisieren.

10.4 Realisierung von niedrigdimensionalen


Elektronengassystemen
Halbleiterstrukturen werden heute häufig dazu verwendet, niedrigdimensionale Elektro-
nengassysteme herzustellen. Dabei werden nulldimensionale Systeme als Quantenpunkte,
eindimensionale Systeme als Quantendrähte und zweidimensionale Systeme als Zwei-
dimensionale Elektronengase (2DEG: two dimensional electron gas) bezeichnet. Wie in
Abschnitt 7.4 bereits gezeigt wurde, erhalten wir niedrigdimensionale Elektronengassyste-
me dadurch, dass wir ein dreidimensionales Elektronengas durch Potenzialwälle in einer,
zwei oder allen drei Raumrichtungen geometrisch einschränken. Für die Realisierung von
niedrigdimensionalen Elektronengassystemen werden häufig Halbleiter-Heterostrukturen
und -Übergitter verwendet, die aus unterschiedlich dotierten Halbleitern oder aus Halb-
leitern mit unterschiedlicher Energielücke aufgebaut sind. Wir wollen im Folgenden den
Aufbau und den Bandverlauf in einigen Halbleiter-Heterostrukturen diskutieren.

10.4.1 Zweidimensionale Elektronengase


Mit Hilfe von Depositionstechniken wie der Molekularstrahlepitaxie (MBE: molecular beam
epitaxy) oder der metallorganischen Gasphasenepitaxie (MOCVD: metal organic chemical
vapor deposition) ist es heute möglich, verschiedene Halbleitermaterialien in einkristalliner
Form übereinander aufzuwachsen. Man spricht von heteroepitaktischem Wachstum.37 Vor-
aussetzung dafür ist, dass die Halbleitermaterialien ähnliche Gitterkonstanten besitzen, um
epitaxiale Verspannungseffekte zu minimieren. Wie wir bereits in Abschnitt 4.4 diskutiert
haben, gibt es verschiedene Familien von Halbleitermaterialien, deren Gitterparameter sehr
gut zusammenpassen (siehe Abb. 4.5). Der interessante Aspekt ist nun, dass wir Halbleiter-
materialien mit unterschiedlichen physikalischen Parametern wie Größe der Energielücke
und Größe der Elektronenaffinität übereinander aufwachsen können und damit die Form
des Verlaufs der Leitungs- und Valenzbandkante senkrecht zur Wachstumsrichtung gezielt
beeinflussen können. Die ersten Vorschläge zur Erzeugung von Übergittern durch periodi-
sche Modulation der Zusammensetzung von Halbleitern stammen von R. Tsu und L. Esaki
aus dem Jahr 1970.38 , 39 , 40 Das gezielte Einstellen des Bandverlaufs wird heute bereits in Bau-

37
Von Epitaxie spricht man allgemein, wenn eine definierte Beziehung zwischen der kristallogra-
phischen Ausrichtung eines Substrats und einer Beschichtung vorliegt. Bei der Homoepitaxie sind
Substrat- und Schichtmaterial gleich, bei der Heteroepitaxie unterschiedlich.
38
L. Esaki und R. Tsu, Superlattice and Negative Differential Conductivity in Semiconductors, IBM
J. Res. Develop. 14, 61 (1970).
39
L. Esaki, Compositional Superlattices, in The Technology and Physics of Molecular Beam Epitaxy,
herausgegeben von E. H. C. Parker, Plenum Press, New York (1985).
10.4 Realisierung von niedrigdimensionalen Elektronengassystemen 547

𝑬𝐯𝐚𝐜 𝑬𝐯𝐚𝐜 𝑬𝐯𝐚𝐜 𝑬𝐯𝐚𝐜 𝑬𝐯𝐚𝐜 𝑬𝐯𝐚𝐜

𝒆𝝌𝟏 𝒆𝝌𝟏 𝒆𝝌𝟏


𝒆𝝌𝟐 𝒆𝝌𝟐 𝒆𝝌𝟐

𝑬𝐈𝒄 𝑬𝐈𝒄 𝑬𝐈𝒄


𝚫𝑬𝐜 𝑬𝐈𝐈
𝒄 𝚫𝑬𝐜
𝝁 𝚫𝑬𝐜
𝝁 𝑬𝐈𝐈
𝒄
𝚫𝑬𝐯 𝝁 𝝁 𝝁
𝑬𝐈𝐈
𝒗
𝑬𝐈𝒗 𝑬𝐈𝒗 𝚫𝑬𝐯 𝑬𝐈𝒗
𝑬𝐈𝐈
𝒗
𝑬𝐈𝐈
𝒄
𝚫𝑬𝐯 𝝁

𝑬𝐈𝐈
𝒗
(a) (b) (c)

normale
Abb. 10.32: Banddiskontinuität
Prinzipielle gebrochene (a) normale
gestapelte in Halbleiter-Heterostrukturen:
Typen von Banddiskontinuitäten
(z.B. GaAs/(Al,Ga)As,
(z. B. GaAs/(Al,Ga)As), (b) gestapelte und Banddiskontinuität Banddiskontinuität
(c) gebrochene Banddiskontinuität (z. B. GaSb/InAs).
GaAs/Ge) (z.B. GaSb/InAs)

elementen ausgenutzt und wird in Zukunft sicherlich an Bedeutung gewinnen. Sowohl die
Gitterfehlanpassung als auch der Unterschied in der elektronischen Bandstruktur wird da-
bei häufig kontinuierlich durch Verwendung von ternären oder quaternären Legierungen
98
eingestellt.
Um die grundlegenden Aspekte von Halbleiter-Heterostrukturen zu veranschaulichen,
betrachten wir eine Struktur aus Ge und GaAs. Beide Halbleiter haben etwa die gleiche
Gitterkonstante von 5.65 Å (siehe Abb. 4.5), wobei Ge in der Diamant- und GaAs in der
Zinkblende-Struktur kristallisiert. Es besteht aber ein großer Unterschied bezüglich ihrer
Energielücken, die 0.67 eV für Ge und 1.43 eV für GaAs betragen. Es ist insbesondere dieser
Energielückenunterschied, der die Kombination der beiden Materialien in Heterostrukturen
interessant macht.
Neben der Größe der Energielücke ist auch die Elektronenaffinität der Materialien wichtig,
da der Unterschied der Elektronenaffinität die Größe der Banddiskontinuität

∆E c = e(χ 1 − χ 2 ) = e∆χ (10.4.1)

bestimmt. Je nach Größe von ∆χ erhalten wir die in Abb. 10.32 gezeigten prinzipiellen Ty-
pen von Banddiskonuitäten in Halbleiter-Heterostrukturen. Für Ge/GaAs Heterostrukturen
erwartet man aufgrund von Bandstrukturrechnungen, dass die Valenzbandkante von Ge et-
wa 0.42 eV oberhalb und die Leitungsbandkante etwa 0.35 eV unterhalb der von GaAs liegt.
Dies entspricht dem mit „normal“ bezeichneten Typ einer Banddiskontinuität.
Die Banddiskontinuitäten wirken als Potenzialbarrieren für Elektronen und Löcher und
zwar mit entgegengesetztem Vorzeichen. Dies führt an den Grenzflächen zu einer Diffusion
von Elektronen und Löchern in den jeweiligen Halbleitertyp, in dem ihre Energie niedriger
ist. Da die ionisierten Störstellen zurückbleiben, führt dies zu einer Raumladungszone und
40
Two-dimensional Systems: Physics and New Devices, herausgegeben von G. Bauer, F. Kuchar,
H. Heinrich, Springer Series on Solid Sate Science, Vol. 67, Springer Berlin, Heidelberg (1986).
548 10 Halbleiter

Tabelle 10.7: Experimentell bestimmte Wer- Heterostruktur ∆E v (eV) Heterostruktur ∆E v (eV)


te der Banddiskontinuitäten für einige Paare
Si–Ge 0.28 InAs–Ge 0.33
von Halbleitern (nach H. Morcoc, in The
Technology and Physics of Molecular Beam AlAs–Ge 0.86 InAs–Si 0.15
Epitaxy, herausgegeben von E. H. C. Par- AlAs–GaAs 0.34 InP–Ge 0.64
ker, Plenum Press, New York (1985)). AlSb–GaSb 0.4 InP–Si 0.57
GaAs–Ge 0.49 InSb–Ge 0.0
GaAs–Si 0.05 InSb–Si 0.0
GaAs–InAs 0.17 CdS–Ge 1.75
GaP–Ge 0.80 CdS–Si 1.55
GaP–Si 0.80 CdSe–Ge 1.30
GaSb–Ge 0.20 CdSe–Si 1.20
GaSb–Si 0.05 CdTe–Ge 0.85
ZnSe–Ge 1.40 ZnTe–Ge 0.95
ZnSe–Si 1.35 ZnTe–Si 0.85

zu Bandverbiegungen, wie wir sie für den p-n-Übergang bereits diskutiert haben. Wollen
wir den Bandverlauf in einer Halbleiter-Heterostruktur berechnen, so müssen wir im Prin-
zip die beiden folgenden Probleme lösen:

∎ Wie sieht die Verschiebung ∆E c der Leitungsbandkante und die Verschiebung ∆E v der
Valenzbandkante aus?
∎ Welche Bandverbiegung resultiert bei einem Kontakt der beiden Halbleiter?

In den meisten Fällen können wir diese beiden Probleme getrennt behandeln, da sie mit
unterschiedlichen Energie- und Längenskalen verbunden sind. Die Anpassung der beiden
Bandstrukturen geschieht auf einer atomaren Längenskala. Hier sind atomare Kräfte und
Energieskalen maßgebend und die resultierenden elektrischen Felder sind in der Größen-
ordnung atomarer Felder (∼ 108 V/cm). Die Verbiegung der Bandstruktur erfolgt dagegen
auf einer Längenskala von einigen 10 nm und wird durch die Konzentration der Dotierato-
me in den beteiligten Halbleitern bestimmt. Die aus den Raumladungszonen resultierenden
elektrischen Felder sind nur in der Größenordnung von 105 V/cm.
Bei der Bestimmung der Banddiskontinuitäten spielen Oberflächen- bzw. Grenzflächenef-
fekte eine große Rolle. Wir können deshalb zur Bestimmung der Banddiskontinuitäten nicht
einfach die Bulk-Werte der Elektronenaffinitäten heranziehen. Eine theoretische Beschrei-
bung ist bei einer Berücksichtigung von Grenzflächenzuständen und Ladungstransfervor-
gängen schwierig.41 In Tabelle 10.7 sind die experimentell bestimmten Diskontinuitäten der
Valenzbandkante für einige Paare von Halbleitern aufgelistet. Mit Hilfe von ∆E v kann bei
bekannter Energielücke der Halbleitermaterialien die Diskontinuität ∆E c der Leitungsband-
kante einfach berechnet werden.

41
G. Margaritondo, P. Perfetti, The Problem of Heterojunction Band Discontinuities, in Heterojunc-
tion Band Discontinuities, Phasics and Device Applications, herausgegeben von F. Capasso und
G. Margaritondo, North-Holland, Amsterdam (1987).
10.4 Realisierung von niedrigdimensionalen Elektronengassystemen 549

10.4.1.1 Isotypische Heterostrukturen und Modulationsdotierung


Als erstes Beispiel einer Halbleiter-Heterostruktur betrachten wir isotypische Halbleiter-
Heterostrukturen, die aus Halbleitermaterialien mit dem gleichen Dotierungstyp aufgebaut
sind. Für praktische Anwendungen sind vor allem Systeme interessant, die aus einem Mate-
rial II mit einer kleinen Energielücke und gleichzeitig sehr niedriger Dotierung und einem
Material I mit großer Energielücke bei gleichzeitig hoher Dotierung bestehen. Der Verlauf
des Leitungs- und Valenzbandes einer solchen Struktur ist in Abb. 10.33 gezeigt. Da Elektro-
nen aus dem Material I mit der größeren Energielücke in das Material II mit der kleineren
diffundieren, entsteht im Material I eine positive und im Material II eine negative Raum-
ladungszone. Dies führt dazu, dass das Valenz- und Leitungsband im Material I nach oben
und im Material II nach unten gebogen werden. Im Material II entsteht eine Randschicht
mit einer sehr hohen Ladungsträgerkonzentration. Das chemische Potenzial liegt hier im
Leitungsband.
Der interessante Aspekt der in Abb. 10.33 gezeigten Struktur ist, dass die hohe Dichte der
Elektronen in der Randschicht von Material II von den ionisierten Donatoren in Material I
räumlich getrennt ist. Dadurch wird die Streuung an Verunreinigungen, die ja bei niedri-
gen Temperaturen dominiert (vergleiche Abschnitt 10.1.4 und Abb. 10.12), stark reduziert.
In einem homogen dotierten Halbleiter ist dagegen eine hohe Ladungsträgerdichte immer
mit einer hohen Verunreinigungskonzentration und damit einer starke Verunreinigungs-
streuung verbunden. Diese Art der Dotierung nennen wir Modulationsdotierung.42 Die La-
dungsträger bewegen sich hier ungestört in einem Bereich, in dem sich keine bzw. nur sehr
wenige streuende Dotieratome befinden. Dies können wir anschaulich mit einer Bahnlinie
vergleichen, bei der ein Zug durch eine Oberleitung, die von neben der Bahnlinie stehen-

𝑬 𝑬𝐈𝒄
𝝁 𝚫𝑬𝐜
I 𝑬𝐈𝐈
𝒄
II 𝝁
𝚫𝑬𝐯 𝑬𝐈𝐈
𝒗
𝑬𝐈𝒗
Abb. 10.33: Schemati-
zweidimensionales scher Verlauf der Leitungs-
Elektronengas und Valenzbandkanten in
𝚫𝑬𝐜 einer isotypische Halblei-
𝑬𝐈𝒄 + 𝑬𝐈𝐈
𝒄 ter-Heterostruktur ohne
+ II 𝝁
+ Kontakt (oben) und im
𝝁
𝑬𝐈𝐈
𝒗 thermischen Gleichgewicht
I
𝚫𝑬𝐯 (unten). Im Material II bil-
det sich eine Randschicht
𝑬𝐈𝒗
mit einem zweidimensiona-
−𝒅𝒏 𝟎 +𝒅𝒏 𝒛 len Elektronegas aus.

42
In einigen Materialsystemen liegt eine intrinsische Modulationsdotierung vor. Als Beispiel sollen
isotypische
hier Halbleiter-Heterostruktur
die Kuprat-Supraleiter (z.B. AlAbschnitt
genannt werden (vergleiche xGa1-xAs/GaAs)
13.9.2). In101diesen Materialien
findet die elektrische Leitung in den zweidimensionalen CuO2 -Ebenen statt, wobei die Ladungs-
träger von zwischen den CuO2 -Ebenen liegenden Ladungsreservoirschichten in diese Ebenen do-
tiert werden.
550 10 Halbleiter

den Masten getragen wird, mit Strom versorgt wird. Der Zug kann sich ungestört auf den
Schienen bewegen, ohne mit den Masten zusammenzustoßen.
Die Elektronenmobilität in homogen dotiertem GaAs hat bei einer Donatorkonzentration
von n D ≃ 1017 cm−3 ein Maximum von etwa 8 × 103 cm2 /Vs bei einer Temperatur von et-
wa 150 K. Oberhalb und unterhalb dieser Temperatur nimmt die Beweglichkeit aufgrund der
Streuung an Phononen und Verunreinigungen ab (vergleiche Abb. 10.12). In einer modula-
tionsdotierten Heterostruktur beobachtet man dagegen keine Abnahme der Beweglichkeit
bei tiefen Temperaturen. Die Beweglichkeit steigt mit sinkender Temperatur weiter an und
erreicht unterhalb von 10 K Werte oberhalb von 106 cm2 /Vs. Eine weitere Steigerung kann
durch Einbringen einer undotierten Alx Ga1−x As-Trennschicht zwischen die hochdotierte
AlGaAs- und die schwach dotierte GaAs-Schicht erzielt werden, da dadurch Streuprozesse
an Verunreinigungen in der unmittelbaren Nähe zur Grenzschicht vermieden werden.
Für eine n-Dotierung in AlGaAs im Bereich von 1018 cm−3 liegt die Dicke der Anreiche-
rungsschicht im Bereich zwischen 50 und 100 Å. Die Elektronen sind dadurch in z-Richtung
in einen schmalen, dreieckförmigen Potenzialwall eingesperrt und können sich nur noch in
der x y-Ebene frei bewegen. Wir erhalten somit in der Randschicht ein zweidimensionales
Elektronengas.

10.4.1.2 Kompositionsübergitter
Ähnliche Effekte zu denjenigen in einer einfachen isotypischen Heterostruktur werden in so
genannten Kompositionsübergittern gefunden. Diese erhält man durch heteroepitaktisches
Wachstum von Übergittern, die aus zwei Halbleitermaterialien (z. B. AlGaAs und GaAs) be-
stehen. Wählen wir Materialien ähnlich zu denen in Abb. 10.33, so erhalten wir eine Serie
von so genannten Quantentrögen, in denen sich die Leitungselektronen ansammeln (sie-
he Abb. 10.34). Wir erhalten wiederum eine Modulationsdotierung, da die hohe Dichte der
Leitungselektronen in Material II wiederum von der hohen Dichte der Dotieratome in Mate-
rial I räumlich getrennt ist. Dadurch wird Streuung an Verunreinigungen stark unterdrückt

𝑬 𝑬𝐈𝒄
𝝁 𝚫𝑬𝐜
I I I 𝑬𝐈𝐈
𝒄
II II II 𝝁
𝚫𝑬𝐯 𝑬𝐈𝐈
𝒗
𝑬𝐈𝒗

zweidimensionale
Abb. 10.34: Schematischer Elektronengase
Verlauf der Leitungs- und 𝑬𝐈𝒄 𝚫𝑬𝐜
Valenzbandkanten in einem 𝝁 + + + + + + µ
Kompositionsübergitter oh- 𝑬𝐈𝐈
ne Kontakt (oben) und im I II I II I II 𝒄

thermischen Gleichgewicht 𝚫𝑬𝐯 𝑬𝐈𝐈


𝑬𝐈𝒗 𝒗
(unten). In den Potenzi-
altrögen von Material II
bilden sich zweidimen- Modulationsperiode
sionale Elektronegase aus. 𝒛

Kompositionsübergitter (z.B. AlxGa1-xAs/GaAs)


103
10.4 Realisierung von niedrigdimensionalen Elektronengassystemen 551

und wir erhalten senkrecht zur Wachstumsrichtung der Übergitter (z-Richtung) bei tiefen
Temperaturen eine sehr hohe Elektronenbeweglichkeit. Falls die Breite der einzelnen Schich-
ten des Übergitters sehr klein wird (kleiner als etwa 10 nm), erhalten wir Quantisierungsef-
fekte in den einzelnen Quantentrögen.
Das in Abb. 10.34 gezeigte Übergitter stellt eine Serie von aneinandergrenzenden Potenzial-
wällen endlicher Höhe dar. Da die Wellenfunktionen bei einer endlichen Höhe der Poten-
zialwälle mit einer charakteristischen Abklinglänge 1⇑κ in den verbotenen Zonen abklingen
[vergleiche (7.4.15)], erhalten wir bei einer kleinen Breite der Potenzialwälle eine endliche
Überlagerung der Wellenfunktionen der einzelnen Potenzialmulden. Ähnlich wie die Über-
lagerung von Atomorbitalen zu Bändern führt (vergleiche hierzu Abschnitt 8.3), wenn wir
die Atome einander annähern, spalten die Energieniveaus E n der einzelnen Potenzialtöpfe
durch die Überlagerung in Bänder auf. Wir nennen die entstehenden Bänder Minibänder.

10.4.1.3 Dotierungsübergitter
Wachsen wir eine große Anzahl von zum Beispiel n- und p-dotiertem GaAs epitaktisch
aufeinander auf, so erhalten wir so genannte Dotierungsübergitter. Diese bestehen also aus
dem gleichen Halbleitermaterial, wobei aber die einzelnen Schichten einen unterschiedli-
chen Dotierungstyp haben. In diesen Übergittern erhalten wir dann eine große Zahl von
p-n-Übergängen. Da an den p-n-Übergängen eine Verarmungszone mit einer quasi-intrin-
sischen Ladungsträgerdichte auftritt, werden diese Strukturen auch als ni pi-Strukturen be-
zeichnet.
In den Dotierungsübergittern nähert sich das chemische Potenzial alternierend der Lei-
tungsbandkante (n-Halbleiter) und der Valenzbandkante (p-Halbleiter) an. Da im thermi-
schen Gleichgewicht das chemische Potenzial horizontal verläuft, werden die Leitungsband-
bzw. Valenzbandkante periodisch nach unten und oben gebogen. Dies ist in Abb. 10.35
dargestellt. Wir erhalten durch die periodische Modulation der Leitungs- und Valenzband-
kante eine periodische Modulation der Ladungsträgerdichte. Interessant ist dabei die Tat-
sache, dass die Elektronen und Löcher räumlich getrennt sind, was zu einer längeren Re-

𝑬 𝑬𝐈𝒄 𝑬𝐈𝐈
𝒄
𝝁
I II I II I II
𝝁
𝑬𝐈𝒗 𝑬𝐈𝐈
𝒗

𝑬𝐈𝒄 𝑬𝐈𝐈
𝒄

𝑬𝐞𝐟𝐟
𝒈
𝝁 𝝁 Abb. 10.35: Schematischer
Verlauf der Leitungs- und
𝑬𝐈𝒗 +++ +++ +++ 𝑬𝐈𝐈 Valenzbandkanten in einem
𝒗
Dotierungsübergitter ohne
Kontakt (oben) und im
Modulationsperiode thermischen Gleichgewicht
𝒛 (unten).

Dotierungsübergitter
104
552 10 Halbleiter

kombinationslebensdauer führt. Trotz dieser Trennung liegt aber immer noch ein gewisser
Überlapp der Wellenfunktionen im i-Gebiet vor. Die effektive Bandlücke E geff kann über
die Dotierung gezielt eingestellt werden, wodurch optische Übergänge abgestimmt werden
können.

10.4.1.4 MOSFET
Eine weitere Möglichkeit, ein zweidimensionales Elektronengas zu erhalten, ist der MOSFET
(Metal-Oxide-Semiconductor Field Effect Transistor). Historisch gesehen ist das MOSFET-
Prinzip wesentlich länger bekannt als der Bipolartransistor. Die ersten Patentanmeldungen
stammen aus den Jahren 192643 und 1934.44 Die ersten MOSFETs wurden allerdings erst
1960 gefertigt, als mit Silizium/Siliziumdioxid ein Materialsystem zur Verfügung stand, mit
dem sich reproduzierbar eine gute Halbleiter-Isolator-Grenzfläche herstellen ließ.45 , 46 Damit
verbunden war die Abkehr vom Germanium als Basismaterial und steigende Anforderun-
gen an die Fertigungsbedingungen. Der Feldeffekt-Transistor ist ein unipolarer Transistor.
Unipolar daher, weil im Gegensatz zum bipolaren Transistor, je nach Typ, entweder nur De-
fektelektronen (Löcher) oder Elektronen am Stromtransport beteiligt sind.

(a) Gate (b) 𝑬 zweidimensionales


Elektronengas
Metall
Source Drain 𝒑
poly-Si 𝑬𝒄
SiO2
n+ n-Kanal n+ M O S
𝑬𝑨
L 𝝁
𝒑
p 𝑬𝒗
𝑼𝒈 > 𝟎
𝝁

𝒑
𝝐𝟐 𝑬𝒄
𝝁
𝝐𝟏
𝟎 𝒅𝒑 𝒛

Abb. 10.36: (a) Schematischer Aufbau eines Si-MOSFET. (b) Verlauf der Leitungs- und Valenzband-
kanten in einem MOSFET bei einer positiven Gate-Spannung U g , was einer Absenkung der poten-
ziellen Energie der Elektronen um (−e)U g in der metallischen Gate-Elektrode entspricht. Aufgrund
der angelegten Gate-Spannung entsteht an der Grenzfläche zwischen p-Halbleiter und Oxidschicht ei-
ne zweidimensionale Ladungsträgerschicht in einem dreieckförmigen Potenzialtopf. In dem gezeigten
Fall ist nur das unterste Subband besetzt. 105

43
Julius Edgar Lilienfeld, U.S. Patent 1 745 175, Method and apparatus for controlling electric currents
(1930); eingereicht 1926.
44
Oskar Heil, British Patent 439 457, Improvements in or relating to electrical amplifiers and other
control arrangements and devices (1935); zuerst eingereicht in Deutschland am 2. März 1934.
45
D. Kahng, M. M. Atalla, Silicon-silicon dioxide field induced surface devices, IRE Solid State Res.
Conf., Pittsburgh (1960).
46
D. Kahng, A Historical Perspective on the Development of MOS Transistors and Related Devices,
IEEE Trans. El. Dev. ED-23, 655 (1976).
10.4 Realisierung von niedrigdimensionalen Elektronengassystemen 553

Der schematische Aufbau eines Si-MOSFETs ist in Abb. 10.36a gezeigt. Wird keine Span-
nung an die Gate-Elektrode angelegt, so wirkt das darunterliegende, leicht p-dotierte Sili-
zium (Substrat) aufgrund der beiden p-n-Kontakte im Source-Drain-Kanal sperrend. Der
einzige Strom, der zwischen den beiden Kontakten Source und Drain fließen kann, ist der
Sperrstrom des p-n-Kontakts. Wenn über dem Gate eine positive Spannung angelegt wird,
wandern Minoritätsladungsträger (bei p-Silizium Elektronen) im Substrat an die Grenz-
schicht und rekombinieren dort mit den Majoritätsladungsträgern (bei p-Silizium Löcher).
Dies wirkt sich wie eine Verdrängung der Majoritätsladungsträger aus und wird Verarmung
genannt. Ab einer bestimmten Spannung U th (=Threshold-Spannung) ist die Verdrängung
der Majoritätsladungsträger so groß, dass diese nicht mehr für die Rekombination zur Ver-
fügung stehen. Es kommt zu einer Ansammlung der Minoritäten an der Grenzfläche zur
Oxidschicht, die einen n-leitenden Kanal erzeugen, so dass jetzt Ladungsträger zwischen
Source und Drain fließen können. Dieser Zustand wird starke Inversion genannt.
Der Verlauf der Leitungs- und Valenzbandkanten in einem MOSFET bei einer angelegten
positiven Gate-Spannung U g ist in Abb. 10.36b gezeigt. Ab einer bestimmten Spannung U th
sinkt die Leitungsbandkante an der Grenzfläche zur Oxidschicht unter das chemische Po-
tenzial ab und wir erhalten eine sehr hohe Elektronenkonzentration unmittelbar an der
Grenzfläche. Wir sprechen von einem Inversionskanal. Falls die Breite des Inversionskanals
sehr klein ist (kleiner als etwa 10 nm) erhalten wir Quantisierungseffekte in dem dreieck-
förmigen Potenzialtrog. Die Elektronen befinden sich also in z-Richtung in einem Poten-
zialtopf (siehe Abb. 10.36) und können sich nur noch in der x y-Ebene frei bewegen. Die
Eigenenergien sind dann durch E n = E∥ + є n gegeben.47 Auf jeden Energieeigenwert є n baut
sich ein Quasi-Kontinuum, ein so genanntes Subband auf, das durch die kinetische Energie
der Elektronen parallel zur Grenzfläche bedingt ist. Bei genügend tiefen Temperaturen lässt
sich erreichen, dass nur noch das unterste Subband besetzt ist. In diesem Fall haben wir in
der Randschicht ein zweidimensionales Elektronengas vorliegen. An einem derartigen Elek-
tronengas hat Klaus von Klitzing im Jahr 1980 den Quanten-Hall-Effekt entdeckt.48 , 49 Für
die Elektronenzahl in der Randschicht gilt n 2D ∝ U g − U th , wobei U g die angelegte Gate-
Spannung ist.
Die Kanallänge L von MOSFETs wurde durch die immer höhere Packungsdichte von
Transistoren in integrierten Schaltungen seit 1960 von einigen 10 µm bis auf heute weit
unter 100 nm reduziert. Diese dem Mooreschen Gesetz 50 folgende exponentielle Abnahme
der Kanallänge L mit der Zeit wird wohl aber in einigen Jahren an eine physikalische Grenze
stoßen.
47
Die Ausdrücke für є n weichen natürlich für einen dreieckförmigen Potenzialtopf von den
durch (7.4.12) gegebenen Werten für einen rechteckförmigen Potenzialtopf ab.
48
K. von Klitzing, G. Dorda, M. Pepper, New Method for High-Accuracy Determination of the Fine-
Structure Constant Based on Quantized Hall Resistance, Phys. Rev. Lett. 45, 494–497 (1980).
49
K. von Klitzing, G. Dorda, M. Pepper, High-magnetic-field transport in a dilute two-dimensional
electron gas, Phys. Rev. B 28, 4886–4888 (1983).
50
Als Mooresches Gesetz wird die empirische Beobachtung bezeichnet, dass bei der technologischen
Entwicklungen von integrierten Schaltkreisen sich die Komplexität eines integrierten Schaltkreises
etwa alle 2 Jahre verdoppelt. Diese Gesetzmäßigkeit wurde erstmals von Gordon E. Moore, einem
der Mitbegründer der Firma Intel, im April 1965 formuliert und wird deshalb heute nach ihm
benannt: „The complexity for minimum component costs has increased at a rate of roughly a factor of
554 10 Halbleiter

10.4.2 Vertiefungsthema: Halbleiter-Laser


Ein weites Anwendungsgebiet von Halbleiter-Heterostrukturen sind Halbleiterlaser, die heu-
te z. B. zum Beschreiben und Auslesen von optischen Datenspeichern oder bei der optischen
Datenübermittlung verwendet werden. Wir diskutieren im Folgenden den in Abb. 10.37 ge-
zeigten Double Heterostructure Injection Laser, der von Herbert Kroemer51 vorgeschlagen
wurde. Die optisch aktive Zone (z. B. GaAs) ist hier zwischen zwei Halbleitermaterialien mit
größerer Energielücke (Al,Ga)As und unterschiedlicher Dotierung eingebettet. Mit dem in
dieser Struktur erzielten Verlauf der Leitungs- und Valenzbandkante wird erreicht, dass die
Elektronen, die von rechts in die optische aktive GaAs-Schicht fließen, in dieser eingefangen
werden. Das gleiche gilt für die Löcher, die von links in diese Schicht fließen. Das heißt, so-
wohl Elektronen als auch Löcher werden in der optisch aktiven Schicht festgehalten und es
bildet sich dort ein entartetes Elektronen- bzw. Lochgas aus. Die injizierten Elektronen und
Löcher können dann unter Emission von Photonen rekombinieren. Für Halbleiter-Laser
werden ausschließlich Materialien mit direkter Bandlücke verwendet, da es bei Materialien
mit indirekter Lücke auch nichtstrahlende Rekombination unter Emission von Phononen
als Konkurrenzprozess gibt.
Üblicherweise sind die Rekombinationszeiten für die Überschussladungsträger weit größer
als die Zeit für die Thermalisierung der Elektronen im Leitungsband bzw. der Löcher im

𝒑
𝑬𝒄 optisch aktiver
Bereich

𝑬𝒏𝒄
I
µn
p
ℏ𝜔 𝑬𝒈 𝒆𝑼
µp n (Al,Ga)As
GaAs
p
𝒉𝝂
𝒑
𝑬𝒗
(Al,Ga)As n
+ optisch
raue glatt
𝑬𝒏𝒗
Oberfläche
(Al,Ga)As GaAs (Al,Ga)As

Abb. 10.37: Double Heterostructure Injection Laser: Elektronen fließen von rechts in die grün hin-
terlegte optisch aktive Zone, Löcher von links. Beide werden dort eingefangen und bilden entartete
Elektronen- bzw. Lochgase.
GaAs als optisch aktive Schicht: 𝐸𝑔 = 1.43 eV  𝜆 = 838 nm
two per year . . . Certainly over the short term this rate can be expected to continue, if not to increase.
Over the longer term, the rate of increase is a bit more uncertain, although there is no reason to believe
it will not remain nearly constant for at least 10 years. That means by 1975, the number of components
per integrated circuit for minimum cost will be 65,000. I believe that such a large circuit can be built
109
on a single wafer.“
51
Herbert Kroemer (Herbert Krömer), geboren am 25. August 1928 in Weimar. Er wurde im
Jahr 2000 zusammen mit Schores Iwanowitsch Alfjorow mit der Hälfte des Nobelpreises für Physik
für die Entwicklung von Halbleiterheterostrukturen für Hochgeschwindigkeits- und Optoelektro-
nik ausgezeichnet, die andere Hälfte ging an Jack Kilby für die Entwicklung Integrierter Schalt-
kreise.
10.5 Zweidimensionales Elektronengas: Quanten-Hall-Effekt 555

Valenzband. Das heißt, Elektronen und Löcher erreichen jeweils getrennt sehr schnell einen
Gleichgewichtszustand, aber nicht untereinander. Wir können dann sowohl den Elektronen
als auch den Löchern getrennte chemische Potenziale µ n und µ p (Quasi-Potenziale) zuord-
nen. Diese Quasi-Potenziale verlaufen horizontal, da jeweils die Elektronen und Löcher im
Gleichgewicht sind. Um eine Besetzungsinversion zu erhalten, muss

µ n − µ p > Eg (10.4.2)

gelten.52 Das heißt, um den Laserbetrieb zu erhalten, muss der Abstand der Quasi-Potenziale
größer als die Energielücke sein. Diese Bedingung wird in Abb. 10.37 dadurch erreicht, dass
eine Spannung eU > E g angelegt wird, wobei E g die Energielücke der optisch aktiven Zone
ist.
Die in Abb. 10.37 gezeigte Diodenstruktur bildet gleichzeitig einen optischen Resonator, da
die Reflektivität an der Halbleiterkristall-Luft Grenzfläche groß ist. Die Halbleiterkristalle
werden planparallel poliert und die Strahlung wird parallel zur Ebene des Heterokontakts
emittiert. Verwendet man GaAs als optisch aktive Schicht, so erhält man Laserstrahlung im
nahen Infrarotbereich bei einer Wellenlänge von 838.3 nm oder 1.43 eV. Der Wirkungsgrad
solcher GaAs-Laserdioden ist sehr groß. Das Verhältnis von Lichtleistung zu elektrischer
Leistung beträgt fast 50 %. Die Wellenlänge dieser Laser kann über einen weiten Bereich
durch Verwendung von Legierungen des Typs Gax In1−x P y As1−y variiert werden und da-
durch dem Minimum der optischen Absorption von Glasfasern angepasst werden. Die Kom-
bination von Double Heterostructure Injection Lasern mit Glasfasern bildet das Kernstück
unserer heutigen optischen Datenkommunikation.53

10.5 Zweidimensionales Elektronengas:


Quanten-Hall-Effekt
Wir haben uns in Abschnitt 7.5 bereits mit den Transporteigenschaften von niederdimen-
sionalen Elektronengasen beschäftigt. Dabei haben wir allerdings zweidimensionale Elek-
tronengase ausgelassen. Dies wollen wir jetzt nachholen.

52
siehe z. B. The Physics of Semiconductor Devices, S. M. Sze, John Wiley & Sons, New York (1981).
53
Heute wird eine Vielzahl von unterschiedlichen Halbleiterlasern mit unterschiedlichen Wellenlän-
gen hergestellt, die wichtige Anwendungsgebiete haben. Neben der optischen Datenkommunika-
tion sind vor allem die Anwendung in Blu-ray-Disc- und in HD-DVD-Laufwerken (405 nm, blau-
violett, basierend auf dem Halbleitermaterial InGaN), der Einsatz als Pumplaser für Nd:YAG-Laser
z. B. bei grünen Laser-Pointern oder bei Diodenlasern (808 nm, infrarot, basierend GaAlAs) sowie
die Verwendung in kostengünstigen roten Laser-Pointern oder Barcode-Lesegeräten (670 nm, rot,
basierend auf InGaAlP). Der erreichbare Wirkungsgrad von Laserdioden lag im Jahr 2012 zwi-
schen 10% (grün, 530 bis 540 nm), 20% (blau, 440 nm) und 70% (rot und IR, ab 650 nm). Blaue
Laserdioden erreichen mittlerweile einen Wirkungsgrad von 27% und Lebensdauer von 10 000
Stunden. Die Herstellung geeigneter InGaN-Halbleitermaterialien für leistungsfähige grüne Laser
ist noch immer schwierig. Für Beleuchtungszwecke ist es deshalb preiswerter, mit kurzwelligem
blauem Licht geeignete Leuchtstoffe im langwelligeren Bereich anzuregen
556 10 Halbleiter

10.5.1 Zweidimensionales Elektronengas im Magnetfeld


In Abschnitt 10.4.1 haben wir gelernt, dass wir mit Hilfe von Halbleiter-Heterostrukturen
oder einem MOSFET zweidimensionale Elektronengase erzeugen können. Wir betrach-
ten nun ein System aus freien Elektronen, in dem nur das unterste Subband besetzt sein
soll, in einem in z-Richtung, d. h. senkrecht zum zweidimensionalen System angelegten
Magnetfeld B = (0, 0, B). Durch die Wirkung des Magnetfeldes werden die ursprünglich
gleichmäßig im zweidimensionalen k-Raum verteilten Zustände auf Landau-Kreise ge-
zwungen (vergleiche hierzu Abschnitt 9.10 und Abb. 9.46). Die Eigenenergien ergeben sich
gemäß (9.10.11) zu

E n = є 1 + (n + 12 ) ħω c + g s µ B sB . (10.5.1)

Hierbei ist є 1 die Energie des untersten Subbandes. Wir haben zusätzlich berücksichtigt,
dass wir zwei mögliche Spin-Einstellungen s = ± 12 vorliegen haben und die Zustände deshalb
im Magnetfeld aufspalten (µ B ist das Bohrsche Magneton und g s ist der Landé-Faktor für
Elektronen). Den Spin-Freiheitsgrad werden wir bei der nachfolgenden Diskussion nicht
berücksichtigen.
Die Quantisierung der Elektronenenergien in Landau-Niveaus mit Abstand ħω c führt
zu einer Aufspaltung des parabelförmigen Subbandes in diskrete Energieniveaus (siehe
Abb. 10.38). Der in Abb. 7.21 für B = 0 gezeigte stufenförmige Verlauf der Zustandsdich-
te spaltet in einem angelegten Magnetfeld in eine Reihe von δ-funktionsartigen Peaks
auf, die einen Abstand ħω c voneinander haben. Wir können sagen, dass die Zustände in
scharfe Landau-Niveaus „kondensieren“. Da keine Zustände verloren gehen, müssen die
Landau-Niveaus den Entartungsgrad

m eB
p = ħω c D 2D = ħω c 2
Lx L y = Lx L y (10.5.2)
2πħ h
haben, den wir bereits in Abschnitt 9.10 hergeleitet haben [vergleiche (9.10.17)]. Hierbei
ist D 2D = 2πħ
m
2 L x L y die zweidimensionale Zustandsdichte für eine Spin-Richtung [verglei-

che (7.1.20) oder (7.4.13)]. Setzen wir Zahlenwerte ein, so erhalten wir
eB
p= L x L y = 2.42 × 1010 cm−2 × B(︀T⌋︀ × L x L y (︀cm2 ⌋︀ . (10.5.3)
h
Wir können die Entartung p auch schreiben als

Lx L y 2πħ
p= mit ℓ 2B = . (10.5.4)
ℓ 2B eB

Die magnetische Landau-Länge ℓ B entspricht dabei dem Radius des klassischen Elektronen-
orbits für das Niveau n = 1. Sie beträgt etwa 25 nm für B = 1 T. Entsprechend können wir im
reziproken Raum p schreiben als

k B2
p= , (10.5.5)
kx k y
10.5 Zweidimensionales Elektronengas: Quanten-Hall-Effekt 557

(a) 𝑬 (b) 𝑬
𝜺𝟐 𝜺𝟐

ℏ𝝎𝒄

𝜺𝟏 𝜺𝟏
1. Subband

𝟎 𝒌|| 0 1 2
𝑫𝟐𝑫 𝑳𝒙 𝑳𝒚 𝒎⋆ /𝟐𝝅ℏ𝟐
(c) 𝒌𝒚
n=3
n=2
n=1
n=0
𝑩>𝟎

𝒌𝒙

115
Abb. 10.38: Qualitative Darstellung der Zustandsquantisierung in einem zweidimensionalen Elektro-
nengas. (a) Energieparabeln des 1. und 2. Subbandes. Das chemische Potenzial liegt zwischen 1. und
2. Subband. Durch Anlegen des Magnetfeldes erhalten wir eine zusätzliche Quantisierung in Landau-
Niveaus (Punkte). (b) Zustandsdichte des zweidimensionalen Elektronengases ohne (gestrichelte Li-
nie) und mit Magnetfeld (schraffierte Flächen). (c) Quantisierung der ohne Feld gleichförmig im zwei-
dimensionalen k-Raum verteilten Zustände auf Landau-Kreise.

wobei k B2 = (2π⇑ℓ B ) = S = 2πeB⇑ħ die Fläche pro Zustand im k-Raum ist und k x, y =
2

2π⇑L x, y .
Mit dem magnetischen Fluss Φ = BL x L y , der die Probe durchsetzt, und dem Fluss-
̃ 0 = h⇑e können wir die Entartung auch als
quant Φ
eB Φ
p= Lx L y = = NΦ (10.5.6)
h ̃
Φ0
schreiben. Der Entartungsgrad entspricht also der Zahl N Φ der magnetischen Flussquanten
in der Probe. Liegt das chemische Potenzial zwischen zwei Landau-Niveaus, so ist die Ge-
samtzahl der Elektronen N e = n ⋅ p = n ⋅ N Φ und damit N e ⇑N Φ = n = ganzzahlig. Allgemein
bezeichnen wir das Verhältnis ν = N e ⇑N Φ als den Füllfaktor. Liegt also das chemische Po-
tenzial zwischen zwei Landau-Niveaus, so ist ν = n, d. h. der Füllfaktor ist ganzzahlig und
entspricht dem obersten besetzten Landau-Niveau.
Die Gesamtenergie des Elektronensystems als Funktion des angelegten Feldes haben wir be-
reits ausführlich im Zusammenhang mit dem de Haas-van Alphen-Effekt in Abschnitt 9.11.1
558 10 Halbleiter

diskutiert. Wir haben gesehen, dass die freie Energie als Funktion des Magnetfeldes oszil-
liert und zwar periodisch in 1⇑B. Dies führt zu charakteristischen Oszillation der Magne-
tisierung (de Haas-van Alphen-Effekt) oder des elektrischen Widerstands (Shubnikov-de
Haas-Effekt).
Gehen wir von freien Elektronen zu Kristallelektronen über, so müssen wir Folgendes be-
achten:

1. Wir müssen in den Ausdrücken für die Zustandsdichte, die Energieeigenwerte oder die
Zyklotronfrequenz die freie Elektronenmasse m durch die effektive Bandmasse m∗ er-
setzen.
2. Durch das Magnetfeld wird nicht nur die Spin-Entartung aufgehoben, sondern in Si auch
noch die durch die Struktur des Leitungsbandes bedingte zweifache Valley-Entartung
aufgehoben. Das bedeutet, dass jedes Landau-Niveau insgesamt in vier Niveaus aufspal-
tet.
3. Durch die Streuung der Ladungsträger an Gitterdefekten und Phononen werden die
Landau-Niveaus verbreitert. Aus der Unschärferelation ergibt sich für eine mittlere
Streuzeit τ eine Energieverschmierung ∆E = ħ⇑τ. Effekte, die mit der Aufspaltung in
die Landau-Niveaus verbunden sind, können nur dann experimentell gut beobachtet
werden, wenn ∆E ≪ ħω c , also

ωc τ ≫ 1 oder µB ≫ 1 . (10.5.7)

Wir benötigen also hohe Felder und lange Streuzeiten τ bzw. hohe Beweglichkeiten µ.
Letzteres erreichen wir durch tiefe Temperaturen und saubere Proben.

10.5.2 Transporteigenschaften des zweidimensionalen


Elektronengases
Elektrische Transportexperimente an zweidimensionalen Elektronengasen werden üblicher-
weise mit Proben durchgeführt, welche die in Abb. 10.39 gezeigte „Hall-Bar-Geometrie“ be-
sitzen. Der Leitfähigkeitstensor für das zweidimensionale System lautet (vergleiche (7.3.44)
in Abschnitt 7.3.4)

J σ0 1 +ω c τ E x
( x) = ( )( ) (10.5.8)
Jy 1 + ω 2c τ 2 −ω c τ 1 Ey

mit
n 2D e 2 τ
σ0 = . (10.5.9)
m∗
Hierbei ist n 2D die Zahl der Elektronen pro Flächeneinheit.
10.5 Zweidimensionales Elektronengas: Quanten-Hall-Effekt 559

Da der Leitfähigkeitstensor und der Widerstandstensor invers zueinander sind, können wir
durch Invertieren der obigen Matrix folgende Beziehungen ableiten:
ρx x −ρ x y
σx x = σx y =
ρ 2x x + ρ 2x y + ρ 2x y
ρ 2x x (10.5.10)
σ y y = σx x σ yx = −σx y

σx x −σx y
ρx x = ρx y =
σx2x + σx2 y σx2x + σx2 y . (10.5.11)
ρ y y = ρx x ρ yx = −ρ x y

Im Experiment wird ein Strom in Längsrichtung (x-Richtung) vorgegeben und die Längs-
und Querspannung gemessen. Es gilt
Ux
Ux = ρx x Lx ⋅ Jx ⇒ ρx x = (10.5.12)
Jx Lx
Uy
U y = ρx y L y ⋅ Jx ⇒ ρx y = . (10.5.13)
Jx L y

Messen wir die Querspannung U y in einer Konfiguration, in der J y = 0, so müssen sich


die Kraft eE y = eU y ⇑L y durch das Hall-Feld und die Lorentz-Kraft evB gerade kompen-
sieren.54 Aus ev x B − eU y ⇑L y = 0 folgt U y = v x B ⋅ L y . Setzen wir dies in (10.5.13) ein und
benutzen J x = n 2D ev x , so erhalten wir
B
ρx y = = RH ⋅ B . (10.5.14)
n 2D e
Hierbei ist R H die Hall-Konstante. Für ω c τ → ∞ gilt allgemein: σx x , σ y y → 0 und σx y →
n 2D e⇑B. Die Tatsache, dass σx y → n 2D e⇑B ist eine allgemeine Eigenschaft von zweidimen-
sionalen Elektronengasen in gekreuzten elektrischen und magnetischen Feldern.55

𝑼𝒈 Gate-Elektrode
𝑼𝒚
Isolator Abb. 10.39: Schematische Darstel-
lung der für die Messung der elek-
𝑳𝒚 trischen Transporteigenschaften von
𝑱𝒙 zweidimensionalen Elektronengasen
verwendeten „Hall-Bar“-Geometrie.
𝑳𝒙
Die Elektronendichte n 2D im Elek-
2D-Elektronengas tronengas kann durch Variation der
𝑼𝒙 Gate-Spannung U g variiert werden.
54
Dies gilt für Löcher mit Ladung +e. Für Elektronen ist die Kraft durch das Hall-Feld −eU H ⇑L y . Die
Lorentz-Kraft behält ihr Vorzeichen, da wir e durch −e, aber auch v x durch −v x ersetzen müssen,
weil sich die Elektronen bei gleicher Stromrichtung in die entgegengesetzte Richtung bewegen.
55
Aus (10.5.10) und (10.5.11) folgt, dass für σx x = 0 auch ρ x x = 0. Das heißt, J x kann ohne E x fließen,
so dass die effektive Leitfähigkeit gegen unendlich geht. Paradoxerweise erhalten wir diesen Grenz-
116
560 10 Halbleiter

𝑫𝟐𝐃 𝑬

𝑫𝟐𝐃 𝑬

𝑫𝟐𝐃 𝑬
ℏ𝜔𝑐

𝟎 𝝁 𝑬 𝟎 𝝁 𝑬 𝟎 𝝁 𝑬

Abb. 10.40: Besetzung der Landau-Niveaus für unterschiedliche Magnetfelder. Das Magnetfeld nimmt
von links nach rechts zu. Mit zunehmendem B nimmt die Entartung der Landau-Niveaus zu, was durch
zunehmende Flächen der Zustandsdichtepeaks berücksichtigt ist.

Abb. 10.40 zeigt, dass die Zustandsdichte beim chemische Potenzial µ als Funktion des ange-
legten Magnetfeldes variiert. Sie wird null, wenn der Füllfaktor ν = n, also ganzzahlig ist und
hat ein Maximum für ν ≃ n + 12 . Diese Variation kann in vielen physikalischen Eigenschaften
beobachtet werden. So zeigt der elektrische Widerstand starke Oszillationen als Funktion
120 des
angelegten Magnetfeldes, die Shubnikov-de Haas Oszillationen genannt werden. Die elek-
trische Leitfähigkeit σx x wird null für ν = n, wenn die Zustandsdichte bei µ verschwindet,
und maximal für ν ≃ n + 12 , wenn die Zustandsdichte bei µ maximal ist. Nach (10.5.11) wird
für σx x = 0 auch ρ x x = 0.

10.5.3 Ganzzahliger Quanten-Hall-Effekt


Im Jahr 1980 haben von Klitzing, Dorda und Pepper die elektrische Leitfähigkeit und den
Hall-Effekt in einem zweidimensionalen Elektronengas untersucht, das sie mit Hilfe eines
Si-MOSFET (siehe Abb. 10.36) realisiert haben.56 Die dabei verwendete Probengeometrie

fall gerade dann, wenn σx x , σ y y → 0. Wir können aber leicht zeigen, dass die effektive Leitfähigkeit
immer noch endlich ist. Es gilt nämlich
J x = σx x E x + σx y E y
J y = σ y y E y + σ yx E x
und aus geometrischen Gründen gilt J y = 0, so dass
σx y
Ey = Ex .
σy y
Hierbei haben wir σ yx = −σx y verwendet. Setzen wir dies in den Ausdruck für J x ein, so erhalten
wir
σx2y
J x = (σx x + ) E x = σeff E x .
σy y
Wir sehen, dass σeff → ∞ für σx x , σ y y → 0.
56
K. von Klitzing, G. Dorda, M. Pepper, New Method for High-Accuracy Determination of the Fine-
Structure Constant Based on Quantized Hall Resistance, Phys. Rev. Lett. 45, 494–497 (1980).
10.5 Zweidimensionales Elektronengas: Quanten-Hall-Effekt 561

entsprach der in Abb. 10.39 gezeigten Hall-Bar-Geometrie. In ihren Experimenten, die


1980 am Max-Planck-Hochfeldmagnetlabor in Grenoble durchgeführt wurden, wurde der
Strom J x vorgegeben und die Längs- und Querspannung als Funktion der Gate-Spannung,
also der Ladungsträgerdichte, bei konstantem Magnetfeld gemessen. Das Ergebnis ist in
Abb. 10.41 gezeigt. Aus den gemessenen Spannungswerten wurde nach (10.5.12) und
(10.5.13) der spezifische Längs- und Querwiderstand ρ x x und ρ x y bzw. die spezifischen
Leitfähigkeiten σx x und σx y bestimmt. Sie beobachteten, dass σx x periodisch als Funktion
der Gate-Spannung verschwindet. Das Verschwinden von σx x kann dabei mit dem Auf-
füllen der Landau-Niveaus mit zunehmender Gate-Spannung erklärt werden. Wenn das
chemische Potenzial zwischen zwei Landau-Niveaus zu liegen kommt, kann die Probe bei
tiefen Temperaturen (k B T ≪ ħω c ) als Isolator betrachtet werden. In diesem Fall erwarten
wir, dass die Diagonalelemente σx x und σ y y des Leitfähigkeitstensors verschwinden. Nach
unserer obigen Betrachtung erwarten wir auch ein Verschwinden von ρ x x .
Das unerwartete Ergebnis war jedoch, dass der Querwiderstand Plateaus bei genau denjeni-
gen Gate-Spannungen zeigte, an denen ρ x x verschwand. Die Werte des Querwiderstands be-
trugen 25 813 Ω⇑ν mit den Füllfaktoren ν = 1, 2, 3, . . .. Bereits in den ursprünglichen hand-
schriftlichen Aufzeichnungen weist von Klitzing darauf hin, dass dieser Quantenwiderstand
durch R K = h⇑e 2 ausgedrückt werden kann, also durch Naturkonstanten. Heute kann der
Wert dieses Quantenwiderstands mit der sehr hohen relativen Genauigkeit etwa 10−9 ge-

30 3.0

25 2.5

20 2.0
Ux (mV)
Uy (mV)

15 1.5
Ux
10 1.0

5 Uy 0.5

n=0 n=1 n=2


0 0.0
0 5 10 15 20 25
Ug (V)

Abb. 10.41: Längsspannung U x und Hall-Spannung U y in einem zweidimensionalen Elektronengas


(L x = 130 µm, L y = 50 µm) als Funktion der Gate-Spannung U g bei T = 1.5 K und B = 18 T (nach
K. von Klitzing, G. Dorda, M. Pepper, Phys. Rev. Lett. 45, 494 (1980)). Oben sind handschriftliche
Notizen von Klaus von Klitzing vom 04.02.1980 und ein Bild der Originalprobe gezeigt (Quelle: PTB
Braunschweig). Die Landau-Niveaus sind aufgrund der Spin- und Valley-Entartung vierfach aufge-
spalten.
562 10 Halbleiter

messen werden. Er wird deshalb von den Eichanstalten als Widerstandsnormal verwendet.
Der heutige Wert der von Klitzing-Konstante lautet
h
RK = = 25 812.807 4555(59)Ω . (10.5.15)
e2
Außerdem kann die Messung von R K zur Präzisionsbestimmung der Sommerfeldschen Fein-
struktur-Konstanten
}︂
µ0 c e 2 1 µ0 e 2
α= = = 7.297 352 5664(17) × 10−3 (10.5.16)
2 h 2 є0 h
herangezogen werden.
Wir wollen zunächst eine stark vereinfachte Erklärung für das Auftreten der Oszillationen
im Längswiderstand und der Plateaus im Querwiderstand geben. Wir setzen k B T ≪ ħω c
voraus und nehmen an, dass wir die Gate-Spannung auf einen Wert eingestellt haben, dass
die Dichte der Elektronen gerade N e = n ⋅ p ist. Das bedeutet, dass das chemische Potenzial
zwischen dem n-ten und (n + 1)-ten Landau-Niveau liegen muss. Für die Elektronendichte
gilt dann
Ne n⋅p eB
n 2D = = =n . (10.5.17)
Lx L y Lx L y h
Formal entspricht die Situation derjenigen eines Isolators, bei dem das chemische Poten-
zial zwischen einem vollständig gefüllten und einem vollkommen leeren Band liegt. Da in
einem vollständig gefüllten Band die Transportstromdichte verschwindet (vergleiche hier-
zu die Diskussion in Abschnitt 9.2), und auch wegen k B T ≪ ħω c Anregungen ins nächst
höhere Landau-Niveau sehr unwahrscheinlich sind, erwarten deshalb

σx x = σ y y → 0 , ρx x → 0 , (10.5.18)

B h 1
ρx y = = . (10.5.19)
n 2D e e 2 n
Das heißt, wir haben das beobachtete Ergebnis erklärt, aber eben nur für eine bestimm-
te Gate-Spannung. Würden wir die Gate-Spannung nur infinitesimal ändern, so hätten wir
ein teilweise gefülltes Landau-Niveau vorliegen. Die elektrische Leitfähigkeit σx x wäre dann
endlich und die Beziehungen (10.5.18) und (10.5.19) würden nicht mehr gelten. Wir würden
damit keine Plateaus im Querwiderstand erhalten, die Länge der Plateaus als Funktion der
Gate-Spannung würde vielmehr gegen null gehen.
Auch eine detailliertere Betrachtung zeigt, dass für eine perfekte Probe die Breite der
Quanten-Hall-Plateaus in der Tat null sein sollte. Allerdings besitzen reale Proben immer
Defekte und diese resultieren in einer Verbreiterung der Landau-Niveaus. Wie Abb. 10.42
zeigt, liegen in der Zustandsdichte keine δ-Funktionen bei (n + 12 )ħω c , sondern stark ver-
breiterte Glockenkurven vor. In den Flanken dieser Kurven sind die Zustände an Störstellen
lokalisiert und tragen deshalb nicht zum Transport bei. Nur im zentralen Bereich liegen
delokalisierte Zustände vor. Das Vorliegen lokalisierter und delokalisierter Zustände ist für
die Erklärung der endlichen Breite der Hall-Plateaus von essentieller Bedeutung.
10.5 Zweidimensionales Elektronengas: Quanten-Hall-Effekt 563

ausgedehnte lokalisierte
Zustände Zustände
DOS

Abb. 10.42: Zustandsdichte eines zweidimen-


sionalen Elektronengases in einem starken Ma-
gnetfeld bei Vorhandensein von Unordnung. Die
im Idealfall δ-funktionsartigen Zustandsdichte-
peaks sind stark verbreitert und an den Flanken
der Kurven treten lokalisierte Zustände auf. Nur
die Zustände um das Maximum der Kurve sind
0 1 2 3 4 𝑬/ℏ𝝎𝒄 delokalisiert.

In Abb. 10.43 ist das Gesamtpotenzial eines zweidimensionalen Elektronengases mit Unor-
dung (z. B. durch Verunreinigungen, Kristalldefekte) gezeigt. Das Unordnungspotenzial ϕ dis
führt zu räumlichen Fluktuationen des Landau-Niveaus.125Für eine räumlich eingeschränk-
te Probe müssen wir noch das Einschlusspotenzial hinzufügen, das im Probeninneren ver-
schwindet und am Probenrand steil zum Vakuumniveau ansteigt. Da die Landau-Niveaus
am Probenrand durch das Einschlusspotenzial steil nach oben gebogen werden, schneidet
das chemische Potenzial die Landau-Niveaus am Probenrand. Um die Auswirkung von Un-
ordnung auf die Bewegung von Elektronen im Magnetfeld qualitativ zu diskutieren, nehmen
wir an, dass ϕ dis räumlich nur langsam variiert. Nehmen wir ⋃︀∇ϕ dis ⋃︀ ⋅ ℓ B ≪ ħω c an, so kön-
nen wir die Bewegung der Elektronen in zwei Anteile zerlegen. Erstens eine schnelle Zyklo-
tronbewegung und zweitens eine langsame Driftbewegung des Schwerpunkts der Zyklotron-
bahn entlang der Äquipotenziallinien des Gesamtpotenzials ϕ = ϕ dis + ϕ el , wobei ϕ el das an-
gelegte elektrische Potenzial ist. Dies ist schematisch in Abb. 10.43 gezeigt. Die Bewegung der
Elektronen erfolgt in so genannten Skipping Orbits entlang der Äquipotenziallinien von ϕ.
Die Bewegungsrichtung der Driftbewegung wird durch die Lorentz-Kraft bestimmt, die pro-
portional zu ∇ϕ × B ist. Am Probenrand stoßen die Elektronen an das Einschlusspotenzial
und werden elastisch reflektiert. Dabei unterdrückt das starke Magnetfeld die Rückstreuung.
Die Elektronen können sich auf ihren Skipping Orbits nur in eine Richtung bewegen, die auf
den gegenüberliegenden Probenseiten entgegengesetzt gerichtet ist. Wir können uns leicht
überlegen, dass selbst Streuprozesse an Defekten diese bevorzugte Bewegungsrichtung nicht
ändern können. Am Probenrand bilden sich also durch die Skipping Orbits eindimensionale
Randkanäle aus. Jedes Elektron, das in den Randkanal eintritt, wird mit der Transmissions-
wahrscheinlichkeit t = 1 durch den Kanal transmittiert. Aufgrund der in Abschnitt 7.5.1 ge-
führten Diskussion können wird diesem Transportkanal den Leitwert e 2 ⇑h zuordnen. Wir
werden auf die Randkanäle weiter unten nochmals zurückkommen. Wir wollen noch dar-
auf hinweisen, dass die Elektronen, die um Erhebungen des Unordnungspotenzials über das
chemische Potenzial umlaufen, räumlich lokalisiert sind (siehe hierzu Abb. 10.43, links).
Benutzen wir die Bohr-Sommerfeld-Quantisierung, so können wir das gerade vorgestell-
te klassische in ein quantenmechanisches Bild überführen. Wie in Abschnitt 9.10 diskutiert
wurde, ist eine Konsequenz der Bohr-Sommerfeld-Quantisierung die Quantisierung der von
einem Zyklotronorbit im k-Raum umschlossenen Fläche in ganzzahligen Vielfachen der Flä-
che S = (2πe⇑ħ)B. Im Ortsraum umschließen die Bahnen ganzzahlige Vielfache eines Fluss-
564 10 Halbleiter

Einschlusspotenzial 𝑬
Skipping
Orbits (c)
𝝓𝐝𝐢𝐬

𝑩
(b)

𝝁
𝐸
𝑥 (a)
𝝁
𝑦

𝝁 𝑦

Abb. 10.43: Links: Schematische Darstellung des Potenzialverlaufs in einem zweidimensionalen Elek-
tronengas. Aus Gründen der Übersichtlichkeit ist nur ein Landau-Niveau gezeigt. Das endliche Unord-
nungspotenzial ϕ dis bewirkt räumliche Fluktuationen des Gesamtpotenzials, die durch zwei Potenzial-
126
hügel angedeutet sind. Am Rand der Probe steigt das Gesamtpotenzial durch das Einschlusspotenzial
stark an. Rechts sind Schnitte des Gesamtpotenzials für zwei benachbarte Landau-Niveaus n und n + 1
senkrecht zur Probe (y-Richtung) gezeigt. Von (a) nach (c) wird die Ladungsträgerdichte erhöht und
damit das chemische Potenzial µ nach oben geschoben. Dies entspricht den in Abb. 10.44(a) bis (c)
gezeigten Situationen. Die gelben Punkte markieren die Randkanäle.

̃ 0 = h⇑e. Innerhalb der gemachten Näherung werden diese Quantisierungsbedin-


quants Φ
gungen nicht tangiert.
Wir wollen nun ein Quanten-Hallsystem mit Unordnung betrachten und diskutieren, was
passiert, wenn wir bei T = 0 die Gate-Spannung U g bei konstantem Magnetfeld variieren.
Der Abstand der Landau-Niveaus bleibt dabei wegen B = const gleich und wir schieben das
chemische Potenzial µ durch die Gate-induzierte Erhöhung der Ladungsträgerdichte nach
oben.57
Wir starten mit einer Situation, in der das chemische Potenzial µ irgendwo zwischen zwei
Landau-Niveaus liegt [siehe hierzu Abb. 10.43(a) und 10.44(a)]. Aufgrund der Unordnung
kann µ jetzt irgendwo zwischen den beiden Landau-Niveaus liegen und nicht nur genau in
der Mitte wie im Fall ohne Unordnung. Für T = 0 sind Konturlinien der Schwerpunktsbewe-
gung mit E < µ mit Elektronen besetzt und diejenigen mit E > µ sind leer. Das bedeutet, dass
in der Umgebung eines Minimums des Gesamtpotenzials ϕ alle Äquipotenzialkonturlinien
mit E < µ besetzt sind. Diese Gebiete bezeichnen wir als Quantum-Hall-Droplets. Die Elek-
tronen, die die äußerste Bahn in diesen Droplets einnehmen, nennen wir Randelektronen.
Da diese Elektronen sich bei µ befinden, sind es gerade diese Elektronen, die zum Transport
57
Im vielen Experimenten wird auch bei konstanter Gate-Spannung, d. h. konstanter Ladungsträ-
gerdichte, das Magnetfeld variiert. Physikalisch kommt es immer auf eine Variation des Füllfak-
tors ν = N e ⇑N Φ an, wobei N e über die Gate-Spannung und N Φ über das Magnetfeld variiert wird.
Eine Variation der Gate-Spannung oder des Magnetfeldes führen also prinzipiell zum gleichen Er-
gebnis.
10.5 Zweidimensionales Elektronengas: Quanten-Hall-Effekt 565

Klaus von Klitzing (geb. 1943), Nobelpreis für Physik 1985


Klaus von Klitzing wurde am 28. Juni 1943 in Schroda (Po-
sen) geboren.
Nach dem Abitur in Quakenbrück im Februar 1962 studier-
te er Physik an der Technischen Universität Braunschweig.
Das Studium schloss er mit dem Diplom (Diplomarbeit
bei F. R. Kessler) im März 1969 ab. Bis November 1980
war er dann bei Prof. Dr. Gottfried Landwehr an der Ju-
lius-Maximilians-Universität Würzburg tätig. Dort schrieb
er 1972 seine Doktorarbeit zum Thema „Galvanomagneti-
sche Eigenschaften von Tellur in starken Magnetfeldern“. Im
Jahr 1978 folgte die Habilitation. Er war zu Forschungsar-
beiten 1975 bis 1978 am Clarendon Laboratory in Oxford
und als Heisenberg-Stipendiat von 1979 bis 1980 am Hoch-
Mit freundlicher Genehmigung von Klaus
feld-Magnetlabor in Grenoble tätig, wo er die entscheidende von Klitzing.
Entdeckung für den Quanten-Halleffekt machte. Nach sei-
ner Entdeckung des Quanten-Hall-Effektes kam er 1980 als C3-Professor an das Physik-
Department der Technischen Universität München und führte am Lehrstuhl von Prof. Fre-
derick Koch detaillierte Untersuchungen zum weiteren Verständnis des Effektes durch. Seit
1985 ist er Direktor am Max-Planck-Institut für Festkörperforschung in Stuttgart.
Klaus von Klitzing erhielt 1985 den Nobelpreis für Physik für seine Arbeiten zum quanti-
sierten Hall-Effekt, den er am 5. Februar 1980 im Grenobler Hochfeld-Magnetlabor ent-
deckte.

beitragen. In Abb. 10.44 haben wir die Droplets als schattierte Flächen eingezeichnet und die
Randelektronen sind durch die durchgezogenen Ränder der Droplets gekennzeichnet. Wir
haben oben bereits diskutiert, dass wir die Bewegung der Randelektronen mit so genannten
Skipping Orbits beschreiben können. Elektronen weit weg vom Rand des Droplets können
Kreisbahnen ausführen. Am Rand wird aber die Kreisbewegung durch die Streuung mit dem
Rand unterbrochen und wir erhalten eine springende Bewegung entlang des Randes.
Abb. 10.44(a) zeigt, dass wir bei der gewählten Ladungsträgerdichte nur lokalisierte Zustän-
de haben, die in den Mulden des Unordnungspotenzial gebunden sind. Erhöhen wir jetzt
die Ladungsträgerdichte durch Variation der Gate-Spannung, so schieben wir das chemische
Potenzial µ nach oben. Wie Abb. 10.43(b) zeigt, nimmt die Zahl der Zustände mit E < µ da-
durch zu. Die Größe der vorhandenen Quantum-Hall-Droplets wächst und neue kommen
hinzu. Haben wir die Ladungsträgerdichte soweit erhöht, dass die Droplets überlappen [sie-
he Abb. 10.44(b)], so können Elektronen über die zusammenhängenden Droplets von der
einen zur anderen Probenseite gelangen. Wir haben es jetzt mit ausgedehnten Zuständen
zu tun und µ liegt im Bereich der delokalisierten Zustände. Erhöhen wir die Ladungsträ-
gerdichte weiter, so liegt µ schließlich im Bereich der lokalisierten Zustände oberhalb des
delokalisierten Bereichs. Wie Abb. 10.44(c) zeigt, erhalten wir hier Quantum-Hall-Droplets,
566 10 Halbleiter

(a) 𝑬 lokalisierte
Zustände

𝟏
ℏ𝝎𝒄
𝟐
𝝁

𝟎
DOS
(b) 𝑬
ausgedehnte
Zustände
𝟏 𝝁
ℏ𝝎𝒄
𝟐

𝟎
DOS
(c) 𝑬

𝝁
𝟏
ℏ𝝎𝒄
𝟐

𝟎
DOS 127

Abb. 10.44: Schematische Darstellung von Quantum-Hall-Droplets (links) und der Zustandsdichte
(rechts) für unterschiedliche Lagen des chemischen Potenzials µ. Die Droplets sind als gefüllte Flä-
che dargestellt, die Elektronenbahnen als durchgezogene Linien mit Pfeilen. (a) µ liegt unterhalb des
1. Landau-Niveaus im Bereich der lokalisierten Zustände (hellgrau). (b) µ liegt im Bereich der deloka-
lisierten Zustände (dunkelgrau). (c) µ liegt oberhalb des 1. Landau-Niveaus im Bereich der lokaliserten
Zustände (hellgrau).

die keine Zustände enthalten. Wir bezeichnen diese als Loch-Droplets.58 Die Bewegungs-
richtung der Skipping Orbits um die Loch-Droplets herum ist der Bewegungsrichtung der
Skipping Orbits innerhalb der Droplets in Abb. 10.44(a) genau entgegengesetzt.
Wir können nun das in Abb. 10.43 und 10.44 gezeigte Bild verwenden, um das Entstehen
der Hall-Plateaus zu erklären. Für kleine Ladungsträgerdichten liegen nur wenige Droplets
vor, die klein und wohl getrennt voneinander sind. Das heißt, dass die Orbits der Randelek-
tronen nicht überlappen und somit lokalisiert sind. Somit ist σx x = ρ x x = 0. Erhöhen wir die
Ladungsträgerdichte, so überlappen einige Droplets, σx x und ρ x x bleiben aber null, solan-
ge die Droplets noch keinen geschlossenen Pfad zwischen den Spannungskontakten bilden
können. Erst bei weiterer Erhöhung der Ladungsträgerdichte bildet sich ein Perkolationspfad
von der einen zur anderen Probenseite aus. Wir erhalten dann ausgedehnte Zustände, wo-
durch σx x und ρ x x endlich werden. Bei weiterer Erhöhung der Ladungsträgerdichte rückt das
äußerste Skipping Orbit an den Rand der Probe, wo das Potenzial aufgrund des Einschlus-

58
Anschaulich entspricht die Situation einem Potenzialgebirge, das wir in einer Badewanne langsam
mit Wasser überfluten. Am Anfang bilden sich einige kleinere Seen an den tiefsten Stellen des Po-
tenzialgebirges (Droplets). Steigt der Wasserspiegel, so überlappen sich irgendwann die Seen und
bilden eine zusammenhängende Wasserfläche, die vom einen bis zum anderen Rand der Badewan-
ne reicht (ausgedehnte Zustände). Schließlich werden nach weiterem Anstieg des Wasserpegels nur
noch einige Bergspitzen aus dem Wasser ragen, die quasi Löcher in der ansonsten geschlossenen
Wasserfläche bilden (Loch-Droplets).
10.5 Zweidimensionales Elektronengas: Quanten-Hall-Effekt 567

𝝁𝟓 𝝁𝟔

𝝁𝟏 𝝁𝟐

Abb. 10.45: Zur Veranschaulichung des


𝝁𝟑 𝝁𝟒 Quanten-Hall-Widerstands im Randkanalbild.

128
ses der Elektronen in der Probe steil ansteigt (Rand der Badewanne). Es bleiben nur noch
einige kleine Loch-Droplets übrig [siehe Abb. 10.44(c)]. In diesem Fall wird σx x = ρ x x = 0
und σx y = e 2 ⇑h. Das Verhältnis σx y ⇑(e 2 ⇑h) gibt die Zahl der Randkanäle im Perkolations-
prozess an. Jeder Randkanal stellt einen eindimensionalen Leitungskanal dar und trägt genau
die Leitfähigkeit e 2 ⇑h bei (vergleiche hierzu Abschnitt 7.5.1). Jedes Mal, wenn wir das chemi-
sche Potenzial über ein weiteres Landau-Niveau anheben, entsteht ein neuer Randkanal und
wir erhalten σx y = n ⋅ (e 2 ⇑h). Wir erhalten also Hall-Plateaus, wenn sich das chemische Po-
tenzial im Bereich der lokalisierten Zustände befindet, und der Wert des Hall-Widerstands
hängt von der Zahl n der Randkanäle ab. Wir sehen, dass wir bei einer starken Unordnung
(breiter Bereich der lokalisierten Zustände), also in Proben mit einer hohen Störstellenkon-
zentration, breite Hall-Plateuas bekommen. Wir dürfen die Störstellenkonzentration aber
auch nicht zu hoch machen, da dann die Streuzeit τ sehr klein und die Breite ħ⇑τ der Landau-
Niveaus größer als ihr Abstand ħω c wird, d. h. wir erfüllen dann die Bedingung ω c τ ≫ 1
nicht mehr.
Die bereits in Abschnitt 7.5.1 geführte Diskussion und Gleichung (7.5.6) sind nur für einen
einzelnen Transportkanal gültig. Fassen wir die gerade diskutierten Randkanäle als eindi-
mensionale Transportkanäle auf, so haben wir es mit einem System aus mehreren Transport-
kanälen und mehreren Kontakten zu tun. Diese Situation wird durch den Landauer-Bütti-
ker-Formalismus beschrieben, auf den wir hier kurz eingehen wollen.59 Für die in Abb. 10.45
gezeigte Konfiguration erhalten wir
6
e
Ii = {(n − r i i )µ i − ∑ t i j µ j (︀ , (10.5.20)
h j=1

wobei I i der Strom in den i-ten Kontakt, r i i die Rückstreuwahrscheinlichkeit von Kontakt i
nach Kontakt i und t i j die Transmissionswahrscheinlichkeit von Kontakt i nach Kontakt j
ist. Mit r i i = 0 und t i j = 1 folgt für den Hall-Widerstand bei in unserem Beispiel zwei Rand-
kanälen
µ3 − µ5 h
R 35 = = 2, (10.5.21)
eI 2e
da
2e
I1 = I = (µ 1 − µ 5 ) (10.5.22)
h
59
siehe z. B. The Physics of Low Dimensional Semiconductors, J. H. Davies, Cambridge University
Press, Cambridge (1998).
568 10 Halbleiter

und
2e
I3 = 0 = (µ 3 − µ 1 ) (10.5.23)
h
2e
I5 = 0 = (µ 5 − µ 1 ) . (10.5.24)
h
Um uns dieses etwas abstrakte Ergebnis zu veranschaulichen, nehmen wir an, dass wir ein
negatives Potenzial −µ 1 an Kontakt 1 angelegt haben und µ 2 = 0. Es fließt dann ein tech-
nischer Strom von Kontakt 2 nach 1, bzw. ein Elektronenstrom von Kontakt 1 nach 2. In
Abb. 10.45 geben die Pfeile die Elektronenrichtung an. Aus Kontakt 1 werden also Elektro-
nen in die beiden Randkanäle injiziert und verlassen diesen Kontakt. Sie können sich ohne
Streuung am oberen Rand der Probe entlangbewegen und treten in Kontakt 5 ein. Dieser
Kontakt kann aber keinen Strom aufnehmen. Sein chemisches Potenzial muss deshalb so-
weit ansteigen, damit er einen gleich großen Strom wieder in den auslaufenden Randkanal
abgeben kann. Dies erfordert µ 5 = µ 1 . Das gleiche gilt für Kontakt 6, d. h. µ 6 = µ 1 . Somit
haben alle Kontakte entlang der oberen Probenseite das gleiche Potenzial. Mit der gleichen
Argumentation können wir folgern, dass alle Kontakte auf der Probenunterseite auf dem
gleichen Potenzial µ 2 = 0 liegen (damit tragen die unteren Randkanäle keinen Strom).
Der gesamte aus Kontakt 1 injizierte Strom ist für die beiden Randkanäle I = (2e⇑h)(µ 1 −
µ 3 ) = −(2e⇑h)µ 1 und der Hall-Widerstand ist R 35 = (µ 3 − µ 5 )⇑eI = −µ 5 ⇑eI = h⇑2e 2 . Wir
erhalten also den quantisierten Wert. Ferner ist der longitudinale Widerstand (µ 6 − µ 5 )⇑eI =
0. Wir haben also in relativ einfacher Weise die experimentellen Beobachtungen erklärt. Eine
wichtige Voraussetzung ist, dass die Transmissionswahrscheinlichkeit in den Randkanälen
gleich eins ist. Dies ist gegeben, wenn keine Streuung von der einen Probenseite auf die an-
dere erfolgt. In der in Abb. 10.44b dargestellten Situation ist dies offensichtlich nicht der Fall.
Hier befinden wir uns gerade im Bereich zwischen den Hall-Plateaus.
Wir möchten schließlich noch darauf hinweisen, dass eine allgemeinere Interpretation des
Quanten-Hall-Effekts von Robert B. Laughlin gegeben wurde.60 , 61 Dabei wird der Quanten-
Hall-Effekt als direkte Folge des allgemeinen Prinzips der Eichinvarianz ausgedrückt. In ei-
ner moderneren Betrachtungsweise wird der Quanten-Hall-Zustand als topologischer Isola-
tor klassifiziert (siehe hierzu Kapitel 14). Für eine tiefergehendere Diskussion des Quanten-
Hall-Effekts wird auf die Spezialliteratur verwiesen.62 , 63 , 64 , 65 , 66

60
Robert B. Laughlin, Quantized Hall conductivity in two dimensions, Phys. Rev. B 23, 5632 (1981).
61
R. B. Laughlin, in McGraw-Hill Book of Science and Technology 1984, McGraw-Hill, New York
(1984).
62
H. L. Stoermer, D. C. Tsui, The Quantized Hall Effect, Science 220, 1241–1246 (1983).
63
M. Janssen, O. Viehweger, U. Fastenrath, J. Hajdu, Introduction to the Theory of the Integer Quantum
Hall Effect, VCH Weinheim (1994).
64
R. E. Prange, S. M. Girvin, The Quantum Hall Effect, Springer Verlag, New York, Berlin (1990).
65
T. Chakraborty, P. Pietiläinen, The Quantum Hall Effect – Fractional and Integral, Springer Series
on Solid-State Science, Vol. 85, Springer Berlin, Heidelberg (1995).
66
A. H. McDonald, The Quantum Hall Effect: A Perspective, Kluwer, Boston (1989).
10.5 Zweidimensionales Elektronengas: Quanten-Hall-Effekt 569

10.5.4 Vertiefungsthema: Fraktionaler Quanten-Hall-Effekt


In Halbleiter-Heterostrukturen mit hohen Beweglichkeiten sind die Plateaus des ganzzah-
ligen Quanten-Hall-Effekts viel schmäler als in Proben mit geringer Beweglichkeit, wie sie
in dem ursprünglichen Experiment von von Klitzing, Dorda und Pepper verwendet wur-
den. Zwischen diesen schmalen Plateaus wurden nun weitere Plateaus bei gebrochen-ratio-
nalen Vielfachen f des Quantenwiderstands R K gefunden (siehe Abb. 10.46). Die Plateaus
treten für f = q⇑(2pq ± 1) und f = 1 − q⇑(2pq ± 1) (p, q = ganze Zahl), also für f = 1⇑3,
2⇑3, 2⇑5, 3⇑5, etc. auf. Die Werte von f sind also gekennzeichnet durch einen ungeraden
Nenner und eine Symmetrie um ν = 1⇑2. Diesen Effekt, der 1983 von Horst L. Störmer und
Daniel C. Tsui entdeckt wurde, nennen wir gebrochenzahligen oder fraktionalen Quanten-
Hall-Effekt.67 Für diese Entdeckung erhielten Störmer und Tsui im Jahr 1998 zusammen mit
Robert B. Laughlin, dem es gelang, die experimentellen Beobachtungen theoretisch zu er-
klären,68 den Nobelpreis für Physik.
Wie beim ganzzahligen QHE entstehen auch beim fraktionalen QHE Plateaus im Hall-Wi-
derstand, wenn das chemische Potenzial in einer Lücke der Zustandsdichte bzw. in einem
Bereich lokalisierter Zustände liegt. Beim fraktionalen QHE ist allerdings die Ursache der
Energielücke nicht einfach die Quantisierung von Einteilchenzuständen. Die Energielücke
entsteht vielmehr durch die kollektive Bewegung aller Elektronen im System. Es handelt sich
um einen Vielteilcheneffekt und ist theoretisch schwierig zu beschreiben.69 Für ν ≤ 1 be-

𝟐. 𝟓

𝟑𝟐 𝑵= 𝟏 𝑵=𝟎

𝟐
𝝆𝒙𝒚 𝒉/𝒆𝟐

𝝂=𝟒 𝟑 𝟐 𝟏
1. 𝟓

𝟏 1/2
3/2

Abb. 10.46: Fraktionaler


0. 𝟓
𝝆𝒙𝒙

Quanten-Hall-Effekt (nach
R. Willett, J. P. Eisenstein,
H. L. Störmer, D. C. Tsui,
𝟎
A. C. Gossard, Phys. Rev.
Lett. 59, 1776 (1987),
𝟎 © (2012) American Phy-
𝟓 𝟏𝟎 𝟏𝟓 𝟐𝟎 𝟐𝟓 𝟑𝟎
Magnetfeld (T) sical Society).
131

67
D. C. Tsui, H. L. Störmer, A. C. Gossard, Two-Dimensional Magnetotransport in the Extreme Quan-
tum Limit, Phys. Rev. Lett. 48, 1559 (1982).
68
R. B. Laughlin, Anomalous Quantum Hall Effect: An Incompressible Quantum Fluid with Fractio-
nally Charged Excitations, Phys. Rev. Lett. 50, 1395 (1983).
69
T. Chakraborty, P. Pietiläinen, The Quantum Hall Effect – Fractional and Integral, Springer Series
on Solid-State Science, Vol. 85, Springer Berlin, Heidelberg (1995).
570 10 Halbleiter

Horst Ludwig Störmer (geb. 1949), Nobelpreis für Physik 1998


Horst Ludwig Störmer wurde am 6. April 1949 in Frankfurt
am Main geboren. Hier studierte er zunächst Mathematik,
da er den Anmeldezeitraum für das Physikstudium verpasst
hatte, und wechselte erst 1968 zur Physik. Nach dem Di-
plom 1974 am Lehrstuhl von Werner Martienssen – zur glei-
chen Zeit arbeitete auch Gerd Binnig in der Arbeitsgruppe
– wechselte er an das Hochfeldmagnetlabor in Grenoble in
die Arbeitsgruppe um Prof. Queisser. Er promovierte 1977
an der Universität Stuttgart und ging anschließend als Post-
doktorand an die Bell Laboratories in Murray Hill, New Jer-
sey. Dort erhielt er 1978 eine Festanstellung und wurde 1983
zuerst zum Leiter der Abteilung für elektrische und opti-
©The Nobel Foundation.
sche Eigenschaften von Festkörpern und später 1992 zum
Direktor des Physikalischen Forschungslabors der Bell Labs
ernannt. Im Jahr 1997 wechselte Störmer an die Columbia University in New York, wo er
1998 zum Professor für Angewandte Physik ernannt wurde. Hier lehrt und forscht er vor
allem auf dem Gebiet der Nanowissenschaften.
Den Nobelpreis für Physik erhielt Horst L. Störmer 1998 zusammen mit den US-ameri-
kanischen Forschern Robert B. Laughlin und Daniel C. Tsui für ihre Entdeckung, dass
Elektronen in starken Magnetfeldern und bei extrem niedrigen Temperaturen eine neue
Art von Quantenflüssigkeit mit fraktionell geladenen Anregungen bilden.

finden sich alle Elektronen im untersten Landau-Niveau, sie haben alle dieselbe kinetische
Energie 12 ħω c und ihre Spins sind alle parallel ausgerichtet. Die Vielteilcheneffekte kommen
nun dadurch zustande, dass wir die Coulomb-Wechselwirkung zwischen den Elektronen
berücksichtigen müssen.
In jüngster Zeit wurde zur Beschreibung des fraktionalen QHE das Konzept der zusammen-
gesetzten Fermionen (Composite Fermions) eingeführt. Diese Quasiteilchen bestehen aus
einem Elektron (oder Loch), das mit einer geraden Zahl von magnetischen Flussquanten
verbunden ist. Jedes Elektron bildet also mit Quanten des magnetischen Flusses ein zusam-
mengesetztes (composite) Fermion. Die an die Elektronen angehängten Flussquanten bilden
ein homogenes Magnetfeld, das dem äußeren Magnetfeld entgegenwirkt. Das zusammenge-
setzte Fermion, das eine ganzzahlige Ladung trägt, bewegt sich in einem durch die Fluss-
quanten reduzierten, effektiven Magnetfeld. Mit diesen Quasiteilchen kann der fraktionale
QHE auf den ganzzahligen QHE abgebildet werden. Das heißt, der fraktionale QHE von
Elektronen in einem äußeren Feld wird dann der ganzzahlige QHE der neuen zusammen-
gesetzten Fermionen in einem effektiven Feld. Die zusammengesetzten Fermionen haben
eine ganzzahlige Ladung. Da sie sich aber in einem effektiven Feld bewegen, erscheint es so,
als ob sie eine fraktionale topologische Ladung besäßen. Das Bild der zusammengesetzten
Fermionen kann alle experimentellen Beobachtung Rechnung tragen. Insbesondere erklärt
es, dass ν = 1⇑2 ein besonderer Zustand ist, da hier für ein Quasiteilchen aus einem Elek-
Literatur 571

tron und zwei Flussquanten das effektive Feld null ist. Abb. 10.46 zeigt in der Tat, dass sich
sowohl ρ x y als auch ρ x x um ν = 12 ähnlich zu den um B = 0 gemessenen Größen ist.

Literatur
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11 Dielektrische Eigenschaften
Wir haben bereits in Kapitel 9 das Verhalten von Kristallelektronen unter dem Einfluss äu-
ßerer Kräfte diskutiert. Dort haben wir uns im Wesentlichen auf die Beschreibung der Bewe-
gung von einzelnen Kristallelektronen in Metallen unter der Wirkung einer äußeren Kraft
beschränkt. In diesem Kapitel wollen wir unsere Diskussion auf die Beschreibung der Reak-
tion eines Festkörpers als Ganzem auf ein von außen wirkendes elektrisches Feld ausdehnen.
Dadurch erhalten wir zum Beispiel eine Beschreibung der optischen Eigenschaften von Fest-
körpern wie z.B. dem in der Abbildung gezeigten Glas eines Kirchenfensters. Das heißt, wir
werden verstehen, wieso ein Festkörper Licht absorbiert, reflektiert oder durchlässt.
Je nach Bedarf wird die Wechselwirkung eines
Festkörpers mit einem elektromagnetischen Feld
entweder mikroskopisch oder makroskopisch be-
schrieben. In einem mikroskopischen Bild spre-
chen wir zum Beispiel von der Absorption ei-
nes Photons und der damit verbundenen An-
regung des Kristallgitters (z. B. Erzeugung von
Phononen) oder des Elektronensystems (z. B. Er-
zeugung von Elektron-Loch-Paaren). Im Rah-
men einer makroskopischen Beschreibung auf
der Basis der Maxwell-Gleichungen charakteri-
sieren wir dagegen einen Festkörper mit einer
4
Materialkonstante, ohne dass wir uns für die mi-
kroskopischen Prozesse interessieren. Selbstverständlich besteht ein Zusammenhang zwi-
schen mikroskopischer und makroskopischer Beschreibung. Eine Zielsetzung dieses Kapi-
tels wird gerade sein, diesen Zusammenhang zwischen mikroskopischer und makroskopi-
scher Beschreibung herzustellen.
Wir werden uns in diesem Kapitel nur mit der linearen Antwort von Festkörpern auf von
außen wirkende elektromagnetische Felder beschränken. Es soll hier aber darauf hingewie-
sen werden, dass der Bereich der nicht-linearen Optik1 , 2 durch die Entwicklung leistungs-
fähiger Laser in den letzten Jahrzehnten stark an Bedeutung gewonnen hat. Die Diskussion
nicht-linearer Effekte würde aber den Rahmen dieser Einführung in die Festkörperpyhsik
sprengen.
Die Art und Weise, wie ein Festkörper auf den Einfluss eines elektrischen Feldes reagiert,
hängt davon ab, wie frei sich Ladungen im Festkörper bewegen können. So liegen bei Me-
1
Robert W. Boyd, Nonlinear Optics, 3. Auflage, Academic Press, New York (2008).
2
Shen, Yuen-Ron, The Principles of Nonlinear Optics, Wiley-Interscience (2002).
574 11 Dielektrische Eigenschaften

tallen quasi freie Ladungen vor, die elektrische Felder auf einer sehr kurzen Längenskala ab-
schirmen können. In Isolatoren sind die Ladungsträger dagegen gebunden und können nur
über kleine Längenskalen gegenüber den Atomrümpfen verschoben werden. Dadurch baut
sich eine elektrische Polarisation auf und elektrische Felder können selbst über große Län-
genskalen nicht abgeschirmt werden. Das Abschirmverhalten ändert sich natürlich mit der
Frequenz des elektrischen Feldes. Aufgrund der Trägheit der Ladungsträger können diese
schnellen Feldänderungen nicht mehr folgen. Deshalb können selbst in Metallen hochfre-
quente Felder nicht mehr abgeschirmt werden. Wir sehen also, dass die Reaktion eines Fest-
körpers auf den Einfluss eines elektrischen Feldes sehr komplex sein kann und stark von den
mit den spezifischen Materialeigenschaften verbundenen charakteristischen Längen- und
Zeitskalen abhängen wird.
11.1 Makroskopische Elektrodynamik 575

11.1 Makroskopische Elektrodynamik


11.1.1 Die dielektrische Funktion
11.1.1.1 Isolatoren
Wir betrachten zunächst einen Isolator. Hier erfahren Ladungen aufgrund der Wirkung ei-
nes elektrischen Feldes nur eine lokale Verschiebung, die in einer endlichen Polarisation des
Festkörpers resultiert, nicht aber in einer kontinuierlichen Bewegung, die sich in einer end-
lichen Leitfähigkeit ausdrücken würde. In einem isolierenden Medium induziert also eine
harmonische elektromagnetische Welle mit elektrischem Feldvektor

E(r, t) = E(q, ω) e ı(q⋅r−ωt) (11.1.1)


eine Polarisation P, die mit dem anregenden Feld durch einen symmetrischen Tensor 2. Stufe
verknüpft ist:

Pi (r′ , t ′ ) = є 0 ∑ ∫ χ i j (r, r′ , t, t ′ ) E j (r, t) d 3 r dt . (11.1.2)


j

Hierbei ist χ i j der Tensor der elektrischen Suszeptibilität, Pi (r′ , t ′ ) die i-te Komponente
des Polarisationsvektors, der aus dem im Festkörper induzierten Dipolmoment resultiert,
und є 0 = 8.854 187 817 × 10−12 As⇑Vm die elektrische Feldkonstante. Gleichung (11.1.2) ist
ein Beispiel für eine lineare Antwortfunktion, die allgemein den Zusammenhang zwischen
einer Störung und einer durch sie hervorgerufenen Wirkung in mathematischer Form be-
schreibt. Die Störung ist hier das elektrische Feld E(r, t), die Wirkung die damit hervorge-
rufene Polarisation E(r′ , t ′ ) und die lineare Antwortfunktion die Größe χ i j (r, r′ , t, t ′ ), die
auch als Responsefunktion oder verallgemeinerte Suszeptibilität bezeichnet wird. Sie gibt an,
wie empfindlich das betrachtete System auf eine Störung reagiert.
Die Polarisation P ist definiert als das elektrische Dipolmoment pel pro Volumen, d. h.
pel
P≡ , (11.1.3)
V
wobei das elektrische Dipolmoment pel allgemein gegeben ist durch
pel = ∑ q i r i , (11.1.4)
i

also durch das Produkt aus Ladung q i und Ortsvektor r i dieser Ladung.
Falls Raum und Zeit homogen sind,3 hängt die Suszeptibilität nur von ⋃︀r − r′ ⋃︀ und ⋃︀t − t ′ ⋃︀ ab
und (11.1.2) vereinfacht sich zu

Pi (r′ , t ′ ) = є 0 ∑ ∫ χ i j (⋃︀r − r′ ⋃︀, t − t ′ ) E j (r, t) d 3 r dt . (11.1.5)


j

3
Um den Raum als homogen anzunehmen, müssen alle mikroskopischen Größen über die Ein-
heitszelle gemittelt werden, um Komplikationen mit lokalen Feldern zu vermeiden. Auf einer ato-
maren Skala oszillieren die Ladungsdichte ρ mikro und das elektrostatische Potenzial ϕ mikro bzw.
Emikro = −∇ϕ mikro schnell. Auf einer makroskopischen Skala ist dagegen ρ makro = 0 und Emakro = 0.
576 11 Dielektrische Eigenschaften

Wir können nun den Faltungssatz verwenden und (11.1.5) durch die Fourier-Transformier-
ten von P, χ und E auszudrücken. Wir erhalten4

Pi (q, ω) = є 0 ∑ χ i j (q, ω) E j (q, ω) . (11.1.6)


j

Im Prinzip sind alle linearen dielektrischen Eigenschaften eines Festkörpers durch den kom-
plexen elektrischen Suszeptibilitätstensor bestimmt.5 Falls χ i j (⋃︀r − r′ ⋃︀, t − t ′ ) reell ist, impli-
ziert dies χ i j (−q, −ω) = χ∗i j (q, ω). Gehen wir über den Bereich der linearen Antwort hinaus,
so müssen wir in (11.1.6) Terme höherer Ordnung berücksichtigen und erhalten
(1) (2) (3)
Pi = є 0 ∑ χ i j E j + є 0 ∑ χ i jk E j E k + є 0 ∑ χ i jkℓ E j E k E ℓ + . . . . (11.1.7)
j jk jkℓ

Hierbei sind χ(m) Tensoren (m + 1)-ter Stufe. Während χ(1) die lineare Suszeptibilität be-
schreibt, ist χ(2) für den Pockels-Effekt und χ(3) für den Kerr-Effekt verantwortlich. Auf
diese Effekte werden wir hier aber nicht eingehen.
Für den Vergleich mit Experimenten führt man einen weiteren komplexen Tensor 2. Stufe
ein, nämlich den Dielektrizitätstensor. Dieser Tensor ist definiert durch

D i (q, ω) = ∑ є 0 є i j (q, ω) E j (q, ω) , (11.1.8)


j

wobei D i (q, ω) die Fourier-Transformierte der dielektrischen Verschiebung oder elektri-


schen Flussdichte ist, die definiert ist durch:
D(r, t) = є 0 E(r, t) + P(r, t) . (11.1.9)
Aufgrund der Definitionen (11.1.6) und (11.1.8) sind χ i j (q, ω) und є i j (q, ω) verknüpft
durch
є i j (q, ω) = 1 + χ i j (q, ω) . (11.1.10)

Wir werden im Folgenden den Real- und Imaginärteil des Dielektrizitätstensors mit є r (q, ω)
und є i (q, ω) bezeichnen. In Fällen, wo die Tensoreigenschaften nicht relevant sind, werden
wir є i j (q, ω) durch die skalare Funktion є(q, ω) ersetzen. Diese Funktion wird als dielektri-
sche Funktion bezeichnet.
Ohne Angabe eines Beweises wollen wir folgende Zusammenhänge festhalten:6
є(−q, −ω) = є∗ (q, ω) (11.1.11)

є i j (q, ω) = є ji (−q, ω) . (11.1.12)


4
Das Integral in (11.1.5) stellt ein Faltungsintegral dar und der Faltungssatz besagt, dass die Fourier-
Transformierte der Faltung zweier Funktionen gleich dem Produkt der Fourier-Transformierten
der beiden Originalfunktionen ist.
5
Hinweis: Selbst wenn P i (r′ , t ′ ), χ i j (⋃︀r − r′ ⋃︀, t − t ′ ) und E j (r, t) alle reell sind, können ihre Fourier-
Transformierten komplex sein.
6
L. D. Landau, I. M. Lifshitz, Statistical Physics, Addison-Wesley, Reading, MA (1980).
11.1 Makroskopische Elektrodynamik 577

Gleichung (11.1.11) folgt aus der Tatsache, dass є(r, t) eine reelle Funktion von Ort und Zeit
sein muss, und (11.1.12) folgt aus den Onsager-Beziehungen,7 die aus der Zeitumkehrsym-
metrie der zugrunde liegenden mikroskopischen Prozesse folgen.
In den meisten Problemen, die wir behandeln werden, wird die Wellenlänge der elektro-
magnetischen Welle wesentlich größer als der Gitterabstand oder andere relevante Längen-
skalen sein. In diesem Fall können wir den Wellenvektor q ≃ 0 setzen und wir werden die
dielektrische Funktion mit є(ω) abkürzen. Dies gilt für Licht bis weit in den UV-Bereich,
nicht aber für den Röntgenbereich. Wenn wir annehmen, dass є(q, ω) unabhängig von q ist,
ist die q-Abhängigkeit durch eine konstante Funktion gegeben, deren Fourier-Transformier-
te eine δ-Funktion ist. Das heißt, є(r, ω) ist proportional zu einer δ-Funktion und damit die
Reaktion des Festkörpers auf die äußere Störung lokal. Die dielektrische Verschiebung D(r)
hängt dann nur von dem lokal am Ort r wirkenden elektrischen Feld ab. Falls allerdings є
eine gewisse q-Abhängigkeit besitzt, bedeutet dies, dass seine Fourier-Transformierte von
r − r′ abhängt und die Antwort deshalb nichtlokal ist. Die є(q)-Abhängigkeit wird räumli-
che Dispersion genannt.

11.1.1.2 Elektrische Leiter


Wir erweitern unsere Diskussion jetzt auf elektrisch leitende Materialien. In solchen Fest-
körpern ist ein wesentlicher Aspekt der Wechselwirkung mit einem elektrischen Feld die
Erzeugung einer elektrischen Stromdichte. Diese Situation wurde bereits in Kapitel 9 und 10
für Metalle und Halbleiter behandelt und hat uns zu einer materialspezifischen elektrischen
Leitfähigkeit σ geführt. Genauso wie wir die Phänomene, die mit σ verbunden sind, als elek-
trische Transporteigenschaften bezeichnet haben, bezeichnen wir Phänomene, die mit є ver-
bunden sind, als dielektrische Eigenschaften. Während in einem Isolator also die Wirkung
des elektrischen Feldes in einer räumlichen Verschiebung von lokalen Ladungen und da-
mit in der Erzeugung einer endlichen Polarisation besteht, müssen wir in elektrisch leiten-
den Materialien zusätzlich die Erzeugung von elektrischen Strömen durch frei bewegliche
Ladungsträger berücksichtigen. Beiden Prozessen wird in den makroskopischen Maxwell-
Gleichungen durch die beiden Terme Rechnung getragen, die zu einem endlichen Wert von
∇ × H führen:
∂B
∇×E=− (11.1.13)
∂t
∂D
∇×H=J+ . (11.1.14)
∂t
Innerhalb des Gültigkeitsbereichs des Ohmschen Gesetzes können wir

J=σE (11.1.15)

schreiben. Gehen wir nun wiederum zu den Fourier-Komponenten über und benutzen die
Beziehung D(ω) = є 0 є(ω) E(ω), so können wir damit die Maxwell-Gleichung (11.1.14)

7
Lars Onsager, Reciprocal relations in irreversible processes I, Phys. Rev. 37, 405 (1931); Reciprocal
relations in irreversible processes II, Phys. Rev. 38, 2265 (1931).
578 11 Dielektrische Eigenschaften

schreiben als
∇ × H = σ(ω) E(ω) − ıωє 0 є(ω) E(ω) . (11.1.16)
Wir können nun formal eine frequenzabhängige verallgemeinerte Leitfähigkeit
̃
σ (ω) ≡ σ(ω) − ıωє 0 є(ω) (11.1.17)
definieren, die zusätzlich die dielektrischen Effekte berücksichtigt. Gleichung (11.1.14) kann
somit als
∇×H= ̃
σ (ω) E(ω) (11.1.18)
geschrieben werden. Andererseits können wir auch eine verallgemeinerte Dielektrizitäts-
konstante ̃
є(ω) benutzen und (11.1.14) schreiben als
∇ × H = −ıω є 0̃
є(ω) E(ω) , (11.1.19)
worin die verallgemeinerte Dielektrizitätskonstante gegeben ist durch

ıσ(ω)
̃
є(ω) = є(ω) + . (11.1.20)
є0 ω

In diesem Ausdruck werden Leitfähigkeits- und dielektrischen Phänomenen jeweils durch σ


und є Rechnung getragen. Wir werden später konkrete Fälle, wie z. B. ein System freier Elek-
tronen diskutieren.8

11.1.2 Kramers-Kronig-Relationen
Setzen wir voraus, dass die Feldstärke des elektrischen Feldes klein genug ist, so dass die
resultierende Polarisation eines Festkörpers linear von der elektrischen Feldstärke abhängt
(linear response), so beschreiben die Funktionen χ(ω) und є(ω) lineare Antwortfunktionen
eines Festkörpers auf ein externes elektrisches Feld. Es kann gezeigt werden, dass lineare
Antwortfunktionen wie χ(ω) oder є(ω) die Kramers-Kronig-Relationen9 , 10 erfüllen:

2 ω′ є i (ω′ )
є r (ω) − 1 = 𝒫∫ dω′ . (11.1.21)
π ω′ 2 − ω 2
0


2ω є r (ω′ )
є i (ω) = − 𝒫 ∫ dω′ . (11.1.22)
π ω′ 2 − ω 2
0

8
Es ist wichtig, sich klar zu machen, dass eine klare Unterscheidung zwischen freien und gebunde-
nen Ladungsträgern in zeitlich oszillierenden Feldern verwaschen wird. In beiden Fällen haben wir
es mit periodischen Verschiebungen von Ladungen zu tun. Nur für ω = 0 können wir das Verhalten
von freien und gebundenen Ladungen klar unterscheiden und eine Trennung von Phänomenen,
die σ bzw. є zugeordnet werden können, ist evident. Für zeitlich und räumlich variierende Felder
ist dies dagegen nicht mehr möglich.
9
R. de L. Kronig, On the theory of the dispersion of X-rays, J. Opt. Soc. Am. 12, 547556 (1926).
11.1 Makroskopische Elektrodynamik 579

Hierbei ist 𝒫 der so genannte Hauptwert des Integrals. Die Kramers-Kronig-Relationen stel-
len eine Beziehung zwischen dem Real- und Imaginärteil der dielektrischen Funktion her.
Sie können dazu benutzt werden, den einen Teil der dielektrischen Funktion zu berechnen,
wenn der andere Teil über einen weiten Spektralbereich gemessen wurde. Der Beweis der
Kramers-Kronig-Relationen basiert auf dem grundlegenden Prinzip der Kausalität, das be-
sagt, dass die Antwort eines Systems auf eine Störung zeitlich immer erst nach der Störung
erfolgen kann.

11.1.3 Absorption, Transmission und Reflexion


von elektromagnetischer Strahlung
Wir wollen in diesem Abschnitt kurz die Absorption, Transmission und Reflexion von elek-
tromagnetischen Wellen durch ein isolierendes Medium diskutieren und dabei eine Verbin-
dung zwischen den dielektrischen Eigenschaften eines Festkörpers und optischen Parame-
tern wie der Absorptionskonstanten oder dem Reflexions- und Transmissionskoeffizienten
herstellen.
In einem ungeladenen Festkörper ist ∇ ⋅ D = ρ = 0. Wir erhalten damit aus den Maxwell-
Gleichungen die Wellengleichung

∂2 E
∇2 E = µ 0 є 0 ̃
є , (11.1.23)
∂t 2
wobei µ 0 die magnetische Feldkonstante ist und wir µ = 1 (nicht-magnetisches Material) an-
genommen haben. Die allgemeine Permittivität ̃ є des Festkörpers enthält sowohl einen Real-
als auch Imaginärteil, wobei Letzterer die endliche Absorption berücksichtigt. Die komplexe
Permittivität ist mit dem komplexen Brechungsindex ̃ n über
⌋︂
̃
n(ω) = n(ω) + ıκ(ω) = ̃ є (11.1.24)

verknüpft, wobei wir n als Brechungsindex und κ als Extinktionskoeffizienten bezeichnen.


Es gilt weiter11

n2 − κ 2 = єr (11.1.25)
2nκ = є i . (11.1.26)

Mit ̃ n) ̃
n = n + ıκ und der Dispersionsrelation ω = (c⇑̃ k erhalten wir den komplexen Wel-
lenvektor
̃
k=̃
ω ω ω
n = n + ıκ = k r + ık i (11.1.27)
c c c
10
H. A. Kramers, La diffusion de la lumière par les atomes, Atti Cong. Intern. Fisica, Como, Bd. 2,
S. 545–557 (1927).
11
Das Vorzeichen von ıκ in (11.1.24) hängt davon ab, ob wir beim Ansatz der ebenen Welle eine in
+r- oder −r-Richtung abnehmende Wellenamplitude ansetzen. Beide Ansätze, n + ıκ und n − ıκ
sind gebräuchlich.
580 11 Dielektrische Eigenschaften

𝝎
𝒕 𝑬𝟎 𝐞𝐱𝐩 −𝜿 𝒙
𝒄
𝑬𝟎

Abb. 11.1: Reflexion, Transmissi- 𝒓 𝑬𝟎


on und Absorption einer elektro-
magnetischen Welle beim Auftref-
fen auf eine Festkörperoberfläche. 𝟎 𝒙

und damit als Lösung von (11.1.23) eine gedämpfte Welle (die Ausbreitungsgeschwindigkeit
wird in x-Richtung angenommen, siehe Abb. 11.1)
6

ω ω
E = E0 exp ]︀ı (n x − ωt){︀ exp (−κ x) . (11.1.28)
c c
Die Ausbreitungsgeschwindigkeit der Welle ist also im Medium auf c⇑n reduziert und ihre
Amplitude längs der Ausbreitungsrichtung um einen Faktor exp (−2πκ⇑n) pro Wellenlänge
λ = 2π⇑k = 2πc⇑nω gedämpft.
Um die Absorption elektromagnetischer Energie im betrachteten Medium zu berechnen,
benutzen wir die Maxwell-Gleichungen. Mit ∇ × H = ̃
σ (ω)E(ω) = J(ω) erhalten wir mit
der verallgemeinerten Leitfähigkeit (11.1.17)
ıσ
J(ω) = (σ − ıω є 0 є) E(ω) = −ıωє 0 ( + є) E(ω) = −ıωє 0̃
є E(ω)
ωє 0
= −ıωє 0 ̃
n 2 E(ω) . (11.1.29)
Die dissipierte Leistung ist durch den Realteil von J ⋅ E,
ω
R(J ⋅ E) = R(−ıωє 0 ̃
n 2 E2 ) = 2κnωє 0 E 02 exp (−2κ x) (11.1.30)
c
gegeben. Wir können nun den Absorptionskoeffizienten K als den Bruchteil der Energie de-
finieren, der beim Durchlaufen einer Materialschicht der Dicke 1 absorbiert wird. Er ist ge-
geben durch

2κ(ω) ω 4πκ 2κk є i (ω) ω


K(ω) = = = = . (11.1.31)
c nλ n nc
Diese Gleichung stellt einen besonders einfachen Zusammenhang zwischen einer experi-
mentell gemessenen Größe (der absorbierten Intensität) und den dielektrischen Eigenschaf-
ten eines Materials dar.
Üblicherweise wird die absorbierte Energie dadurch gemessen, dass man die durch ein Ma-
terial einer bestimmten Dicke transmittierte Intensität bestimmt. Abb. 11.2 zeigt als Bei-
spiel die Transmissionsspektren von OH-Radikalen, dem Spurengas SO2 , von Formalde-
hyd (HCHO) und von Naphthalin (C10 H8 ) im UV-Bereich um 308 nm. Solche Spektren
11.1 Makroskopische Elektrodynamik 581

OH
Transmission (rel. Einh.)

SO2

HCHO
Abb. 11.2: Transmissionsspektren von OH-
Radikalen, dem Spurengas SO2 , Formalde-
C10H8
hyd (HCHO) und Naphthalin (C10 H8 ) im
308.00 308.05 308.10 308.15 UV-Bereich um 308 nm (Quelle: Forschungs-
Wellenlänge (nm) zentrum Jülich).

werden z. B. zum Nachweis von Verunreinigungen in der Atmosphäre verwendet. Die Ab-
sorptionsmaxima (Minima in der Transmission) entsprechen Maxima in є i (ω). Messen wir
є i (ω) über einen weiten Frequenzbereich, so können wir mit Hilfe der Kramers-Kronig-
Relationen n(ω) berechnen.
Im Prinzip können wir auch durch die Messung der Reflektivität eines Festkörpers die dielek-
trische Funktion bestimmen. Allerdings besteht hierbei das Problem, dass in die Reflek-
tivität sowohl є r als auch є i eingehen. Eine Berechnung von є r und є i aus der gemessenen
Reflektivität alleine ist deshalb nur dann möglich, wenn wir diese über einen sehr weiten
Frequenzbereich messen und dadurch die Kramers-Kronig-Beziehungen benutzen können.
Im Allgemeinen ist die Reflexion und Transmission einer elektromagnetischen Welle an der
Oberfläche eines Festkörpers ein kompliziertes Problem der Optik.12 Die Reflexions- und
Transmissionsamplituden werden durch die Fresnelschen Gleichungen gegeben. Für den
einfachen Fall senkrechter Inzidenz gilt für die Transmissions- und Reflexionsamplituden
(siehe Abb. 11.1):
̃
n−1 2
r= , t =1−r = . (11.1.32)
̃
n+1 ̃
n+1
Der Anteil der reflektierten Intensität ist durch den Reflexionskoeffizienten

̃
n − 1 2 (n − 1)2 + κ 2
R = ⋀︀ ⋀︀ = (11.1.33)
̃
n+1 (n + 1)2 + κ 2

gegeben.

11.1.4 Das lokale elektrische Feld


Nur für den Fall eines einzelnen Atoms entspricht das von außen angelegte externe Feld auch
dem am Ort des Atoms wirkenden lokalen Feld. Gehen wir zu einem Festkörper mit einer
großen Zahl von Atomen über, so ist dies nicht mehr der Fall. Wir wollen hier kurz den
12
E. Hecht, Optik, Oldenbourg Wissenschaftsverlag, München (2009).
582 11 Dielektrische Eigenschaften

Zusammenhang zwischen lokalem Feld und externem Feld diskutieren. Ähnliche Überle-
gungen werden wir in Abschnitt 12.1.4 bei der Diskussion der magnetischen Eigenschaften
von Festkörpern machen.
In einem Festkörper ergibt sich das lokale elektrische Feld aus dem von außen angelegten
Feld und der Summe aller Dipolfelder13 der einzelnen Atome im Festkörper. Falls alle Dipole
in z-Richtung zeigen und den Betrag p i,e l pro Einheitszelle des betrachteten Festkörpers
haben, so ergibt sich die z-Komponente des Feldes aufgrund der Wirkung aller Dipole zu
1 3z 2i − r 2i
E z,lok = E z,ext + ∑ p i,e l . (11.1.34)
4πє 0 i r 5i
Hierbei läuft die Summe über alle Nachbarzellen. Die Summe lässt sich einfach für einen
kugelförmigen Festkörper mit homogener Polarisation (p i,e l = p e l ) auswerten. Legen wir
den Ursprung in den Mittelpunkt der Kugel, so erhalten wir für die z-Komponente des Feldes
3z 2i − r 2i 2z 2i − x i2 − y 2i
E z,dip = p el ∑ = p el ∑ . (11.1.35)
i 4πє 0 r 5i i 4πє 0 r 5i
Benutzen wir
x i2 y 2i z 2i 1 r 2i
pe l ∑ = p e l ∑ = p e l ∑ = p e l ∑ (11.1.36)
i r 5i 5
i ri
5
i ri 3 i ri
5

und setzen dies in (11.1.35) ein, so sehen wir, dass in diesem Fall die Summe verschwindet
und das lokale Feld im Zentrum der Kugel gleich dem makroskopischen Feld ist.
Leider liegt dieser einfache Fall im Experiment nicht vor. Die Annahme einer homogenen
Polarisation ist nämlich nur für Kugeln erfüllt, deren Durchmesser kleiner als die Wellen-
länge des elektromagnetischen Feldes ist. Wir können dieses einfache Beispiel aber trotzdem
verwenden. Wir können uns eine Kugel vorstellen, die aus dem betrachteten Festkörper her-
ausgeschnitten ist und in der die Polarisation homogen ist. Diese Kugel enthält immer noch
viele Einheitszellen des Festkörpers, ist aber kleiner als die Wellenlänge. Diese Anforderung
ist für sichtbares Licht leicht zu erfüllen. Der Beitrag der gedachten Kugel zum lokalen Feld
im Zentrum der Kugel ist gemäß der obigen Überlegung null.14 Wir müssen dann nur noch
den Beitrag des verbleibenden Festkörpers diskutieren. Für den Bereich außerhalb der ge-
dachten Kugel ist aber der Abstand zum Zentrum der Kugel genügend groß, so dass wir eine
kontinuierliche Verteilung der Dipole annehmen können und deshalb mit der makroskopi-
schen Polarisation P arbeiten können. Das Feld aufgrund dieser Polarisation können wir mit
induzierten Ladungen auf der Oberfläche der Kugel beschreiben (siehe Abb. 11.3a), deren
Ladungsdichte durch
ρ P = −P⊥ = ⧹︂
n ⋅ P = −P cos θ (11.1.37)
13
Der Ausdruck für das elektrische Dipolfeld lautet:
3(pel ⋅ r)r − r 2 pel
Edip = .
4πє 0 r 5
14
Hinweis: Dies gilt streng nur für Festkörper mit kubischer Umgebung. Allerdings kompensieren
sich auch für andere Kristallsymmetrien die Beiträge der benachbarten Atome weitgehend, so dass
der resultierende Feldbeitrag fast immer vernachlässigbar klein ist.
11.1 Makroskopische Elektrodynamik 583
Lorentz-Feld
(a) (b)
𝑬𝐞𝐱𝐭

𝑷
ෝ⋅𝑷=
𝒏
𝑷 𝑬𝐍
𝑷 𝐜𝐨𝐬 𝜽

𝜽

𝒏 𝑬𝐋
𝒂

Abb. 11.3: Zur Ursache des


Lorentz-Feldes E L (a) und des
Depolarisationsfeldes E N (b).

gegeben ist, das heißt, durch die Normalkomponente der Polarisation (⧹︂ n ist der auf der Ku-
geloberfläche senkrecht stehende Einheitsvektor). Dies entspricht dem allgemeinen Theo-
rem der Elektrodynamik, dass das elektrische Feld eines homogen polarisierten Festkörpers
dem Vakuumfeld einer effektiven Flächenladungsdichte ρ P = ⧹︂n ⋅ P auf der Oberfläche ent-
10

15
spricht.
Die Ladung dq, die in einem ringförmigen Oberflächenelement beim Winkel θ enthalten ist
(siehe Abb. 11.3a), ist gegeben durch

dq = −P cos θ ⋅ 2πa sin θ ⋅ a dθ . (11.1.38)

Ihr Beitrag zur z-Komponente des elektrischen Felds im Zentrum der fiktiven Kugel ist16

1 dq 1 dq
dE L,z = − ⧹︂
z ⋅ a⧹︂
n=− cos θ . (11.1.39)
4πє 0 a 3 4πє 0 a 2
Setzen wir dq aus (11.1.38) ein und integrieren über θ, erhalten wir das gesamte so genannte
Lorentz-Feld zu
π
P 1
E L,z = ∫ cos θ sin θ dθ =
2
P (11.1.40)
2є 0 3є 0
0

Das Lorentz-Feld resultiert also aus dem Feld der Polarisationsladungen auf der Innenseite
eines fiktiven kugelförmigen Hohlraums, in dessen Mittelpunkt sich das Bezugsatom befin-
det. Wir erhalten damit für das lokale elektrische Feld die Lorentz-Beziehung

P
Elok = Eext + . (11.1.41)
3є 0

15
Haben wir z. B. einen quaderförmigen Körper mit homogener Polarisation vorliegen, so können
wir uns das resultierende elektrische Feld durch eine positive und negative Flächenladung auf ge-
genüberliegenden Quaderseiten zustande gekommen denken.
16
Die x- und y-Komponente verschwinden aufgrund der Rotationssymmetrie um die z-Achse.
584 11 Dielektrische Eigenschaften

11.1.4.1 Depolarisationsfeld
Die Lorentz-Beziehung gilt nur für Probengeometrien, für die kein Entelektrisierungsfeld
oder Depolarisationsfeld EN auftritt. Um zu geometrieunabhängigen Beziehungen zu kom-
men, müssen wir zusätzlich zum Lorentz-Feld EL noch das Depolarisationsfeld EN berück-
sichtigen (siehe Abb. 11.3b), das durch die Ladungsdichte ⧹︂
n ⋅ P auf der Oberfläche des be-
trachteten Festkörpers zustande kommt. Bei der in Abb. 11.3b dargestellten Situation ist die
Probe homogen polarisiert und für das Depolarisationsfeld gilt
1
EN = − NP. (11.1.42)
є0
Hierbei ist N der aus der Elektrizitätslehre bekannte Depolarisations- oder Entelektrisie-
rungsfaktor. Für eine kugelförmige Probe ist N = 13 , so dass sich EL und EN gerade kom-
pensieren. Für eine dünne Scheibe senkrecht bzw. parallel zum elektrischen Feld ist N = 1
bzw. N = 0. Üblicherweise wird die Summe aus angelegtem elektrischem Feld Eext und dem
Depolarisationsfeld EN als makroskopisches Feld bezeichnet:
1
Emak = Eext + EN = Eext − NP. (11.1.43)
є0
Damit erhalten wir das lokale elektrische Feld zu

1 1
Elok = Eext + EN + EL = Emak + EL = Eext − NP+ P. (11.1.44)
є0 3є 0

11.2 Mikroskopische Theorie


der dielektrischen Funktion
Bei der Entwicklung einer mikroskopischen Beschreibung müssen wir die Wechselwirkung
eines externen elektromagnetischen Feldes mit dem Festkörper auf einer mikroskopischen
Ebene betrachten. Qualitativ können wir dabei folgende Unterscheidung vornehmen (siehe
hierzu Abb. 11.4):17

∎ dielektrische Festkörper:
Die Polarisation beruht hier einerseits darauf, dass die Elektronwolken der Gitteratome
in einem angelegten elektrischen Feld gegenüber den positiven Atomkernen eine Aus-
lenkung aus ihrer Gleichgewichtslage erfahren und dadurch elektrische Dipole entstehen
(siehe Abb. 11.4a). Die daraus resultierende Polarisation nennen wir auch elektronische
Polarisation. Andererseits werden in Ionenkristallen in einem angelegten elektrischen
17
Eine analoge Klassifizierung werden wir in Kapitel 12 für magnetischen Substanzen vornehmen,
wo wir zwischen diamagnetischen, paramagnetischen und ferro- bzw. antiferromagnetischen Sub-
stanzen unterscheiden werden.
11.2 Mikroskopische Theorie 585

M1 M2 M1 M2

(a) (b) (c)

Abb. 11.4: Zur Veranschaulichung der elektronischen, ionischen und Orientierungspolarisation.

Feld die positiven und negativen Ionen relativ zueinander verschoben (siehe Abb. 11.4b).
Die daraus resultierende Polarisation nennen wir ionische Polarisation. In beiden Fällen
ist mit der Auslenkung eine Rückstellkraft verbunden, die zu einer charakteristischen
Eigenfrequenz führt. Im einfachsten Fall kann die Situation mit dem Lorentzschen Os-
zillatormodell beschrieben werden, in dem man einen gedämpften Oszillator mit har-
monischem Antrieb (äußeres Feld) betrachtet. Aufgrund der kleinen Masse und hohen
Rückstellkräfte durch die atomaren elektrischen Felder spielt die elektronische Polarisati-
on bis zu Frequenzen oberhalb des Bereichs des sichtbaren Lichts eine Rolle. Die ionische
Polarisation verschwindet dagegen wegen der viel größeren Masse der Ionen im Bereich
des Infraroten.
Einen Spezialfall stellen Metalle dar, da wir hier zusätzlich zu den an die Atome gebun-
denen lokalisierten Elektronen die frei beweglichen, delokalisierten Ladungsträger be-
rücksichtigen müssen. Letztere erfahren nach einer Auslenkung durch ein elektrisches
Feld keine Rückstellkraft und die damit verbundene charakteristische Frequenz ist so-
mit null. Die dielektrischen Eigenschaften von Metallen werden wir deshalb getrennt in
Abschnitt 11.6 diskutieren.
∎ paraelektrische Festkörper:
Paraelektrische Substanzen enthalten bereits ohne anliegendes elektrisches Feld perma-
nente elektrische Dipole, die durch das äußere Feld nur noch ausgerichtet werden (sie-
he Abb. 11.4c). Wir sprechen hier von einer Orientierungspolarisation, die mit abneh-
mender Temperatur und zunehmender elektrischer Feldstärke zunimmt. Eine Orien-
tierungspolarisation lässt sich nur für Festkörper beobachten, die aus asymmetrischen
Molekülen aufgebaut sind. Beispiele hierfür sind Eismoleküle und Cyanidionen. Da die
Orientierungsvorgänge generell langsam sind, verschwindet die Orientierungspolarisa-
tion üblicherweise bereits im Mikrowellenbereich.
∎ ferro- und antiferroelektrischen Festkörper:
In diesen Materialien tritt unterhalb einer materialspezifischen Temperatur eine spon-
tane Polarisation auch ohne äußeres Feld auf. Ferroelektrizität werden wir später in Ab-
schnitt 11.8 diskutieren.

Die Gesamtpolarisation eines Festkörpers wird aus der Summe der verschiedenen Polari-
sationsbeiträge gebildet, deren physikalische Grundlagen wir in den folgenden Abschnitten
einzeln diskutieren werden. Wir werden in den Abschnitten 11.3 und 11.4 zunächst die elek-
tronische und ionische Polarisation von Isolatoren diskutieren. Anschließend werden wir in
Abschnitt 11.5 kurz auf die Orientierungspolarisation eingehen und damit eine allgemei-
ne Frequenzabhängigkeit der dielektrischen Funktion von Isolatoren angeben können. Wir
586 11 Dielektrische Eigenschaften

werden dann unsere Diskussion in Abschnitt 11.6 und 11.7 auf Metalle erweitern, wo wir
es zusätzlich mit frei beweglichen Ladungsträgern zu tun haben. Im abschließenden Ab-
schnitt 11.8 gehen wir auf ferroelektrische Festkörper ein.

11.3 Elektronische Polarisation


Durch die Wechselwirkung eines Festkörpers mit einem elektromagnetischen Feld kön-
nen Kristallelektronen angeregt werden. Dabei sind bei genügend hohen Frequenzen
nicht nur Intraband- sondern auch Interband-Übergänge möglich (siehe hierzu auch Ab-
schnitt 11.6.4). Bei Isolatoren liegen immer vollständig gefüllte Bänder vor, weshalb hier
nur Übergänge zwischen verschiedenen Bändern, also Interband-Übergänge möglich sind.
Bei Metallen oder Halbleitern sind dagegen auch Übergänge zwischen besetzten und unbe-
setzten Niveaus eines einzelnen Bandes, also Intraband-Übergänge möglich. Entsprechend
der diskreten Natur von erlaubten und verbotenen Energiebändern erwarten wir eine mehr
oder weniger diskrete Energieabhängigkeit der erlaubten Übergänge und damit der dielek-
trischen Funktion. Innerhalb der Tight-Binding-Näherung entsprechen dabei Interband-
Übergänge gerade Übergängen zwischen diskreten Energieniveaus einzelner Atome, die
durch den Überlapp der Wellenfunktionen im Festkörper zu Bändern verbreitert sind. Die
Aufgabe ist es nun, einen Zusammenhang zwischen der makroskopischen dielektrischen
Funktion є(ω) und dem Anregungsspektrum der Kristallelektronen herzustellen. Wir
werden dies hier zunächst für Isolatoren, bei denen nur Interband-Übergänge auftreten,
tun. Metalle und Halbleiter, bei denen auch Intraband-Übergänge möglich sind, werden wir
später in Abschnitt 11.6 diskutieren.
Wir werden unsere Betrachtung in Abschnitt 11.3.1 zunächst mit einem einfachen klas-
sischen Oszillatormodell beginnen, mit dem es Hendrik Antoon Lorentz18 bereits 1907
gelang, die elektronische Polarisation von Isolatoren qualitativ zu beschreiben. In Ab-
schnitt 11.3.2 werden wir dann mit Hilfe von zeitabhängiger Störungstheorie eine quan-
tenmechanische Beschreibung vornehmen, wobei wir die Übergangswahrscheinlichkeiten
zwischen verschiedenen Zuständen unter der Wirkung eines elektrischen Wechselfeldes
betrachten. Wir werden sowohl bei der klassischen als auch der quantenmechanischen
Betrachtung nur die Frequenzabhängigkeit der dielektrischen Funktion diskutieren und
die q-Abhängigkeit außer Acht lassen. Wie oben bereits diskutiert wurde, kann die q-Ab-
hängigkeit in der Tat bis in den UV-Bereich vernachlässigt werden, da die Wellenlänge
groß gegenüber den typischen Atomabständen ist. Wir werden später bei der Diskussion
der statischen Abschirmung in einem Elektronengas nochmals auf die q-Abhängigkeit
zurückkommen.

18
Hendrik Antoon Lorentz, geboren am 18. Juli 1853 in Arnheim, gestorben am 4. Februar 1928 in
Haarlem, Niederlande. Lorentz erhielt im Jahr 1902 zusammen mit Pieter Zeeman den Nobelpreis
für Physik für die Entdeckung und theoretische Erklärung des Zeeman-Effekts.
11.3 Elektronische Polarisation 587

11.3.1 Lorentzsches Oszillator-Modell


Im Lorentzschen Oszillatormodell werden die Elektronen als negative Ladungswolke be-
schrieben, die durch Wechselwirkung mit einem zeitabhängigen elektrischen Feld

E(t) = E0 e−ı ωt (11.3.1)

zu harmonischen Schwingungen angeregt wird. Nehmen wir an, dass ein aus seiner Ruhelage
in x-Richtung ausgelenktes Elektron mit Masse m und Ladung q = −e eine zu seiner Aus-
lenkung proportionale Rückstellkraft erfährt (vergleiche hierzu Abb. 11.4a), so können wir
die Dynamik der Elektronen mit der Bewegungsgleichung eines getriebenen harmonischen
Oszillators beschreiben:
d2x dx
m 2
+ mΓ + mω 20 x = −eE 0 e−ı ωt . (11.3.2)
dt dt
Hierbei ist ω 0 die Resonanzfrequenz des ungedämpften harmonischen Oszillators. Wir ha-
ben ferner einen Dämpfungsterm mit Dämpfungskonstante Γ eingeführt, da die Schwin-
gung des Elektrons durch Energieabstrahlung gedämpft wird. Die stationäre Lösung dieser
Differentialgleichung lautet
−e 1
x(t) = E 0 e−ı ωt . (11.3.3)
m ω 0 − ω 2 − ıΓω
2

Da mit der Auslenkung x ein elektrisches Dipolmoment p el = −ex verbunden ist und ferner
für das Dipolmoment allgemein19

pel = є 0 αE (11.3.4)

gilt, können wir eine frequenzabhängige Polarisierbarkeit α(ω) wie folgt definieren:

e2 1
α(ω) = . (11.3.5)
є 0 m ω 0 − ω 2 − ıΓω
2

Wenn wir nun n V = N⇑V unabhängige Atome pro Volumeneinheit haben, resultiert die
elektrische Polarisation

P = є 0 n V αE . (11.3.6)

Da zwischen P und E gleichzeitig die Beziehung P = є 0 χE besteht, folgt

χ(ω) = n V α(ω) (11.3.7)

19
Die Polarisierbarkeit α ist als Proportionalitätskonstante zwischen dem lokalen elektrischen Di-
polmoment und dem lokal wirkenden elektrischen Feld definiert. Wir werden später sehen, dass
im Allgemeinen das lokal wirkende elektrische Feld von dem von außen angelegten elektrischen
Feld abweicht. Die dielektrische Suszeptibilität χ ist dagegen als Proportionalitätskonstante zwi-
schen der Polarisation und dem von außen wirkenden makroskopischen elektrischen Feld E mak =
E ext + E N definiert.
588 11 Dielektrische Eigenschaften

und

є(ω) = 1 + χ(ω) = 1 + n V α(ω) . (11.3.8)

Setzen wir den Ausdruck (11.3.5) ein, so ergibt sich für die dielektrische Funktion der Zu-
sammenhang

nV e 2 1
є(ω) = 1 + . (11.3.9)
є 0 m (ω 0 − ω 2 ) − ıΓω
2

Wir können diesen Ausdruck in Real- und Imaginärteil zerlegen und erhalten damit für
є = є r + ıє i
nV e 2 ω 20 − ω 2
є r (ω) = 1 + (11.3.10)
є 0 m (ω 20 − ω 2 )2 + (Γω)2

nV e 2 Γω
є i (ω) = . (11.3.11)
є 0 m (ω 20 − ω 2 )2 + (Γω)2
Dieses Ergebnis ist in Abb. 11.6 dargestellt. Es entspricht dem Ausdruck (11.3.45), den wir
unten quantenmechanisch herleiten werden. Charakteristisch ist der Vorzeichenwechsel des
Realteils und das Maximum mit Halbwertsbreite 2Γ des Imaginärteils der dielektrischen
Funktion bei der Resonanzfrequenz ω 0 .
In realen Festkörpern treten natürlich immer mehrere Resonanzfrequenzen ω i k auf, die cha-
rakteristischen Übergängen zwischen elektronischen Zuständen ⋃︀ĩ︀ und ⋃︀k̃︀ entsprechen. Die
detailliertere Diskussion in Abschnitt 11.3.2 zeigt, dass wir die dielektrische Funktion eines
Festkörpers erhalten können, indem wir über alle auftretenden Oszillatoren mit charakteris-
tischen Frequenzen ω i k aufsummieren, wobei wir noch die so genannte Oszillatorstärke f i k
berücksichtigen müssen [vergleiche (11.3.45)]. Diese gibt an, wie wahrscheinlich Übergänge
zwischen den Zuständen ⋃︀ĩ︀ und ⋃︀k̃︀ sind.
Abschließend wollen wir noch darauf hinweisen, dass in der gerade durchgeführten Analy-
se angenommen wurde, dass auf jedes Atom das von außen angelegte elektrische Feld wirkt.
Wir werden in Abschnitt 11.1.4 sehen, dass dies nicht ganz richtig ist, da sich in einem Fest-
körper das auf ein Atom wirkende elektrische Feld aus der Summe des äußeren Feldes und
den Dipolfeldern der Nachbaratome ergibt. Diese Tatsache führt zu einer Verschiebung der
Resonanzfrequenz.

11.3.1.1 Klassische Abschätzung der elektronischen Polarisierbarkeit


Um die Größenordnung der elektronischen Polarisierbarkeit und der charakteristischen Fre-
quenzen abzuschätzen, können wir das Lorentzsche Oszillator-Modell verwenden. Hierzu
betrachten wir die in Abb. 11.4 gezeigte Situation einer homogen geladenen Kugelschale
mit Ladung −Ze und Masse Zm (m = Elektronenmasse, Z = Ladungszahl). Die Bewegungs-
gleichung für die gegenseitige Verschiebung der beiden Ladungsschwerpunkte lautet in die-
sem Fall bei Vernachlässigung der Dämpfung [vergleiche hierzu (11.3.2)]

Zmr̈ + kr = −ZeE 0 e−ı ωt . (11.3.12)


11.3 Elektronische Polarisation 589

Hierbei ist E 0 die lokal am Ort des Atomes wirkende elektrische Feldstärke. In harmonischer
Näherung können wir die Federkonstante durch k = Zmω 20 ausdrücken. Die obige Differen-
tialgleichung hat dann die Lösung

eE 0
r=− e−ı ωt = r 0 e−ı ωt . (11.3.13)
m(ω 20 − ω 2 )

Mit p el = −Zer folgt

Ze 2 E 0
p el = e−ı ωt = p 0 e−ı ωt . (11.3.14)
m(ω 20 − ω 2 )

Wir sehen, dass p 0 proportional zur lokal wirkenden Amplitude des elektrischen Feldes ist.
Da für das elektrische Dipolmoment allgemein p el = є 0 αE 0 gilt, erhalten wir

Ze 2 1
α(ω) = . (11.3.15)
є0 m ω0 − ω2
2

Dieser Ausdruck entspricht Gleichung (11.3.5), die wir mit dem Lorentzschen Oszillator-
modell abgeleitet haben. Wir sehen also, dass unsere einfache Überlegung auch die richtige
Frequenzabhängigkeit der Polarisierbarkeit ergibt.
Um E 0 abzuschätzen, können wir das Modell von Mossotti benutzen, der ein Atom als ge-
ladene Kugel mit σ = ∞ und Radius a angenommen hat. Da in diesem Fall E lok = 0 gelten
muss, erhalten wir20
P p el n V p el 1
E 0 = −E L = − =− =− 4 (11.3.16)
3є 0 3є 0 3є 0 3
πa 3

und damit p el ∼ є 0 E 0 ⋅ a 3 . Mit p el = є 0 αE 0 folgt schließlich α ∝ a 3 . In der Tat werden Werte


für α gemessen, die in der Größenordnung von 10−24 cm3 liegen, wie sie für a ≃ 10−8 cm
erwartet werden (siehe Tabelle 11.1). Lösen wir (11.3.15) nach ω 0 auf, so erhalten wir
}︂
Z
ħω 0 = × 10.5 eV . (11.3.17)
α(︀10 cm3 ⌋︀
−24

Damit liegt ħω 0 bei einigen eV, was Frequenzen im UV-Bereich entspricht.

Tabelle 11.1: Polarisierbarkeit von Atomen und Ionen.

Atom/Ion F− Cl− He Ne Ar Kr Xe Na+ K+ Rb+ Cs+


α (10−24 cm3 ) 1.2 3 0.205 0.396 1.64 2.48 4.04 0.147 0.81 1.35 2.34

20
Wegen σ = ∞ muss E∏︁ auf der Kugeloberfläche verschwinden. Die Feldverteilung entspricht dann
einer Überlagerung des homogenen externen Felds E ext und mit dem Feld von fiktiven Oberflä-
chenladungen auf einer Kugeloberfläche. Diese ergeben genau das Lorentz-Feld E L .
590 11 Dielektrische Eigenschaften

11.3.1.2 Clausius-Mossotti Gleichung


Wie bereits diskutiert wurde, entspricht nur für den Fall eines einzelnen Atoms das von au-
ßen angelegte externe Feld auch dem am Ort des Atoms wirkenden lokalen Feld. Wir müssen
deshalb in der vorangegangenen Betrachtung anstelle des makroskopischen Feldes das lokale
Feld verwenden. Setzen wir Elok = Emak + EL in (11.3.6) ein, so erhalten wir
1
P = є 0 n V αElok = є 0 n V α(Emak + EL ) = є 0 n V α (Emak + P) . (11.3.18)
3є 0
Auflösen nach P ergibt
nV α
P = є0 Emak . (11.3.19)
1 − 13 n V α

Vergleichen wir dies mit der Beziehung P = є 0 χEmak , so erhalten wir die elektrische Suszep-
tibilität
nV α
χ= (11.3.20)
1 − 13 n V α

und die dielektrische Funktion


nV α
є =1+ χ =1+ . (11.3.21)
1 − 13 n V α

Vergleichen wir dies mit dem oben abgeleiteten Ausdruck (11.3.8), є = 1 + n V α, so sehen
wir, dass (11.3.21) dem Ergebnis (11.3.8) entspricht, wenn 13 n V α ≪ 1. Dies trifft zwar für
ein verdünntes Gas zu, für das n V sehr klein ist, nicht aber für einen Festkörper. Lösen wir
(11.3.21) nach α auf, so erhalten wir die Clausius-Mossotti Beziehung 21 , 22

1 є−1
nV α = . (11.3.22)
3 є+2

Diese Beziehung kann dazu verwendet werden, aus der gemessenen dielektrischen Funktion
eine Aussage über die Polarisierbarkeit der Gitteratome zu gewinnen. Ferner kann dann bei
bekanntem äußeren Feld das lokale elektrische Feld berechnet werden.

11.3.2 Vertiefungsthema: Quantenmechanische Beschreibung


der elektronischen Polarisation
Wir werden zur Beschreibung der elektronischen Polarisation und der damit verbundenen
dielektrischen Funktion nun eine allgemeine quantenmechanische Betrachtung machen, bei
der wir die Wechselwirkung der Kristallelektronen mit dem angelegten elektrischen Feld

21
Rudolf Clausius, geboren am 2. Januar 1822 in Köslin, gestorben am 24. August 1888 in Bonn.
22
Ottaviano Fabrizio Mossotti, geboren am 18. April 1791 in Novara, gestorben am 20. März 1863
in Pisa, italienischer Physiker.
11.3 Elektronische Polarisation 591

mit Hilfe von zeitabhängiger Störungstheorie betrachten. Leider ist es dabei nicht möglich,
die Absorption mit einzubeziehen, da hier die Störung, d. h. das elektrische Feld, Energie
verliert. Wie in Kapitel 9 werden wir eine semiklassische Beschreibung verwenden, in der
das äußere Feld klassisch und die Kristallelektronen quantenmechanisch behandelt werden.
Wir gehen vom ungestörten Hamilton-Operator
⧹︂
p2
ℋ0 = + V (r) (11.3.23)
2m∗
für ein einzelnes Elektron im Festkörper aus. Hierbei ist ⧹︂
p = ħı ∇ der Impulsoperator. Gehen
wir zur Beschreibung der Bewegung der Ladung q = −e in einem elektromagnetischen Feld
über, so müssen wir den Impuls-Operator durch den Operator des kanonischen Impulses
ersetzen und erhalten (siehe hierzu Anhang D)
1
ℋ= (︀⧹︂
p + eA⌋︀ + V (r) .
2
(11.3.24)
2m∗
Hierbei haben wir die Coulomb-Eichung ϕ = 0 und ∇ ⋅ A = 0 verwendet. In dieser Eichung
ist E = −∂A⇑∂t und B = ∇ × A. Mit23
1 1 2 e e e2 2
(︀⧹︂
p + eA⌋︀
2
= ⧹︂
p + A ⋅ ⧹︂
p + ⧹︂
p ⋅ A + A (11.3.25)
2m∗ 2m∗ 2m∗ 2m∗ 2m∗
erhalten wir unter Benutzung von ∇ ⋅ A = 0 und Vernachlässigung des Terms in A2 (es wird
nur die lineare Antwort diskutiert)
e
ℋ = ℋ0 + ∗ A ⋅ ⧹︂p. (11.3.26)
m
Der zusätzliche Term
e
ℋr = A ⋅ ⧹︂
p (11.3.27)
m∗
beschreibt die Wechselwirkung zwischen der elektromagnetischen Strahlung und einem
Kristallelektron. Für die Wechselwirkung der Kristallelektronen mit dem elektrischen Feld
verwenden wir die Dipolnäherung (siehe Anhang F), in der der Wechselwirkungsopera-
tor (11.3.27) durch
ℋr = −e r ⋅ E (11.3.28)
ausgedrückt werden kann. Es ist ferner zweckmäßig, für das elektrische Feld E einen Fourier-
Ansatz der Form
E(t) = E0 (e ı ωt + e−ı ωt ) = 2E0 cos ωt (11.3.29)
zu verwenden, wobei wir die Ortsabhängigkeit vernachlässigen. Dies führt zum Störoperator
r ⋅ E0 (e ı ωt) + e−ı ωt ) und somit zur zeitabhängigen Schrödinger-Gleichung
ℋr = −e⧹︂

ħ2 2 ∂Ψ(r, t)
⌊︀− ∗
r ⋅ E0 (e ı ωt + e−ı ωt )}︀ Ψ(r, t) = ıħ
∇ + V (r) − e⧹︂ . (11.3.30)
2m ∂t
23
Es gilt (p ⋅ A) f (r) = A ⋅ ħı ∇ f + ( ħı ∇ ⋅ A) f = A ⋅ ħı ∇ f = (A ⋅ p) f (r), da ∇ ⋅ A = 0.
592 11 Dielektrische Eigenschaften

Für die Lösungen machen wir den Ansatz

Ψ(r, t) = ∑ c k (t) ϕ k (r) e−ıє k t⇑ħ (11.3.31)


k

mit den zeitabhängigen Koeffizienten c k (t). Wir können nun die Zeitableitung von Ψ(r, t)
durchführen und zusammen mit dem Ansatz (11.3.31) in die Schrödinger-Gleichung ein-
setzen. Betrachten wir einen beliebigen Zustand ϕ∗i (r) e+ıє i t⇑ħ , so können wir ein Matrixele-
ment mit der gesamten Schrödinger-Gleichung bilden, indem wir Gleichung (11.3.30) von
links mit ϕ∗i (r) e+ıє i t⇑ħ multiplizieren und über den gesamten Raum aufintegrieren. Dabei
nutzen wir die Orthonormalität der ungestörten Zustände ϕ k (r) aus (∫ ϕ∗i (r)ϕ k (r) dV =
δ i k ) und erhalten
dc k
ıħ = ∫ ϕ∗i (−e) r ⋅ E(t) ϕ k d 3 r c k (t) e ı(є i −є k )t⇑ħ . (11.3.32)
dt
Wir nehmen an, dass zum Zeitpunkt t = 0 das System im Zustand k sein soll und deshalb
c k (t = 0) = 1 und alle anderen Koeffizienten null sind. Die Lösung lautet dann
t
1
c k (t) = (−e) E 0 r i k ∫ (e ı ωt) + e−ı ωt ) e ı(є i −є k )t⇑ħ
ıħ
0

1 − e ı(ω i k −ω)t 1 − e ı(ω i k +ω)t


= (−e) E 0 r i k { − (︀ . (11.3.33)
ωik − ω ωik + ω

Hierbei haben wir ω i k = (є i − є k )⇑ħ benutzt. Die Größe

−e r i k = ∫ ϕ∗i (−er) ϕ k d 3 r (11.3.34)

ist das Matrixelements des Operators ⧹︂


pel = −e⧹︂
r des elektrischen Dipolmoments in der Rich-
tung des elektrischen Feldes E0 zwischen den Zuständen ϕ k und ϕ i .
Mit diesen Ausdrücken für die zeitabhängigen Entwicklungskoeffizienten können wir die
Erwartungswerte des elektrischen Dipolmoments für den gestörten Zustand berechnen. Ver-
nachlässigen wir dabei quadratische Terme in den Koeffizienten c k (t), so erhalten wir

∐︀−er(t)̃︀ = ∫ Ψ∗ (r, t) (−e) r(t) Ψ(r, t) d 3 r

= −er i i + ∑ {(−e) r i k c k (t) e−ı ω i k t + (−e) r ∗i k c ∗k (t) e ı ω i k t }


k

e2 1 1
= −er i i + ∑ ⋃︀r i k ⋃︀ {
2
+
ħ k ωik − ω ωik + ω
× E0 (e ı ωt + e−ı ωt + e ı ω i k t + e−ı ω i k t ) . (11.3.35)

Der erste Term in dieser Gleichung, −er i i , beschreibt den feldunabhängigen Beitrag zum
Dipolmoment, der allerdings für Systeme mit Inversionssymmetrie verschwindet (dieser
Term ist für ferroelektrische Materialien von Bedeutung). Der zweite Term ist linear im
11.3 Elektronische Polarisation 593

Feld und enthält eine Komponente, die mit der gleichen Frequenz wie das angelegte Feld
oszilliert. Dieser Term beschreibt die Polarisierbarkeit des Festkörpers. Die weitere linea-
re Komponente, die mit der Übergangsfrequenz ω i k oszilliert, kann in einem Experiment
nicht beobachtet werden, da im Experiment üblicherweise über viele Oszillationsperioden
von ω i k gemittelt wird.
Wir sehen, dass der Erwartungswert für das elektrische Dipolmoment proportional zum
angelegten Feld ist. Da für das Dipolmoment allgemein pel = є 0 αE gilt, können wir eine fre-
quenzabhängige Polarisierbarkeit α(ω) wie folgt definieren:

e 2 ⋃︀r i k ⋃︀2 2ω i k
α(ω) = ∑ . (11.3.36)
k є 0 ħ ω 2i k − ω 2

Vergleichen wir diesen Ausdruck mit (11.3.5), so sehen wir, dass für eine bestimmte Fre-
quenz ω i k das Atom nur einen Bruchteil f i k des Absorptionsvermögens eines klassischen
Oszillators hat. Es ist üblich, die Größe
2m∗
fik = ħω i k ⋃︀r i k ⋃︀2 (11.3.37)
ħ2
als die Oszillatorstärke des atomaren Übergangs zwischen Zustand ⋃︀ĩ︀ und ⋃︀k̃︀ zu definieren.
Summieren wir die Absorptionswahrscheinlichkeiten über alle möglichen Übergänge des
Atoms auf, so muss gerade das Absorptionsvermögen eines klassischen Oszillators heraus-
kommen. Das heißt, es muss ∑ i k f i k = 1 gelten.24 Damit ergibt sich

e2 fik
α(ω) = ∑ . (11.3.38)
k є 0 m∗ ω 2i k − ω 2

und damit

nV e 2 fik
є(ω) = 1 + n V α(ω) = 1 + ∑ . (11.3.39)
є 0 m∗ k ω 2i k − ω 2

Dieses Ergebnis für die dielektrische Funktion ist in Abb. 11.5 grafisch dargestellt. Wir sehen,
dass in der Nachbarschaft jeder Übergangsfrequenz ω i k ein Gebiet anomaler Dispersion vor-
liegt. Insbesondere wird hier є(ω) negativ und damit nach (11.1.20) der Brechungsindex ̃ n
rein imaginär, das heißt
⌋︂
n =0, κ= є. (11.3.40)

Nach (11.1.33) bedeutet dies, dass der Reflexionskoeffizient R = 1 wird, also Totalreflexion
auftritt.
Im Prinzip würde der Kristall bis ω = ω i k durchsichtig bleiben, dann plötzlich undurchsich-
tig und vollständig reflektierend werden und anschließend bei höheren Frequenzen wie-
der durchsichtig werden. Dieses Verhalten wäre aber nicht mit dem in Abschnitt 11.1 aus
24
Summenregel von Thomas, Reiche und Kuhn, siehe z. B. H. Friedrich, Theoretische Atomphysik,
Springer, Berlin, Heidelberg (1994).
594 11 Dielektrische Eigenschaften

4 𝝐(𝟎)
𝝎𝟏 𝝎𝟐

 ()
0

-4

Abb. 11.5: Dielektrische Funktion -8


0 1 2 3 4
aufgrund der elektronischen Polari-
sierbarkeit eines Isolators (ω 2 = 3ω 1 ).  / 1

14

einer makroskopischen Betrachtung abgeleiteten Verhalten konsistent. Es muss vielmehr


auch eine gewisse Absorption auftreten. Dies ist ein Aspekt der durch die zeitabhängige Stö-
rungsrechnung nicht berücksichtigt wird. Der aus der Störungsrechnung abgeleitete Aus-
druck (11.3.39) stellt nur den Realteil der dielektrischen Funktion dar. Um den Imaginärteil
der dielektrischen Funktion abzuleiten, der die Absorption beschreibt, benutzen wir die ana-
lytischen Eigenschaften der komplexen dielektrischen Funktion. Wir können nämlich, wenn
wir den Realteil є r (ω) kennen, den Imaginärteil є i (ω) über die Kramers-Kronig-Relationen
ableiten. Um die Dispersionsrelation (11.1.21) zu erfüllen, und die richtigen Dispersions-
terme in (11.3.39) zu erhalten, müssen wir

π nV e 2
2ω n(ω) κ(ω) = ∑ f i k δ(ω − ω i k ) (11.3.41)
2 є 0 m∗ k

setzen. Dies muss gerade der Imaginärteil der komplexen Dielektrizitätskonstante sein, die
dann insgesamt die Form

nV e 2 1
є(ω) = 1 + ∑ fik { 2 + ıπ δ(ω 2 − ω 2i k )(︀ (11.3.42)
є 0 m∗ k ω i k − ω2

hat. In der Praxis treten aber nie unendlich scharfe, wie durch (11.3.42) vorhergesagte Linien
auf, sondern es liegt vielmehr immer eine endliche Linienbreite aufgrund von Verunreini-
gungen oder einfach aufgrund der natürlichen Relaxation der Niveaus vor. Diese Effekte
können phänomenologisch in unsere Analyse einbezogen werden, indem wir in (11.3.33)
einen Zerfallsterm exp(−Γt⇑2) einführen, dem eine Zerfallszeit (des Amplitudenquadrats,
also der Intensität) der Größe 1⇑Γ entspricht.25 In den Ausdrücken (11.3.35) und (11.3.38)
führt das zu einem zusätzlichen Term von ıΓ⇑2, den wir zur Übergangsfrequenz addieren
müssen. Wenn wir Γ 2 gegenüber ω 2i k vernachlässigen (dies ist möglich, wenn die Breite der

25
Dies folgt einfach aus der Unschärfe-Relation ∆E ⋅ ∆t ≃ ħ. Eine endliche Linienbreite ∆E führt zu
∆t = 1⇑Γ ≃ ħ⇑∆E.
11.3 Elektronische Polarisation 595

4
r(), i()

𝟐𝚪𝟏

2 𝟐𝚪𝟐

0
𝝎𝟏 𝝎𝟐
-2

Abb. 11.6: Real- und Imaginärteil der


-4 dielektrische Funktion bei endlicher
0 1 2 3 4
Linienbreite (ω 2 = 3ω 1 , Γ1 ⇑ω 1 = 0.01,
 / 1 Γ2 ⇑ω 2 = 0.0016).
15

Niveaus klein gegenüber deren Abstand ist), erhalten wir für den Realteil der Polarisierbar-
keit und somit für den Realteil der dielektrischen Funktion Terme der Form
ω 2i k − ω 2
fik (11.3.43)
(ω 2i k − ω 2 )2 + ω 2 Γ 2
anstelle von f i k ⇑(ω 2i k − ω 2 ). Dies resultiert in der Beseitigung der Singularität in n bzw. є r
und einem Ausschmieren der Dispersionsfunktion über den Frequenzbereich der Breite
∼ 2Γ (siehe Abb. 11.6).
Es ist bekannt, dass die Wirkung der Relaxation auf die Absorptionslinie selbst in einer Ver-
breiterung der δ-Funktion auf eine endliche Funktion der Form
Γ⇑2π 2Γω 2 ⇑π
≃ (11.3.44)
(ω 2i k − ω ) + (Γ⇑2)
2 2 2 (ω i k − ω 2 )2 + Γ 2 ω 2
2

in der Nachbarschaft von ω = ω i k resultiert. Berücksichtigen wir dies, so erhalten wir den
(11.3.42) entsprechenden Ausdruck zu

nV e 2 ω 2i k − ω 2 Γi k ω
є(ω) = 1 + ∑ f { +ı 2 (︀
є 0 m∗ k (ω i k − ω 2 )2 + ω 2 Γi2k (ω i k − ω 2 )2 + ω 2 Γi2k
i k 2

nV e 2 1
=1+ ∑ fik 2 . (11.3.45)
є0 m k (ω i k − ω ) − ıωΓi k
2

Diese Funktion ist in Abb. 11.6 dargestellt. Sie entspricht Abb. 11.5, beinhaltet aber die Ef-
fekte einer endlichen Linienbreite. Gleichung (11.3.45) liefert einen phänomenologischen
Ausdruck der dielektrischen Funktion für solche Systeme, deren Absorptionsspektren aus
einer Serie von diskreten Linien besteht (vergleiche Abb. 11.2).
Im Allgemeinen ist die Berechnung des Absorptionsspektrums von Festkörpern schwie-
rig, da die Wahrscheinlichkeit eines bestimmten Übergangs nicht nur von dessen Oszilla-
torstärke, sondern auch von der Zustandsdichte der beteiligten Anfangs- und Endzustän-
de bestimmt wird. Die gemessenen Absorptionsspektren spiegeln deshalb die so genannte
596 11 Dielektrische Eigenschaften

kombinierte Zustandsdichte wider (vergleiche hierzu z. B. die optische Eigenschaften von


Halbleitern in Abschnitt 10.1.2). Weiter muss berücksichtigt werden, dass nicht nur direkte
Übergänge zwischen elektronischen Zuständen stattfinden, sondern auch Übergänge unter
Beteiligung von anderen Festkörperanregungen wie z. B. Phononen.

11.4 Ionische Polarisation


Bei der Diskussion der ionischen Polarisation müssen wir überlegen, wie die negativ und po-
sitiv geladenen Ionen in einem Ionenkristall gegeneinander schwingen. Solche Schwingun-
gen haben wir in Kapitel 5 ausführlich analysiert, als wir die optischen Phononen in einem
Kristallgittern mit einer zweiatomigen Basis diskutiert haben. Akustische Phononen füh-
ren zu keiner Polarisation, da hier die unterschiedlich geladenen Ionen in Phase schwingen.
In einem mikroskopischen Modell können wir die Wechselwirkung eines hochfrequenten
elektrischen Feldes mit den Ionen des Kristallgitters als Stoß zwischen Photonen und opti-
schen Phononen betrachten. Da bei einem solchen Stoßprozess die Impulserhaltung für den
Kristallimpuls gelten muss und der Impuls der Photonen sehr klein ist, können nur optische
Phononen mit q ≃ 0 teilnehmen. Da die Dispersionskurve für optische Phononen für q ≃ 0
fast horizontal verläuft, haben diese Phononen alle etwa die gleiche Frequenz.
Wir wiederholen zuerst kurz einige bereits in Kapitel 5 ausführlich diskutierten Eigenschaf-
ten der optischen Phononen für ein Gitter mit zweiatomiger Basis. Bei den dort gemachten
Überlegungen haben wir noch nicht berücksichtigt, dass die schwingenden Atome geladen
sein können und zu einer Polarisation führen. Für den langwelligen Grenzfall q = 0 erhielten
wir die Eigenfrequenz [vergleiche (5.2.36)]
}︂
1 1
ω op (q=0) = 2 f ( + ) (optisch) . (11.4.1)
M1 M2
Bei Ionenkristallen wie z. B. NaCl wird nun am Ort eines jeden Atoms durch die Verrückung
der Nachbaratome während der Gitterschwingung ein elektrisches Feld Elok erzeugt, wel-
ches zu einer zusätzlichen Kraft führt (siehe Abb. 11.7). Ist die Wellenzahl der Gitterschwin-
gung q ≃ 0 (langwelliger Grenzfall), das heißt, schwingen die kompletten Untergitter mit
positiven und negativen Ionen der Ladung q und der Massen M 1 und M 2 gegeneinander,
so erhalten wir anstelle der Bewegungsgleichungen (5.2.27) und (5.2.28) für die Auslenkun-
gen u1 und u2 der Untergitter die Bewegungsgleichungen26
∂ 2 u1
M1 + 2 f (u1 − u2 ) − qElok = 0 (11.4.2)
∂t 2
∂ 2 u2
M2 + 2 f (u2 − u1 ) + qElok = 0 . (11.4.3)
∂t 2
Dividieren wir (11.4.2) durch M 1 und (11.4.3) durch M 2 und subtrahieren wir anschließend
die zweite Gleichung von der ersten, so erhalten wir für die relative Verschiebung u = u1 − u2
26
Da wir den langwelligen Grenzfall q = 0 betrachten, ist die Auslenkung aller positiven und nega-
tiven Ionen gleich, das heißt, es gilt u n = u n+1 = u 1 und v n = v n−1 = v 1 .
11.4 Ionische Polarisation longitudinale optische Gitterschwingung 597

𝑴𝟏 𝒇 𝑴𝟐 𝒇 𝑴𝟏 𝒇 M2 𝒇 𝑴𝟏 𝒇 M2

𝒖𝟏 𝒖𝟐 𝒖𝟏 𝒖𝟐 𝒖𝟏 𝒖𝟐

𝑬lok

Abb. 11.7: Zur Entstehung der ionischen Polarisation. Für q = 0 erhalten wir eine gleichmäßige Ver-
schiebung der positiven Ionen nach rechts und der negativen Ionen nach links. Dies führt zu einem
lokalen Feld, das von rechts nach links gerichtet ist und zu einer Kraft qE lok auf die positiven Ionen
und zu einer Kraft −qE lok auf die negativen Ionen resultiert.

der beiden Untergitter die Differentialgleichung

∂2 u
µ + µω 20 u = qElok . (11.4.4)
22
∂t 2
Hierbei ist µ = M 1 M 2 ⇑(M 1 + M 2 ) die reduzierte Masse eines Ionenpaares und ω 0 ist die
Grenzfrequenz der optischen Schwingung für q = 0, wie sie aus (11.4.1) für neutrale Atome
erhalten wird.
Gleichung (11.4.4) entspricht der Differentialgleichung eines getriebenen harmonischen Os-
zillators. Fügen wir noch einen Dämpfungsterm hinzu, der die endliche Lebensdauer der
optischen Phononen berücksichtigt, so erhalten wir die Gleichung

∂2 u ∂u
µ + µΓ + µω 20 u = qElok , (11.4.5)
∂t 2 ∂t
die für das lokale Feld Elok (t) = E0 e ı ωt die stationäre Lösung
q 1
u(t) = E 0 e−ı ωt (11.4.6)
µ ω 0 − ω 2 − ıΓω
2

besitzt, die mit (11.3.3) übereinstimmt. Wir werden im Folgenden einige Lösungen dieser
Gleichung diskutieren.

11.4.1 Eigenschwingungen von Ionenkristallen


Wir betrachten zunächst den Fall freier Schwingungen, d. h. Eext = 0. Hierbei interessiert
uns vor allem, wie sich die Frequenz von longitudinalen und transversalen optischen Gitter-
schwingungen ändert, wenn wir berücksichtigen, dass die schwingenden Atome nicht neu-
tral sondern geladen sind.
Die Gesamtpolarisation eines Ionenkristalls mit einer zweiatomigen Basis ergibt sich aus der
elektronischen Polarisation der beiden Ionensorten mit elektronischer Polarisierbarkeit α el+
und α el− :

Pel = є 0 n V (α el+ + α el− ) Elok = є 0 n V α el Elok . (11.4.7)


598 11 Dielektrische Eigenschaften

(a) ++++++++++++++++++++++ (b) 𝑬𝐥𝐨𝐤


𝑷 𝑬𝐥𝐨𝐤
--------------------- 𝑷
--------------------- 𝝀 𝝀
++++++++++++++++++++++
++++++++++++++++++++++
---------------------
---------------------
++++++++++++++++++++++

Abb. 11.8: Zur Herleitung des lokalen elektrischen Feldes bei transversalen (TO) und longitudinalen
optischen (LO) Eigenschwingungen von Ionenkristallen. Gezeigt ist der langwellige Grenzfall, bei dem
jede Schicht der Dicke λ⇑2 eine große Zahl von Atomlagen enthält. In (a) ist aufgrund des Depolari-
sationsfeldes das lokale elektrische Feld antiparallel zur Polarisation. Zum Beispiel schwingen in der
obersten Schicht die positiven Ionen nach oben und die negativen nach unten, was zu einer Polarisa-
tion P ∝ qu führt, die nach oben gerichtet ist. Aufgrund des Depolarisationsfeldes ist aber das lokale
Feld von oben nach unten gerichtet, also antiparallel zur Polarisation. In (b) ist das Depolarisationsfeld
null und das lokale elektrische Feld ist parallel zur Polarisation. Rechts ist jeweils die Auslenkung der
positiven Ionen gezeigt.

Hierbei ist n V die Dichte der Ionenpaare. Da jedes einzelne Ionenpaar mit einem elektri-
schen Dipolmoment pion = qu1 − qu2 = qu zur Polarisation beiträgt, erhalten wir für die
ionische Polarisation
Pion = n V qu . (11.4.8) 23

Damit ergibt sich die Gesamtpolarisation des Ionenkristalls zu


P = є 0 n V α el Elok + n V qu . (11.4.9)
Wir müssen jetzt noch einen Ausdruck für das lokale elektrische Feld finden. Hierzu betrach-
ten wir Abb. 11.8, in der die Richtung der Polarisation P schematisch für eine longitudinale
und eine transversale optische Gitterschwingung dargestellt ist. In einer im Vergleich zur
Wellenlänge dünnen Schicht parallel zur Wellenfront können wir die Polarisation als homo-
gen betrachten. Bei einer longitudinalen Welle verläuft dabei die Polarisation senkrecht zu
der fiktiven Scheibe. Da der Depolarisationsfaktor hier N = 1 ist, erhalten wir das lokale Feld
zu
1 1 2
Elok = EN + EL = − P + P=− P. (11.4.10)
є0 3є 0 3є 0
Im Gegensatz dazu ist für die transversale Welle die Polarisation parallel zu der fiktiven
Scheibe und deshalb N = 0. Wir erhalten damit
1
Elok = EN + EL = + P. (11.4.11)
3є 0

11.4.1.1 Longitudinale Eigenschwingungen


Für die longitudinale Eigenschwingung erhalten wir durch Einsetzen von (11.4.10) in
(11.4.9)
2 2
Elok = − n V α el Elok − nV q u . (11.4.12)
3 3є 0
11.4 Ionische Polarisation 599

Da pion = є 0 α ion Elok und gleichzeitig pion = qu gilt, erhalten wir die ionische Polarisierbar-
keit zu α ion = qu⇑є 0 E lok . Im statischen Grenzfall ergibt sich ferner aus (11.4.4) u = qE lok ⇑µω 20
und damit für den statischen Wert von α ion
q2
α ion (0) = . (11.4.13)
є 0 ω 20 µ
Führen wir diesen Ausdruck in (11.4.12) ein und lösen nach Elok auf, so erhalten wir

1
2
n V α ion (0)
Elok = − µω 20 3 2 u. (11.4.14)
q 1 + 3 n V α el
Wir können nun diesen Ausdruck für das lokale elektrische Feld in die Differentialgleichung
(11.4.4) einsetzen und erhalten dadurch die Differentialgleichung einer freien Schwingung
mit der Eigenfrequenz

⧸︂ 2
n α (0)
ω L = ω 0 ⧸︂
⟩1 + 3 V ion
(11.4.15)
1 + 23 n V α el (0)

für die longitudinale Schwingung. Hierbei haben wir α el durch α el (0) ersetzt, da die typi-
sche Frequenz ω 0 von optischen Phononen im Bereich von 1014 Hz liegt. In diesem infra-
roten Spektralbereich hat die elektronische Polarisation bereits ihren statischen Grenzwert
erreicht.

11.4.1.2 Transversale Eigenschwingungen


Für die transversale optische Schwingung erhalten wir völlig analog mit Elok = 1
3є 0
P die Ei-
genfrequenz

⧸︂ 1
n α (0)
ω T = ω 0 ⧸︂
⟩1 − 3 V ion
. (11.4.16)
1 + 13 n V α el (0)

Wir sehen, dass bei Ionenkristallen die Eigenfrequenz einer longitudinalen optischen Git-
terschwingung höher und diejenige einer transversalen optischen Gitterschwingung niedri-
ger ist als die Eigenfrequenz ω 0 einer optischen Gitterschwingung neutraler Atome. Dies ist
sofort einsichtig. Bei der longitudinalen Schwingung ist das lokale elektrische Feld der Aus-
lenkung entgegengesetzt, wodurch dieses die rücktreibende Kraft verstärkt und somit das
Gitter „härter“ macht, was einer höheren Eigenfrequenz entspricht. Bei der transversalen
Schwingung ist dies genau umgekehrt.

11.4.1.3 Lyddane-Sachs-Teller-Relation
Wir können nun noch das Verhältnis von ω 2L und ω 2T betrachten. Wir erhalten dann den als
Lyddane-Sachs-Teller-Relation bekannten Ausdruck

ω 2L є(0)
= , (11.4.17)
ω 2T є stat
600 11 Dielektrische Eigenschaften

der das Verhältnis der Eigenfrequenzen der longitudinalen und transversalen optischen
Schwingungen bei q = 0 angibt. Hierbei sind

n V (︀α el (0) + α ion (0)⌋︀


є(0) = 1 + (11.4.18)
1 − 13 n V (︀α el (0) + α ion (0)⌋︀

die statische Dielektrizitätskonstante und


n V α el (0)
є stat = 1 + (11.4.19)
1 − 13 n V α el (0)

die Dielektrizitätskonstante für Frequenzen ω ≫ ω 0 (z. B. im sichtbaren Bereich), bei der wir
die ionische Polarisierbarkeit null setzen können, wir aber immer noch α el (0), also den sta-
tischen Grenzwert der elektronischen Polarisierbarkeit verwenden können, da die typischen
Eigenfrequenzen der elektronischen Prozesse im UV-Bereich liegen.
Eine interessante Konsequenz der LST-Relation ist die Tatsache, dass є(0) sehr groß wird,
wenn die Eigenfrequenz der transversalen optischen Gitterschwingung sehr klein wird. Wir
sprechen dann von weichen optischen Phononen. Diese sind für Ferroelektrika, die wir spä-
ter diskutieren werden, von großer Bedeutung.

11.4.2 Erzwungene Schwingungen von Ionenkristallen


Wir diskutieren nun durch äußere elektrische Felder erzwungene Gitterschwingungen in
Ionenkristallen. Aus dieser Betrachtung werden wir die optischen Eigenschaften von Ionen-
kristallen ableiten und das Verhalten von gekoppelten tranversalen elektrischen und Gitter-
schwingungen kennen lernen. Bevor wir erzwungene Schwingungen in Ionenkristallen im
Detail diskutieren, wollen wir eine allgemeine Betrachtung von longitudinalen und trans-
versalen Moden der Polarisation in einem dielektrischen Festkörper machen. Nehmen wir
an, dass die Atome eine Auslenkung u in x-Richtung erfahren, so stellt

PL = Px0 e ı(qx−ωt) (11.4.20)

eine longitudinale Polarisationswelle und

PT = Py0 e ı(qx−ωt) (11.4.21)

eine transversale Welle dar. Die longitudinale Welle muss die Bedingung

∇ × PL = 0 , ∇ ⋅ PL ≠ 0 (11.4.22)

erfüllen, während die transversale Welle der Bedingung

∇ × PT ≠ 0 , ∇ ⋅ PT = 0 (11.4.23)

genügen muss.
11.4 Ionische Polarisation 601

In einem dielektrischen Medium ohne Ladungsträger und sonstige Quellen einer Raumla-
dungsdichte ρ muss die Divergenz der dielektrischen Verschiebung verschwinden:
∇⋅P
∇ ⋅ D = ρ = є 0 є(ω) ∇ ⋅ E = є(ω) =0. (11.4.24)
є(ω) − 1

Da für eine longitudinale Welle aber ∇ ⋅ PL ≠ 0 gelten muss, kann (11.4.24) nur für

є(ω L ) = 0 (11.4.25)

erfüllt werden. Das heißt, eine longitudinale Schwingungsmode kann nur für eine Eigenfre-
quenz ω L existieren, für die die dielektrische Funktion verschwindet. Ferner ist das lokale
elektrische Feld antiparallel zur Polarisation gerichtet (siehe Abb. 11.8), d. h. der Feld- und
Polarisationsvektor sind genau um 180○ phasenverschoben. Solche longitudinalen Moden
können nicht mit transversalen elektromagnetischen Wellen wechselwirken und deshalb
nicht mit elektromagnetischer Strahlung angeregt werden. Eine Anregung der longitudi-
nalen Moden kann z. B. durch Beschuss mit hochenergetischen Elektronen erfolgen (siehe
hierzu Abschnitt 11.6.2).
Da die transversalen Moden an elektromagnetische Wellen koppeln, müssen wir bei ihrer
Diskussion von der Wellengleichung

∂2 E
∇2 E − µ 0 є 0 є(ω) =0 (11.4.26)
∂t 2
ausgehen. Da die Polarisation in diesem Fall proportional zum lokalen Feld ist, erhalten wir
als Lösungen ebene Wellen der Form

P = P0 e ı(q⋅r−ωt) (11.4.27)

mit der Dispersionsrelation

c2 2
ω2 = q =̃
c 2 q2 . (11.4.28)
є(ω)

11.4.2.1 Optisches Verhalten von Ionenkristallen


Wir haben im vorangegangenen Abschnitt gesehen, dass elektromagnetische Strahlung mit
den transversalen Polarisationsmoden eines Festkörpers, also seinen transversalen optischen
Gitterschwingungen wechselwirken kann. Dies ist aber nur dann möglich, wenn neben der
Frequenz (typischerweise 1013 Hz) die Wellenvektoren übereinstimmen, wenn also

qPhonon = kPhoton (11.4.29)

gilt. Für Frequenzen im infraroten Spektralbereich (1013 Hz) liegt der Wellenvektor von
Photonen im Bereich von 103 cm−1 , wogegen sich die Wellenzahl der Phononen bis etwa
108 cm−1 erstreckt. Es können deshalb nur solche Gitterschwingungen angeregt werden, die
unmittelbar im Zentrum der ersten Brillouin-Zone liegen (vergleiche hierzu die Diskussion
in Abschnitt 5.5). Wir werden deshalb zunächst nur den Fall q = 0 betrachten.
602 11 Dielektrische Eigenschaften

Für die erzwungene Schwingung müssen wir in der Differentialgleichung (11.4.4) das lokale
elektrische Feld jetzt
1
Elok = Eext + EL = Eext + P (11.4.30)
3є 0
anstelle von (11.4.11) verwenden. Setzen wir in diese Gleichung P = є 0 n V α el Elok + n V qu ein
q2
und verwenden ferner α ion (0) = є 0 ω 2 µ , so erhalten wir
0

1 2 3 n V α ion (0)
1
1
Elok = E + µω u. (11.4.31)
1 − 13 n V α el q 0 1 − 13 n V α el
ext

Setzen wir dieses lokale Feld wiederum in die Differentialgleichung (11.4.4) ein und verwen-
den den Ausdruck (11.4.16) für ω T , so ergibt sich

∂2 u q
µ + µω 2T u = Eext . (11.4.32)
∂t 2 1 − 3 n V α el (0)
1

Hierbei haben wir außerdem bereits den statischen Wert für die elektronische Polarisierbar-
keit benutzt. Für ein harmonisches externes elektrisches Feld der Frequenz ω erhalten wir
die Lösung
q 1 1
u= Eext . (11.4.33)
µ 1 − 3 n V α el (0) ω T − ω 2
1 2

Mit Pion = n V qu und dem allgemeinen Zusammenhang P = є 0 χEext erhalten wir für den
Beitrag der Ionen zur Suszeptibilität

n V q ⋃︀u⋃︀ nV q2 1 1
χ ion = = . (11.4.34)
є 0 ⋃︀Eext ⋃︀ є 0 µ 1 − 13 n V α el (0) ω 2T − ω 2

Führen wir den statischen Wert


nV q2 1 1
χ ion (0) = (11.4.35)
є 0 µ 1 − 13 n V α el (0) ω 2T

ein, so erhalten wir

ω 2T
χ ion = χ ion (0) . (11.4.36)
ω 2T− ω2

Für die gesamte dielektrische Funktion gilt

є(ω) = 1 + χ el (ω) + χ ion (ω) , (11.4.37)

wobei χ el (ω) der elektronische Beitrag ist. Für den statischen Wert können wir

є(0) = 1 + χ el (0) + χ ion (0) = є stat + χ ion (0) (11.4.38)


11.4 Ionische Polarisation 603
mit Dämpfung
8 16

𝝐 𝟎
4 8
𝝐stat

0 0

 i ( )
r ()

𝝎𝑻 𝝎𝑳

-4 -8 Abb. 11.9: Dielektrische Funktion


eines Ionenkristalls berechnet nach
Gleichung (11.4.41) für ω L = 1.5 ω T
-8 -16
und є stat = 1.5 und einer endlichen
0 1 2 3 Dämpfung Γ⇑ω T = 0.1, welche die
 / T Singularität bei ω⇑ω T = 1 beseitigt.
31

schreiben, wobei wir (11.4.19) verwendet haben. Wir können nun χ ion (0) durch є(0) und
є stat ersetzen und erhalten

(︀є(0) − є stat ⌋︀ ω 2T
є(ω) = 1 + χ el (ω) + . (11.4.39)
ω 2T − ω 2

Wir können uns nun nach oben auf den Frequenzbereich des sichtbaren Lichts beschränken
und deshalb 1 + χ el (ω) durch є stat ersetzen. Damit ergibt sich27

(︀є(0) − є stat ⌋︀ ω 2T
є(ω) = є stat + (11.4.40)
ω 2T − ω 2

und unter Benutzung der LST-Relation (11.4.17) schließlich

ω 2L − ω 2
є(ω) = є stat . (11.4.41)
ω 2T − ω 2

27
Für eine bessere Übereinstimmung mit dem Experiment ist es notwendig, einen Dämpfungsterm
einzuführen. Damit erhalten wir den Ausdruck
(︀є(0) − є stat ⌋︀ ω 2T
є(ω) = є stat + ,
(ω 2T − ω 2 ) − ıΓω
womit wir für den Real- und Imaginärteil der dielektrischen Funktion unter Benutzung der LST-
Relation
4 2 2 2
( ωω ) − ( ωω ) [︀1 + ( ωω L ) + ( ωΓ ) ⌉︀
T T T T
є r (ω) = є stat 4 2 2
1 + ( ωωT ) − 2( ωωT ) + ( ωΓT )
2
( ωω )( ωω L ) ( ωΓ ) − ( ωω )( ωΓ )
T T T T T
є i (ω) = є stat 4 2 2
1 + ( ωωT ) − 2( ωωT ) + ( ωΓT )

erhalten.
604 11 Dielektrische Eigenschaften

1.0

0.8

Totalreflexion
0.6

R ()
0.4

0.2
𝝎𝑻 𝝎𝑳
Abb. 11.10: Reflexionsvermögen ei-
nes Ionenkristalls berechnet nach 0.0
0 1 2 3 4
Gleichung (11.4.41) und (11.1.33)
für ω L = 1.5 ω T und є stat = 1.5.  / T
32

Diese Funktion (siehe hierzu Abb. 11.9) besitzt eine Singularität bei ω = ω T und eine Null-
stelle bei ω = ω L . Letzteres stimmt mit unserer allgemeinen Überlegung überein, dass eine
longitudinale Eigenmode nur für є(ω) = 0 auftreten kann. Für den Frequenzbereich ω T <
ω < ω L ist die dielektrische Funktion
⌈︂ negativ. Nach unserer Diskussion in Abschnitt 11.1.3
bedeutet dies, dass n = 0 und κ = ⋃︀є⋃︀. Der Reflexionskoeffizient ist nach (11.1.33) somit
R = 1. Wir erhalten also gemäß (11.1.28)
⌈︂
E = E0 e−ı ωt e− ⋃︀є⋃︀ ωc x
. (11.4.42)

Die elektromagnetische Welle kann nicht in den Festkörper eindringen, ⌋︂ sondern wird total-
reflektiert.28 Außerhalb des Frequenzbereichs ω T < ω < ω L ist n = є und κ ≃ 0, der Reflexi-
onskoeffizient ist also kleiner als eins. Das aus Abb. 11.9 bei Vernachlässigung der Dämpfung
erhaltene Reflexionsvermögen ist in Abb. 11.10 gezeigt.
Die dielektrische Funktion (11.4.41) beschreibt die experimentell gemessene Funktion noch
nicht ganz richtig, da wir bei unserer Analyse dissipative Effekte vernachlässigt haben (siehe
hierzu Fußnote auf S. 603). Dies können wir korrigieren, indem wir in der Differentialglei-
chung (11.4.4) einen Dämpfungsterm hinzufügen. Dadurch erhält die dielektrische Funk-
tion einen Imaginäranteil, der in der Nähe von ω T zu einer starken Strahlungsabsorption
und außerdem dazu führt, dass der Reflexionskoeffizient nicht mehr den maximalen Wert
eins erreicht. In Abb. 11.9 haben wir die endliche Dämpfung bereits berücksichtigt, wodurch
bei ω⇑ω T keine Singularität auftritt.
In Tabelle 11.2 sind die experimentell ermittelten Zahlenwerte für ω T , ω L , є(0) und є stat für
einige Materialien angegeben. Dabei wurde ω T aus den gemessenen Absorptionsspektren
bestimmt und ω L wurde mit Hilfe der LST-Relation aus ω T , є(0) und є stat ermittelt. Die
Dielektrizitätskonstante є(0) kann einfach mit Hilfe eines Plattenkondensators gemessenen
werden, während є stat üblicherweise durch Messung des Brechungsindex bestimmt wird. Die
28
Lassen wir breitbandige elektromagnetische Strahlung zwischen zwei dielektrischen Festkörpern
mehrmals hin- und herlaufen, so bleibt nur Strahlung aus dem Bereich ω T < ω < ω L übrig. Man
spricht deshalb von Reststrahlen.
11.4 Ionische Polarisation 605

Material є(0) єstat ωT (1013 Hz) ωL (1013 Hz) Tabelle 11.2: Dielektrizitäts-
LiF 8.9 1.9 5.8 12
konstanten є(0) und є stat
sowie Frequenzen der longi-
NaF 5.1 1.7 4.5 7.8 tudinalen und transversalen
KF 5.5 1.5 3.6 6.1 optischen Phononen bei
LiCl 12.0 2.7 3.6 7.5 300 K für einige dielektrische
NaCl 5.9 2.25 3.1 5.0 Festkörper.
KCl 4.85 2.1 2.7 4.0
LiBr 13.2 3.2 3.0 6.1
NaBr 6.4 2.6 2.5 3.9
KI 5.1 2.7 1.9 2.6
MgO 9.8 2.95 7.5 14
GaAs 12.9 10.9 5.1 5.5
InAs 14.9 12.3 4.1 4.5
GaP 10.7 8.5 6.9 7.6
InP 12.4 9.6 5.7 6.5
C 5.5 5.5 25.1 25.1
Si 11.7 11.7 9.9 9.9
Ge 15.8 15.8 5.7 5.7

mit Hilfe der LST-Relation bestimmten Werte von ω L stimmen sehr gut mit den durch in-
elastische Neutronenbeugung direkt erhaltenen Werten von ω L überein. Die Abweichungen
liegen meist nur im Prozentbereich.

11.4.2.2 Polaritonen
Wir haben im vorangegangenen Abschnitt gesehen, dass transversale elektromagnetische
Wellen transversale optische Gitterschwingungen anregen können, wenn Frequenz und Wel-
lenvektor übereinstimmen. Wir haben aber unsere Diskussion dann auf q ≃ 0 beschränkt.
Wir erweitern nun unsere Betrachtung auf q > 0. Dies können wir dadurch tun, dass wir
die in (11.4.41) angegebene dielektrische Funktion in die allgemeine Dispersionsrelation
(11.4.28) einsetzen. Wir erhalten dann
є stat ω 2L − ω 2 2
q2 = ω . (11.4.43)
c 2 ω 2T − ω 2

In Abb. 11.11 ist die sich daraus ergebende Dispersionsrelation ω(q) dargestellt. Ebenfalls
eingezeichnet sind die Dispersionsrelationen von Photonen und optischen Phononen. Da
die Dispersion von Photonen sehr steil verläuft und wir uns deshalb nahe am Zentrum
der Brillouin-Zone befinden, wurde für die optischen Phononen ω(q) = const angenom-
men. Wir erhalten aus (11.4.43) zwei Dispersionszweige, die durch eine Frequenzlücke zwi-
schen ω T und ω L voneinander getrennt sind. In diesem Frequenzbereich erlaubt (11.4.43)
keine Lösung mit reellen Werten für ω und q. Im Bereich, in dem Frequenz und Wellen-
vektor von Photonen und Phononen gut übereinstimmen, liegt eine starke Kopplung von
Photon und Phonon vor und wir erhalten eine neue, aus Photon und Phonon zusammenge-
setzte Anregung, die Polariton genannt wird. Entfernen wir uns von diesem Bereich, liegen
wieder getrennte Anregungen (Photonen und Phononen) mit ihren jeweiligen Dispersions-
606 11 Dielektrische Eigenschaften

3
𝝎 = 𝒄𝒒/ 𝝐𝐬𝐭𝐚𝐭
Abb. 11.11: Dispersionsrelation von
Polaritonen berechnet nach (11.4.43)

 / T
für ω L = 1.5 ω T . Gestrichelt einge- 2 Phonon-
zeichnet sind die Dispersionskur- artig 𝝎 = 𝒄𝒒/ 𝝐(𝟎)
ven für die optischen Phononen, L
die in dem gezeigten kleinen Be- verbotener Frequenzbereich
1
reich nahe q = 0 etwa horizontal
verlaufen. Die gepunkteten Gera-
T Phonon-artig

den zeigen die Dispersion für die


Photonen mit unterschiedlichen 0
0 1 2 3 4
Ausbreitungsgeschwindigkeiten 1/2
im Bereich ω ≪ ω T und ω ≫ ω L . cq / T(stat)

relationen vor. Für die untere Dispersionskurve folgt für ω ≪ ω T

є stat ω 2L 2
q2 = ω . (11.4.44)
c 2 ω 2T

Verwenden wir die LST-Relation, so ergibt sich


c
ω = ⌈︂ q. (11.4.45)
є(0)

⌈︂ entspricht der Dispersionsrelation von Photonen mit der Ausbreitungsgeschwindigkeit


Dies
c⇑ є(0). Die Kopplung an ein transversales optisches Phonon ist hier nicht möglich, da bei
gleicher Wellenzahl die Frequenz des Photons zu klein ist.
Für die obere Dispersionskurve folgt für ω ≫ ω L
c
ω = ⌋︂ q. (11.4.46)
є stat

Dies entspricht der Dispersionsrelation von Photonen mit der Ausbreitungsgeschwindigkeit


⌋︂
c⇑ є stat .

11.5 Orientierungspolarisation
11.5.1 Statische Polarisation
In paraelektrischen Substanzen liegen auch ohne elektrisches Feld elektrische Dipole vor.
Diese sind ohne äußeres Feld völlig ungeordnet und werden durch Anlegen eines externen
11.5 Orientierungspolarisation 607

Felds ausgerichtet. In einem Gas wirkt der Ausrichtung vorhandener Dipole nur die Tempe-
raturbewegung entgegen. Bei einem Festkörper ist dies komplizierter, da hier auch Gitter-
kräfte der Umorientierung von Dipolen entgegenwirken können. Ein Dipol kann zum Bei-
spiel aufgrund eines Kristallfeldes für verschiedenen Orientierungen unterschiedliche po-
tenzielle Energie besitzen. Der Einfluss der Gitterkräfte ist üblicherweise in verschiedenen
Festkörpern unterschiedlich stark und kann nicht allgemein angegeben werden. Nur wenn
die thermische Energie k B T größer ist als die durch das Kristallfeld bewirkten Unterschiede
der Dipolenergie, kann ein einfacher Zusammenhang zwischen der statischen elektrischen
Suszeptibilität eines paraelektrischen Festkörpers und seiner Temperatur angegeben werden.
Dieser Zusammenhang kann ganz analog zum Langevinschen Paramagnetismus abgeleitet
werden. Die potenzielle Energie eines elektrischen Dipolmoments in einem statischen elek-
trischen Feld ist gegeben durch

E pot = −pdip ⋅ E = −p dip E cos θ , (11.5.1)

wobei θ der Winkel zwischen Dipolmoment und elektrischem Feld ist. Für p dip E ≪ k B T
können die Dipole nur partiell ausgerichtet werden. Sind sie frei beweglich, so lässt
sich der Mittelwert der Kosinusfunktion wie beim Paramagnetismus (vergleiche hierzu
Abschnitt 12.3.5) zu ∐︀cos θ̃︀ = p dip E⇑3k B T berechnen. Damit erhalten wir die Langevin-
Debye-Beziehung

Pdip = є 0 χ dip E ≃ n V p dip ∐︀cos θ̃︀ ⧹︂


E (11.5.2)

und damit

C p2dip
χ dip = mit C = nV . (11.5.3)
T 3є 0 k B

Hierbei ist ⧹︂
E der Einheitsvektor in Feldrichtung. Der Zusammenhang (11.5.3) entspricht
dem Curieschen Gesetz für die magnetische Suszeptibilität paramagnetischer Substanzen
(vergleiche Abschnitt 12.3.5).
In Festkörpern können die elektrischen Dipolmomente üblicherweise nicht frei rotieren. Sie
nehmen vielmehr bevorzugte Orientierungen ein. Nehmen wir an, dass nur zwei bevorzug-
te Orientierungen vorliegen, so erhalten wir für die Polarisation einen zur Magnetisierung
eines Spin-1⇑2-Systems äquivalenten Ausdruck (vergleiche hierzu Abschnitt 12.3.5):
2
p dip E n V p dip E
Pdip = nv p dip tanh ≃ . (11.5.4)
kB T kB T
Hierbei gilt die Näherung nur für p dip E ≪ k B T, da wir in diesem Fall die tanh-Funktion
durch ihr Argument nähern können. Für die Suszeptibilität ergibt sich daraus

C p2dip
χ dip ≃ mit C = nV . (11.5.5)
T є0 kB
Wir sehen, dass dieses Ergebnis bis auf den Faktor 1⇑3 mit dem Ausdruck für frei rotierbare
Dipole übereinstimmt.
608 11 Dielektrische Eigenschaften

11.5.2 Frequenzabhängige Polarisation


Wir diskutieren im Folgenden die Orientierungspolarisation in einem Wechselfeld. Hier
bestimmt die Dynamik der Orientierungsprozesse die frequenzabhängige Suszeptibi-
lität χ dip (ω). Da die permanenten Dipole nicht beliebig schnell umorientiert werden
können, erwarten wir, dass χ dip (ω) mit zunehmender Frequenz abnimmt. Um der Träg-
heit der Dipolmomente Rechnung zu tragen, führen wir eine charakteristische Zeit τ ein,
innerhalb derer sich ein Dipol nach Abschalten eines äußeren Feldes wieder umorientiert.
Diesen Relaxationsprozess beschreiben wir durch die Differentialgleichung

dPdip Pdip (0) e−ı ωt − Pdip (ω)


= . (11.5.6)
dt τ
Hierbei ist Pdip (0) die statische Orientierungspolarisation, die wir für ω → 0 erhalten, und
Pdip (0) e−ı ωt derjenige Wert, den Pdip bei verschwindend kleiner Relaxationszeit τ in ei-
nem Wechselfeld annehmen würde. Gleichung (11.5.6) besagt, dass die zeitliche Änderung
dPdip ⇑dt umso größer ist, je größer die Abweichung des tatsächlichen Werts Pdip (ω) vom
idealen Wert Pdip (0) e−ı ωt bei verschwindend kleiner Relaxationszeit und je kleiner die Re-
laxationszeit τ ist. Würden wir zum Beispiel zur Zeit t = 0 sprungartig ein elektrisches Feld
anlegen, so würde die Polarisation gemäß P(t) = Pdip (︀1 − exp(−t⇑τ)⌋︀ exponentiell anstei-
gen, bis der dem angelegten Feld entsprechende neue Gleichgewichtswert Pdip erreicht ist.
Mit dem Ansatz

Pdip (ω) = є 0 )︀χ dip


r
(ω) + ı χ dip
i
(ω)⌈︀ E0 e−ı ωt (11.5.7)

und der statischen Polarisation

Pdip (0) = є 0 χ dip (0) E0 (11.5.8)

erhalten wir durch Einsetzen in (11.5.6)

χ dip (0) − )︀χ dip


r
(ω) + ı χ dip
i
(ω)⌈︀
−ıω )︀χ dip
r
(ω) + ı χ dip
i
(ω)⌈︀ = . (11.5.9)
τ

Für den Real- und Imaginärteil von χ dip (ω) ergeben sich daraus die so genannten Debye-
schen Formeln
1
r
χ dip (ω) = χ dip (0) (11.5.10)
1 + ω2 τ 2
ωτ
i
χ dip (ω) = χ dip (0) . (11.5.11)
1 + ω2 τ 2
In Abb. 11.12 sind diese Abhängigkeiten auf einer logarithmischen Frequenzskala aufgetra-
gen. Für ωτ ≪ 1 können die elektrischen Dipole dem angelegten elektrischen Feld instantan
ohne Phasenverzögerung folgen und wir erhalten χ dip r
(ω) = χ dip (0). Ferner ist χ dip
i
(ω) = 0,
d. h. die dielektrischen Verluste sind verschwindend klein. Mit steigender Frequenz nimmt
r
dann χ dip (ω) kontinuierlich ab und χ dip
i
(ω) gleichzeitig zu. Bei ωτ = 1 ist χ dip
r
(ω) auf 1⇑2
11.5 Orientierungspolarisation 609

1.0

χdip /χdip(0)
r

0.8
χdip /χdip(0) χdip /χdip(0)

0.6
i

χdip /χdip(0)
i
0.4

0.2
r

0.0
Abb. 11.12: Real- und Imaginärteil
0.01 0.1 1 10 100 der elektrischen Suszeptibilität durch
ωτ Orientierungspolarisation.

i
abgefallen und χ dip (ω) hat ein Maximum, d. h. die dielektrischen Verluste sind hier maxi-
mal. Für ωτ ≫ 1 gehen sowohl χ dip
r
(ω) als auch χ dip
i
(ω) gegen null. Hier können die Perma-
nentdipole der schnellen Änderung des elektrischen Feldes nicht folgen und werden deshalb
überhaupt nicht mehr ausgerichtet.
Wir haben oben bereits festgestellt, dass ein elektrischer Dipol zum Beispiel aufgrund eines
Kristallfeldes für verschiedene Orientierungen unterschiedliche potenzielle Energie besitzen
kann. Stellen wir uns die Abhängigkeit der potenziellen Energie vom Orientierungswinkel
in einfachster Näherung als Kosinus-Funktion mit Amplitude E A ⇑2 vor, so müssen wir bei
einer Umorientierung eines elektrischen Dipolmoments eine Potenzialbarriere der Höhe E A
überwinden. Die zugehörige Rate können wir ausdrücken durch
1 1 −E A ⇑k B T
= e . (11.5.12)
τ τ0
Sie nimmt exponentiell mit höher werdender Potenzialbarriere ab. Für die charakteristi-
sche Versuchsfrequenz 1⇑τ 0 können wir die Debye-Frequenz verwenden, da die Moleküle
bzw. Atome in den Potenzialmulden mit dieser Frequenz schwingen. Verwenden wir für die
Debye-Frequenz den typischen Wert von 1014 s−1 , so erhalten wir für eine Potenzialbarriere
von etwa 300 mV die Relaxationsrate 1⇑τ = 109 s−1 .
Aufgrund der exponentiellen Abhängigkeit von der Temperatur und der Höhe der Poten-
zialbarriere kann die Relaxationsrate 1⇑τ der Orientierungspolarisation Werte über einen
weiten Bereich annehmen. Typische Werte liegen im Bereich zwischen 108 bis 1010 Hz und
damit üblicherweise weit unterhalb der charakteristischen Frequenzen ω T und ω L der opti-
schen Phononen (∼ 1013 − 1014 Hz). Diese liegen wiederum weit unterhalb der charakteris-
tischen Frequenzen ω i k der elektronischen Polarisation (∼ 1016 Hz). Die gesamte dielektri-
sche Funktion eines paraelektrischen Ionenkristalls, in dem alle drei Polarisationsprozesse
zum Tragen kommen, erhalten wir dadurch, dass wir die drei Beiträge einfach aufsummie-
ren. Wir erhalten dann insgesamt den in Abb. 11.13 gezeigten charakteristischen Verlauf der
dielektrischen Funktion.
610 11 Dielektrische Eigenschaften

11.6 Dielektrische Eigenschaften von Metallen


und Halbleitern
Wir haben bei den einleitenden Bemerkungen in Abschnitt 11.3 bereits darauf hingewie-
sen, dass bei Metallen und Halbleitern im Gegensatz zu Isolatoren durch die Wirkung eines
elektromagnetischen Feldes nicht nur Interband-, sondern auch Intraband-Übergänge, al-
so Übergänge zwischen besetzten und unbesetzten Zuständen desselben Bandes auftreten.
Klassisch kann ein Intraband-Übergang als Beschleunigung eines Ladungsträgers durch das
elektrische Wechselfeld der einfallenden Strahlung aufgefasst werden. Ein wichtiger Unter-
schied bei der Wechselwirkung eines elektromagnetischen Feldes mit Elektronen in Metallen
und Isolatoren ist, dass für die Leitungelektronen in Metallen keine Rückstellkräfte auftreten,
da wir es mit quasi-freien Elektronen zu tun haben. Die durch das periodische Kristallpo-
tenzial bedingten Kräfte werden durch eine effektive Elektronenmasse m∗ berücksichtigt.
Natürlich sind nicht alle Elektronen in Metallen frei. Für die an die Ionenrümpfe gebunde-
nen Elektronen können wir eine völlig analoge Betrachtung wie in Abschnitt 11.3 machen.
Wir müssen hier jetzt noch den Beitrag der freien Elektronen zur dielektrischen Funktion
diskutieren.

11.6.1 Dielektrische Funktion eines freien Elektronengases


Wir betrachten zuerst ein freies Elektronengas unter der Wirkung eines elektrischen Wech-
selfeldes im Grenzfall großer Wellenlängen (q → 0). Die Bewegung der Leitungselektronen
können wir durch folgende einfache Bewegungsgleichung beschreiben:

d 2 x m∗ dx
m∗ + = −eE 0 e−ı ωt . (11.6.1)
dt 2 τ dt

6
𝟏/𝝉
𝝌dip 𝟎
4

𝝌𝐢𝐨𝐧 𝟎

2
𝝌𝐞𝐥 𝟎
Abb. 11.13: Schematischer Ver-
lauf der Frequenzabhängig- 1
keit der dielektrischen Funk- 0
tion für einen paraelektri- 𝝎𝑻 𝝎𝑳
schen Ionenkristall mit 1⇑τ =
1010 Hz, ω T = 1014 Hz, ω L = -2
8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18
1.5 × 1014 Hz, ω i k = 1016 Hz, 10 10 10 10 10 10 10 10 10 10 10
χ dip (0) = 3 und є stat = 1.5. (Hz)
38
11.6 Dielektrische Eigenschaften von Metallen und Halbleitern 611

Hierbei ist x die homogene Auslenkung der Elektronen in x-Richtung gegenüber den positi-
ven Ionenrümpfen. Der Term auf der rechten Seite beschreibt die antreibende Kraft, der ers-
te Term auf der linken Seite den Trägheitsterm und der zweite einen Reibungs- bzw. Dämp-
fungsterm. Dieser kommt durch die Stoßprozesse der Elektronen mit der mittleren Stoßzeit τ
zustande. Da wir es mit vollkommen freien Elektronen zu tun haben, fehlt die Rückstellkraft
kx = m∗ ω 20 x, die zu einer charakteristischen Schwingungsfrequenz ω 0 führen würde.
Gleichung (11.6.1) hat die Lösung
e 1
x(t) = ∗
E 0 e−ı ωt . (11.6.2)
m ω (ω + ı 1τ )

Die sich aus der Verschiebung x(t) der Leitungselektronen relativ zu den positiven Ionen-
rümpfen ergebende Polarisation ist

nV e 2 1
PL (t) = −en V x(t) = − ∗
E 0 e−ı ωt . (11.6.3)
m ω (ω + ı 1τ )

Hierbei ist n V die Dichte der Leitungselektronen. Für den Beitrag der Leitungelektronen zur
elektrischen Suszeptibilität erhalten wir damit

PL nV e 2 1
χ L (ω) = =− ∗
. (11.6.4)
є0 E є 0 m ω (ω + ı 1τ )

Die gesamte dielektrische Funktion eines Metalls erhalten wir als Summe aus dem Beitrag
der gebundenen und vollkommen freien Elektronen zu

є(ω) = 1 + χ el (ω) + χ L (ω) = є el (ω) + χ L (ω) . (11.6.5)

Hierbei ist є el der Beitrag der an die Ionenrümpfe gebundenen Elektronen, der durch
(11.3.45) gegeben ist.29 Setzen wir (11.6.4) in (11.6.5) ein, so erhalten wir
⎨ ⎬
⎝ nV e 2 1 ⎠
є(ω) = є el (ω) ⎝1 − ⎠
⎝ (ω)m ∗ 1 ⎠
ω (ω + ı τ ) ⎮
⎪ є є
0 el

1− ı
= є el (ω) ⌊︀1 − ω 2p τ 2 ωτ
}︀ . (11.6.6)
1+ ω2 τ 2

Hierbei ist
}︂ }︂
nV e 2 σ(0)
ωp = = (11.6.7)
є 0 є el m∗ є 0 є el τ

die Plasmafrequenz, wobei wir den Ausdruck σ(0) = n V e 2 τ⇑m∗ für die statische elektri-
sche Leitfähigkeit benutzt haben. Wir werden weiter unten sehen, dass die charakteristi-
sche Frequenz ω p , für die im Fall schwacher Dämpfung (ωτ ≫ 1) nach (11.6.6) є(ω p ) = 0
29
Wir verwenden є el ≃ є r,el , da der Imaginärteil є i,el bis zu sehr hohen Frequenzen im UV-Bereich
sehr klein ist.
612 11 Dielektrische Eigenschaften

gilt, gerade der Eigenfrequenz longitudinaler Plasmaschwingungen des Elektronengases ent-


spricht. Für Metalle mit Ladungsträgerdichten im Bereich von 1022 cm−3 liegt die Plasma-
frequenz im UV-Bereich (ω p ≃ 1015 − 1016 Hz), für Halbleiter, die weit geringere Ladungs-
trägerdichten besitzen, ist die Plasmafrequenz entsprechend niedriger. Für n V = 1018 cm−3
ist ω p ≃ 5 × 1013 Hz, für n V = 1010 cm−3 nur etwa 5 × 109 Hz.
Teilen wir (11.6.6) in Realteil und Imaginärteil auf, so erhalten wir

ω 2p ω2 τ 2 σ(0) ωτ
є r (ω) = є el (ω) (1 − ) = є el (ω) (1 − )
ω2 1 + ω2 τ 2 є 0 є el (ω)ω 1 + ω 2 τ 2
(11.6.8)
ω 2p ωτ σ(0) 1
є i (ω) = є el (ω) ( 2 ) = є el (ω) ( ).
ω 1 + ω2 τ 2 є 0 є el (ω)ω 1 + ω 2 τ 2
Diese Ausdrücke entsprechen den mit dem Lorentzschen Oszillator-Modell abgeleiteten
Ausdrücken [vergleiche (11.3.10) und (11.3.11)] für ω 0 → 0 und Γ = 1⇑τ. Dies ist einfach
verständlich. Da wir für freie Elektronen keine Rückstellkräfte haben, geht die charakteristi-
sche Schwingungsfrequenz gegen null. Die Linienbreite Γ wird durch Streuprozesse mit der
Rate 1⇑τ verursacht. Die Streuzeit τ liegt bei Metallen typischerweise im Bereich von 10−13
bis 10−14 s. Wir können drei Frequenzbereiche unterscheiden:

1. ωτ ≪ 1:
In diesem niederfrequenten Bereich gilt neben ωτ ≪ 1 auch σ(0)⇑є 0 є el ω ≫ 1. Der Ima-
ginärteil der dielektrischen Funktion ist wesentlich größer als der Realteil und wir erhal-
ten deshalb aus ̃n 2 = n 2 + 2ınκ − κ 2 = є r (ω) + ıє i (ω) näherungsweise n 2 ≃ κ 2 und 2nκ ≃
2κ ≃ є 0 ω , also
2 σ(0)

}︂
σ(0)
n≃κ≃ . (11.6.9)
2є 0 ω
Den Reflexionskoeffizienten (11.1.33) schreiben wir in der Form R = 1 − (4n⇑(︀(n + 1)2 +
κ 2 ⌋︀), was sich für n ≃ κ ≫ 1 durch R ≃ 1 − 2⇑n annähern lässt. Wir erhalten dann die so
genannte Hagen-Rubens-Relation
}︂
2є 0 ω
R ≃1−2 . (11.6.10)
σ(0)
Wir sehen, dass die Abweichung vom idealen Reflexionsvermögen R = 1 umso gerin-
ger ist, je höher die Leitfähigkeit eines Metalls ist. Für Silber mit einer Leitfähigkeit
von 6.25 × 107 Ω−1 m−1 erhalten wir im Infraroten bei einer Frequenz von 1013 s−1 nach
(11.6.10) ein Reflexionsvermögen von R = 0.997, also einen Wert sehr nahe bei eins.
Selbst im sichtbaren Bereich ist R > 0.96.
Nach (11.1.28) ist die elektromagnetische Welle im Metall nach der Strecke δ = c⇑ωκ auf
1⇑e-tel des Anfangswerts abgefallen. Wir nennen diese Strecke die Skin-Eindringtiefe.
Sie ist gegeben durch
}︂
2
δ≃ , (11.6.11)
σ(0)µ 0 ω
wobei wir 1⇑c 2 = є 0 µ 0 verwendet haben.
11.6 Dielektrische Eigenschaften von Metallen und Halbleitern 613

2. 1⇑τ ≪ ω ≪ ω p :
Dies ist der so genannte Relaxationsbereich, in dem der Term ω 2 τ 2 im Nenner von
(11.6.8) das Übergewicht bekommt. Der Imaginärteil der dielektrischen Funktion wird
kleiner als der Realteil. Letzterer ist aber immer noch negativ. Wir erhalten
ω 2P
є r (ω) = є el (ω) (1 − ) (11.6.12)
ω2

ω 2P
є i (ω) = є el (ω) ( ). (11.6.13)
ω3 τ
Wir können in diesem Frequenzbereich gut die Näherung є(ω) ≃ −є el (ω)ω 2p ⇑ω 2 =
⌈︂ ⌈︂
−σ(0)⇑є 0 ω 2 τ benutzen und erhalten ̃
n = n + ıκ ≃ ı є el (ω) ω p ⇑ω ≃ ı σ(0)⇑є 0 τ ⋅ 1⇑ω.
Der Absorptionsindex κ nimmt deshalb proportional zu 1⇑ω ab und ist erstaunlicher-
weise proportional zur Leitfähigkeit.
3. ω ≫ ω p :
In diesem Frequenzbereich wird der Realteil der dielektrischen Funktion positiv. Wir
erhalten
⌈︂
̃
n ≃ є el (ω) (11.6.14)
und das Reflexionsvermögen sinkt auf null ab, da für sehr hohe Frequenzen є r,el (ω) → 1
und є i,el (ω) → 0. Das heißt, das Metall wird mehr oder weniger transparent mit einem
Absorptionskoeffizienten

єi ω ω 2p
K= ≃ 2 ≪ 1. (11.6.15)
c ω τc

Der Verlauf von є r (ω) und das daraus resultierende Reflexionsvermögen R(ω) von Metallen
ist in Abb. 11.14 dargestellt. Für ω < ω p wird eine auf ein Metall auftreffende elektromagne-
tische Welle totalreflektiert. Da für Metalle ω p im UV-Bereich liegt, wird sichtbares Licht
von Metallen üblicherweise gut reflektiert, weshalb Metalle glänzend erscheinen.30
Für ω > ω p ist dagegen є r (ω) positiv und das Metall wird, da, gleichzeitig der Absorpti-
onskoeffizient κ ≃ 0 ist, für elektromagnetische Strahlung durchlässig. Dies trifft z. B. für
Alkali-Metalle im UV-Bereich zu. Der in Abb. 11.14 gezeigte Verlauf von є r und R wird
experimentell für Metalle und Halbleiter meistens nicht beobachtet, da sich der Antwort
des Elektronensystems durch Intraband-Übergänge auch immer noch Beiträge durch Inter-
bandübergänge überlagern (siehe hierzu Abschnitt 11.6.4). Experimentelle Daten zum Re-
flexionsvermögen R von Metallen sind in Abb. 11.15 gezeigt.
30
Das gleiche Phänomen wird beim Kurzwellenfunk ausgenutzt. Da unsere Ionosphäre ein Plasma
darstellt, wird diese unterhalb eines bestimmten Frequenzbereichs totalreflektierend. Langwellige
Radiowellen werden deshalb an der Ionosphäre totalreflektiert.
Die Ionosphäre erstreckt sich in einer Höhe zwischen etwa 50 und mehr als 1500 km über der Erd-
oberfläche. Die Elektronenkonzentration in den Schichten der Ionosphäre reagiert sehr sensibel
auf die solare Aktivität. Tagsüber sind die D-Schicht in 50 bis 90 km Höhe und die E-Schicht in
etwa 85 bis 140 km Höhe präsent. In der nachts vorhandenen F-Schicht ist die Elektronenkonzen-
tration am größten in Höhen zwischen 200 und 600 km. Tagsüber bilden sich oft zwei Maxima aus,
dabei ist die F1-Schicht die schwächer ausgebildete und der Erde näher als die F2-Schicht.
614 11 Dielektrische Eigenschaften
Dielektrische Funktion und Reflexionsvermögen eines Metalls
2 1.0
R
el

R
1 0.5

0 0.0

r
-1 r () -0.5

-2 -1.0
Abb. 11.14: Realteil der dielektrischen
0 1 2 3
/ p
Funktion und Reflexionsvermögen R
eines Metalls bzw. eines Halbleiters. 41

Da in Halbleitermaterialien die Ladungsträgerdichte über die Dotierung in weiten Gren-


zen variiert werden kann, kann die Plasmafrequenz auf einen gewünschten Wert eingestellt
werden. Dies wird technisch ausgenutzt. So können Materialien hergestellt werden, die im
sichtbaren Bereich durchlässig sind, im infraroten Bereich aber bereits reflektieren. Dies
kann zum Beispiel dazu benutzt werden, die Wärmedämmung von Fensterglas zu optimie-
ren oder die Wärmeisolation von Na-Dampflampen zu vergrößern. Hierzu werden auf Glas
dünne Schichten von zum Beispiel Sb dotiertem SiO2 oder Sn dotiertem In2 O3 (ITO: Indi-
um Tin Oxide) mit Ladungsträgerdichten im Bereich von typischerweise 1020 bis 1021 cm−3
aufgebracht. Weitere Anwendungsgebiete sind optisch transparente aber elektrisch leitende
Schichten auf Solarzellen oder LCD-Displays.

100

80 Al
Au Pt
Reflektivität (%)

Ag
60

Abb. 11.15: Reflektivität von ver- 40


schiedenen Metallen als Funktion
der Wellenlänge der elektromagne-
20
tischen Strahlung. Aus dem steilen
Abfall der Reflektivität unterhalb ei-
ner bestimmten Grenzwellenlänge λ p 0
kann die Plasmafrequenz des Metalls 0.1 1 10
zu ω p = 2πc⇑λ p abgeschätzt werden. Wellenlänge (µm)

11.6.2 Longitudinale Plasmaschwingungen: Plasmonen


Für isolierende Ionenkristalle erhielten wir in Abschnitt 11.4 für den Frequenzbereich ω T <
ω < ω L einen Bereich mit negativer Dielektrizitätskonstante und damit Totalreflexion. Für
11.6 Dielektrische Eigenschaften von Metallen und Halbleitern 615

Metalle erhalten wir nun ebenfalls einen Bereich mit negativer Dielektrizitätskonstante für
0 < ω < ω p . Es liegt also nahe, der Transversalschwingung des Elektronengases den Frequen-
zwert null zuzuordnen und die Plasmafrequenz ω p mit der Eigenfrequenz der longitudi-
nalen Eigenschwingung des Elektronengases zu identifizieren. Zunächst können wir fest-
halten, dass sich in einem freien Elektronengas genauso wie in einem normalen Gas keine
transversalen Eigenschwingungen ausbilden können, da die entsprechenden Rückstellkräfte
fehlen. Wir können deshalb den Leitungselektronen tatsächlich die transversale Eigenfre-
quenz ω T = 0 zuordnen.
Wir wollen nun noch zeigen, dass ω p in der Tat die Eigenfrequenz der Longitudinalschwin-
gung eines Elektronengases ist. Dazu gehen wir von einem Metall aus, in dem die Elektronen
frei beweglich sind und die positiven Ionen einen starren Ladungshintergrund bilden. Im
Gleichgewichtszustand ist das resultierende Plasma feldfrei und elektrisch neutral. Sobald
die Elektronen durch ein externes Feld aus ihren Gleichgewichtspositionen ausgelenkt wer-
den, wird die Ladungsneutralität aufgehoben und es treten rücktreibende Kräfte auf. Diese
führen zu Plasmaschwingungen.
Wir betrachten zunächst den langwelligen Grenzfall q = 0, das heißt, den Fall einer gleich-
förmigen Auslenkung aller Leitungselektronen. In der in Abb. 11.16 gezeigten Anordnung
führt die gleichförmige Auslenkung s der Elektronen in einer dünnen Metallplatte zu ei-
ner Flächenladungsdichte ρ A = −n V es auf der oberen und ρ A = +n V es auf der unteren Seite
der Metallplatte.31 Es entsteht dadurch ein elektrisches Feld E = n V es⇑єє 0 , welches auf jedes
Elektron die rücktreibende Kraft32
nV e 2
F = −eE = − s (11.6.16)
єє 0
erzeugt. Vernachlässigen wir Reibungsterme, so lautet die entsprechende Bewegungsglei-
chung

d 2 s nV e 2
m∗ + s=0. (11.6.17)
dt 2 єє 0

𝝆𝑨 = −𝒏𝑽 𝒆𝒔
𝒔

𝑬
𝝆𝑨 = +𝒏𝑽 𝒆𝒔 Abb. 11.16: Zur Ableitung der Plasmafrequenz.

31
Wir können uns dies leicht dadurch erklären, dass wir die Elektronen gegenüber den ortsfesten
Ionenrümpfen des Kristallgitters geringfügig nach oben verschieben. Fast überall innerhalb der
Metallplatte herrscht dann nach wie vor Ladungsneutralität. Nur an der Oberseite wird die Ladung
der verschobenen Elektronen nicht durch die Ionenrümpfe kompensiert, wodurch eine negative
Flächenladung resultiert. An der Unterseite bleiben44 die positiven Ionen zurück und resultieren in
einer gleich großen positiven Flächenladung.
32
Es gilt Q = CU = CEd = єєd0 A Ed, wobei d die Dicke der Metallplatte ist. Auflösen nach E ergibt
E = єєQ0 A = nєєV 0es .
616 11 Dielektrische Eigenschaften

Tabelle 11.3: Volumenplasmonenenergie und Plasmonenfrequenz einiger Metalle und Halbleiter.

Material Li Na K Mg Cu Ag Zn Al Si Ge
ħω p (eV) 7.12 5.71 3.72 10.6 7.5 3.9 10.1 15.3 16.6 16.2
ω p (1015 1/s) 10.86 8.71 5.67 16.17 11.44 5.95 15.41 23.34 25.33 24.71

Dies ist die Bewegungsgleichung eines harmonischen Oszillators mit der Eigenfrequenz
}︂
nV e 2
̃p =
ω . (11.6.18)
єє 0 m∗
Diese Frequenz stimmt mit der Frequenz ω p aus (11.6.7) überein, wenn wir є = є el setzen.
Bei einer Plasmaschwingung handelt es sich um eine kollektive Anregung der Leitungselek-
tronen. Die Quanten dieser Anregung nennen wir Plasmonen. Da ihre Energie für Metalle
im Bereich von 10 eV liegt (siehe Tabelle 11.3), können Plasmonen nicht thermisch ange-
regt werden. Eine Anregung mit transversalen elektromagnetischen Wellen ist auch nicht
möglich. Ihre Anregung erfolgt üblicherweise durch Wechselwirkung des Elektronengases
mit schnellen elektrisch geladenen Teilchen.33 So lassen sich Plasmonen durch Messung des
Energieverlusts von schnellen Elektronen (einige keV) beim Durchgang durch dünne Me-
tallfolien nachweisen. Ein typisches experimentelles Ergebnis ist in Abb. 11.17 gezeigt. Die
Plasmonenenergie manifestiert sich dabei im Energieverlustspektrum der transmittierten
Elektronen durch charakteristische Strukturen bei der Energie ħω p und ganzzahligen Viel-
fachen dieser Energie.
Neben den hier diskutierten Volumenplasmonen werden in Experimenten meist immer auch
Oberflächenplasmonen beobachtet. Bei Letzteren ist die kollektive Elektronenbewegung an
der Oberfläche lokalisiert. Da das damit verbundene elektrische Feld teilweise im Vaku-
um verläuft, besitzen die Oberflächenplasmonen eine niedrigere Energie und wechselwirken
stark mit elektromagnetischen Wellen.34 Oberflächenplasmonen spielen eine wichtige Rol-
le in der oberflächenverstärkten Raman-Spektroskopie und der Erklärung von Anomalien
in der Beugung von Metallgittern (Wood Anomalien35 ). In jüngster Vergangenheit wurden
Oberflächenplasmonen dazu verwendet, die Farbe von Materialien zu kontrollieren.36 Dies
ist möglich, da die Größe und Form von Nanopartikeln die Art der Oberflächenplasmonen
bestimmt, die an sie koppeln und durch sie propagieren können, was wiederum die Wechsel-
wirkung von Licht mit der Oberfläche bestimmt. Dieser Effekt ist von den farbigen Gläsern
in mittelalterlichen Kirchen bekannt, bei denen die Farbe durch Nanopartikel bestimmter
Größe festgelegt wird.
Wir haben bisher nur die longitudinalen Plasmaschwingungen für den langwelligen Grenz-
fall q → 0 diskutiert. Für zunehmende Wellenzahl q nimmt die Eigenfrequenz der Plasma-

33
R. H. Ritchie, Plasma Losses by Fast Electrons in Thin Films, Phys. Rev. 106, 874–881 (1957).
34
S. Maier, Plasmonics: Fundamentals and Applications, Springer Verlag, Berlin (2007).
35
R. W. Wood, On a remarkable case of uneven distribution of light in a diffraction grating spectrum,
Phil. Mag. 4, 396–402 (1902).
36
H. Atwater, The Promise of Plasmonics, Scientific American 296, 56–63 (2007).
11.6 Dielektrische Eigenschaften von Metallen und Halbleitern 617

5 Oberflächenplasmon: 10.0 eV
Al
Intensität (bel. Einh.)

4
Volumenplasmon: 14.8 eV

3 Abb. 11.17: Energieverlust von schnel-


len Elektronen beim Durchgang durch
2 Al. Es werden Maxima in der Intensi-
tät für Energieverluste beobachtet, die
der Anregung von Oberflächen- und
1 Volumenplasmonen entsprechen. Die
Maxima bei höheren Energieverlus-
0 ten entsprechen Mehrfachanregungen
0 20 40 60 80 (nach C. J. Powell, Phys. Rev. 175,
Energieverlust (eV) 972–982 (1968)).

schwingungen zu. Es lässt sich zeigen, dass für kleine Werte von q die Plasmonen die Di-
spersionsrelation

3v F2 2
ω = ω p (1 + q + . . .) (11.6.19)
10ω 2P
besitzen. Hierbei ist v F die Fermi-Geschwindigkeit des Metalls oder Halbleiters. Die Plasma-
schwingungen können also bei verschiedenen Wellenlängen auftreten. Die Dispersionsrela-
tion zeigt allerdings, dass die Frequenz nicht stark von q abhängt und Plasmonen deshalb
eine kleine Gruppengeschwindigkeit besitzen. Sie neigen deshalb dazu, lokalisierte Schwin-
gungen zu bleiben, die sich nur langsam durch den Festkörper fortbewegen.

11.6.3 Erzwungene transversale Plasmaschwingungen:


Plasmon-Polaritonen
Wie bei der Diskussion des optischen Verhaltens von Ionenkristallen können wir die Disper-
sion erzwungener transversaler Wellen beschreiben, indem wir in der allgemeinen Disper-
sionrelation (11.4.28) elektromagnetischer Wellen näherungsweise den Ausdruck (11.6.12)
für die dielektrische Funktion einsetzen. Damit erhalten wir eine gute Beschreibung der op-
tischen Eigenschaften von Metallen. Es sei aber darauf hingewiesen, dass im infraroten Be-
reich der volle Ausdruck (11.6.8) verwendet werden muss und damit das Verhalten etwas
komplizierter wird.
Mit (11.6.12) erhalten wir

є(ω) 2 ω 2p ω 2
q2 = ω = є el (ω) (1 − ) (11.6.20)
c2 ω2 c 2
und damit
c2 2
ω 2 = ω 2p + q . (11.6.21)
є el
618 11 Dielektrische Eigenschaften
Plasmon-Polaritonen

3 𝒄𝟐 𝒒𝟐
𝝎= 𝝎𝟐𝒑 +
𝝐𝐞𝐥
𝒄𝒒
𝝎=
𝝐𝐞𝐥
2

 / p
Abb. 11.18: Dispersionsrelation von 1
Plasmon-Polaritonen in einem frei-
en Elektronengas für є el = 1.5. Für verbotener Frequenzbereich
ω⇑ω p < 1 tritt ein verbotener Fre-
quenzbereich auf, in dem sich elek- 0
0 1 2 3
tromagnetische Wellen nicht in dem 1/2
Elektronengas ausbreiten können. c q / (el)
48

Für ω < ω p muss q 2 < 0 sein, so dass q rein imaginär ist. Wir erhalten in diesem Frequenz-
bereich Lösungen der Form e−⋃︀q⋃︀x . Wellen in diesem Frequenzbereich können sich also, wie
oben bereits diskutiert, im Medium nicht ausbreiten und werden totalreflektiert. Für ω > ω p
ist dagegen die dielektrische Funktion positiv und reell und (11.6.21) beschreibt die Dispersi-
on transversaler elektromagnetischer Wellen in einem Plasma. Wir bezeichnen diese Wellen
als Plasmon-Polaritonen. Der Verlauf der Dispersionskurve ist in Abb. 11.18 gezeigt.

11.6.4 Interband-Übergänge
Bei den meisten Metallen und Halbleitern überlagern Interband-Übergänge die Anregung
von Leitungselektronen durch Intrabandübergänge. Dies hat zur Folge, dass die dielektrische
Funktion von Metallen und Halbleitern teilweise erheblich von der in Abb. 11.14 gezeigten
einfachen Form abweicht. Wir wollen in diesem und im nächsten Abschnitt insbesonde-
re näher auf die optischen Eigenschaften von Halbleitern eingehen, die wir in Grundzügen
bereits in Abschnitt 10.1.2 diskutiert haben.
In Abb. 11.19 sind Interband-Übergänge zwischen Zuständen E v (k) des Valenzbandes und
Zuständen E c (k′ ) des Leitungsbandes eines Halbleiters schematisch gezeigt. Wir unterschei-
den generell zwischen zwei unterschiedlichen Typen von Übergängen, nämlich direkten und
indirekten Übergängen.

𝑬 𝑬𝒄 𝒌

direkt
Abb. 11.19: Direkte und indirekte Interband- indirekt
Übergänge in einem Halbleiter. Die gepunktet ge-
zeichneten Übergänge sind wesentlich unwahr- 𝒌
scheinlicher als die durchgezogen gezeichneten. 𝑬𝑽 𝒌
11.6 Dielektrische Eigenschaften von Metallen und Halbleitern 619

Direkte Übergänge erfolgen durch Absorption von Lichtquanten der Energie ħω ohne Be-
teiligung von Phononen. Für die Energie- und Impulserhaltung gilt hier also

E c (k′ ) = E v (k) + ħω (11.6.22)

und

k′ = k + kPhoton . (11.6.23)

Da die Wellenzahl kPhoton des absorbierten Photons um mehrere Größenordnungen kleiner


ist als die Ausdehnung der 1. Brillouin-Zone, die den Bereich der Wellenzahlen der Kristall-
elektronen angibt, finden direkte Übergänge nur zwischen Elektronenzuständen statt, deren
Wellenzahl praktisch gleich ist. Die Übergänge verlaufen deshalb vertikal: k′ = k.
Indirekte Übergänge erfolgen durch Absorption von Lichtquanten der Energie ħω unter Er-
zeugung oder Vernichtung von Phononen mit Energie ħΩ und Wellenvektor q. Es gilt dann

E c (k′ ) = E v (k) + ħω ± ħΩ (11.6.24)

und

k′ = k + kPhoton ± q . (11.6.25)

Die Phononen-Energie ħΩ ist üblicherweise um mehrere Größenordnungen kleiner als die


Photonen-Energie ħω und kann deshalb in vielen Fällen vernachlässigt werden. Deshalb un-
terscheidet sich die Energiebilanz in einem direkten und indirekten Übergang nur geringfü-
gig. Bei den Wellenvektoren können Phononen beliebige Werte innerhalb der 1. Brillouin-
Zone besitzen. Deshalb sind im Prinzip beliebige Übergänge zwischen den Energiebändern
möglich. Allerdings müssen wir berücksichtigen, dass die Übergangswahrscheinlichkeiten
für solche Dreiteilchen-Wechselwirkungen viel geringer sind, so dass indirekte Übergänge
nur dann in Absorptions- und Reflexionsspektren von Bedeutung sind, wenn sie nicht von
direkten Übergängen überlagert werden.
Zur quantitativen Erklärung des Absorptionskoeffizienten müssen nach Fermis goldener Re-
gel neben den Übergangsmatrixelementen auch die Zustandsdichten der Anfangs- und End-
zustände bekannt sein. Variieren die Übergangsmatrixelemente nicht zu stark, haben offen-
sichtlich nur solche Interband-Übergänge ein starkes Gewicht, für die sich Übergänge mit
nahezu gleicher Frequenz häufen. Dies ist z. B. für Übergänge zwischen einem Maximum
im Valenzband und einem Minimum im Leitungsband der Fall. Es geht hier die so genannte
kombinierte Zustandsdichte (vergleiche Abschnitt 10.1.2.2)

1 dS ħω
D i f (ħω) = ∫ (11.6.26)
(2π)3 ⋂︀grad k )︀E f (k) − E i (k)⌈︀⋂︀
ħω=E f −E i

ein, die immer dort maximal ist, wo die beteiligten Bänder i und f parallel zueinander mit
Abstand ħω verlaufen.
620 11 Dielektrische Eigenschaften

11.6.5 Exzitonen
Für Halbleiter erwarten wir bei tiefen Temperaturen, dass eine Absorption elektromagne-
tischer Strahlung nur dann einsetzt, wenn die Energie der Photonen größer als die Band-
lücke E g des Halbleiters ist, da nur dann Elektronen aus dem Valenzband ins Leitungsband
angeregt werden können. Experimentell wird dies aber nicht beobachtet. Man beobachtet
vielmehr einen stark strukturierten Einsatz der optischen Absorption bereits bei ħω < E g .
Diese Beobachtung wird durch Exzitonen verursacht. Ein Exziton ist ein gebundener Zu-
stand zwischen dem ins Leitungsband angeregten Elektron und dem im Valenzband zurück-
bleibenden Loch. Da wir dem Loch eine positive Ladung zuordnen können, ist einsichtig,
dass sich Elektron und Loch gegenseitig anziehen und einen gebundenen Zustand einge-
hen. Die Absorption in einem Halbleiter setzt somit nicht bei ħω = E g , sondern bereits bei
ħω = E g − E ex ein. Hierbei ist E ex die Bindungsenergie des Exzitons. Wir weisen darauf hin,
dass wir bei unserer Diskussion in Kapitel 10 immer angenommen haben, dass bei der Anre-
gung eines Elektrons aus dem Valenzband ins Leitungsband das Elektron im Leitungsband
und das Loch im Valenzband nicht wechselwirken.
Man unterschiedet zwischen so genannten Mott-Wannier-Exzitonen und Frenkel-Exzito-
nen. Erstere sind nach Sir Nevill Francis Mott37 und Gregory Wannier38 , letztere nach Ya-
kov Frenkel39 benannt. Bei Mott-Wannier-Exzitonen ist der Abstand zwischen Elektron und
Loch groß gegenüber dem Gitterabstand (siehe Abb. 11.20a). Sie werden beobachtet, wenn
die Elektronen nur schwach an die Gitteratome gebunden sind. Dies ist z. B. bei Halbleitern
der Fall. Die typischen Bindungsenergien betragen hier einige meV und der Elektron-Loch-
Abstand einige nm. Bei Molekül- oder Ionenkristallen beobachtet man dagegen Frenkel-Ex-
zitonen. Aufgrund der starken Coulomb-Wechselwirkung zwischen Elektron und Loch be-
tragen die Bindungsenergien hier etwa 1 eV. Der Elektron-Loch-Abstand ist so klein, dass das
Elektron-Loch-Paar am gleichen Gitteratom lokalisiert ist. Aufgrund der Kopplung benach-
barter Gitteratome kann sich allerdings ein Frenkel-Exziton genauso wie ein Mott-Wannier-
Exziton durch den Kristall bewegen. Fällt das Elektron in das Loch im Valenzband zurück
(Rekombination), wird die Bindungsenergie des Exzitons wieder frei.
Wir wollen uns im Folgenden nur mit Mott-Wannier-Exzitonen beschäftigen. Wir können
deren Bindungsenergie abschätzen, indem wir das gebundene Elektron-Loch-Paar als was-
serstoffähnliches System auffassen, bei dem das Elektron und das Loch um den gemeinsa-
men Schwerpunkt kreisen (siehe Abb. 11.20a). Die Coulomb-Energie der Wechselwirkung
lautet
e2
V (⋃︀r e − r h ⋃︀) = . (11.6.27)
4πє 0 є⋃︀r e − r h ⋃︀
37
Sir Nevill Francis Mott, geboren am 30. September 1905 in Leeds, gestorben am 8. August 1996
in Milton Keynes. Er erhielt 1977 zusammen mit Philip W. Anderson und J. H. Van Vleck den
Nobelpreis für Physik für seine Arbeiten zu den elektronischen und magnetischen Eigenschaften
von ungeordneten Systemen.
38
Gregory Hugh Wannier, schweizer Physiker, geboren 1911 in Basel, Schweiz, gestorben am 21. Ok-
tober 1983 in Portland, USA.
39
Yakov Il’ich Frenkel, russischer Physiker, geboren am 10. Februar 1894 in Rostov-on-Don, gestor-
ben am 23. Januar 1952 in St. Petersburg.
11.6 Dielektrische Eigenschaften von Metallen und Halbleitern 621

(a) (b) 𝑬 Abb. 11.20: (a) Mott-


𝑬𝒄 𝒌 Wannier-Exziton als ein
über mehrere Gitterabstän-
e Exziton-
de ausgedehntes gebundenes
Zustände
Elektron-Loch-Paar. (b) Ex-
𝑬
𝑬𝒈 − 𝑬𝐞𝐱 𝒈 ziton-Zustände für eine ein-
fache Bandstruktur mit dem
h 𝒌 Minimum des Leitungsban-
𝑬𝑽 𝒌 des und dem Maximum des
Valenzbandes bei k = 0.

Hierbei sind r e und r h die Koordinaten des Elektrons bzw. des Lochs und є ist die Dielek-
tizitätskonstante des Festkörpers. Die zugehörige Schrödinger-Gleichung erlaubt eine Sepa-
ration nach Relativ- und Schwerpunktkoordinaten und liefert die Energieigenwerte

1 µ∗ e 4 1 ħ2 K 2
E n,K = E g − + , n = 1, 2, 3, . . . . (11.6.28)
2 (4πє 0 є)2 ħ 2 n 2 2(m∗e + m∗h ) 50

Hierbei erscheint die Energielücke E g als additive Konstante, da üblicherweise der Ener-
gienullpunkt in die Oberkante des Valenzbandes gelegt wird. Der zweite Term entspricht
den gebundenen Zuständen eines Wasserstoffatoms, wobei die effektive reduzierte Masse
1⇑µ∗ = 1⇑m∗e + 1⇑m∗h und die Dielektrizitätskonstante des Festkörpers eingehen. Letztere
trägt der Abschirmung des Coulomb-Potenzials durch das umgebende Medium Rechnung.
Der dritte Term resultiert aus der Schwerpunktsbewegung des Exzitons mit Wellenvektor K.
Da für Halbleiter є ∼ 10, liegt die experimentell gemessene Bindungsenergie im Bereich von
1–10 meV (siehe Tabelle 11.4, vergleiche hierzu auch die Diskussion in Abschnitt 10.1.3)
und der Bohrsche Radius im nm-Bereich. Dies rechtfertigt unsere einfache Annahme eines
Wasserstoff-Modells mit einer makroskopischen Dielektrizitätskonstante.
In einem optischen Absorptionsexperiment werden wegen des verschwindend kleinen Im-
pulses der Photonen nur Übergänge zwischen Zuständen mit etwa gleichem Wellenvektor
induziert. Das heißt, es können nur Zustände mit K = 0 angeregt werden und der dritte Term
in (11.6.28) fällt deshalb weg. Liegen das Valenzbandmaximum und das Leitungsbandmi-
nimum beim gleichen k-Wert, so liegen die durch (11.6.28) gegebenen Zustände innerhalb
der Energielücke und zwar um E ex unterhalb des Leitungsbandminimums. Dies führt zu ei-
nem Absorptionsmaximum, das innerhalb der Bandlücke liegt (siehe Abb. 11.21). Es sei dar-
auf hingewiesen, dass die durch (11.6.28) gegebenen Energien Zweiteilchen-Energieniveaus
sind und deshalb schlecht in ein Bandschema eingezeichnet werden können, in dem Einteil-
chenenergien dargestellt werden. Es ist allerdings möglich, durch Anregung eines Elektrons
aus dem Valenzband die Zustände E n,K zu erreichen, die gerade unterhalb der Bandkante
liegen (siehe Abb. 11.20b).

Material Si Ge GaAs GaP InP CdS ZnS CdSe Tabelle 11.4:


Experimentelle Werte
E ex (meV) 14.7 2.8 4.20 3.05 4.00 29 29 15
für die Bindungsener-
Material BaO ZnO KI KCl KBr RbCl AgBr AgCl gie von Exzitonen in
E ex (meV) 56.0 59 480 400 400 440 20 30 meV.
622 11 Dielektrische Eigenschaften

1.2
Exziton-
Absorption
1.0

K (10 cm )
-1
0.8 GaAs

4
T = 21 K
Abb. 11.21: Absorptionskonstante K
von GaAs gemessen bei 21 K in der
0.6 Eg
Nähe der Energielücke. Die gestrichel-
te Kurve deutet das Ergebnis an, das
wir ohne die Exziton-Zustände er- 0.0
warten würden (nach M. D. Sturge, 1.50 1.52 1.54 1.56
Phys. Rev. 127, 758 (1962)). ћ (eV)

11.7 Elektron-Elektron-Wechselwirkung
und Abschirmung in Metallen
Wir haben in Abschnitt 11.6 nur die Frequenzabhängigkeit є(ω) der dielektrischen Funk-
tion von Metallen diskutiert. Wir wollen nun in diesem Abschnitt auf ihre q-Abhängigkeit
є(q, ω) eingehen. Wir haben bereits darauf hingewiesen, dass das Fehlen einer q-Abhängig-
keit der dielektrischen Funktion gleichbedeutend damit ist, dass die Antwort eines Festkör-
pers auf ein elektrisches Feld rein lokal ist, da die Fourier-Transformierte einer konstanten
Funktion є(q) im q-Raum einer δ-Funktion im Ortsraum entspricht. Ein wichtiger Aspekt
bei der Behandlung der q-Abhängigkeit der dielektrischen Funktion in Metallen ist deshalb
die Berücksichtigung der Elektron-Elektron-Wechselwirkung. Sie führt dazu, dass die lokale
Antwort eines bestimmten Elektrons auf eine äußere Störung auch von den es umgebenden
Elektronen abhängt, mit denen es wechselwirkt. Es sei hier nochmals darauf hingewiesen,
dass wir bei der Diskussion der Bandstruktur von Festkörpern immer von einem Einelek-
tronenmodell ausgegangen sind, bei dem sich ein einzelnes, unabhängiges Teilchen in einem
wohldefinierten Potenzial bewegt. Das schwierige, für ein Vielteilchensystem charakteristi-
sche Problem der Wechselwirkung der Elektronen untereinander haben wir nicht behandelt,
obwohl wir wissen, dass die zwischen den Ladungen wirkenden Coulomb-Kräfte langreich-
weitig sind.
Da die Behandlung von wechselwirkenden Elektronensystemen komplex und einer exakten
Lösung nicht zugänglich ist, werden wir im Folgenden einfache Näherungen verwenden, um
die Auswirkung der Elektron-Elektron-Wechselwirkung auf die dielektrischen Eigenschaf-
ten von Metallen zu diskutieren. Wir werden dabei so genannte mittlere Feldnäherungen
verwenden, bei denen das Vielteilchenproblem auf die Bewegung eines Elektrons reduziert
wird, das sich in einem von allen anderen erzeugten mittleren Feld bewegt. Wir werden
sehen, dass die Elektron-Elektron-Wechselwirkung zu zwei neuen Phänomenen führt: Ab-
schirmung und Austausch. In den folgenden Abschnitten werden wir im Detail diskutieren,
wie jede Ladung in einem Festkörper – also auch die Elektronen – durch andere Elektro-
nen abgeschirmt wird. Die Austauschwechselwirkung zwischen freien Elektronen, bei der
11.7 Elektron-Elektron-Wechselwirkung und Abschirmung in Metallen 623

wir den Spin der Elektronen berücksichtigen müssen, werden wir erst in Abschnitt 12.5.6.1
im Zusammenhang mit den magnetischen Eigenschaften von Metallen behandeln. Abschir-
mung und Austausch führen zu einer Änderung der Gesamtenergie einer Elektronengases,
die wir in Abschnitt 3.5 bereits im Zusammenhang mit der metallischen Bindung angegeben
haben.
Als erstes Beispiel betrachten wir eine positive Ladung, die wir in ein Gas freier Elektronen
einbringen. Das elektrische Feld dieser Ladung fällt schneller als mit 1⇑r ab, da die positi-
ve Ladung eine Wolke negativer Ladungen um sich herum ansammelt und dadurch abge-
schirmt wird. Diese statische Abschirmung können wir mit einer statischen dielektrischen
Funktion є(q, 0) beschreiben.

11.7.1 Statische Abschirmung


Eine intuitiv verständliche Manifestation der Elektron-Elektron-Wechselwirkung ist die Ab-
schirmung von Ladungen. Wir untersuchen hier zunächst den einfachsten Fall der Abschir-
mung einer statischen Ladung (ω = 0) in einem freien Elektronengas. Hierzu betrachten wir
eine positive Testladung, die wir an eine räumliche feste Position in ein Elektronengas ein-
bringen. Die Ladung zieht negativ geladene Elektronen aus seiner Umgebung an, die da-
durch ihr Feld reduzieren – sie schirmen die Ladung ab. Zur mathematischen Behandlung
des Problems ist es nützlich, zwei getrennte Potenziale einzuführen. Das erste wird durch die
externe positive Ladung verursacht und erfüllt somit die Poisson-Gleichung
ρ ext (r)
−∇2 ϕ ext (r) = . (11.7.1)
є0
Hierbei ist ρ ext (r) die Ladungsdichte der eingebrachten Testladung. Durch die angezogenen
Elektronen erhalten wir eine induzierte Ladungsdichte ρ ind (r), die zusammen mit ρ ext (r)
die gesamte Ladungsdichte
ρ ges (r) = ρ ext (r) + ρ ind (r) (11.7.2)
ges
bildet. Diese ist wiederum mit dem Gesamtpotenzial ϕ über die Poisson-Gleichung ver-
bunden:
ρ ges (r)
−∇2 ϕ ges (r) = . (11.7.3)
є0
Um eine Beziehung zwischen ϕ ges (r) und ϕ ext (r) herzustellen, kommen wir auf die allge-
meine Einführung der dielektrischen Funktion in Abschnitt 11.1.1 zurück. Wir machen uns
nochmals klar, dass die Quellen der dielektrischen Verschiebung D die freien Ladungen au-
ßerhalb des Mediums sind. Im Gegensatz dazu resultiert das elektrische Feld E aus der ge-
samten Ladungsverteilung, die sowohl die freien Ladungen als auch die gebundenen, im
Medium induzierten Ladungen einschließt. Diese Tatsache ist in Abb. 11.22 veranschau-
licht, wo wir eine homogene, zweidimensionale Ladungsverteilung in eine Metallplatte ein-
bringen. Diese externen Ladungen40 resultieren in einer Polarisation P und damit dielektri-
schen Verschiebung D in der Metallplatte, deren Quelle die externe Ladungsverteilung ist.
40
Wir weisen darauf hin, dass extern nicht bedeutet, dass die Ladungen sich außerhalb des Metalls
befinden sollen, sondern als externe Störung in das Metall eingebracht werden.
624 11 Dielektrische Eigenschaften

(a) (b) induzierte


𝑬 Ladungen 𝑷 𝑫 𝑬=𝟎
externe
Ladungen
𝑬 induzierte 𝑷 𝑫 𝑬=𝟎
Ladungen

Abb. 11.22: Schematische Darstellung der Abschirmung von Ladungen in Metallen zur Veran-
schaulichung der Äquivalenz von dielektrischer Verschiebung und ϕ ext (r) sowie elektrischem Feld
und ϕ ges (r). (a) Feldverteilung durch eine unendlich ausgedehnte homogene zweidimensionale La-
dungsverteilung. (b) Bei Einbringen der „externen“ Störladungen in ein Metall wird im Metall eine di-
elektrische Verschiebung D erzeugt, deren Quellen die externen Ladungen sind. Das elektrische Feld,
dessen Quellen sowohl die externen als auch die induzierten Ladungen sind, verschwindet.

Das elektrische Feld im Innern der Metallplatte ist E = (D − P)⇑є 0 . Seine Quellen sind also
sowohl die externen Ladungen als auch die im Metall induzierten Ladungen, wodurch 55
das
elektrische Feld nach Außen verschwindet. Diese Betrachtung zeigt uns, dass wir ϕ ext (r) mit
der dielektrischen Verschiebung, und ϕ ges (r) mit dem elektrischen Feld assoziieren können.
Wir können dann die allgemeine Definition der dielektrischen Funktion aus Abschnitt 11.1.1
übernehmen und erhalten für den Zusammenhang zwischen ϕ ges (r) und ϕ ext (r) in Analo-
gie zu (11.1.8)

ϕ ext (q) = є(q) ϕ ges (q) . (11.7.4)

Hierbei haben wir der Einfachheit halber ein räumlich isotropes Medium angenommen, so
dass wir anstelle eines Dielektrizitätstensors eine skalare dielektrische Funktion є(q) ver-
wenden können. Es gilt ferner

є(q) = ∫ d 3 r e−ıq⋅r є(r) (11.7.5)

d 3 q +ıq⋅r
є(r) = ∫ e є(q) . (11.7.6)
(2π)3

Gleichung (11.7.4) zeigt, dass jede Fourier-Komponente ϕ ges (q) des Gesamtpotenzials der
um den Faktor 1⇑є(q) abgeschwächten Fourier-Komponente ϕ ext (q) des externen Potenzi-
als entspricht.
Wir wollen nun die Ladungsdichte ρ ind (r) berechnen, die durch das Gesamtpotenzi-
al ϕ ges (r) im Elektronengas induziert wird. Wir nehmen dabei vereinfachend an, dass
ϕ ges (r) und ρ ind (r) in linearer Weise zusammenhängen. Diese Annahme ist immer dann
gerechtfertigt, wenn ϕ ges (r) genügend schwach ist. In diesem Fall können wir den Zusam-
menhang zwischen ihren Fourier-Komponenten allgemein als

ρ ind (q) = α(q) ϕ ges (q) (11.7.7)

schreiben. Wir müssen jetzt noch den Zusammenhang zwischen der Proportionalitätskon-
stanten α(q) und є(q) herstellen. Hierzu verwenden wir die Fourier-Transformierten der
11.7 Elektron-Elektron-Wechselwirkung und Abschirmung in Metallen 625

Poisson-Gleichungen (11.7.1) und (11.7.3), die wir wie folgt ausdrücken können:

ρ ext (q)
q 2 ϕ ext (q) = (11.7.8)
є0
ρ ges (q)
q 2 ϕ ges (q) = . (11.7.9)
є0

Ziehen wir diese beiden Gleichungen voneinander ab und verwenden ρ ind (q) = ρ ges (q) −
ρ ext (q) sowie (11.7.7), so erhalten wir

є 0 q 2 )︀ϕ ges (q) − ϕ ext (q)⌈︀ = ρ ind (q) = α(q) ϕ ges (q) . (11.7.10)

Lösen wir nach ϕ ges (q) auf, so ergibt sich

ϕ ext (q)
ϕ ges (q) = (11.7.11)
1 − є 01q 2 α(q)

und schließlich durch Vergleich mit (11.7.4)

1 1 ρ ind (q)
є(q) = 1 − α(q) = 1 − . (11.7.12)
є0 q2 є 0 q 2 ϕ ges (q)

Aufgrund der gemachten Annahmen ist dieser Ausdruck für є(q) nur dann richtig, wenn
die äußere Störladung schwach genug ist, so dass das Elektronengas mit einer linearen Ant-
wort reagieren kann. Bezüglich der theoretischen Behandlung besteht dann das Problem
in der Berechnung von α(q). Hierzu gibt es zahlreiche Ansätze. Bekannte Beispiele sind
die Thomas-Fermi-Methode, bei der angenommen wird, dass die räumliche Variation des
Störpotenzials langsam erfolgt und deshalb das Störpotenzial mit einer semiklassischen Nä-
herung behandelt werden kann (vergleiche hierzu Abschnitt 9.1). Diese Methode hat den
Vorteil, dass sie nicht auf den Bereich kleiner Störungen begrenzt ist. Die Lindhard-Metho-
de benötigt dagegen keine semiklassische Näherung, setzt aber voraus, dass die induzierte
Ladung nur in linearer Ordnung mit ϕ ges zusammenhängt. Dann kann die Schrödinger-
Gleichung für die Kristallelektronen unter der Wirkung des Störpotenzials störungstheore-
tisch gelöst werden.

11.7.1.1 Thomas-Fermi Abschirmung


Um die Ladungsdichte bei Vorhandensein des Gesamtpotenzials ϕ ges = ϕ ext + ϕ ind zu erhal-
ten, müssen wir die Schrödinger-Gleichung

ħ2 2
− ∇ Ψk (r) − eϕ ges (r) Ψk (r) = E k Ψk (r) (11.7.13)
2m∗
lösen und können dann mit den ermittelten Wellenfunktionen die Ladungsdichte zu
ρ ges (r) = −e ∑ k ⋃︀Ψk (r)⋃︀2 bestimmen.41 In der Thomas-Fermi Näherung wird jetzt zur
41
Dies muss selbstkonsistent erfolgen, da das Gesamtpotenzials ϕ ges = ϕ ext + ϕ ind von der Ladungs-
verteilung und damit den Lösungen der Schrödinger-Gleichung selbst abhängt.
626 11 Dielektrische Eigenschaften

Vereinfachung angenommen, dass ϕ ges (r) sehr langsam als Funktion von r variiert. Dann
können wir in guter Näherung für die lokale E(k) Beziehung
ħ2 k 2
E(r, k) = − eϕ ges (r) (11.7.14)
2m∗
schreiben. Das heißt, die lokale Energie der Elektronen weicht von dem Wert für freie
Elektronen gerade um das lokale Gesamtpotenzial ab. Für eine positive Störladung wird
sie abgesenkt, für eine negative angehoben. Wir beschreiben dann die exakten Lösungen
der Schrödinger-Gleichung näherungsweise mit einem System von Elektronen, das die
einfache Energieverteilung (11.7.14) besitzt. Die Thomas-Fermi Näherung ist natürlich nur
dann zulässig, wenn wir die freien Elektronen als Wellenpakete auffassen, deren räumliche
Ausdehnung nach unserer Diskussion in Abschnitt 9.1 wesentlich größer als die Fermi-
Wellenlänge sein muss. Das Potenzial muss deshalb langsam im Vergleich zu λ F variieren.
Für die Fourier-Koeffizienten von α(q) bedeutet dies, dass wir uns auf q ≪ k F beschränken
müssen.
Um die lokale Ladungsdichte zu erhalten, die mit einem Elektronensystem mit der Energie-
verteilung (11.7.14) zusammenhängt, müssen wir die lokale Elektronendichte n(r) berech-
nen. Diese ist durch das Integral der Zustandsdichte multipliziert mit der Besetzungswahr-
scheinlichkeit (Fermi-Funktion)
1 1
n(r) = ∫ (︀E(r,k)−µ⌋︀ d3k (11.7.15)
4π 3 e ⇑k B T + 1
gegeben. Die lokal induzierte Ladungsdichte ist dann gerade durch die Differenz −e(︀n(r) −
n 0 ⌋︀ gegeben, wobei n 0 die homogene Ladungsdichte des ungestörten Systems ist. Da n(r) =
n 0 (︀µ + eϕ ges (r)⌋︀ erhalten wir
ρ ind (r) = −e {n 0 )︀µ + eϕ ges (r)⌈︀ − n 0 (µ)} . (11.7.16)

Diese Beziehung zwischen ρ ind (r) und ϕ ges (r) stellt das zentrale Ergebnis der nichtlinearen
Thomas-Fermi Theorie dar.
Im Folgenden werden wir nur die lineare Näherung der Thomas-Fermi Theorie diskutie-
ren. Für eϕ ges ≪ µ können wir die Näherung n 0 (︀µ + eϕ ges ⌋︀ − n 0 (µ) ≃ (∂n 0 ⇑∂µ) µ=E F ⋅ eϕ ges
verwenden und erhalten
∂n 0 D(E F ) ges
ρ ind (r) = −e 2 ( ) ϕ ges (r) = −e 2 ϕ (r) , (11.7.17)
∂µ µ=E F V

also einen linearen Zusammenhang zwischen ρ ind (r) und ϕ ges (r). Hierbei haben wir die
Zustandsdichte D(E F )⇑V = (∂n 0 ⇑∂µ) µ=E F beim Fermi-Niveau verwendet. Vergleichen wir
dieses Ergebnis mit (11.7.7), so folgt
D(E F )
α(q) = −e 2 (11.7.18)
V
und damit
e 2 D(E F )
є(q) = 1 + . (11.7.19)
є0 q2 V
11.7 Elektron-Elektron-Wechselwirkung und Abschirmung in Metallen 627

Benutzen wir den Thomas-Fermi Wellenvektor


}︂
e 2 D(E F )
ks = (11.7.20)
є0 V
so erhalten wir das einfache Ergebnis

k s2
є(q) = 1 + . (11.7.21)
q2

Wir sehen, dass für q → 0 (langwelliger Grenzfall) die dielektrische Funktion є(q, 0) → ∞.
Aus Gleichung (11.7.4) folgt dann, dass für q → 0 bei fest vorgegebenem ϕ ext ≠ 0 das Ge-
samtpotenzial ϕ ges → 0. Das heißt, dass ein langwelliges äußeres Potenzial vollständig durch
Elektronenverschiebungen abgeschirmt wird. Die charakteristische Abschirmlänge 1⇑k s
bezeichnen wir als Thomas-Fermi Abschirmlänge. Für Kupfer mit einer Zustandsdichte
D(E F )⇑V = 1.2 × 1022 cm−3 eV−1 ergibt sich 1⇑k s = 0.55 Å. Die Thomas-Fermi Abschirm-
länge ist also für Metalle wegen ihrer hohen Zustandsdichte sehr klein. Für Halbleiter
ergeben sich wesentlich größere Werte.
Wir können das Ergebnis (11.7.21) qualitativ auch durch eine ganz elementare Überlegung
ableiten. Wir gehen von einem Gesamtpotenzial ϕ ges am Ort r aus. Dann wird die potenziel-
le Energie der freien Elektronen relativ zu der Verteilung an einem Ort, an dem ϕ ges = 0, um
den Wert −eϕ ges abgesenkt. Das bedeutet aber, dass sich das chemische Potenzial µ ändern
müsste, wenn nicht Elektronen in dieses Gebiet hineinfließen würden. Da aber im statio-
nären Gleichgewichtszustand das chemische Potenzial im ganzen Volumen konstant sein
muss, fließen in der Tat Elektronen in dieses Gebiet hinein. Nach Abb. 11.23 ist ihre Zahl für
kleine ϕ ges gerade
D(E F ) ges
δn(r) = eϕ (r) . (11.7.22)
V
Die Änderung der Elektronendichte entspricht einer Änderung der lokalen Ladungsdichte,
was wiederum zu einem Potenzial ϕ ind (r) führt. Dieses muss die Poisson-Gleichung
ρ ind (r) −eδn(r) e 2 D(E F )ϕ ges (r)
∇2 ϕ ind (r) = − =− = = k s2 ϕ ges (r) (11.7.23)
є0 є0 є0 V
erfüllen. Das heißt, wir erhalten wiederum das obige Ergebnis (11.7.17) und somit die glei-
chen Ausdrücke für k s und є(q).

Abb. 11.23: Zum Einfluss des Gesamtpotenzi-


𝑬 als ϕ ges durch eine Störladung auf die Besetzung
von Zuständen in einem dreidimensionalen
𝑬
freien Elektronengas. Durch das Absenken der
Elektronenenergie um −eϕ ges an einem Ort r
𝝁
𝒆𝝓𝐠𝐞𝐬 fließen freie Elektronen aus der Umgebung
𝑫 𝑬𝐅
an diesen Ort. Ihre Anzahl ergibt sich nähe-
rungsweise aus dem Produkt der Zustands-
𝑫 𝑬 𝟎 𝑫 𝑬 𝑫 𝑬 ⇓ 𝑫 𝑬 ⇑
dichte D(µ = E F ) und der Energieverschie-
⇓ ⇑
𝟎 bung eϕ ges .
628 11 Dielektrische Eigenschaften

11.7.1.2 Vertiefungsthema: Abschirmung in einem klassischem Gas


In einem klassischen Gas (z. B. Ladungsträger in einem Halbleiter mit E F < k B T) können wir
in (11.7.15) an Stelle der Fermi-Verteilung eine klassische Maxwell-Boltzmann Verteilung
f MB (E) = A(T) exp(−E⇑k B T) mit A(T) = (2mπk B T)−3⇑2 verwenden und erhalten

n(r) − n 0 = n 0 A(T)e−(︀E−e ϕ (r)⌋︀⇑k B T


− n 0 A(T)e−E⇑k B T
ges

n0
≃− eϕ ges (r) , (11.7.24)
kB T
Wir erhalten dann die Debye-Hückel-Formel42 , 43

e 2 n0
k s2 = . (11.7.25)
є0 kB T

Führen wir eine Fermi-Temperatur TF = E F ⇑k B ein und schreiben die Zustandsdichte als
[vergleiche hierzu (7.1.36)]

D(E F ) 3 n 0
= , (11.7.26)
V 2 k B TF
so sehen wir, dass unter der Annahme, dass die Elektronen eines freien Elektronengases ei-
ne sehr hohe Temperatur der Größenordnung TF haben, das quantenmechanische Ergebnis
(11.7.50) für die Abschirmlänge k s der klassischen Debye-Hückel-Formel (11.7.25) äquiva-
lent ist. Dieser Zusammenhang ist evident, da die Fermionen des freien Elektronengases we-
gen des Pauli-Verbots ja Zustände bis zu sehr hohen Energien k B TF ≫ k B T besetzen müssen.

11.7.1.3 Abgeschirmtes Coulomb-Potenzial


Wir betrachten nun den Fall, dass wir in ein Metall oder einen Halbleiter ein Störatom mit
einer anderen Elektronenzahl einbringen. Ersetzen wir z. B. in einem metallischen Gitter
ein Cu-Ion durch ein Zn-Ion, dann bringen wir an dem Ort des Störatoms die Ladung +2e
anstelle von nur +e. Wir können dann das Störatom als eine Punktladung mit der effektiven
Ladung Q = +e in einem neutralen Untergrund behandeln.
Das Potenzial ϕ ext der Punktladung ist durch [vergleiche hierzu (11.7.8)]

Q Q
ϕ ext (r) = bzw. ϕ ext (q) = (11.7.27)
r є0 q2

gegeben. Mit der allgemeinen Beziehung ϕ ext (q) = є(q) ϕ ges (q) und dem Ausdruck
(11.7.21) für є(q) erhalten wir

ϕ ext (q) Q
ϕ ges (q) = = . (11.7.28)
є(q) є 0 (q + k s2 )
2

42
Petrus Josephus Wilhelmus Debye, siehe Kasten auf Seite 226.
43
Erich Armand Arthur Joseph Hückel, geboren am 9. August 1896 in Berlin, gestorben am 16. Fe-
bruar 1980 in Marburg, deutscher Chemiker und Physiker.
11.7 Elektron-Elektron-Wechselwirkung und Abschirmung in Metallen 629

∝ − 𝟏 𝒓 exp −𝒌𝒔 𝒓
0

∝− 𝟏𝒓

-1
(kse/0)
ges

-2

Abb. 11.24: Vergleich des abgeschirm-


-3 ten und nicht abgeschirmten Cou-
0 1 2 3 4 5
lomb-Potenzials einer statischen posi-
ksr tiven Ladung.

Um den Potenzialverlauf im Ortsraum abzuleiten, müssen wir noch eine Fourier-Transfor-


mation durchführen und erhalten
d 3 q ıq⋅r Q Q −k s r
ϕ ges (r) = ∫ e = e . (11.7.29)
(2π) 3 є 0 (q + k s ) є 0 r
2 2

Dieses abgeschirmte Coulomb-Potenzial, das auch als Yukawa-Potenzial bezeichnet wird,


ist in Abb. 11.24 gezeigt. In der Umgebung des Ursprungs verhält sich dieses Potenzial wie
dasjenige einer Punktladung. Mit wachsendem Abstand fällt es aber nicht mit 1⇑r, sondern
wesentlich stärker mit e−k s r ab. Die charakteristische Länge 1⇑k s wird auch Abschirmradius
genannt. Da 1⇑k s für Metalle im Å-Bereich liegt, wird das Fremdatom von Elektronen au-
ßerhalb weniger Vielfacher dieses Radius, also außerhalb weniger Atomabstände nicht mehr
gesehen.
Eine Anwendung der abgeschirmten Wechselwirkung ist die Beschreibung des elektrischen
Widerstands von gewissen Legierungen. Verunreinigen wir z. B. Cu mit Zn, Ga, Ge oder As,
so besitzen diese Störatome eine zusätzliche Ladung von +e, +2e, +3e und +4e im Vergleich
zu Cu. Die Störatome streuen dann die Leitungselektronen von Cu, wobei die Wechselwir-
kung durch das abgeschirmte Coulomb-Potenzial (11.7.29) gegeben ist (vergleiche hierzu
(9.3.15) in Abschnitt 9.3.2).

11.7.2 Vertiefungsthema: Lindhard Theorie


Wir gehen von einem Gas freier Elektronen aus, das einer zeitabhängigen Störung unterliegt.
Wir setzen ferner voraus, dass die induzierte Ladungsdichte nur in linearer Ordnung mit ϕ ges
zusammenhängt. Dann kann die Schrödinger-Gleichung (11.7.13) für die Kristallelektronen
unter der Wirkung des Störpotenzials störungstheoretisch gelöst werden, ohne sich auf den
630 11 Dielektrische Eigenschaften

semiklassischen Grenzfall (langsam variierendes Potenzial) beschränken zu müssen.44 , 45 Das


Potenzial, das ein Elektron am Ort r zur Zeit t sieht, soll durch

ϕ ges (r, t) = ϕ 0 e ı(q⋅r−ωt) e−βt


ges
(11.7.30)

gegeben sein. Wir betrachten also eine zeitlich oszillierende Störung mit Wellenvektor q, die
mit einer Zeitkonstanten β mit der Zeit langsam abklingt.
Wirkt dieses Potenzial auf den Zustand ⋃︀k̃︀ = exp{ı(k ⋅ r + E(k)t⇑ħ)}, so wird dieser Zu-
stand mit anderen Zuständen gemischt, so dass die Wellenfunktion in

Ψk (r, t) = ⋃︀k̃︀ + c k+q (t) ⋃︀k + q̃︀ (11.7.31)

übergeht. Die Koeffizienten c k+q (t) können wir störungstheoretisch in erster Ordnung be-
rechnen zu
∐︀k + q⋃︀ ϕ ges ⋃︀k̃︀
c k+q (t) =
E(k + q) − E(k) − ħω + ıħβ
ϕ 0 e−ı ωt e−βt
ges
= . (11.7.32)
E(k + q) − E(k) − ħω + ıħβ

Dies folgt aus der zeitabhängigen Schrödinger-Gleichung für Ψk (r, t), in der der ungestör-
te Hamilton-Operator mit den Eigenenergien E(k) durch die als klein angenommene Stö-
rung ϕ ges (r, t) erweitert wurde.
Wir betrachten jetzt die Änderung der Elektronendichte aufgrund der Störung. Dabei neh-
men wir an, dass sich die Elektronen gegen einen gleichmäßig geladenen positiven Unter-
grund bewegen. Wir erhalten dann

ρ ind (r, t) = e ∑ {⋃︀Ψk (r, t)⋃︀2 − 1}


k

= e ∑ )︀{e−ık⋅r + c ∗k+q (t)e−ı(k+q)⋅r } {e ık⋅r + c k+q (t)e ı(k+q)⋅r } − 1⌈︀


k

≃ e ∑ )︀c k+q (t)e ıq⋅r + c ∗k+q (t)e−ıq⋅r ⌈︀ . (11.7.33)


k

Hierbei haben wir Terme in ⋃︀c⋃︀2 bereits vernachlässigt und die Summe läuft über alle besetz-
ten Elektronenzustände.
Da ρ ind (r, t) reell sein muss, ergibt die Störung (11.7.30) zwei unterschiedliche Ladungsstö-
rungen, nämlich eine, die mit der Störung in Phase und eine die gegenphasig ist. Allerdings
müssen wir auch berücksichtigen, dass die Störung reell ist. Wenn wir deshalb in (11.7.30)
das konjugiert komplexe, ϕ ges ∗ (r, t) = ϕ 0 e−ıq⋅r e+ı ωt e−βt , dazu addieren, so ergibt sich,
ges

44
Jens Lindhard, geboren am 26. Februar 1922, gestorben am 17. Oktober 1997, dänischer theoreti-
scher Physiker.
45
J. Lindhard, On the Properties of a Gas of Charged Particle, Mat. Fys. Medd. Dan. Vid. Selsk. 28, No.
8 (1954).
11.7 Elektron-Elektron-Wechselwirkung und Abschirmung in Metallen 631

dass die Dichteschwankungen der Störung in Phase folgen:


ges ges
ϕ0 ϕ0
ρ ind (r, t) = e ∑{ + (︀
k E(k + q) − E(k) − ħω + ıħβ E(k − q) − E(k) + ħω − ıħβ

× e ıq⋅r e−ı ωt e−βt + c. c. . (11.7.34)

Um dieses Ergebnis noch etwas zu verallgemeinern, wollen wir noch die Besetzungswahr-
scheinlichkeit f 0 (k) für den Zustand ⋃︀k̃︀ im ungestörten System einführen. Für ein Metall
wäre dies z. B. die Fermi-Verteilungsfunktion. Nennen wir im zweiten Term von (11.7.34)
den Summationsindex k in k + q um, so lässt sich die Summe wie folgt schreiben:

f 0 (k) − f 0 (k + q)
ρ ind (r, t) = eϕ 0 ∑ { (︀×e ıq⋅r e−ı ωt e−βt +c. c. .
ges

k E(k + q) − E(k) − ħω + ıħβ


(11.7.35)

Die Summe läuft dabei über alle Zustände ⋃︀k̃︀, also besetzte und unbesetzte Zustände.
Wir können nun diese Ladungsdichte dazu benutzen, um mit Hilfe der Poisson-Gleichung

eρ ind (r, t)
∇2 ϕ ind (r, t) = − (11.7.36)
є0
das zugehörige Potenzial ϕ ind (r, t) auszurechnen. Wir können annehmen, dass sich
ϕ ind (r, t) zeitlich und räumlich wie ρ ind (r, t) ändert, d. h.
ıq⋅r −ı ωt −βt
ϕ ind (r, t) = ϕ ind
0 e e e + c. c. . (11.7.37)

Setzen wir diesen Ausdruck zusammen mit (11.7.35) in die Poisson-Gleichung ein, so erhal-
ten wir
f 0 (k) − f 0 (k + q)
ges
e 2 ϕ0
−q 2 ϕ ind
0 =− ∑ (11.7.38)
є0 k E(k + q) − E(k) − ħω + ıħβ

und damit das Potenzial, das die durch das ursprüngliche Störpotenzial ϕ ges erzeugte La-
dungsschwankung hervorruft, zu

e2 f 0 (k) − f 0 (k + q)
0 ={ ∑ (︀ ϕ 0 .
ges
ϕ ind (11.7.39)
q є 0 k E(k + q) − E(k) − ħω + ıħβ
2

Dieses neue Potenzial muss jetzt aber selbst wieder als Störung für die Elektronenverteilung
mitgerechnet werden. Um unsere Rechnung selbstkonsistent zu machen, müsste die ange-
nommene Störung ϕ ges den Beitrag ϕ ind schon enthalten haben, d. h. es muss

ϕ ges (r, t) = ϕ ext (r, t) + ϕ ind (r, t) (11.7.40)

gelten, wobei ϕ ext (r, t) jetzt das tatsächliche äußere Potenzial ist, das wir in Gedanken an-
gelegt haben. Nehmen wir für dieses wiederum die Form
ıq⋅r −ı ωt −βt
ϕ ext (r, t) = ϕ ext
0 e e e + c. c. (11.7.41)
632 11 Dielektrische Eigenschaften

an, dann erhalten wir aus (11.7.41) und (11.7.40)


e2 f 0 (k) − f 0 (k + q)
ϕ 0 = ϕ ext
0 +{ ∑ (︀ ϕ ext
ges
(11.7.42)
q 2 є 0 k E(k + q) − E(k) − ħω + ıħβ 0

beziehungsweise

ϕ ext
ϕ0 =
ges 0
(11.7.43)
є(q, ω)

mit

e2 f 0 (k) − f 0 (k + q)
є(q, ω) = 1 + ∑ . (11.7.44)
q 2 є 0 k E(k + q) − E(k) − ħω + ıħβ

Diese Ausdrücke entsprechen den oben für den statischen Fall (ω = 0) erhaltenen Ergebnis-
sen (11.7.11) und (11.7.12). Wir sehen, dass wiederum das effektive Potenzial, das auf die
Elektronen wirkt, nicht das angelegte externe Potenzial ϕ ext
0 ist, sondern vielmehr das ange-
legte Potenzial dividiert durch die dielektrische Funktion є(q, ω), die von der Frequenz und
vom Wellenvektor der angelegten Störung abhängt. Dieses Ergebnis haben wir zunächst nur
für eine Fourier-Komponente abgeleitet. Da wir aber in den einzelnen Schritten die Glei-
chungen linearisiert haben, können wir die Wirkung verschiedener Fourier-Komponenten
einfach aufsummieren. Stellen wir ϕ ext (r, t) als Fourier-Integral

ϕ ext (r, t) = ∬ ϕ ext (q, ω) e ıq⋅r e ı ωt d 3 q dω (11.7.45)

dar, dann können wir das effektive Potenzial, das ein Elektron spürt, angeben als

ϕ ext (q, ω) ıq⋅r ı ωt 3


ϕ ges (r, t) = ∬ e e d q dω . (11.7.46)
є(q, ω)

Dieser Ausdruck ist als Lindhardsche Näherung für die dielektrische Funktion bekannt. Wir
werden diese Näherung in den folgenden Abschnitten zur Beschreibung einiger physikali-
scher Phänomene benutzen.

11.7.2.1 Langwelliger, statischer Grenzfall


Wir erwarten, dass wir als langwelligen statischen Grenzfall der Lindhard-Theorie das Er-
gebnis der linearisierten Thomas-Fermi Abschirmung erhalten. Um dies zu zeigen, betrach-
ten wir eine statische Störung (ω = 0) und diskutieren zunächst die Form von є(q, 0) in der
Nähe von q = 0 (langwelliger Bereich). Wir können (11.7.44) näherungsweise auswerten,
wenn wir
E(k + q) − E(k) ≃ q ⋅ ∇k E(k) (11.7.47)
schreiben und die Tatsache benutzen, dass f 0 (k) nur von E(k) abhängt:
∂ f0
f 0 (k) − f 0 (k + q) ≃ −q ⋅ ∇k E(k) . (11.7.48)
∂E
11.7 Elektron-Elektron-Wechselwirkung und Abschirmung in Metallen 633

Die Summation über k in(11.7.44) schreiben wir als Integral, wobei wir beachten müssen,
dass wir sowohl über die besetzten als auch die unbesetzten Zustände aufintegrieren müssen.
Für ω = 0 und β = 0 erhalten wir
e2 q ⋅ ∇k E(k) ∂ f0
є(q, 0) = 1 + 3
∫ d k Z(k) (− )
q2є0 q ⋅ ∇k E(k) ∂E
e2 D(E) ∂ f0
=1+ ∫ dE (− ). (11.7.49)
q2є0 V ∂E

Da wir (− ∂E0 ) ≃ δ(E − E F ) benutzen können, ergibt das Integral gerade die Zustandsdichte
∂f

bei der Fermi-Energie und wir erhalten

D(E F )e 2 1 k s2 D(E F )e 2
є(q, 0) = 1 + = 1 + mit k s2 = . (11.7.50)
є0 V q2 q2 є0 V

Dieses Ergebnis entspricht gerade dem Ausdruck (11.7.21), den wir im Rahmen der linea-
risierten Thomas-Fermi Theorie abgeleitet haben. Die Lindhard-Beschreibung geht also im
langwelligen Grenzfall tatsächlich in die Thomas-Fermi-Beschreibung über.
Für T = 0 kann die Integration in
e2 d 3 k f 0 (k) − f 0 (k + q)
є(q, 0) = 1 + ∫ (11.7.51)
2
q є0 4π 3 q ⋅ ∇k E(k)
explizit ausgeführt werden und wir erhalten
e 2 D(E F ) 1 1 − x 2 1+x q
є(q, 0) = 1 + ⌊︀ + ln ⋀︀ ⋀︀}︀ mit x = . (11.7.52)
2
q є0 V 2 4x 1−x 2k F
Der Ausdruck in Klammern, der für x = 0 gleich eins wird, stellt gerade die Lindhard-
Korrektur zum Thomas-Fermi Ergebnis (11.7.21) dar.

11.7.2.2 Friedel- und Ruderman-Kittel-Oszillationen


Analysieren wir (11.7.52), so sehen wir, dass die dielektrische Funktion für q = 2k F nicht
analytisch ist. Es kann gezeigt werden, dass als direkte Konsequenz daraus das abgeschirmte
Coulomb-Potenzial einer Punktladung einen Term besitzt, der bei T = 0 die Ortsabhängig-
keit
1
ϕ ges (r) ∝ 3 cos 2k F r (11.7.53)
r
besitzt. Je nach Zusammenhang werden diese Oszillationen als Friedel-Oszillationen oder
Ruderman-Kittel-Oszillationen bezeichnet.

11.7.3 Vertiefungsthema: Abschirmung von Phononen in Metallen


Wir wollen in diesem Abschnitt noch einige spezielle Aspekte der Abschirmung von Pho-
nonen in Metallen diskutieren. Dabei ist es interessant, die gesamte dielektrische Funktion
634 11 Dielektrische Eigenschaften

є in Beziehung zu setzen zu der dielektrischen Funktion є el der Elektronen, є ion der Ionen
und є d der Ionen, die von einer Elektronenwolke abgeschirmt werden (dressed ions). Mit
der Beziehung (11.7.43)
ϕ ext
ϕ ges =
є(q, ω)
zwischen dem effektiv wirkenden Potenzial ϕ ges und dem von außen angelegten Potenzial V
können wir folgende Betrachtungsweisen machen:

1. Das Medium besteht nur aus Elektronen und die Ionen werden als externe Quellen be-
trachtet. In diesem Fall gilt

є el ϕ ges = ϕ ext + ϕ ion . (11.7.54)

Hierbei kann ϕ ext + ϕ ion als effektives äußeres Potenzial betrachtet werden.
2. Das Medium besteht nur als Ionen und die Elektronen werden als externe Quellen be-
trachtet. In diesem Fall gilt

є ion ϕ ges = ϕ ext + ϕ el . (11.7.55)

Addieren wir (11.7.54) und (11.7.55), so erhalten wir mit ϕ ges = ϕ ext ⇑є und unter Benut-
zung der Tatsache, dass ϕ ext + ϕ ion + ϕ el = ϕ ges , die Beziehung

є = є el + є ion − 1 . (11.7.56)

3. Das Medium besteht aus abgeschirmten Ionen, die nicht das äußere Potenzial sehen, son-
dern das durch die Elektronen abgeschirmte äußere Potenzial. Hier gilt
ϕ ext
є d ϕ ges = . (11.7.57)
є el
Das heißt, die Antwort eines Metalls auf ϕ ext kann als die Antwort von abgeschirmten
Ionen auf das Potenzial ϕ ext ⇑є el betrachtet werden. Mit є = ϕ ext ⇑ϕ ges folgt
1 1 1
= . (11.7.58)
є є d є el
Da (11.7.56) und (11.7.58) natürlich äquivalent sein müssen, folgt
1
єd = 1 + (є ion − 1) . (11.7.59)
є el

Wir benutzen nun wiederum Näherungen, um für einige Grenzfälle Abschätzungen machen
zu können. Als erstes berücksichtigen wir, dass in Metallen die Schallgeschwindigkeit v s
klein gegenüber der Fermi-Geschwindigkeit v F ist und die Elektronen deshalb der Bewe-
gung der Ionen quasi-instantan folgen können. Wir können deshalb für die Elektronen die
statische dielektrische Funktion
k s2
є el (q, 0) = 1 + (11.7.60)
q2
11.7 Elektron-Elektron-Wechselwirkung und Abschirmung in Metallen 635

verwenden. Für die Ionen können wir, vorausgesetzt dass sie sich unabhängig voneinander
bewegen, die Näherung
Ω 2p n(Ze)2
є ion (0, ω) = 1 − mit Ω 2p = (11.7.61)
ω2 є0 M
benutzen, wobei die Plasmafrequenz jetzt durch die schwerere Ionenmasse M und die La-
dungszahl Z der Ionen bestimmt wird. Wir erhalten somit für die gesamte dielektrische
Funktion
Ω 2p k s2
є(q, ω) = є el (q, 0) + є ion (0, ω) − 1 = 1 − + (11.7.62)
ω2 q2

und für die abgeschirmten Ionen


k s2
Ω 2p ⇑(1 + ) ̃2

q2
є d (q, ω) = 1 − =1−
p
. (11.7.63)
ω2 ω2
̃ 2 = Ω 2 ⇑(1 + k s2 ) können wir als eine q-abhängige Plasmafrequenz der ab-
2
Den Ausdruck Ω p p q
geschirmten Ionen auffassen. Setzen wir den Ausdruck (11.7.63) in (11.7.58) ein, so ergibt
sich der zu (11.7.62) äquivalente Ausdruck

1 ⎛ 1 ⎞⎛ ω2 ⎞
=⎜ ⎟ . (11.7.64)
k 2 ̃
є(q, ω) ⎝ 1 + s2 ⎠ ⎝ ω − Ω p (q) ⎠
2
2
q

11.7.3.1 Longitudinale akustische Phononen


Grenzfall niedriger Frequenzen: Longitudinale akustische Phononen stellen longitudina-
le Eigenschwingungen dar, für die є = 0 gelten muss. Für kleine q und ω können wir ferner
die eins in (11.7.62) vernachlässigen und wir erhalten (für Z = 1)46
ne 2 2 ne 2 2є 0 E F 2 m 2 2
ω2 = q = q = v q (11.7.65)
2
є 0 Mk s є 0 M 2ne 2 3M F
oder
{︂
m
ω = vs q mit v s = vF . (11.7.66)
3M
Dieser als Bohm-Staver-Beziehung 47 bekannte Zusammenhang beschreibt gerade die Dis-
persion von langwelligen akustischen Phononen. Da m⇑M ∼ 10−4 –10−5 , erwarten wir ei-
ne Schallgeschwindigkeit, die etwa 100mal kleiner als die Fermi-Geschwindigkeit ist. In
Alkali-Metallen stimmt dieses Ergebnis sehr gut mit der experimentell beobachteten Schall-
geschwindigkeit überein. Für Kalium erhalten wir aus (11.7.66) die Schallgeschwindigkeit
v s = 1.8 × 103 m⇑s. Die experimentell bei 4 K in [100]-Richtung beobachtete Schallgeschwin-
digkeit beträgt v s = 2.2 × 103 m⇑s.
46
Wir benutzen k s2 = D(E F )e 2 ⇑є 0 V und D(E F )⇑V = 3n⇑2E F sowie E F = mv F2 ⇑2.
47
D. Bohm, T. Staver, Application of Collective Treatment of Electron and Ion Vibrations to Theories of
Conductivity and Superconductivity, Phys. Rev. B 84, 836 (1950).
636 11 Dielektrische Eigenschaften

Grenzfall hoher Frequenzen: Es gibt noch eine weitere Nullstelle der Funktion є(q, ω)
von positiven Ionen, die in einen Elektronensee eingebettet sind. Für hohe Frequenzen, die
allerdings immer noch genügend weit unterhalb der Plasmafrequenz liegen, können wir den
elektronischen Beitrag mit є el (ω, 0) ≃ 1 − ω 2p ⇑ω 2 annähern und wir erhalten

Ω 2p ω 2p
є(0, ω) = 1 − − . (11.7.67)
ω2 ω2
Dieser Ausdruck besitzt eine Nullstelle für
ne 2 ∗
ω2 = = ω 2p , (11.7.68)
є0 µ

wobei 1⇑µ = 1⇑M + 1⇑m und ω p ∗ die Plasmafrequenz des Elektronengases ist, allerdings mit
der reduzierten Masse µ aufgrund der Mitbewegung der Ionen.

11.7.3.2 Effektive Elektron-Elektron-Wechselwirkung


Wir haben in Abschnitt 11.7.1.3 bereits gesehen, dass die Coulomb-Wechselwirkung in ei-
nem Metall stark abgeschirmt wird. Das abgeschirmte Coulomb-Potenzial ist dabei gegeben
durch
Q Q
ϕ ges (q) = = . (11.7.69)
є el є 0 q 2 є 0 (k s2 + q 2 )
Hier ist aber nur die Abschirmung der Elektronen enthalten. Wir berücksichtigen jetzt zu-
sätzlich die Ionen, indem wir in (11.7.69) anstelle von є el den Ausdruck (11.7.64) benutzen,
in dem die Ionen enthalten sind. Wir erhalten dann

Q Q ⎛ ̃ 2 (q) ⎞

ϕ ges (q, ω) = = +
p
1 . (11.7.70)
є(q, ω)є 0 q 2 є 0 (k s2 + q 2 ) ⎝ ̃ 2p (q) ⎠
ω2 − Ω

̃ 2 (q)⇑(ω 2 − Ω
Die Auswirkung der Ionen ist also durch den Korrekturterm Ω ̃ 2 (q)) gegeben,
der von der Frequenz und vom Wellenvektor abhängt. Die Frequenzabhängigkeit folgt dabei
aus der langsamen Reaktion der trägen Ionen. Wir sprechen von einer retardierten Wech-
selwirkung. Wir können folgende Fälle unterscheiden:

̃ p (q) < Ω D (Ω D = Debye-Frequenz) und die Energiedifferenz ħω = E k − E k′ der


1. Falls Ω
wechselwirkenden Elektronen groß gegen ħΩ D ist (d. h. E k − E k′ ≫ ħ Ω ̃ p (q)), spielt der
Korrekturterm keine Rolle. Wir sehen, dass nur Elektronen mit Energien im Bereich
±ħΩ D um die Fermi-Energie von den Gitterschwingungen beeinflusst werden.
̃ p (q) < Ω D und die Energiedifferenz ħω = E k − E k′ der wechselwirkenden Elek-
2. Falls Ω
̃ p (q)), hat der Korrekturterm durch die
tronen kleiner als ħΩ D ist (d. h. E k − E k′ < ħ Ω
Ionen ein zum elektronischen Beitrag entgegengesetztes Vorzeichen. Wir sprechen von
einem „Overscreening“, das zu einer effektiv anziehenden Wechselwirkung von Elektro-
nen mit q = k − k′ und ħω = E k − E k′ führen kann. Diese Wechselwirkung ist für die
Supraleitung von zentraler Bedeutung.
11.7 Elektron-Elektron-Wechselwirkung und Abschirmung in Metallen 637

11.7.4 Polaronen
In vielen überwiegend kovalent gebundenen Materialien können Elektronen und Löcher in
sehr guter Näherung dadurch beschrieben werden, dass sie sich durch einen Kristall bewe-
gen, dessen Atome an einem festen Ort eingefroren sind. Natürlich streuen sie an Phono-
nen, aber falls diese bei tiefen Temperaturen ausgefroren werden, wird üblicherweise jegli-
che Auslenkung der Ionenrümpfe vernachlässigt. Diese Beschreibung ist für ionische oder
stark polare Festkörper (z.B. II-VI-Halbleiter, Oxide, Alkali-Halogenide) unzureichend, bei
denen die Coulomb-Wechselwirkung zwischen den Leitungselektronen und den Gitterio-
nen zu einer starken Elektron-Phonon-Wechselwirkung führt. Diese führt dazu, dass selbst
bei Abwesenheit von realen Phononen ein Elektron immer von einer lokalen strukturel-
len Verzerrung umgeben ist, die wir als Wolke virtueller Phononen auffassen können. Das
heißt, Elektronen erzeugen bei ihrer Bewegung durch das Kristallgitter in ihrer Umgebung
eine endliche elektrische Polarisation und strukturelle Verzerrung. Benachbarte Elektronen
werden wegen ihrer gleichnamigen Ladung abgestoßen, während die positiven Atomrümp-
fe angezogen werden. Die ein Elektron umgebende Polarisations- und Phononenwolke be-
wegt sich zusammen mit dem Elektron und führt damit zu einer Erhöhung dessen effektiver
Masse. Das neue Quasiteilchen, das aus Elektron und der es umgebenden Polarisationswol-
ke besteht, bezeichnen wir als Polaron. Streng genommen sollten wir von einem Ladungs-
polaron sprechen, da es auch Quasiteilchen gibt, bei denen ein Elektron von einer Spin-
Polarisationswolke oder einer orbitalen Polarisationswolke umgeben ist. Wir sprechen dann
von Spin-Polaronen oder orbitalen Polaronen. In manchen Fällen treten auch Mischungen
dieser Polaronen auf. Wir weisen hier darauf hin, dass Polaronen fermionische Quasiteilchen
sind und nicht mit Polaritonen verwechselt werden sollten. Letztere sind als hybridisierte
Zustände von Photonen und optischen Phononen bosonische Quasiteilchen.
Das Konzept des Polarons wurde bereits 1933 von Lev Landau eingeführt,48 um die Bewe-
gung eines Elektrons in einem dielektrischen Kristall zu beschreiben, in dem sich die Atom-
rümpfe aus ihren Gleichgewichtspositionen bewegen, um die Ladung des Elektrons abzu-
schirmen. Dieses Konzept wurde dann erweitert, um andere Wechselwirkungen zwischen
Elektronen und Ionen in Metallen zu beschreiben, die zu gebundenen Zuständen oder einer
Absenkung der Energie im Vergleich zu einem nicht-wechselwirkenden System führen.49 , 50
Da Polaronen für das Verständnis zahlreicher Materialeigenschaften, wie z.B. der Ladungs-
trägerbeweglichkeit in Halbleitern oder der optischen Leitfähigkeit von polaren Materialien
wichtig sind, stellen sie bis heute ein wichtiges Forschungsthema dar.51 So genannte Bipo-
laronen, die aus zwei Elektronen mit entgegengesetztem Spin und einer gemeinsamen Pho-
nonenwolke bestehen, wurden als mögliche Kandidaten für die Erklärung der Supraleitung
in den Kupratsupraleitern diskutiert.52 Bipolaronen sind ähnlich zu Cooper-Paaren in der
48
L. D. Landau, Über die Bewegung der Elektronen im Kristallgitter, Phys. Z. Sowjetunion 3, 644-645
(1933).
49
H. Fröhlich, H. Pelzer, S. Zienau, Properties of Slow Electrons in Polar Materials, Phil. Mag. 41,
221-242 (1950).
50
H. Fröhlich, Electrons in Lattice Fields, Adv. Phys. 3, 325 (1954).
51
J. T. Devreese, A. S. Alexandrov, Fröhlich Polaron and Bipolaron: Recent Developments, Rep. Prog.
Phys. 72, 066501 (2009).
52
A. S. Alexandrov, N. Mott, Polarons and Bipolarons, World Scientific, Singapore (1996).
638 11 Dielektrische Eigenschaften

BCS-Theorie (vergleiche Kapitel 13) hinsichtlich der Tatsache, dass in beiden Fällen zwei
Elektronen durch den Austausch virtueller Phononen einen Bindungszustand eingehen. In
der BCS-Theorie findet diese Paarung allerdings im k-Raum, bei den Bipolaronen dagegen
im Ortsraum statt.
Bei der Klassifizierung von Polaronen unterscheiden wir zwischen kleinen und großen Po-
laronen. In Materialien, in denen der Radius eines Polarons wesentlich größer als die Git-
terkonstante ist, sprechen wir von großen Polaronen. Sie werden häufig auch als Fröhlich-
Polaronen bezeichnet. In einem Polaron sitzt das Elektron in einer Potenzialmulde, die durch
die Verschiebung der es umgebenden Ionen gebildet wird. In einigen Materialien ist Form
und Tiefe dieser Potenzialmulde so ausgebildet, dass das Elektron in einem sehr kleinen Vo-
lumen, das in etwa nur einer Gitterzelle entspricht, eingefangen ist. Wir sprechen in diesem
Fall von kleinen Polaronen. Eine schematische Darstellung von großen und kleinen Polaro-
nen ist in Abb. 11.25 gezeigt.
Zur Beschreibung von großen Polaronen wurde von Fröhlich folgender Hamilton-Operator
vorgeschlagen:
ℋ = ∑ ε k c k,σ

c k,σ + ∑ ħΩ q,r b†q,r b q,r
k,σ q,r
)︁⌊︂⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂]︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ )︂ )︁⌊︂⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ]︂⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ )︂
ℋel ℋph

+ ∑ γ(α, k, q, r)ħΩ q,r (c k,σ



c k−q,σ b q,r + c k−q,σ

c k,σ b†q,r ) . (11.7.71)
k,σ ,q,r
)︁⌊︂⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ]︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂)︂
ℋel−ph

Dabei wird angenommen, dass die Elektronenwellenfunktion über viele Ionen ausgedehnt
ist, welche alle leicht aus ihrer Gleichgewichtsposition ausgelenkt sind. Wir sehen, dass der

Hamilton-Operator aus der kinetischen Energie der Elektronen besteht (die Operatoren c k,σ
bzw. c k,σ erzeugen bzw. vernichten ein Elektron mit Energie ε k und Spin σ, der Operator

c k,σ c k,σ ist der Teilchenzahloperator), der Energie des Phononensystems und einem Wech-
selwirkungsterm besteht. Die Energie des Phononensystems erhalten wir durch Aufsum-
mieren über alle Wellenvektoren q und Polarisationen r (die Operatoren b†q,r bzw. b q,r er-
zeugen bzw. vernichten ein Phonon mit Energie ħΩ q,r und Polarisation r). Der Wechselwir-
kungsterm enthält Beiträge, bei denen ein Phonon mit Energie ħΩ q,r , Wellenvektor q und
Polarisation r erzeugt und ein Elektron vom Zustand k in den Zustand k − q gestreut wird

(∝ c k−q,σ c k,σ b†q,r ) bzw. bei denen ein Phonon mit Energie ħΩ q,r , Wellenvektor q und Pola-
risation r vernichtet und ein Elektron vom Zustand k − q in den Zustand k gestreut wird

(a) + + (b) + + +
+

+ + + +
e– e–
+ + + + + +

+ + + +
Abb. 11.25: Schematische
Darstellung von (a) großen
und (b) kleinen Polaronen. + + + + + +
11.7 Elektron-Elektron-Wechselwirkung und Abschirmung in Metallen 639

Tabelle 11.5: Elektron-Phonon-Kopplungskonstante α einiger Materialien (nach J. T. Devreese, Po-


larons, in R. G. Lerner, G. L. Trigg, Encyclopedia of Physics (3. Auflage), Wiley-VCH, Weinheim,
S. 2004-2027 (2005).

Material InSb InAs GaAs GaP CdTe CdS AgCl α-Al2 O3


α 0.023 0.652 0.008 0.20 0.29 0.53 1.84 2.40
Material KI TlBr KBr RbI CdF2 KCl CsI Sr2 TiO3
α 2.50 2.55 3.05 3.10 3.20 3.44 3.67 3.77


(∝ c k,σ c k−q,σ b q,r ). Die exakte Form der Größe γ hängt vom Material und den beteiligten
Phononen ab. Die Stärke der Elektron-Phonon-Wechselwirkung wird durch den von Fröh-
lich eingeführten dimensionslosen Parameter α beschrieben (siehe Tabelle 11.5). Er beträgt
etwa zweimal die Zahl der Phononen in der ein Elektron umgebenden Phononenwolke. Wir
erwarten deshalb, dass polaronische Effekte signifikant werden, wenn α in der Größenord-
nung von eins oder größer ist.
Die effektive Masse eines Polarons ist größer als die Bandmasse m b eines Elektrons, da das
Elektron ja zusätzlich die Gitterverzerrung bzw. die es umgebende Phononenwolke mit-
schleppen muss. Es gibt leider keine genauen Formeln für die Beschreibung des Massenzu-
wachses. Nach einer von Richard Feynman entwickelten Näherung können wir die effektive
Masse von großen Polaron schreiben als53 , 54
α
m⋆ ≃ m b (1 + + 0.025α 2 ) für α ≪ 1 (11.7.72)
6
m⋆ ≃ m b (1 + 0.02α 4 ) für α ≫ 1 (11.7.73)

Die theoretische Analyse von kleinen Polaronen benötigt ab initio Rechnungen, welche die
Bewegung jedes einzelnen Atoms in der unmittelbaren Umgebung des Elektrons berücksich-
tigen. Wir wollen darauf hier nicht näher eingehen. Die Bewegung von kleinen Polaronen
kann meist durch ein thermisch aktiviertes Verhalten mit einer Beweglichkeit
1 Wpol
µ(T) ∝ exp (− ) (11.7.74)
T 2k B T
beschrieben werden, die einer Arrhenius-artigen Temperaturabhängigkeit folgt. Hierbei ist
Wpol die Bindungsenergie des Polarons. Durch Energieaufnahme aus dem Wärmebad, ei-
nem äußeren Strahlungsfeld oder durch eine angeschlossene Spannungsquelle können die
kleinen Polaronen aus ihrer lokalen Potenzialmulde in eine benachbarte hüpfen. Aufein-
anderfolgende Hüpfprozesse sind üblicherweise unkorreliert, d.h. der Transfer von kleinen
Polaronen zwischen Gitterplätzen ist inkohärent und folgt dem durch (11.7.74) beschriebe-
nen aktivierten Verhalten. Prinzipiell ist bei sehr tiefen Temperaturen auch eine kohärente
Bewegung von kleinen Polaronen durch quantenmechanisches Tunneln möglich. Sie ist al-
lerdings sehr langsam und aufgrund von Unordnungeffekten unterdrückt.
53
R. P. Feynman, Slow Electrons in a Polar Crystal, Phys. Rev. 97, 660-665 (1955).
54
J. T. Devreese, Polarons, in Digital Encyclopedia of Applied Physics, edited by G. L. Trigg (Wiley,
online, 2008).
640 11 Dielektrische Eigenschaften

11.7.5 Vertiefungsthema: Metall-Isolator-Übergang


Wir betrachten einen Festkörper, der aus Atomen aufgebaut ist, die eine ungerade Anzahl
von Elektronen besitzen (z. B. Wasserstoff oder Natrium). Wir haben in Kapitel 8 gelernt,
dass sich bei einem Überlapp der Elektronenwellenfunktionen der Atome Bänder ausbilden
und bei einer ungeraden Elektronenzahl das oberste gefüllte Band gerade halb gefüllt ist.
Wir erhalten somit ein Metall und zwar anscheinend unabhängig davon, wie weit die Atome
voneinander entfernt sind bzw. wie stark der Überlapp der Wellenfunktionen ist. Dies ist
allerdings nicht ganz richtig, da wir bei unserer Betrachtung die Elektron-Elektron-Wech-
selwirkung völlig vernachlässigt haben.
Wir beginnen unsere Betrachtung mit einem metallischen Zustand, in dem ein Leitungs-
elektron ein abgeschirmtes Coulomb-Potenzial
Q −k s r
ϕ ges (r) = − e (11.7.75)
є0 r
von jedem, in unserem Beispiel einfach geladenen (Q = e) Ion sieht. Für die Thomas-Fermi
Abschirmlänge können wir schreiben
3 n
D(E F )e 2
3 n 2
e 2 (ħ 2 ⇑2m)(3π 2 n)2⇑3
e2 n 1⇑3
= = = = 3.939
2 EF
k s2 , (11.7.76)
є0 V є0 є0 aB
wobei wir die Fermi-Energie E F = ħ 2 (3π 2 n)2⇑3 ⇑2m eines Elektronengases und den Bohr-
schen Radius a B = 4πє 0 ħ 2 ⇑me 2 verwendet haben.
Wir müssen nun noch überlegen, bis zu welchem Wert des Abschirmparameters k s das Po-
tenzial (11.7.75) gebundene Zustände besitzt. Es kann gezeigt werden,55 dass dies genau dann
der Fall ist, wenn k s < 1.19⇑a B . Drücken wir dies mit Hilfe der Elektronendichte aus, so er-
halten wir
n 1⇑3 1.42
3.939 < 2 . (11.7.77)
aB aB

Da für ein einfaches kubisches Gitter n = 1⇑a 3 , erhalten wir hier einen kritischen Ab-
stand a c = 2.78a B . Wird dieser Abstand überschritten, so werden die Leitungselektronen
im abgeschirmten Coulomb-Potenzial gebunden und wir erhalten einen Isolator. Für a < a c
sind dagegen gebundene Zustände nicht möglich. Die Elektronen sind delokalisiert und wir
erhalten ein Metall. Das heißt, wir erhalten bei a = a c einen Metall-Isolator-Übergang.56 , 57
Der Metall-Isolator-Übergang kann experimentell beobachtet werden, wenn ein Halblei-
ter immer stärker dotiert wird. Für mit P dotiertes Si wurde ein Metall-Isolator-Übergang
55
F. J. Rogers, H. C. Graboske, D. J. Harwood, Bound Eigenstates of the Static Screened Coulomb Po-
tential, Phys. Rev. A 1, 1577 (1970).
56
Von N. F. Mott wurde bereits früh ein Metall-Isolator-Übergang für a = 4.5 a B vorhergesagt
(N. F. Mott, Proc. Roy. Soc. London A 382, 1 (1980); siehe auch Metal-Insulator Transitions, Taylor
& Francis, Bristol, 2. Auflage (1990)).
57
P. P. Edwards, C. N. R. Rao (Hrsg.), Metal-Insulator Transitions Revised, Taylor & Francis, Bristol
(1995).
11.7 Elektron-Elektron-Wechselwirkung und Abschirmung in Metallen 641

bei einer kritischen Konzentration n c = 3.74 × 1018 cm−3 beobachtet.58 Nehmen wir für den
Radius des Grundzustands des Donators in Si den Wert a B = 3.2 × 10−7 cm an (vergleiche
Abschnitt 10.1.3), so ergibt das Kriterium (11.7.77) den Wert a c = 1.44 × 10−6 cm. Für ih-
re Dichte ergibt sich dann (wir nehmen der Einfachheit halber ein kubisches Gitter an)
n c ≃ 1⇑a c3 = 0.33 × 1018 cm−3 . Dieser Wert liegt zwar beträchtlich niedriger als der experi-
mentell beobachtete Wert, unsere größenordnungsmäßige Abschätzung lässt aber eine bes-
sere Übereinstimmung auch nicht erwarten.

11.7.6 Elektron-Elektron-Wechselwirkung
und Theorie der Fermi-Flüssigkeit
Die oben gemachte Betrachtung zur Dielektrizitätskonstante eines Metalls ist nur eine grobe
Näherung der realen Situation. Ein wesentlicher Schritt der in Abschnitt 11.7.2 gemachten
Diskussion war die Annahme, dass die verschiedenen Fourier-Koeffizienten des Potenzials
alle unabhängig voneinander sind. Dieses Vorgehen wird auch als Random Phase Approxi-
mation bezeichnet, da zwischen den einzelnen Fourier-Komponenten keine Phasen-Korre-
lationen bestehen. Diese Grundannahme steckt meist auch in tiefergehenden Betrachtun-
gen, auf die wir hier nicht eingehen wollen.
Unsere Überlegungen haben gezeigt, dass die langreichweitige Coulomb-Wechselwirkung
zwischen den Leitungselektronen in Metallen zu einer abgeschirmten Wechselwirkung ab-
geschwächt wird. Die Elektronen bilden aber nicht nur Ladungswolken um Fremdatome und
schirmen deren Feld in großer Entfernung ab, sondern auch um sich selbst. Jedes Elektron
führt sozusagen eine eigene Ladungswolke mit sich. Diese ist positiv, da ein Elektron ef-
fektiv andere Elektronen aus seiner unmittelbaren Umgebung wegdrängt (vergleiche hierzu
Abschnitt 12.5.6.1, wo eine Diskussion unter Berücksichtigung des Spins geführt wird). Für
die Beschreibung des Elektrons mit umgebender Lochwolke ist natürlich eine komplizierte
Wellenfunktion notwendig. Allerdings zeigt sich, dass sich das Gesamtgebilde aus Elektron
und Ladungswolke wie ein Teilchen mit Ladung e verhält und der Einfluss der mitgeführten
Ladungswolke (also die Wechselwirkung mit allen anderen Elektronen) durch eine effektive
Masse m∗ berücksichtigt werden kann. Die Tatsache, dass das Elektron die positiv geladene
Ladungswolke mitschleppen muss, führt zu einer Erhöhung der effektiven Masse eines Elek-
trons, die für Alkali-Metalle typischerweise etwa 25% beträgt. Die Auswirkungen der Elek-
tron-Elektron-Wechselwirkung werden üblicherweise im Rahmen der Landau-Theorie der
Fermi-Flüssigkeiten59 , 60 , 61 beschrieben. Das Ziel dieser Theorie ist, den Wechselwirkungen
im Elektronensystem Rechnung zu tragen. Wir bezeichnen allgemein ein Gas nicht-wech-
selwirkender Fermionen als Fermi-Gas und ein System aus wechselwirkenden Fermionen
als Fermi-Flüssigkeit.

58
T. F. Rosenbaum, R. F. Milligan, M. A. Paalanen, G. A. Thomas, R. N. Bhatt, Metal-insulator transi-
tion in a doped semiconductor, Phys. Rev. B 27, 7509–7523 (1983).
59
L. Landau, Theory of Fermi-Liquids, Sov. Phys. JETP 3, 920 (1957).
60
L. Landau, Oscillations in a Fermi-Liquid, Sov. Phys. JETP 5, 101 (1957).
61
L. Landau, On the Theory of the Fermi-Liquid, Sov. Phys. JETP 8, 70 (1959).
642 11 Dielektrische Eigenschaften

Die Tatsache, dass wir ein System von wechselwirkenden Elektronen als ein System nicht-
wechselwirkender Fermionen betrachten können, wurde von Lev Landau62 im Wesentli-
chen mit zwei Argumenten begründet. Wir können diese verstehen, wenn wir überlegen,
was mit einem nichtwechselwirkenden Elektronesystem passiert, wenn wir die Wechselwir-
kung langsam einschalten:

1. Als Konsequenz der einsetzenden Wechselwirkung werden die Einelektronenenergien


modifiziert. Wie oben bereits ausgeführt, können wir dies durch eine effektive Masse
berücksichtigen, ansonsten aber beim Einelektronenbild bleiben.
2. Durch die einsetzende Wechselwirkung werden die Elektronen zwischen den Einelektro-
nenzuständen gestreut. Ob diese Streuprozesse ein ernstes Problem für unser Einelektro-
nenbild darstellen, hängt davon ob, wie häufig die Streuprozesse sind. Falls die Streurate
durch die Elektron-Elektron-Wechselwirkung viel geringer ist als diejenige durch ande-
re Prozesse, können wir diese ganz vernachlässigen und können das Einelektronenbild
nach wie vor verwenden.
Bei einer naiven Herangehensweise würde man erwarten, dass die Elektron-Elektron-
Streurate sehr hoch ist, da die Coulomb-Wechselwirkung, selbst wenn sie abgeschirmt
ist, groß ist. Wir haben aber in Abschnitt 9.3.1 bereits gesehen, dass die Streurate auf-
grund des Pauli-Prinzips proportional zu (T⇑TF )2 ist somit für Metalle sehr klein wird.
Deshalb stellt die Einelektronenbeschreibung zumindest für Elektronen in einem Be-
reich k B T und die Fermi-Energie eine gute Näherung dar.

Ein Problem mit unserer bisherigen Argumentation ist, dass wir nicht wissen, was wir bei
einer starken Elektron-Elektron-Wechselwirkung tun sollen, wenn die bisherigen Argumen-
te nicht mehr anwendbar sind. Landau erweiterte deshalb die obige Argumentation um ein
subtiles Argument. Er erkannte 1957, dass das Bild der völlig wechselwirkungsfreien Elektro-
nen nicht der richtige Startpunkt ist. Ein adäquater Startpunkt müsste vielmehr ein System
von nichtwechselwirkenden „Quasielektronen“ sein. Er argumentierte, dass wechselwirken-
de Fermionen durch Renormierung wie ein freies Elektronengas behandelt werden können:
es gibt eine genaue Korrespondenz zwischen den Quasielektronen des korrelierten Elek-
tronensystems und den Anregungen des nicht-wechselwirkenden Elektronengases.63 Die
Wechselwirkung wird bei der Renormierung mit einer effektiven Masse m∗ beschrieben.
Die Landau-Theorie beschreibt in der Tat sehr gut die tiefliegenden Einteilchenanregungen
eines Systems wechselwirkender Elektronen. Diese Einteilchenanregungen bezeichnen wir
als Quasiteilchen. Diese Quasiteilchen sind sehr stabil, wenn sie nahe der Fermi-Energie
liegen. Sie laufen jedoch auseinander und sind gedämpft, wenn sie sich weit weg von der
Fermi-Energie befinden.

62
Lev Davidovich Landau, siehe Kasten auf Seite 466.
63
D. Pines, P. Nozières, Theory of Quantum Liquids, Benjamin, New York (1966).
11.8 Ferroelektrizität 643

11.8 Ferroelektrizität
Dielektrische und paraelektrische Substanzen besitzen ohne ein von außen wirkendes elek-
trisches Feld keine elektrische Polarisation. Es gibt aber auch eine Substanzklasse, bei der
sich unterhalb einer bestimmten Temperatur TC , die wir Curie-Temperatur nennen, ohne
äußeres elektrisches Feld eine spontane elektrische Polarisation Ps einstellt. Oberhalb die-
ser Temperatur verhalten sich die Materialien paraelektrisch. Üblicherweise kann die Rich-
tung der spontanen Polarisation mit einem angelegten elektrischen Feld umgepolt werden,
ähnlich wie die Magnetisierung eines Ferromagneten mit einem äußeren Magnetfeld umge-
schaltet werden kann. Wir nennen diese Materialien dann ferroelektrisch.64 Allerdings gibt
es, anders als bei magnetischen Materialien, auch Substanzen wie z. B. LiNbO3 oder LiTaO3 ,
bei denen das Schaltfeld höher als das elektrische Feld ist, das zu einem elektrischen Durch-
bruch führt. Diese Materialien bezeichnen wir als pyroelektrisch,65 da wir ihre Polarisation
nur durch Erhöhen der Temperatur ändern können. Sie besitzen zwar eine spontane Polari-
sation wie ferroelektrische Materialien, werden aber wegen der fehlenden Umschaltbarkeit
mit elektrischen Feldern nicht zu der Materialklasse der Ferroelektrika gezählt. In Analogie
zu magnetischen Materialien gibt es auch ferrielektrische und antiferroelektrische Substan-
zen (siehe Abb. 11.26). Die antiferroelektrische Ordnung zeichnet sich durch die Überlage-
rung mehrerer Teilgitter von geordneten elektrischen Dipolen aus, die eine gleich starke, aber
entgegengesetzte elektrische Polarisation aufweisen, so dass die makroskopische Gesamtpo-
larisation Ps null ist. Jedes Antiferroelektrikum besitzt eine Curie-Temperatur TC , oberhalb
derer beide Teilgitter unpolarisiert und völlig gleichwertig sind. Beispiele sind Ammonium-
dihydrogenphosphat (ADP) oder einige Perowskite wie Bleizirkonat (PbZrO3 ), Natriumnio-
bat oder Bleihafnat. Wenn sich die antiparallelen Dipolmomente der Teilgitter nicht völlig
aufheben, resultiert eine endliche Polarisation. In diesem Fall sprechen wir von Ferrielektri-
zität.
Eine spontane Polarisation kann nur dann auftreten, wenn die Kristallstruktur eine pola-
re Achse besitzt. Voraussetzung für die Existenz einer polaren Achse ist das Fehlen einer
strukturellen Inversionssymmetrie der zugrundeliegenden Kristallstruktur. Als polare Ach-
se bezeichnen wir eine Achse, deren beide Enden nicht vertauschbar sind. Das bedeutet,

(a) (b)
Abb. 11.26: Ferroelektrische (a) und
antiferroelektrische Ordnung (b)
in zwei Dimensionen anhand einer
Perowskitstruktur. Die unterschiedlich
farbigen Ionen sind positiv und nega-
tiv geladen, so dass ihre gegenseitige
Verschiebung in einer Polarisation re-
sultiert. Die getönten Vierecke zeigen
die jeweiligen Einheitszellen.

64
M. Lines, A. Glass, Principles and applications of ferroelectrics and related materials, Clarendon
Press, Oxford (1979).
65
J. C. Joshi, A. L. Dawar, Pyroelectric Materials, Their Properties and Applications, phys. stat. sol. (a)
70, 353 (1982).
644 11 Dielektrische Eigenschaften

(a) Ba2+ (b) Ba2+


O2- O2-

Ti4+ Ti4+
c
b
a

Abb. 11.27: Kristallstruktur von Bariumtitanat: (a) Oberhalb der Curie-Temperatur von etwa 120○ C
liegt BaTiO3 in einer kubischen Kristallstruktur vor. Das Kristallgitter besitzt Inversionssymmetrie und
der positive und negative Ladungsschwerpunkt fallen zusammen. (b) Unterhalb der Curie-Tempera-
tur liegt eine tetragonale Kristallstruktur mit einer leicht elongierten c-Achse vor. Die positiv gelade-
nen Ba2+ und Ti4+ Ionen sind leicht nach oben, die negativ geladenen O2− Ionen leicht nach unten
verschoben, so dass eine spontane Polarisation in c-Achsenrichtung entsteht. Die verzerrte Struktur
besitzt keine Inversionssymmetrie mehr.

dass sich die Kristallstruktur durch eine 180○ -Drehung des Kristallkörpers um irgendeine
zur polaren Achse senkrechte Achse nicht mit sich selbst zur Deckung bringen lässt. Bei
dem in Abb. 11.27 gezeigten BaTiO3 verläuft die polare Achse in c-Achsenrichtung paral-
lel zu der Verschiebung der Ionen. Insgesamt gibt es 20 Kristallklassen, die mindestens eine
polare Achse besitzen.
Ein anschauliches Beispiel für ein System mit drei um 120○ gegeneinander gedrehten po-
laren Achsen ist in Abb. 11.28 gezeigt. In Systemen mit mehr als einer polaren Achse tritt
keine spontane Polarisation auf. Wir erkennen aber sofort, dass bei einer Krafteinwirkung
entlang einer polaren Achse die Schwerpunkte der negativen und positiven Ladungen ge-
geneinander verschoben werden und damit eine endliche Polarisation induziert wird. Wir
bezeichnen Materialien, die keine spontane Polarisation besitzen, in denen eine solche aber
durch eine mechanische Verformung erzeugt werden kann, als piezoelektrisch66 (von grie-
chisch πιєζєιν: drücken, pressen). Das heißt, besitzt eine Substanz mehrere polare Achsen,
so ist sie nicht ferroelektrisch, sondern lediglich piezoelektrisch (siehe Abb. 11.28). Wir wei-
sen darauf hin, dass natürlich alle ferroelektrischen Materialien auch piezoelektrisch sind,
umgekehrt gilt das aber nicht.
𝑭

Abb. 11.28: Gitter ohne Inversionssym-


metrie mit drei polaren Achsen. Druck polare
entlang einer polaren Achse führt zu ei- Achsen
ner gegenseitigen Verschiebung des positi-
ven und negativen Ladungsschwerpunkts
und damit zu einer endlichen Polarisation.

66
D. Damjanovic, Ferroelectric, dielectric and piezoelectric properties of ferroelectric thin films and ce-
ramics, Rep. Prog. Phys. 61, 1267–1324 (1998).
70
11.8 Ferroelektrizität 645

rhomboedrisch
4.03 a=b=c
a Abb. 11.29: Gitterkonstanten von
b Bariumtitanat als Funktion der Tem-
c
Gitterkonstante (Å)

4.02 peratur (nach H. F. Key, P. Vonsden,


Phil. Mag. 40 1019 (1949)). Der Über-
4.01 gang von der paraelektrischen in die
tetragonal
a=b<c
ferroelektrische Phase tritt bei 393 K
4.00
auf, er ist mit einem strukturellen
Phasenübergang von der kubischen
orthorhombisch
a<b<c
in die tetragonale Phase verbunden.
3.99
Bei tieferen Temperaturen folgen
kubisch strukturelle Phasenübergänge in ei-
a=b=c
3.98 ne orthorhombische (bei 278 K) und
100 200 300 400 schließlich rhomboedrische Phase (bei
Temperatur (K) 183 K).

Wie Abb. 11.27 zeigt, kommt bei BaTiO3 die gebrochene Inversionssymmetrie durch einen
Phasenübergang von einer kubischen in eine tetragonale Kristallstuktur bei etwa 120 ○ C
zustande. Die positiv geladenen Ba2+ und Ti4+ Ionen sind gegen die negativ geladenen
O2− Ionen um etwa 0.1 Å verschoben, wodurch eine spontane Polarisation Ps ≃ 20 µC⇑cm2
in c-Achsenrichtung entsteht.
Aufgrund der Namensgebung (dielektrisch, paraelektrisch, ferroelektrisch) ist man geneigt,
eine große phänomenologische Ähnlichkeit zwischen ferromagnetischen und ferroelektri-
schen Materialien zu vermuten. In diesem Fall könnte die Beschreibung von Ferroelektri-
ka auf diejenige von Ferromagnetika und umgekehrt zurückgeführt werden. Wir müssten
nur die permanenten magnetischen durch elektrische Dipole sowie die Größen Magnetisie-
rung und Magnetfeld durch Polarisation und elektrisches Feld ersetzen. Leider kann diese
Analogie nicht zu weit getrieben werden, da den Phänomenen Ferroelektrizität und Ferro-
magnetismus letztendlich doch sehr unterschiedliche physikalische Mechanismen zugrunde
liegen. Insbesondere zeigt der Phasenübergang von der paraelektrischen in die ferroelektri-
sche Phase ein weitaus reichhaltigeres Verhalten. Während der Übergang in die ferromagne-
tische Phase ein Phasenübergang 2. Ordnung ist, kann der Übergang in die ferroelektrische
Phase sowohl 1. als auch 2. Ordnung sein. Ferner sind die Phasenübergänge in die ferro-
elektrische Phase meist mit strukturellen Phasenübergängen verbunden. Als Beispiel dafür
ist in Abb. 11.29 wiederum BaTiO3 gezeigt. Der Übergang von der paraelelektrischen in die
ferroelektrische Phase bei 393 K ist mit einem strukturellen Phasenübergang von der ku-
bischen in die tetragonale Phase verbunden, bei dem die a- und b-Achse kürzer und die
c-Achse länger wird. Dabei handelt es sich um einen Phasenübergang 1. Ordnung, bei dem
die Polarisation an der Übergangstemperatur von null auf einen endlichen Wert springt.
Ferner tritt beim Durchfahren des Phasenübergangs in unterschiedliche Temperaturrich-
tungen Hysterese auf. Bei tieferen Temperaturen werden weitere Phasenübergänge in eine
orthorhombische und schließlich rhomboedrische Phase beobachtet. Diese sind mit Rich-
tungsänderungen der polaren Achse verbunden. Die Curie-Temperaturen und die spontane
Polarisation sind für einige ferroelektrische Materialien in Tabelle 11.6 zusammengefasst.
646 11 Dielektrische Eigenschaften

Tabelle 11.6: Curie-Temperaturen TC Material TC [K] Ps [C/m2 ] bei T [K]


und spontane Polarisation Ps von ei-
BaTiO3 393 0.26 300
nigen ferroelektrischen Materialien.
KNbO3 690 0.30 520
PbTiO3 765 0.50 300
LiTaO3 883 0.50 300
LiNbO3 1423 0.71 300

KH2 PO4 123 0.0475 96


KD2 PO4 213 0.0483 180
KH2 AsO4 97 0.05 78

11.8.1 Landau-Theorie der Phasenübergänge


Beim Übergang vom paralelektrischen in den ferroelektrischen Zustand handelt es sich um
einen Phasenübergang von einer ungeordneten in eine geordnete Phase. Der Ordnungspa-
rameter ist dabei die spontane Polarisation Ps , die uns den Grad der Ordnung der elektri-
schen Dipolmomente angibt. Bevor wir die spezifischen Eigenschaften von Ferroelektrika
näher diskutieren, machen wir deshalb vorher einen kurzen Exkurs in die Landau-Theorie
der Phasenübergänge.67 , 68 , 69 In dieser phänomenologischen Beschreibung von Phasenüber-
gängen geht man von einer freien Energie ℱ = U − T S aus.70 Die freie Energie eignet sich
besonders zur Beschreibung von Prozessen, die bei konstanter Temperatur und konstantem
Volumen ablaufen.71 Mit dU = TdS − pdV − V Ps ⋅ dE erhalten wir das totale Differential

67
Bei theoretischen Beschreibungen von Phasenübergängen spielt die Landau- oder auch Mean-
Field-Theorie eine wichtige Rolle. Dabei werden jedoch kritische thermische Fluktuationen ver-
nachlässigt, die in der Umgebung des Übergangs eine wesentliche Rolle spielen können. Die
Landau-Theorie vermittelt trotzdem als Ausgangspunkt genauerer Theorien wertvolle erste Ein-
sichten. Dies ist insbesondere von Kenneth G. Wilson erkannt worden, der 1982 den Nobelpreis
für bahnbrechende Arbeiten über kontinuierliche Phasenübergänge erhielt. Wilson ist einer der
entscheidenden Pioniere der Renormierungsgruppentheorie, die berücksichtigt, dass bei kontinu-
ierlichen Phasenübergängen die kritischen Fluktuationen auf vielen Längenskalen in selbstähnli-
cher Form stattfinden.
68
W. Gebhardt, U. Krey, Phasenübergänge und kritische Phänomene - Eine Einführung, Vieweg (1980).
69
L. D. Landau, E. M. Lifschitz, Lehrbuch der theoretischen Physik V. Statistische Physik, Akademie
Verlag, Berlin (1970).
70
Eine detaillierte Beschreibung der thermodynamischen Eigenschaften von Festkörpern kann in
Anhang G gefunden werden.
71
Prozesse mit dV = 0 sind experimentell oft schwierig zu realisieren. Deshalb ist es manchmal
zweckmäßiger, die freie Enthalpie (auch Gibbs-Potenzial genannt)
𝒢 = U − T S + pV − V Ps ⋅ E
zu betrachten, deren totales Differential gegeben ist durch
d𝒢 = dU − SdT − TdS + pdV + Vd p − V Ps ⋅ dE − V E ⋅ dPs = −SdT + Vd p − V Ps ⋅ dE .
Betrachten wir jetzt einen Prozess, der bei konstanter Temperatur und konstantem Druck abläuft,
2
𝒢
was experimentell leichter zu realisieren ist, so ist Ps,i = − V1 ( ∂E
∂𝒢
) und χ i j = − є 01V ( ∂E∂ ∂E ) .
i p,T i j p,T
Wir werden im Folgenden trotzdem die freie Energie benutzen.
11.8 Ferroelektrizität 647

der freien Energie zu [vergleiche hierzu (G.3.2) in Anhang G]

dℱ = −SdT − pdV − V Ps ⋅ dE . (11.8.1)

Betrachten wir einen isotherm-isochoren Prozess, bei dem dT = 0 und dV = 0, so gilt

1 ∂ℱ
Ps,i = − ( ) (11.8.2)
V ∂E i V ,T

1 ∂Ps,i 1 ∂2 ℱ
χi j = ( ) =− ( ) . (11.8.3)
є 0 ∂E j V ,T є 0 V ∂E i ∂E j V ,T

Da in der Nähe des Phasenübergangs der Ordnungsparameter Ps klein ist, können wir die
freie Energiedichte f = ℱ⇑V in eine Potenzreihe des Ordnungsparameters Ps entwickeln:

f(Ps , T, E) = −E ⋅ Ps + a 0 + 12 a 2 Ps2 + 14 a 4 Ps4 + 16 a 6 Ps6 + . . . . (11.8.4)

Hierbei treten aus Symmetriegründen für Kristalle, die im unpolarisierten Zustand ein In-
versionszentrum besitzen, keine ungeraden Potenzen von Ps auf. Auf Systeme, für die auch
ungerade Potenzen wichtig sind, wollen wir hier nicht eingehen.
Der thermische Gleichgewichtswert von Ps ist durch das Minimum von f(Ps ) gegeben. Der
Wert von f an diesem Minimum entspricht der Helmholtzschen freien Energiedichte. Die
Gleichgewichtspolarisation in einem elektrischen Feld E muss also die Bedingung

∂f
⋀︀ = 0 = −E + a 2 Ps + a 4 Ps3 + a 6 Ps5 + . . . . (11.8.5)
∂Ps T,E=const

erfüllen. Wir nehmen im Folgenden an, dass die betrachtete Probe ein langer Stab ist und
das elektrische Feld parallel zu diesem Stab angelegt ist. Dann müssen wir keine Depolari-
sationseffekte berücksichtigen.
Um einen ferroelektrischen Zustand mit endlicher spontaner Polarisation zu erhalten, müs-
sen wir annehmen, dass der Koeffizient a 2 bei einer endlichen Temperatur T0 sein Vorzei-
chen wechselt:

a 2 = γ(T − T0 ) . (11.8.6)

Hierbei ist γ eine positive Konstante und T0 ist kleiner oder gleich der Übergangstempera-
tur. Ein negativer Wert von a 2 bedeutet, dass das unpolarisierte Gitter instabil ist. Die physi-
kalische Ursache für die angenommene Temperaturabhängigkeit kann z. B. die thermische
Ausdehnung des Kristallgitters oder andere anharmonische Effekte sein.
Thermodynamisch unterscheiden wir nach der Ehrenfest-Klassifikation Phasenübergänge
erster und höherer Ordnung. Bei einem Phasenübergang 1. Ordnung ändern sich die ersten
Ableitungen der thermodynamischen Potenziale (z. B. nach Temperatur, elektrischem Feld,
Druck) am Punkt des Phasenübergangs sprunghaft. Für unseren Fall des Übergangs von ei-
ner paraelektrischen in eine ferroelektrische Phase bedeutet dies, dass die Ableitung dℱ⇑dE
unstetig ist, sich also die spontane Polarisation Ps am Punkt des Phasenübergangs sprunghaft
648 11 Dielektrische Eigenschaften

ändert. Allgemein ändern sich bei einem Phasenübergang n-ter Ordnung die n-ten Ablei-
tungen der thermodynamischen Potenziale sprunghaft, während alle (n − 1)-ten Ableitun-
gen am Umwandlungspunkt stetig sind. Wiederum auf unseren Fall übertragen bedeutet
dies, dass zum Beispiel bei einem Phasenübergang 2. Ordnung die 1. Ableitung der freien
Energie nach dem elektrischen Feld stetig ist, sich also die spontane Polarisation am Um-
wandlungspunkt kontinuierlich ändert. Dagegen zeigt die 2. Ableitung, also die elektrische
Suszeptibilität einen Sprung.

11.8.1.1 Phasenübergang 2. Ordnung


Falls in Gleichung (11.8.4) der Koeffizient a 4 positiv ist, wird nichts Neues durch einen zu-
sätzlichen Term 6. Ordnung hinzugefügt. Wir können diesen folglich vernachlässigen. Aus
(11.8.5) folgt dann für E = 0

γ(T − T0 )Ps + a 4 Ps3 = 0 . (11.8.7)

Diese Gleichung können wir entweder mit Ps = 0 oder Ps2 = (γ⇑a 4 )(T0 − T) erfüllen. Da
sowohl γ als auch a 4 positiv sind, ist für T ≥ T0 die einzig mögliche reelle Lösung Ps = 0.
Wir können deshalb T0 mit der Curie-Temperatur TC identifizieren. Für T < T0 erhalten
wir die Lösung
}︂
γ ⌈︂
⋃︀Ps ⋃︀ = T0 − T . (11.8.8)
a4

Wir nennen den Phasenübergang einen Phasenübergang 2. Ordnung, da die Polarisation für
T → TC kontinuierlich gegen null geht. Bei einem Phasenübergang 1. Ordnung tritt dagegen
ein Sprung auf.

11.8.1.2 Phasenübergang 1. Ordnung


Wir diskutieren jetzt den Fall a 4 < 0, für den wir den Term 6. Ordnung mitnehmen müssen,
um zu verhindern, dass ℱ → −∞ für große Ps . Aus (11.8.5) folgt für E = 0

γ(T − T0 )Ps − ⋃︀a 4 ⋃︀Ps3 + a 6 Ps5 = 0 . (11.8.9)

In diesem Fall ist also entweder Ps = 0 oder

γ(T − T0 ) − ⋃︀a 4 ⋃︀Ps2 + a 6 Ps4 = 0 . (11.8.10)

Als weitere Randbedingung muss die freie Energie des paraelektrischen und ferroelektri-
schen Zustandes für T = TC gleich groß sein. Das bedeutet, dass der Wert von ℱ für Ps = 0
und der Wert des Minimums von ℱ, das durch (11.8.10) festgelegt ist, gleich sein müssen.
Um dies zu veranschaulichen, ist in Abb. 11.30 der Verlauf der freien Energie als Funktion
des Ordnungsparameters Ps für mehrere Temperaturen gezeigt. Für T > TC liegt das globale
Minimum bei Ps = 0, für T = TC besitzt ℱ für Ps = 0 und einen endlichen Wert von Ps den-
selben Wert. Schließlich liegt für T < TC das globale Minimum bei endlichem Ps . Kühlt man
das System ab, so springt bei T = TC der Ordnungsparameter Ps von null auf einen endlichen
Wert. Bei weiterer Abkühlung steigt dann Ps noch weiter an, da sich das globale Minimum
11.8 Ferroelektrizität 649

3
freie Energie (bel. Einheiten)

𝑻 > 𝑻𝑪
2

1 𝑻 = 𝑻𝑪

𝑻 < 𝑻𝑪 Abb. 11.30: Freie Energie als Funktion


0 des Quadrats der spontanen Pola-
risation für einen Phasenübergang
1. Ordnung. Für T > TC liegt nur ein
-1 globales Minimum bei Ps = 0 vor.
Für T = TC liegen zwei Minima mit
verschwindendem und endlichem Ps
-2
0 1 2 3 4 beim gleichen Wert der freien Ener-
2 gie vor. Für T < TC liegt das globale
Ps (bel. Einheiten) Minimum bei endlichem Ps .
77

zu höheren Ps -Werte verschiebt. Wir sehen auch, dass für einen bestimmten Temperaturbe-
reich die lokalen Minima bei Ps = 0 und endlichem Ps durch eine Energiebarriere getrennt
sind, so dass es beim Durchfahren der Temperatur in unterschiedliche Richtungen zu Hys-
tereseeffekten kommt.

11.8.2 Klassifizierung von Ferroelektrika


Ferroelektrische Materialien können grob in zwei Klassen unterteilt werden, je nachdem
welcher physikalische Mechanismus zur Ausbildung einer spontanen Polarisation führt. Zur
ersten Klasse gehören Substanzen, bei denen der Übergang in die ferroelektrische Phase
mit einem Ordnungs-Unordnungs-Übergang verbunden ist. Dabei sind bereits in der pa-
raelektrischen Phase gegenseitige Verschiebungen der positiven und negativen Ladungen,
also elektrische Dipolmomente vorhanden. Diese sind aber völlig ungeordnet und ergeben
deshalb keine Gesamtpolarisation. Erst beim Abkühlen unterhalb TC setzt eine Ordnung
der Dipolmomente ein, was zu einer endlichen spontanen Polarisation führt. Zur 2. Klas-
se gehören Substanzen, bei denen der Übergang in die ferroelektrische Phase mit einem
Verschiebungs- oder displaziven Übergang verbunden ist. Hier existieren in der paraelelek-
trischen Phase keine elektrischen Dipolmomente. Erst beim Abkühlen unterhalb TC setzt
eine gegenseitige Verschiebung der positiven und negativen Ladungsschwerpunkte ein, die
zu einer endlichen spontanen Polarisation führt.

11.8.2.1 Ordnungs-Unordnungs-Systeme
Zu den Substanzen mit einem Ordnungs-Unordnungs-Übergang gehören Systeme mit Was-
serstoffbrückenbindungen, in denen die Bewegung des Protons mit den ferroelektrischen
Eigenschaften verbunden ist (siehe Abb. 11.31). Ein typischer Vertreter ist Kalium-Dihydro-
gen-Phosphat (KDP: KH2 PO4 ), bei dem die Protonen in den Wasserstoffbrückenbindungen
zwischen den PO4 -Ionen zwei Gleichgewichtslagen einnehmen können. Die resultierenden
elektrischen Dipolmomente sind in der paraelektrischen Phase oberhalb von TC = 123 K
650 11 Dielektrische Eigenschaften

paraelektrisch ferroelektrisch
nach vorne

H, fehlgeordnet

Phosphat

Abb. 11.31: Ordnungs-Unordnungs-Übergang beim Kalium-Dihydrogen-Phosphat (KDP: KH2 PO4 ).


In der paraelektrischen Phase sind die Wasserstoffionen ungeordnet und nehmen statistisch gleichver-
teilt zwei unterschiedliche Plätze ein. In der ferroelektrischen Phase sind sie geordnet und führen zu
einer spontanen Polarisation.

zunächst ungeordnet. Erst unterhalb von TC wird eine Position bevorzugt, wodurch eine
endliche spontane Polarisation resultiert. Dass die Protonen entscheidend sind, kann durch
Deuterieren von KDP gezeigt werden, was zu einer Erhöhung von TC auf 213 K führt.

11.8.2.2 Displazive Systeme


Die prominenten Vertreter displaziver Systeme sind Ionenkristalle mit Perowskit-Struktur.72
Typische Beispiele sind das bereits angesprochene BaTiO3 , aber auch KNbO3 , PbTiO3 oder
LiTaO3 . Bei der Übergangstemperatur verschieben sich die negativen Sauerstoffionen gegen
die positiven Metallionen (siehe Abb. 11.27). Bei BaTiO3 wird für Raumtemperatur eine
spontane Polarisation von etwa 0.25 C⇑m2 gemessen. Bei einem Zellvolumen von etwa 64 ×
10−30 m3 ergibt sich daraus ein Dipolmoment von etwa 1.6 × 10−29 Cm. Daraus können wir
die Verschiebung der positiven Ba2+ und Ti4+ Ionen gegenüber den drei O2− Ionen zu etwa
0.15 Å abschätzen.
Den physikalischen Mechanismus, der zu dieser Verschiebung führt, können wir verstehen,
wenn wir die Frequenz der transversalen optischen (TO) Phononen in Ionenkristallen be-
trachten. Wir haben in Abschnitt 11.4.1 gesehen, dass die Schwingungsfrequenz der TO
Phononen in einem Ionenkristall erniedrigt ist, da das lokale elektrische Feld, das durch
die Auslenkung der Ionen induziert wird, der elastischen Rückstellkraft entgegengesetzt ist.
Es ist evident, dass es für den Fall, dass die Kraft durch das lokale Feld größer als die elas-
tische Rückstellkraft wird, zu einer Polarisationskatastrophe kommt. Dieser Fall tritt dann
ein, wenn die Kraft durch das lokale Feld schneller mit der Auslenkung der Ionen ansteigt

72
Perowskit ist ein Mineral mit der chemischen Formel CaTiO3 . Perowskit wurde 1839 von Gustav
Rose im Ural-Gebirge entdeckt und nach dem russischen Mineralogen Lew Alexejewitsch Perow-
ski (1792–1856) benannt. Die Struktur besteht aus einer kubisch dichtest gepackten Kugelpackung
(kubisch flächenzentriert) von Ca2+ - und O 2− -Ionen, ein Viertel der entstehenden Oktaederlücken
werden von den Ti4+ -Ionen besetzt. Interessanterweise ist der für den Strukturtyp namensgeben-
de Perowskit selbst leicht verzerrt, da der Ionenradius von Ca2+ etwas zu klein ist. Eine optimale,
unverzerrte kubische Struktur findet sich stattdessen im SrTiO3 .
11.8 Ferroelektrizität 651

als die linear mit der Auslenkung ansteigende elastische Rückstellkraft.73 Der eben beschrie-
bene Vorgang ist äquivalent dazu, dass die Eigenfrequenz der TO Phononen gegen null geht.
Wir sprechen in diesem Zusammenhang von weichen optischen Phononen. Der Übergang
in die ferroelektrische Phase kann in diesem Bild als ein Einfrieren der transversalen opti-
schen Gitterschwingungen aufgefasst werden, bei dem die entgegengesetzt geladenen Ionen
voneinander getrennt werden.
Wir wollen jetzt noch diskutieren, unter welchen Voraussetzungen sich eine Polarisations-
katastrophe ergibt. Dies können wir anhand der Clausius-Mossotti Beziehung (11.3.22) und
der Lyddane-Sachs-Teller (LST) Relation (11.4.17) tun. Lösen wir (11.3.22) nach der Dielek-
trizitätskonstanten auf, so erhalten wir

1 + 23 ∑ i n V ,i α i
є= . (11.8.11)
1 − 13 ∑ i n V ,i α i

Hierbei setzt sich α i aus der elektronischen und ionischen Polarisierbarkeit zusammen und
wir haben berücksichtigt, dass wir in der betrachteten Substanz mehrere Ionensorten mit
unterschiedlicher Dichte n V ,i und Polarisierbarkeit α i vorliegen haben. Aus (11.8.11) wird
sofort klar, dass bei einer hohen ionischen Polarisierbarkeit, wie sie für viele Ionenkristal-
le charakteristisch ist, die Summe ∑ i n V ,i α i so groß werden kann, dass der Nenner gegen
null und damit є → ∞ geht. Dieser Fall kann zum Beispiel durch das Abkühlen einer Sub-
stanz eintreten. Nach der LST-Relation geht dann die Schwingungsfrequenz der tranversa-
len optischen Phononen gegen null. Wir erhalten eine statische gegenseitige Auslenkung der
verschiedenen Ionensorten und damit eine spontane Polarisation.

800

SrTiO3
Dielektrizitätskonstante

600

BaTiO3
400
KTaO3

200
Abb. 11.32: Temperaturabhängig-
keit der Dielektrizitätskonstante
der paraelektrischen Perowskite
0 BaTiO3 , KTaO3 und SrTiO3 (nach
0 2 4 6 8 10
G. Rupprecht and R. O. Bell, Phys. Rev.
-1
1000 / (T -) (K ) 135, A748–A752 (1964)).

73
Selbstverständlich wird die Auslenkung nicht beliebig groß. Bei größeren Auslenkungen gilt die
elastische Näherung nicht mehr und anharmonische Effekte führen dazu, dass die Rückstellkraft
wiederum schneller mit der Auslenkung anwächst als die Kraft durch das lokale elektrische Feld.
652 11 Dielektrische Eigenschaften

Da sich beim Abkühlen einer paraelektrischen Substanz oberhalb von TC die Summe
3 ∑ i V ,i i
1
n α dem Wert 1 annähert, können wir nahe bei TC davon ausgehen, dass

1
δ =1− ∑ n V ,i α i ≪ 1 . (11.8.12)
3 i

Wir nehmen nun ferner an, dass sich der Parameter δ linear mit der Temperaturdifferenz
(T − Θ) ändern soll:

δ(T) ∝ (T − Θ) . (11.8.13)

Hierbei ist Θ die paraelektrische Curie-Temperatur. Setzen wir dies in (11.8.11) ein, so er-
halten wir
1
є(T) ∝ . (11.8.14)
T −Θ
Diese Temperaturabhängigkeit bezeichnen wir als Curie-Weiss-Gesetz. Sie beschreibt den
experimentell beobachteten Temperaturverlauf der Dielektrizitätskonstante im paraelektri-
schen Bereich sehr gut (siehe Abb. 11.32).
Setzen wir den Verlauf (11.8.14) für є(T) in die LST-Relation (11.4.17) ein, so erhalten wir
für die Frequenz der TO Phononen den Temperaturverlauf

ω 2T (T) ∝ є stat ω 2L (T − Θ) . (11.8.15)

Hierbei ist є stat die Dielektrizitätskonstante für Frequenzen ω ≫ ω L (z. B. im sichtbaren Be-
reich), bei der wir die ionische Polarisierbarkeit null setzen, aber immer noch α el (0) verwen-
den können, da die typischen Eigenfrequenzen der elektronischen Prozesse im UV-Bereich
liegen. Wir sehen also, dass die Frequenz der TO Phononen im paraelektrischen Bereich mit
abnehmender Temperatur gegen null geht, die TO Phononen also immer weicher werden.
Wie Abb. 11.33 zeigt, stimmt dies sehr gut mit der experimentellen Beobachtung überein.

2.4 8
SrTiO3
1.8 6
(T / 2) (10 s )
-2
24
1000 / 

Abb. 11.33: Temperaturabhängig- 1.2 4


keit der Dielektrizitätskonstante
2

und der TO Phononenfrequenz


von SrTiO3 . Die Phononenfrequen-
zen wurden mit Hilfe von Raman- 0.6 2
Streuung und inelastischer Neutro-
nenstreuung gemessen (nach T. Sa-
kudo, H. Unoki, Phys. Rev. Lett. 26, 0.0 0
851 (1971) und Y. Yamada, G. Shira- 0 100 200 300
ne, J. Phys. Soc. Jpn 26, 396 (1969)). T (K)
11.8 Ferroelektrizität 653

11.8.3 Ferroelektrische Domänen


In einem ferroelektrischen Kristall mit einer polaren Achse, wie z. B. in BaTiO3 in seiner
tetragonalen Phase, kann sich die spontane Polarisation prinzipiell in zwei entgegengesetz-
te Richtungen einstellen. Würde überall im Kristall die Polarisation in die gleiche Richtung
zeigen, so würden dadurch außerhalb des Kristalls beträchtlich Streufelder entstehen, die
mit einer großen Feldenergie verbunden sind. Deshalb ist es vor allem für dünne Platten mit
Polarisation senkrecht zur Platte energetisch günstiger, Bereiche mit entgegengesetzter Po-
larisation zu bilden. Diese Bereiche nennen wir ferroelektrische Domänen. Von Domäne zu
Domäne ändert sich die Polarisationsrichtung im Bereich weniger Atomlagen, in denen die
Polarisation verschwindet. Durch die Domänenbildung kann die Feldenergie reduziert wer-
den, wobei gleichzeitig Energie für die Bildung von Domänenwänden aufgebracht werden
muss. Die Form und Größe der Domänen hängt von den verschiedenen Energiebeiträgen ab,
die wiederum von der Form der Probe, der Struktur der Domänenwände und der kristallo-
graphischen Orientierung der Probe abhängen. Die Domänenstruktur ändert sich auch bei
einer Änderung des angelegten elektrischen Feldes. Insgesamt ist die Beschreibung der Be-
wegung der Domänenwände relativ kompliziert. Sie muss verstanden werden, um die Form
der ferroelektrischen Hysteresekurve, die beim Umpolen des elektrischen Feldes durchfah-
ren wird, zu verstehen.
Im Gegensatz zu Domänenwänden in Ferromagneten, wo Domänenwände eine typische
Breite von 10 nm und mehr haben (vergleiche Abschnitt 12.8.1), sind die ferroelektrischen
Domänenwände nur wenige Nanometer breit. Wegen der schmäleren Domänenwände kön-
nen unterschiedlich orientierte Domänen in ferroelektrischen Dünnschichten eine höhere
Dichte aufweisen als in ferromagnetischen Dünnschichten. Deshalb erhofft man sich ei-
ne höhere maximale Informationsdichte bei der Entwicklung ferroelektrischer Speicher-
medien.

11.8.4 Piezoelektrizität
Unter Piezoelektrizität versteht man die Änderung der elektrischen Polarisation und somit
das Auftreten einer elektrischen Spannung an Festkörpern, wenn sie elastisch verformt wer-
den (direkter piezoelektrischer Effekt). Umgekehrt verformen sich Materialien bei Anlegen
einer elektrischen Spannung (inverser piezoelektrischer Effekt). Der direkte piezoelektrische
Effekt wurde im Jahre 1880 von den Brüdern Jacques und Pierre Curie entdeckt. Bei Versu-
chen mit Turmalinkristallen fanden sie heraus, dass bei einer mechanischen Verformung der
Kristalle auf der Kristalloberfläche elektrische Ladungen entstehen, deren Menge sich pro-
portional zur Verformung verhält. Grundsätzlich sind alle Materialien, die ferroelektrisch
sind, auch piezoelektrisch aber nicht umgekehrt. Zum Beispiel ist Quarz piezoelektrisch aber
nicht ferroelektrisch.
In Abb. 11.28 haben wir bereits die Ursache für den piezoelektrischen Effekt veranschau-
licht. Wird ein Kristall durch eine äußere Kraft in Richtung seiner polaren Achse verformt,
so fallen die Schwerpunkte der negativen und positiven Ladungen nicht mehr zusammen
und es entsteht eine endliche Polarisation. Das heißt, durch die gerichtete Verformung des
piezoelektrischen Materials bilden sich mikroskopische Dipole innerhalb der Elementarzel-
654 11 Dielektrische Eigenschaften

len aus. Das Aufsummieren über die damit verbundenen elektrischen Dipolfelder führt zu
einer makroskopisch messbaren elektrischen Spannung entlang der polaren Achse. Wichtig
ist, dass die Verformung gerichtet ist, das heißt, dass der angelegte Druck nicht von allen
Seiten auf die Probe wirkt. Umgekehrt kann durch Anlegen einer elektrischen Spannung
eine Verformung des Kristalls erreicht werden. Wie auch jeder andere Festkörper, können
piezoelektrische Körper mechanische Schwingungen ausführen. Bei Piezoelektrika können
diese Schwingungen elektrisch angeregt werden. Andererseits bewirken die mechanischen
Schwingungen wieder eine elektrische Wechselspannung. Die Frequenz der Schwingung ist
nur von der Schallgeschwindigkeit (eine Materialkonstante) und den Abmessungen des pie-
zoelektrischen Körpers abhängig. Bei geeigneter Befestigung hängen diese Frequenzen kaum
von Umgebungseinflüssen ab. Deshalb sind piezoelektrische Bauteile wie Schwingquarze
sehr gut für präzise Oszillatoren geeignet (z. B. in der Quarzuhr).
Wirkt auf einen piezoelektrischen Kristall neben einem externen elektrischen Feld Eext noch
eine mechanische Spannung σ (vergleiche Abschnitt 4.2), so können wir die resultierende
dielektrische Verschiebung D schreiben als
D = є 0 χ elσ ⋅ Eext + P + d ⋅ σ = є 0 є σ ⋅ Eext + d ⋅ σ . (11.8.16)
Hierbei sind χ elσ und є σ die Tensoren der elektrischen Suszeptibilität und der Dielektrizi-
tätskonstante bei konstanter Spannung σ, d ist der Tensor des piezoelektrischen Effekts. Die
Koeffizienten des Tensors liegen in der Größenordnung von 1–100 × 10−12 C⇑N. Umgekehrt
können wir die Dehnung e eines piezoelektrischen Kristalls bei von außen wirkender me-
chanischer Spannung σ und elektrischem Feld Eext durch
e = C E ⋅ σ + d t ⋅ Eext (11.8.17)
ausdrücken. Hierbei ist C E der Elastizitätsmodul bei konstantem elektrischen Feld und d t
der Tensor für den inversen piezoelektrischen Effekt.74 Die piezoelektrischen Verzerrungs-
koeffizienten sind gegeben durch
E σ
∂e i ∂D i
di j = ( ) =( ) , (11.8.18)
∂E j ∂σ j
wobei der erste Ausdruck für den direkten und der zweite für den inversen piezoelektrischen
Effekt gilt. Häufig wird auch der piezoelektrische Spannungskoeffizient g E bei konstantem
elektrischen Feld verwendet, der die erzeugte Polarisation mit der wirkenden Spannung ver-
knüpft:
P = gE ⋅ σ . (11.8.19)
Er ist durch
E E
∂D i ∂D i E σk
gi j = ( ) = ∑( ) ⋅( ) = ∑ di k ⋅ Ck j (11.8.20)
∂e j k ∂σ k ∂e j k

74
Man beachte, dass Spannung und Dehnung eigentlich Tensoren 2. Stufe sind und der Elastizitäts-
modul dadurch ein Tensor 4. Stufe. Da es sich aber bei Spannung und Dehnung um symmetrische
Tensoren handelt, reduziert man sie mit Hilfe der Voigt-Notation (11 = 1, 22 = 2, 33 = 3, 13 = 4,
23 = 5, 12 = 6) zu 6-komponentigen Vektoren. Der Elastizitätsmodul ist dann eine 6×6-Matrix.
11.8 Ferroelektrizität 655

gegeben. Die beiden Koeffizienten sind also über die elastischen Konstanten des Materials
verknüpft.
Piezoelektrische Materialien finden vielfältige Anwendungen in der Sensorik und Aktorik.
Im Bereich der Aktorik sind zwei Haupteffekte relevant, für welche die Gleichung für die
Dehnung vereinfacht werden kann. Für den piezoelektrischen Quer- oder Transversaleffekt
(d 31 -Effekt), bei dem die Dehnung quer zum angelegten Feld auftritt, gilt

e 1 = C 11
E
⋅ σ1 + d 31 ⋅ E ext,3 . (11.8.21)

Beim piezoelektrischer Längs- oder Longitudinaleffekt (d 33 -Effekt), bei dem die Dehnung
parallel zum angelegten Feld auftritt, gilt

e 3 = C 33
E
⋅ σ3 + d 33 ⋅ E ext,3 . (11.8.22)

In der Aktorik dienen Piezoelemente zur genauen Positionierung. Ein bekanntes Beispiel
ist die Positionierung der Tunnelspitze bei der Rastertunnelmikroskopie. Weitere wichtige
Anwendungen sind Tintenstrahldrucker und Piezolautsprecher, bei denen die Schallwellen
durch eine tonfrequente Wechselspannung erzeugt werden. Auch Dieseleinspritzsysteme ar-
beiten mit piezoelektrischen Aktoren (keramische Vielschichtbauteile mit Edelmetallinnen-
elektroden) und haben die so genannte Common-Rail-Technik verbessert. Dabei wird die
Einspritzung von Diesel über Ventile teilweise ersetzt. Seit 2005 werden auch beim Pumpe-
Düse-System Piezoaktoren eingesetzt. Industrieunternehmen, die derartige Piezoaktoren in
großen Stückzahlen fertigen, sind die Firmen Epcos und Bosch.
In der Sensorik wird das Auftreten der piezoelektrischen Ladung bei mechanischer Ver-
formung in Kraft-, Druck- und Beschleunigungssensoren ausgenutzt. Die Piezoelemente
dienen zur Wandlung von mechanischem Druck in elektrische Spannung. Einige Beispiele
sollen im Folgenden kurz diskutiert werden. In der Musik werden Piezoelemente als Ton-
abnehmer für akustische Instrumente genutzt, hauptsächlich bei Saiteninstrumenten wie
Gitarre, Geige oder Mandoline. Die dynamische Verformung des Instrumentes (Vibrati-
on des Klangkörpers) wird dabei in eine geringe Wechselspannung umgewandelt, die dann
elektrisch verstärkt wird. Bei piezoelektrischen Beschleunigungssensoren bzw. -aufnehmern
kommt es bei einer mechanischen Deformation (Kompression oder Scherung) durch die
Beschleunigung zu einer Ladungstrennung und damit zu einer abgreifbaren Ladung (bzw.
Spannung). Bei Schwingquarzen kann der Einfluss verschiedener Größen auf die Resonanz-
frequenz, bei akustischen Oberflächenwellenbauteilen der Einfluss auf die Verzögerungszeit
ausgenutzt werden. Eine wichtige Anwendung ist die Messung der auf dem Quarz aufge-
brachten Masse, z. B. bei industriellen Beschichtungsverfahren zur Bestimmung der Schicht-
dicke.
656 11 Dielektrische Eigenschaften

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12 Magnetismus
Das Phänomen Magnetismus beschäftigt die
Menschheit schon seit Jahrtausenden. Bereits die
alten Griechen kannten die merkwürdige Kraft,
die nur auf Eisen (lat.: ferrum) zu wirken schien.
Thales von Milete untersuchte bereits im 6. Jahr-
hundert vor Christus Magnetit. Die Chinesen
fanden die erste Anwendung des Ferromagne-
tismus in Form des Kompasses (erster Nachweis
etwa 4. Jahrhundert nach Christus, allgemeine
Verwendung ab dem 12. Jahrhundert). Die wis-
senschaftliche Forschung im modernen Sinne
begann in der Renaissance mit William Gilbert,1 5

der erkannte, dass die Funktion des Kompasses auf dem Erdmagnetismus beruhte. Ein wei-
terer großer Fortschritt wurde durch André-Marie Ampère2 gemacht, der entdeckte, dass
magnetische Felder durch sich bewegende Ladungen erzeugt werden, die später dann als
Elektronen identifiziert wurden. Die Faszination des Phänomens Magnetismus hat ganz we-
sentlich zur Entwicklung unseres heutigen Verständnisses des Elektromagnetismus und des
magnetischen Verhaltens von Festkörpern beigetragen.3

1
William Gilbert, geboren am 24. Mai 1544 in Colchester, England, gestorben am 10. Dezember
1603 in London.
Im Jahre 1600 veröffentlichte William Gilbert, der spätere Leibarzt von Königin Elizabeth I von
England, seine große Studie über den Magnetismus, „De Magnete“ – „Über den Magneten“. Dieses
Werk gab zum ersten Mal eine rationale Erklärung für die mysteriöse Eigenschaft der Kompassna-
del, sich in Nord-Süd-Richtung auszurichten: die Erde selbst ist magnetisch. „De Magnete“ leitete
die Ära der modernen Physik und Astronomie ein und führte in ein neues Jahrhundert, das ge-
prägt war von den großen Leistungen bedeutender Naturforscher wie Galileo, Kepler, Newton und
anderer.
Gilbert erklärte die Abweichung der Kompassnadel von der wahren (astronomischen) Nordrich-
tung durch die Anziehungskraft der Kontinente, was in Übereinstimmung mit den Beobachtun-
gen im Nordatlantik stand. Die Nadel wich nahe Europa nach Osten ab und nahe Amerika nach
Westen. Die Beobachtung, dass nahe den Inseln von Novaja Semlja, nördlich von Rußland, die
Kompassnadel eine Abweichung nach Westen aufwies, veranlasste Gilbert zur Hypothese einer
„Nord-Ost-Passage“ um Rußland, die einen direkteren Seeweg zu den Gewürzinseln des Fernen
Ostens ermöglicht hätte. Einige Jahrzehnte früher hatten Frobisher und Davis erfolglos eine ähn-
liche „Nord-West-Passage“ um den amerikanischen Kontinent gesucht.
2
André-Marie Ampère, geboren am 22. Dezember 1775 in Poleymieux-au-Mont-d’or bei Lyon,
Frankreich, gestorben am 10. Juni 1836 in Marseille.
3
Auch heute verknüpfen viele Menschen mit Magnetismus immer noch etwas Mystisches und ver-
trauen zum Beispiel auf die heilenden Kräfte von statischen Magnetfeldern, obwohl diese wissen-
schaftlich nicht belegbar ist.
660 12 Magnetismus

Nachdem wir im vorangegangenen Kapitel die Wechselwirkung eines Festkörpers mit einem
elektrischen Feld diskutiert haben, wollen wir in diesem Kapitel das Verhalten von Festkör-
pern in äußeren Magnetfeldern betrachten. Wir werden uns dabei wieder auf die lineare
Antwort von Festkörpern auf von außen wirkende Magnetfelder beschränken und auf die
Betrachtung nicht-linearer Effekte weitgehend verzichten. Wir haben ferner bereits in Ka-
pitel 9 die Dynamik von Kristallelektronen unter dem Einfluss von durch Magnetfelder er-
zeugten äußeren Kräften diskutiert. Dort haben wir uns aber im Wesentlichen auf die Be-
schreibung der Bewegung von einzelnen Kristallelektronen in Metallen unter der Wirkung
einer äußeren Kraft beschränkt. Dadurch konnten wir den Einfluss von Magnetfeldern auf
die elektrischen Transporteigenschaften klären. In diesem Kapitel wollen wir unsere Dis-
kussion auf die Beschreibung der Reaktion eines Festkörpers als Ganzem auf ein von außen
wirkendes magnetisches Feld ausdehnen. Dadurch erhalten wir zum Beispiel eine Beschrei-
bung der magnetischen Suszeptibilität von Festkörpern.
Bei der Diskussion der Bandstruktur von Festkörpern und der elektrischen Transporteigen-
schaften haben wir überwiegend eine so genannte Einelektronen-Näherung benutzt, mit der
wir die Energieniveaus von Kristallelektronen in einem effektiven Potenzial bestehend aus
dem periodischen Potenzial der Ionenrümpfe und einem mittleren Potenzial aller anderen
Elektronen berechnet haben. Innerhalb des Einelektronen-Modells konnten wir die angereg-
ten Zustände eines Elektronensystems verstehen, die z. B. durch Wechselwirkung mit Licht
oder durch thermische Anregung erzeugt werden. Mit dem Einelektronen-Modell konnten
wir in Kapitel 11 auch die Reaktion eines Festkörpers auf oszillierende und statische elektri-
sche Felder beschreiben. Bei der Diskussion von magnetischen Phänomenen spielen häufig
Korrelationen im Elektronensystem eine wichtige Rolle, weshalb magnetische Phänomenen
meist nicht mehr im Rahmen einer Einteilchen-Theorie beschrieben werden können, son-
dern einer wesentlich komplizierteren Vielteilchenbeschreibung bedürfen. Auf diese Aspek-
te können wir hier aber nur am Rande eingehen.
Ein wichtiger Aspekt, der unabhängig voneinander von Niels Bohr4 (1911) und J. H. van
Leeuwen5 (1919) in ihren Doktorarbeiten bewiesen wurde, ist die Tatsache, dass das
Phänomen Magnetismus untrennbar mit der Quantenmechanik verbunden ist. Das Bohr-
van Leeuwen Theorem besagt, dass bei endlichen Temperaturen und in allen endlichen
elektrischen oder thermischen Feldern die Nettomagnetisierung eines Ensembles von Elek-
tronen im thermischen Gleichgewicht identisch gleich null ist. Da sich die Bewegungsenergie
einer Ladung im Magnetfeld nicht ändert, ist anschaulich klar, dass die Magnetisierung
bei Anwendung einer klassischen Statistik verschwinden muss. Das heißt, dass ein rein
klassisches Elektronensystem im thermischen Gleichgewicht kein magnetisches Moment
zeigen kann. Magnetismus ist also ein Quantenphänomen.
Bei der Diskussion der magnetischen Eigenschaften von Festkörpern ist es zweckmäßig, zwi-
schen dem Magnetismus quasi-gebundener und quasi-freier Elektronen zu unterscheiden.
Diese Vorgehensweise haben wir auch bei der Beschreibung der dielektrischen Eigenschaf-
4
Niels Bohr, geboren am 7. Oktober 1885 in Kopenhagen, gestorben am 18. November 1962 in
Kopenhagen, Nobelpreis für Physik 1922.
Niels Bohr, Doktorarbeit Studier over Metallernes Elektrontheori, Københavns Universitet (1911).
5
Johanna Hendrika van Leeuwen, Problèmes de la théorie électronique du magnétisme, J. de Phys. et
le Radium 2, 361–377 (1921).
12 Magnetismus 661

ten in Kapitel 11 verwendet. Die quasi-gebundenen Elektronen sind dabei einzelnen Gitter-
atomen zugeordnet und die mit ihnen verknüpften magnetischen Eigenschaften lassen sich
als atomarer Magnetismus der Gitteratome beschreiben. Die quasi-freien Elektronen sind
z. B. die Leitungselektronen in Metallen. Bei der Beschreibung ihrer magnetischen Eigen-
schaften müssen wir die Fermi-Statistik anwenden, da die Fermi-Temperatur des Elektro-
nengases üblicherweise weit oberhalb von Raumtemperatur liegt. Im Gegensatz dazu kön-
nen wir bei der Beschreibung des atomaren Magnetismus der Gitteratome die Boltzmann-
Statistik verwenden, da für die Gitteratome aufgrund ihrer wesentlich größeren Masse die
Fermi-Temperatur üblicherweise klein gegenüber Raumtemperatur ist.
662 12 Magnetismus

12.1 Makroskopische Größen


12.1.1 Die magnetische Suszeptibilität
Bei der Einführung der magnetischen Suszeptibilität gehen wir ganz analog zur Einführung
der elektrischen Suszeptibilität in Abschnitt 11.1.1 vor. Wir betrachten einen isolierenden
Festkörper (keine makroskopischen Abschirmströme), auf den ein äußeres Feld mit der ma-
gnetischen Feldstärke

H(r, t) = H(q, ω)e ı(q⋅r−ωt) (12.1.1)

wirkt. Das Magnetfeld ruft im Festkörper eine Magnetisierung M hervor, die mit dem anre-
genden Feld durch einen Tensor 2. Stufe verknüpft ist:

M i (r′ , t ′ ) = ∑ ∫ χ i j (r, r′ , t, t ′ )H j (r, t)d 3 r dt . (12.1.2)


j

Hierbei ist χ i j der Tensor der magnetischen Suszeptibilität. Im Vergleich zum Ausdruck für
die elektrische Polarisation P [siehe (11.1.2)], wo auf der rechten Seite die elektrische Feld-
konstante є 0 auftaucht, enthält der Ausdruck für die Magnetisierung nicht die magnetische
Feldkonstante µ 0 . Eine völlige Analogie würde man erhalten, wenn wir anstelle der Magneti-
sierung auf der linken Seite von (12.1.2) die magnetische Polarisation Jpol = µ 0 M verwenden
würden. Diese hat die Einheit Vs/m2 in Analogie zur Einheit As/m2 der elektrischen Pola-
risation. Die Magnetisierung M ist definiert als das magnetische Moment m pro Volumen:
m
M≡ . (12.1.3)
V
Das magnetische Moment m ist klassisch nach Ampère äquivalent zu einem zirkulierenden
elektrischen Strom I. Der infinitesimale Beitrag dm ist dabei mit dem vom Strom überstri-
chenen Flächenelement dA über

dm = IdA (12.1.4)

verbunden. Solange der Strom in einer Ebene fließt ist die genaue Form der Fläche unwichtig
und wir erhalten das magnetische Moment

m = ∮ IdA = I ⋅ A⧹︂
n, (12.1.5)

wobei A die umschlossenen Fläche und ⧹︂ n der auf der Fläche senkrecht stehende Einheits-
vektor ist. Eine Verallgemeinerung von (12.1.5) ist
1
m= ∫ r × J(r) d r ,
3
(12.1.6)
2
12.1 Makroskopische Größen 663

m
wobei J(r) die Stromdichte am Ort r der Schleife ist. Wir
sehen, dass für eine ebene, beliebig geformte Stromschlei- n
fe das infinitesimales Stromelement durch dI = Idℓ = A
JdV gegeben ist, so dass 12 ∫ r × J(r) d 3 r = 12 ∫ r × Idℓ =
I ∫ dA = m. dA
I
Schreiben wir den Strom einer in einem Zentralpotenzi-
al umlaufenden Ladung q als I = q⇑T, so erhalten wir mit Abb. 12.1: Magnetisches Moment.
der Umlaufzeit T = 2πr⇑v und dem quantisierten Bahndrehimpuls L = r × mv mit (12.1.6)
das magnetische Moment m = 2m ∫ r × mv 2πr dℓ = 2m L⇑ħ. Für Elektronen ist q = −e, so
q 1 qħ

dass m = − 2m

L⇑ħ = −µ B L⇑ħ, d.h., m und L sind antiparallel. Das gesamte magnetische Mo-
ment m eines Festkörpers ist durch die Summe von atomaren Momenten µ i gegeben:6
q i ħ ri × pi Li
m = ∑ µi = ∑ = ∑ g i µB . (12.1.7)
i i 2m ħ i ħ
Hierbei ist L i = r i × p i der mit dem atomaren Moment µ i verbundene Drehimpuls7 und

µB = = 9.274 009 994(57) × 10−24 J⇑T
2m
= 5.788 381 8012(26) × 10−5 eV⇑T (12.1.8)
das Bohrsche Magneton.8
Analog zu Abschnitt 11.1.1 erhalten wir für die Fourier-Komponenten
M i (q, ω) = ∑ χ i j (q, ω)H j (q, ω) . (12.1.9)
j

Der zum Dielektrizitätstensor analoge Tensor ist der Tensor der magnetischen Permeabilität.
Dieser Tensor ist definiert durch
B i (q, ω) = ∑ µ 0 µ i j (q, ω)H j (q, ω) , (12.1.10)
j

wobei B i (q, ω) die Fourier-Transformierte der magnetischen Flussdichte ist, die definiert ist
durch:
B(r, t) = µ 0 H(r, t) + µ 0 M(r, t) = µ 0 (︀H(r, t) + M(r, t)⌋︀ . (12.1.11)
6
Wir können die Summe auch in ein Integral überführen und m = ∫V M(r)d 3 r schreiben, wobei
die lokale Magnetisierung M(r) als lokale Dichte der magnetischen Momente interpretiert werden
muss.
7
In Gleichung (12.1.7) haben wir nur den Bahndrehimpuls L betrachtet. Da für Bahndrehimpulse
der g-Faktor eins ist, kann in (12.1.7) g i weggelassen werden. Im Allgemeinen müssen wir aber
den Gesamtdrehimpuls J betrachten, der sich aus Bahndrehimpuls L und Spin S zusammensetzt.
Eine genaue Diskussion hierzu folgt später.
8
Hinweis: Das magnetische Moment eines Elektrons mit Bahndrehmoment L ist µ = −µ B L. Das
negative Vorzeichen resultiert dabei aus der Tatsache, dass der elektrische Strom aufgrund der
Ladung −e der Elektronen das entgegengesetzte Vorzeichen zum Teilchenstrom besitzt. Die Ele-
mentarladung e verwenden wir wie immer als positive Zahl.
664 12 Magnetismus

Hierbei ist µ 0 = 4π × 10−7 Vs/Am die magnetische Feldkonstante. Aufgrund der Definitio-
nen (12.1.9) und (12.1.10) sind χ i j (q, ω) und µ i j (q, ω) verknüpft durch

µ i j (q, ω) = 1 + χ i j (q, ω) . (12.1.12)

In Analogie zum Dielektrizitätstensor werden wir im Folgenden den Real- und Imaginärteil
des Permeabilitätstensors mit µ r (q, ω) und µ i (q, ω) bezeichnen. In Fällen, wo die Tensor-
eigenschaften nicht relevant sind, werden wir µ i j (q, ω) durch die skalare Funktion µ(q, ω)
ersetzen.

12.1.2 Magnetische Feldstärke und Flussdichte


Das magnetische Feld, das in das Biot-Savartsche Gesetz und die Maxwell-Gleichungen im
Vakuum eingeht, ist B, wogegen wir bei der Hysteresschleife eines magnetischen Festkörpers
die Magnetisierung M gegen H auftragen. Wir wollen kurz auf diese Größen, die oft beide als
magnetische Felder bezeichnet werden aber unterschiedliche Einheiten besitzen, eingehen.
Das B-Feld hat die Einheit Vs/m2 , also magnetischer Fluss pro Fläche, und wird deshalb
auch als magnetische Flussdichte bezeichnet. Seine Quellen sind elektrische Ströme in elek-
trischen Leitern, bewegte Ladungen (die wir auch als elektrischen Strom auffassen können)
und magnetische Momente (die äquivalent zu Stromschleifen sind).9 Aus der Divergenzfrei-
heit des B-Feldes (∇ ⋅ B = 0), was gleichbedeutend mit der Nichtexistenz von magnetischen
Monopolen ist, folgt das Gausssche Theorem (∮S B ⋅ dA = 0), das besagt, dass der magne-
tische Fluss durch jede geschlossene Fläche S verschwindet. Der Zusammenhang zwischen
B-Feld und elektrischer Stromdichte J ist durch die Maxwell-Gleichung über ∇ × B = µ 0 J
gegeben.
Das H-Feld, das die Einheit A/m hat und wir als magnetische Feldstärke oder Magnetisie-
rungskraft bezeichnen, ist im Vakuum mit dem B-Feld über die magnetische Feldkonstante
µ 0 verknüpft: B = µ 0 H. Wir könnten deshalb, vorausgesetzt wir würden nur den Vakuumfall
betrachten, alle relevanten Gleichungen auch mit dem H-Feld formulieren. In einem Medi-
um treten allerdings Probleme mit der Beziehung ∇ × B = µ 0 J auf, die auf das Ampèresche
Gesetz führt. Die Rotation des B-Feldes ist nämlich mit der gesamten elektrischen Strom-
dichte verbunden:

∇ × B = µ 0 (Jc + J M ) . (12.1.13)

Hierbei ist Jc die Stromdichte aufgrund eines in einem Leiter fließenden elektrischen Stroms
und J M diejenige Stromdichte, die mit der Magnetisierung eines Mediums verknüpft ist. Das
Problem besteht nun darin, dass wir Jc einfach messen können, J M dagegen nicht, da die
Magnetisierung ja aus zirkulierenden mikroskopischen Strömen im Inneren eines Mediums
resultiert. Da

JM = ∇ × M (12.1.14)
9
Wir beschränken uns hier auf die Magnetostatik, ansonsten müssten wir noch zeitabhängige elek-
trische Felder als Quellen berücksichtigen.
12.1 Makroskopische Größen 665

gilt,10 können wir ein neues Magnetfeld


B
H= −M (12.1.15)
µ0
definieren, für das

Jc = ∇ × H (12.1.16)

gilt. Üblicherweise wird (12.1.15) in der Form B = µ 0 (H + M) [vergleiche (12.1.11)] ge-


schrieben. Da

∇ ⋅ B = µ 0 ∇ ⋅ (H + M) = 0 , (12.1.17)

folgt unmittelbar ∇ ⋅ H = −∇ ⋅ M. Wir sehen, dass das H-Feld im Gegensatz zum B-Feld
nicht quellenfrei ist. Insbesondere entspricht die Diskontinuität des H-Felds an der Ober-
fläche eines magnetisierten Körpers einer Schicht von Quellen und Senken des H-Felds.
Ähnlich zum elektrischen Feld können wir uns deshalb das H-Feld als durch positive und
negative „magnetische Ladungen“ verursacht denken. Diese fiktiven magnetischen Ober-
flächenladungen werden meist als Nord- und Südpole bezeichnet und haben, obwohl sie
physikalisch nicht existieren, die Betrachtungsweise magnetischer Phänomene stark beein-
flusst. Im Gegensatz zu elektrischen Ladungen treten magnetische Ladungen aber nie alleine
sondern immer paarweise auf, da es keine magnetischen Monopole gibt.

12.1.3 Entmagnetisierungs- und Streufelder


Wir benutzen die Beziehung B = µ 0 (H + M) um den Zusammenhang zwischen den
Größen B, H und M anhand eines Beispiels zu illustrieren. Hierzu betrachten wir eine
dünne Scheibe eines magnetisierten Materials, das eine homogene Magnetisierung parallel
zur Scheibennormale besitzen soll (siehe Abb. 12.2). Das äußere Feld sei null. Benutzen
wir (12.1.15), so können wir das Feld innerhalb und außerhalb der Scheibe schreiben als
B
Innenraum: HN = −M (12.1.18)
µ0
B
Außenraum: Hs = . (12.1.19)
µ0
Das Feld HN im Inneren der magnetisierten Scheibe nennen wir Entmagnetisierungsfeld,
das Feld Hs im Außenraum Streufeld.
Um die Natur der beiden Felder HN und Hs zu verdeutlichen, betrachten wir einen geschlos-
senen Pfad entlang der Feldlinien. Da keine Ströme fließen, gilt nach dem Ampèreschen
10
Da die Magnetisierung aus atomaren Magnetisierungsströmen resultiert, gilt für jede geschlossene
Fläche ∮S J M ⋅ dA = 0. Deshalb können wir J M als Rotation von M ausdrücken. Verwenden wir
nämlich das Stokesche Theorem, ∮ M ⋅ dℓ = ∫S (∇ × M)dA = 0, und wählen einen Pfad außerhalb
des magnetischen Mediums, so folgt ∫S (∇ × M)dA = 0 für jede beliebige geschlossene Fläche S
und wir können J M mit ∇ × M identifizieren.
666 12 Magnetismus

B H M
Hs
M
+ + + + + + + + + + + + + + + HN
HN
B

Abb. 12.2: Zur Veranschaulichung der Entmagnetisierungs- und Streufelder einer homogen magneti-
sierten Scheibe. Das Feld HN im Inneren der Scheibe wird Entmagnetisierungsfeld genannt, da es der
Magnetisierung der Scheibe entgegengerichtet ist. Das Feld Hs im Außenraum wird Streufeld genannt.
Die Feldlinien des Streufeldes verbinden die Quellen und Senken der Magnetisierung, die wir als fikti-
ve positive (Nordpol) und negativen (Südpol) magnetische Oberflächenladungen betrachten können.
Ganz rechts sind die Größenverhältnisse von B, H und M im Inneren der Scheibe gezeigt.

Durchflutungsgesetz

∮ H ⋅ ds = 0 . (12.1.20)

Diese Bedingung können wir nur erfüllen, wenn HN antiparallel zu Hs ist. Das bedeutet,
dass HN antiparallel zur Magnetisierung M sein muss. Deshalb wird das Feld HN Entmagne-
tisierungsfeld genannt. Wenn wir anstelle einer Scheibe einen langen und sehr dünnen Stab
mit Magnetisierung parallel zum Stab verwendet hätten, würde das Streufeld sehr klein wer-
den, da wir jetzt ganz wenige magnetische Oberflächenladungen haben. Dadurch wird auch
das Entmagnetisierungsfeld verschwindend klein. Ganz allgemein können wir für einen ho-
mogen magnetisierten Festkörper

H N,i = −N i j M j (12.1.21)

schreiben, wobei N i j der geometrieabhängige Entmagnetisierungstensor ist. Dieser ist ana-


log zu dem in Abschnitt 11.1.4 bei der Diskussion der dielektrischen Eigenschaften einge-
führten Depolarisationstensor. Entlang den Hauptachsen eines Ellipsoids sind HN und M
kollinear. In diesem Fall sind nur die Diagonalelemente von N i j ungleich null und wir be-
zeichnen diese als Entmagnetisierungsfaktoren. Da N x + N y + N z = 1, sind nur zwei der drei
Faktoren unabhängig. Für einen langen Zylinder mit B parallel zur Zylinderachse ist N∏︁ ≃ 0,
so dass HN ≃ 0. Für eine flache Scheibe mit B senkrecht zur Scheibenfläche ist N– ≃ 1, so
dass HN ≃ −M.

12.1.4 Lokales magnetisches Feld


Genauso wie bei der Diskussion der dielektrischen Eigenschaften von Festkörpern, müssen
wir beachten, dass wir für das an einem bestimmten Ort r wirkende Magnetfeld das lokale
12.1 Makroskopische Größen 667

Feld benutzen müssen. In Analogie zu (11.1.44) können wir das lokale magnetische Feld
schreiben als

Hlok = Hext + H N + HL = Hmak + HL = Hext − N M + HL . (12.1.22)

Hierbei ist Hmak = Hext + H N das makroskopische Feld, das sich aus dem externen Feld und
dem Entmagnetisierungsfeld H N = −NM zusammensetzt. Das Feld HL = M⇑3 ist das zum
Lorentz-Feld EL analoge innere Feld. Dieses Feld ist für para- und diamagnetische Materia-
lien (die Suszeptibilität dieser Materialien ist typischerweise kleiner als 10−4 ) allerdings so
klein, dass Hlok ≃ Hmak in der Regel eine sehr gute Näherung ist.11 Bei der Diskussion der
di- und paraelektrischen Eigenschaften von Festkörpern konnte diese Vereinfachung nicht
gemacht werden, da hier die Suszeptibilität in der Größenordnung von eins ist.

12.1.5 Magnetostatische Selbstenergie


Wir können nun noch die Selbstenergie berechnen, die aus der Wechselwirkung des ma-
gnetischen Körpers mit dem von ihm selbst erzeugten Magnetfeld resultiert. Dazu starten
wir von der Energie E µ = −µ 0 µ ⋅ Hlok = −µ 0 µ ⋅ (HN + HL ) eines einzelnen atomaren ma-
gnetischen Moments µ im lokalen Feld Hlok = HN + HL , das von allen anderen Momenten
erzeugt wird. Integrieren wir über das gesamte Volumen des betrachteten magnetischen Kör-
pers und benutzen M = m⇑V = µN⇑V sowie HL = M⇑3, so erhalten wir die Energie

E = − 12 µ 0 ∫ HN ⋅ MdV − 16 µ 0 ∫ M 2 dV . (12.1.23)
V V

Der Faktor 12 stellt dabei sicher, dass wir Beiträge nicht doppelt zählen, da ja jedes Moment µ
sowohl als Feldquelle als auch als Moment eingeht. Der zweite Term in (12.1.23) ist unwich-
tig. Er führt zu einer parallelen Ausrichtung der Momente über die Dipol-Dipol-Wechsel-
wirkung. Diese ist aber so schwach (typischerweise 0.1 meV oder 1 K pro atomares Moment,
vergleiche hierzu Abschnitt 12.5.1), dass sie gegenüber der Austauschkopplung (typischer-
weise 100 meV oder 1000 K) vernachlässigt werden kann. Die magnetostatische Selbstener-
gie wird üblicherweise als

E M = E + 16 µ 0 ∫ M 2 dV (12.1.24)
V

definiert, so dass

E M = − 12 µ 0 ∫ HN ⋅ M dV = 12 µ 0 ∫ M ⋅ N ⋅ M dV . (12.1.25)
V V

Wichtig ist, dass die magnetostatische Selbstenergie immer positiv ist. Das Vorzeichen des
Integrals in (12.1.25) ist zwar negativ, E M ist aber positiv, da HN antiparallel zu M ist. Für
11
Für dia- und paramagnetische Materialien ist ohne äußeres Feld M = 0, so dass H N = 0 und H s = 0.
Wenn ein äußeres Feld H ext angelegt wird, ist M ≪ H ext da ⋃︀χ⋃︀ ≪ 1. Wir erhalten dann H mak =
H ext + H N ≃ H ext , also H N ≃ 0. Ferner gilt für das Streufeld H s ≃ H ext .
668 12 Magnetismus

den Fall eines homogen magnetisierten Ellipsoids ist HN = −N ⋅ M und (12.1.25) ergibt

E M = 12 µ 0 ∫ M ⋅ N ⋅ M dV = 12 µ 0 V N M 2 . (12.1.26)
V

Da ein magnetischer Körper versucht seine Selbstenergie zu minimieren, richtet sich die
Magnetisierung entlang der Achse aus, für die N minimal ist. Dies bezeichnet man als For-
manisotropie (vergleiche Abschnitt 12.7.3).
Da µ 0 M = B − µ 0 HN , können wir das Integral (12.1.25) umschreiben in12

E M = 12 µ 0 ∫ H2N dV − 12 ∫ B ⋅ HN dV = 12 µ 0 ∫ H2N dV , (12.1.27)


)︁⌊︂⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ]︂⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂)︂
=0

wobei die Integration jetzt über den gesamten Raum erfolgen muss. Wir sehen, dass wir
die Selbstenergie, die mit einem magnetisierten Körper verbunden ist, entweder durch ein
Integral von H N2 über den gesamten Raum oder von −HN ⋅ M über das Volumen des Körpers
ausdrücken können.

12.2 Mikroskopische Theorie


12.2.1 Dia-, Para- und Ferromagnetismus
Bei der Entwicklung einer mikroskopischen Beschreibung müssen wir die Wechselwirkung
eines externen Magnetfeldes mit dem Festkörper auf einer mikroskopischen Ebene betrach-
ten. Analog zur Klassifizierung der dielektrischen Eigenschaften können wir dabei qualitativ
folgende Unterscheidung vornehmen:

∎ diamagnetische Festkörper:
In diamagnetischen Festkörpern liegen ohne äußeres Magnetfeld keine magnetischen
Momente vor. Erst durch die Wirkung des äußeren Magnetfeldes werden magnetische
Momente im Festkörper induziert, wodurch eine endliche Magnetisierung entsteht. Die
induzierten magnetischen Momente sind dem sie induzierenden Magnetfeld entgegen-
gesetzt (Lenzsche Regel). Das heißt, die magnetische Suszeptibilität von diamagnetischen
Festkörpern ist negativ:

χ dia < 0 . (12.2.1)

12
Um zu zeigen, dass ∫ B ⋅ HdV = 0, benutzen wir B = ∇ × A und die Vektoridentität H ⋅ (∇ × A) =
∇ ⋅ (A × H) + A ⋅ (∇ × H), wobei der zweite Term bei Abwesenheit von Strömen verschwindet.
Wir erhalten dann ∫ B ⋅ HdV = ∫ ∇ ⋅ (A × H)dV . Mit Hilfe des Divergenztheorems können wir
das Volumenintegral in ein Oberflächenintegral ∫F (A × H)dF umwandeln. In großer Entfernung
vom Magneten ist A ∼ 1⇑r 2 und H ∼ 1⇑r 3 , so dass das Integral über eine Oberfläche mit unendlich
großem Radius verschwindet.
12.2 Mikroskopische Theorie 669

Isolatoren Metalle
quasi-gebundene Elektronen quasi-freie Elektronen

Diamagnetismus Larmor- Landau-


alle Materialien Diamagnetismus Diamagnetismus

Paramagnetismus
Materialien mit nicht-wechsel- Langevin- Pauli-
wirkenden magnetischen Paramagnetismus Paramagnetismus
Momenten

Ferro-, Antiferro- und Ferro-, Antiferro- und


Bandferro- und
Ferrimagnetismus Ferri-magnetismus
Bandantiferro-
Materialien mit wechselwirken- kooperativer magne-
tischer Momente
magnetismus
den magnetischen Momenten

Abb. 12.3: Zur Klassifizierung der mikroskopischen Ursachen unterschiedlicher magnetischer Phäno-
mene. Wir unterscheiden grob zwischen Diamagnetismus, Paramagnetismus und kooperativen ma-
gnetischen Phänomenen (Ferro-, Antiferro- und Ferrimagnetismus). Diese Phänomene können wie-
derum mit induzierten oder permanenten magnetischen Momenten quasi-gebundener Elektronen in
Isolatoren oder quasi-freier Elektronen in Metallen zusammenhängen. Kernmomente werden wir bei
unserer Diskussion nicht berücksichtigen.

Wie in Abb. 12.3 gezeigt ist, werden wir im Folgenden zwischen dem atomaren oder Lar-
mor-Diamagnetismus von Isolatoren und dem Landau-Diamagnetismus von Metallen
unterscheiden. Im ersten Fall betrachten wir nur den Effekt der fest an die Gitteratome
gebundenen Elektronen in Isolatoren und im letzteren den Effekt von frei beweglichen
Leitungselektronen in einem Metall. Dies ist wiederum analog zu unserer Diskussion
der dielektrischen Eigenschaften in Kapitel 11, wo wir auch zunächst die dielektrischen
Eigenschaften von Isolatoren und später diejenigen von Metallen diskutiert haben.
∎ paramagnetische Festkörper:
In paramagnetischen Festkörpern liegen bereits ohne äußeres Magnetfeld magnetische
Momente vor. Diese magnetischen Momente können zum Beispiel aus der Bahnbewe-
gung oder dem Spin der Kristallelektronen resultieren. Für das Bahn- und Spinmoment
gebundener Elektronen können wir schreiben:


µ ℓ = −g ℓ µ B ∐︀ℓ 2 ̃︀ = ℓ(ℓ + 1)ħ 2 (12.2.2)
ħ
s
µ s = −g s µ B ∐︀s2 ̃︀ = s(s + 1)ħ 2 (12.2.3)
ħ
Hierbei sind ℓ und s der Bahndrehimpuls und der Spin eines Elektrons und g ℓ und g s
die zugehörigen g-Faktoren mit
α
g s = 2 ]︀1 + + O(α 2 ) + . . .{︀ = 2.0023 (12.2.4)

670 12 Magnetismus

und der Feinstruktur-Konstanten


}︂
1 e 2 1 µ0 e 2 1
α= = = 7.297 352 5664(17) × 10−3 ≃ (12.2.5)
2є 0 c h 2 є0 h 137

Wir werden im Folgenden meistens g s ≃ 2 benutzen. Die Spin-Quantenzahl eines ein-


zelnen Elektrons beträgt s = 1⇑2 und der Spin-Zustand wird üblicherweise durch einen
Vektor, einen so genannten Spinor beschrieben. Bezüglich einer Quantisierungsachse –
hierfür wird meist die z-Achse verwendet – können die beiden Spin-Zustände durch

1 0
⋃︀↑̃︀ = ( ) , ⋃︀↓̃︀ = ( ) (12.2.6)
0 1

beschrieben werden. Diese Spinoren sind Eigenzustände des Spin-Operators

ħ
sz = σz , (12.2.7)
2
wobei σ z eine der Paulischen Spin-Matrizen ist:

0 1 0 −ı 1 0
σx = ( ), σy = ( ), σz = ( ). (12.2.8)
1 0 ı 0 0 −1

Die Eigenzustände der Spin-Operatoren sx und s y können als symmetrische und anti-
symmetrische Superpositionen der Spinoren (12.2.6) ausgedrückt werden.
In einem Atom sind üblicherweise die einzelnen Bahndrehimpulse ℓ i und Spins s i der
Hüllenelektronen eines Atoms zu einem Gesamtbahndrehimpuls L = ∑ i ℓ i und Gesamt-
spin S = ∑ i s i gekoppelt, die wiederum zu einem Gesamtdrehimpuls J = L + S gekoppelt
sind (Russel-Saunders-Kopplung), so dass das magnetische Moment des Atoms gegeben
ist durch
J
µ J = −g J µ B ∐︀J2 ̃︀ = J(J + 1)ħ 2 . (12.2.9)
ħ
Hierbei ist g J der Landésche g-Faktor13 [vergleiche (12.3.36)]. Ein äußeres Magnetfeld
bewirkt eine Ausrichtung der vorhandenen magnetischen Momente in Richtung des an-
gelegten Feldes. Die magnetische Suszeptibilität ist deshalb positiv:

χ para > 0 . (12.2.10)

Es ist anschaulich klar, dass wir eine rein diamagnetische Antwort eines Festkörpers nur
dann erhalten können, wenn keine magnetischen Momente im Festkörper vorhanden
sind. Dies ist nur dann der Fall, wenn die Summe von Spin- und Bahnmoment ver-
schwindet. Dies gilt für Atome mit komplett gefüllten Schalen, zum Beispiel Edelgase.14
13
Alfred Landé, geboren am 13. Dezember 1889 in Elberfeld, gestorben am 30. Oktober 1976 in
Columbus/Ohio.
14
In diesem Fall können immer noch Kernmomente vorhanden sein. Diese sind aber, da µ K =
eħ⇑2M K ≪ µ B = eħ⇑2m, um mehr als 3 Größenordnungen kleiner als die elektronischen Momen-
te und sollen im Folgenden vernachlässigt werden.
12.3 Atomarer Dia- und Paramagnetismus 671

Wir werden im Folgenden wiederum zwischen Langevin-Paramagnetismus15 (atomarer


Paramagnetismus in Isolatoren) und Pauli-Paramagnetismus16 (Paramagnetismus der
Leitungselektronen in Metallen) unterscheiden (siehe hierzu Abb. 12.3). Der Langevin-
Paramagnetismus resultiert aus dem Bahn- und Spinmoment von Kristallatomen mit
nur teilweise gefüllten Schalen. Der Pauli-Paramagnetismus resultiert aus dem Spin der
Leitungselektronen eines Metalls.
∎ ferro-, ferri- und antiferromagnetische Festkörper:
In diesen Materialien tritt unterhalb einer materialspezifischen Temperatur eine spon-
tane Magnetisierung auch ohne äußeres Feld auf. Die Ursache dafür ist die quantenme-
chanische Austauschwechselwirkung zwischen permaneten magnetischen Momenten,
die zu einer räumlichen Ordnung dieser Momente führt (siehe Abb. 12.4). Bei Anti-
ferromagneten sind die Magnetisierungen der beiden entgegengesetzt ausgerichteten
Untergitter exakt gleich, so dass die Gesamtmagnetisierung verschwindet. Bei Ferrima-
gneten sind die Untergittermagnetisierungen unterschiedlich, so dass eine effektive
Gesamtmagnetisierung beobachtet wird. Die Austauschwechselwirkung kann klassisch
nicht verstanden werden. Die Austauschwechselwirkung ist eine Folge des Pauli-Prinzips
und der Coulomb-Wechselwirkung der Elektronen. Die Größenordnung der Austausch-
wechselwirkung liegt typischerweise im Bereich von 10 bis 100 meV (entspricht etwa 100
bis 1000 K). Dagegen sind klassische Dipolwechselwirkungen zwischen permanenten
magnetischen Momenten vernachlässigbar. Sie liegen im Energiebereich von 0.1 meV
oder 1 K.

(a) (b) (c)


Abb. 12.4: Schematische Darstellung
einer (a) ferromagnetischen, (b) an-
tiferromagnetischen und (c) ferrima-
gnetischen Ordnung permanenter
magnetischer Momente.

Ferromagnetismus Antiferromagnetismus Ferrimagnetismus

12.3 Atomarer Dia- und Paramagnetismus


12.3.1 Atome im homogenen Magnetfeld
Wir diskutieren in diesem Abschnitt das Verhalten von Isolatoren. Wir modellieren diese
dabei durch ein System nicht-wechselwirkender Atome. Um den Effekt eines von außen an-
gelegten Magnetfeldes zu bestimmen, müssen wir die Änderung der Energie der Elektronen
der einzelnen Atome durch die Wirkung des angelegten Feldes bestimmen, das heißt, wir
müssen die Quantenmechanik atomarer magnetischer Momente diskutieren. Dazu müssen
wir im Hamilton-Operator den Impuls-Operator durch den Operator des kanonischen Im-

15
Paul Langevin, geboren am 23. Januar 1872 in Paris, gestorben am 19. Dezember 1946 in Paris.
16
Wolfgang Pauli, siehe Kasten auf Seite 694.
672 12 Magnetismus

pulses ersetzen (siehe hierzu Anhang D) und erhalten17


1
ℋ= (︀p + eA⌋︀ + V (r)
2
(12.3.1)
2m
mit p = −ıħ∇. Hierbei haben wir die Coulomb-Eichung ∇ ⋅ A = 0 und ϕ = 0 verwendet. In
dieser Eichung ist E = −∂A⇑∂t und B = ∇ × A. Für ein homogenes Magnetfeld Bext = µ 0 Hext
ist eine mögliche Wahl des Vektorpotenzials
1
A = − r × Bext . (12.3.2)
2
Wir werden im Folgenden annehmen, dass Bext ∥ ⧹︂
z.
Wir betrachten jetzt nur die kinetische Energie aller Elektronen eines Atoms oder Ions in
dem betrachteten Festkörper:
2
1 1 e
𝒯 = ∑ (︀p i + eA⌋︀ = ∑ ]︀p i − r i × Bext {︀
2
2m i 2m i 2
1 e e 2 B 2z
= ∑ pi +
2
∑(r i × p i )z B z + ∑(x + y i ) .
2 2
(12.3.3)
2m i 2m i 8m i i

Dabei haben wir in der zweiten Zeile ausgenutzt, dass Bext ∥ ⧹︂


z. Wir können nun Lz = ∑ i (r i ×
p i )z und µ z = − 2m
e
(r
∑i i × p )
i z = −µ L
B z ⇑ħ sowie 𝒯 0 = 2m ∑ i i
1
p2 verwenden und erhalten

Lz e 2 B 2z
𝒯 = 𝒯0 + µ B Bz + ∑(x + y i ) = 𝒯0 + ∆ℋℓ .
2 2
(12.3.4)
ħ 8m i i
Wir müssen jetzt ferner noch berücksichtigen, dass die Elektronen einen Spin besitzen. Die
Wechselwirkung des äußeren Feldes mit dem Spin führt zu der Zusatzenergie
si Sz
∆ℋs = g s µ B ∑ ⋅ Bext = g s µ B B z . (12.3.5)
i ħ ħ

Hierbei ist Sz = ∑ i (s i )z . Insgesamt erhalten wir somit für die Änderung der Energie durch
das angelegte Magnetfeld:

µB e 2 B 2z
∆ℋ = ∆ℋℓ + ∆ℋs = (Lz + g s Sz )B z + ∑(x + y i ) .
2 2
(12.3.6)
ħ 8m i i

Die magnetische Suszeptibilität χ können wir mit Hilfe von Störungstheorie 2. Ordnung be-
rechnen. Eine störungstheoretische Behandlung ist hierbei möglich, da die Energieänderun-
gen aufgrund des angelegten Magnetfeldes wesentlich kleiner sind als die atomaren Energi-
en E n der elektronischen Niveaus. Die Energieänderung ∆E n eines Zustandes ⋃︀ñ︀ erhalten
wir zu
⋃︀∐︀n ⋃︀∆ℋ⋃︀ n′ ̃︀⋃︀
2
∆E n = ∐︀n ⋃︀∆ℋ⋃︀ ñ︀ + ∑ . (12.3.7)
n≠n ′ E n − E n′
17
Wir betrachten Elektronen mit Ladung q = −e.
12.3 Atomarer Dia- und Paramagnetismus 673

Berücksichtigen wir nur quadratische Terme in B z , so erhalten wir

µB Bz
∆E n = ∐︀n⋃︀Lz + g s Sz ⋃︀ñ︀
ħ
µ B2 B 2z ⋃︀∐︀n⋃︀(Lz + g s Sz )⋃︀n′ ̃︀⋃︀2
+ ∑
ħ 2 n≠n ′ E n − E n′
e 2 B 2z
+ ∐︀n⋃︀∑(x i2 + y 2i )⋃︀ñ︀ . (12.3.8)
8m i

Mit Hilfe diesen Ausdrucks können wir die magnetische Suszeptibilität von Festkörpern dis-
kutieren, bei denen nur die an die Atome gebundenen Elektronen zum Magnetismus beitra-
gen. Der 1. Term in Gleichung (12.3.8) resultiert aus den mit dem Spin- und Bahndrehimpuls
der Elektronen verbundenen, auch ohne äußeres Magnetfeld vorhandenen magnetischen
Momenten. Er ist verantwortlich für den atomaren oder Langevin-Paramagnetismus. Der
2. Term resultiert im so genannten Van Vleck Paramagnetismus.18 Der 3. Term ist schließlich
verantwortlich für den Larmor-Diamagnetismus.

12.3.1.1 Größenordnungen
Wir wollen kurz die Größenordnung der drei Terme in Gleichung (12.3.8) für den Grund-
zustand ⋃︀0̃︀ abschätzen.

1. Der 1. Term Bħ z ∐︀0⋃︀Lz + g s Sz ⋃︀0̃︀ ist wegen ∐︀0⋃︀Lz + g s Sz ⋃︀0̃︀ ≃ ħ von der Größenord-
µ B

nung µ B B z = 2meħ
B z ≃ ħω c , wobei wir ω c = eB z ⇑m benutzt haben. Für ein Magnetfeld
von 1 Tesla erhalten wir also eine Energieänderung von etwa 10−4 eV, was etwa 1 K
entspricht.
2. Der 2. Term ist um den Faktor ħω c ⇑(E n − E n ′ ) kleiner als der 1. Term. Da die Diffe-
renz (E n − E n ′ ) der atomaren Energien typischerweise im Bereich von eV liegt, ist der
2. Term für ein Feld im Bereich von 1 T um 4 bis 5 Größenordnungen kleiner als der
1. Term.
3. Im 3. Term können wir ⋃︀∐︀n⋃︀ ∑ i (x i2 + y 2i )⋃︀n′ ̃︀⋃︀2 ≃ a B2 setzen, wobei a B = 4πє 0 ħ 2 ⇑me 2 der
Bohrsche Radius ist. Damit ist (ħeB z ⇑m)2 ⇑(ħ 2 ⇑2ma B2 ) ≃ (ħω c )2 ⇑E H , wobei E H ∼ 13 eV
die Rydberg-Energie ist. Damit ist auch dieser Term um mehrere Größenordnungen klei-
ner als der 1. Term und liegt in der gleichen Größenordnung wie der zweite Term.

Aus unserer Abschätzung der Größenordnung der drei Terme in (12.3.8) können wir schlie-
ßen, dass der 1. Term klar dominiert. Die anderen Terme können deshalb nur dann beobach-
tet werden, wenn der 1. Term verschwindet. Dies ist für Atome oder Ionen mit vollkommen
gefüllten Elektronenschalen der Fall.

18
John H. van Vleck, geboren am 13. März 1899 in Middletown, Connecticut, gestorben am 27. Ok-
tober 1980 in Cambridge, Massachusetts. Van Vleck erhielt 1977 zusammen mit Sir Nevill F. Mott
und Philip W. Anderson den Nobelpreis für Physik „für die grundlegenden theoretischen Leistungen
zur Elektronenstruktur in magnetischen und ungeordneten Systemen“.
674 12 Magnetismus

12.3.2 Statistische Betrachtung


Wir betrachten die freie Energie F (auch Helmholtz-Potenzial genannt) eines Systems aus N
unabhängigen und unterscheidbaren Teilchen, das sich in einem angelegten Magnetfeld be-
findet. Die freie Energie ist die Differenz aus der inneren Energie U und dem Produkt aus
Temperatur und Entropie (vergleiche hierzu Anhang G, Abschnitt G.5):

ℱ = U − TS . (12.3.9)

Sie eignet sich besonders zur Beschreibung von Prozessen, die bei konstanter Temperatur
(also isotherm) ablaufen. Mit dU = TdS − pdV − V M ⋅ dBext erhalten wir das totale Diffe-
rential der freien Energie zu

dℱ = dU − SdT − TdS = −SdT − pdV − V M ⋅ dBext . (12.3.10)

Wir sehen, dass F = W + ∫T12 SdT. Das heißt, dass bei einem isothermen Prozess die Ände-
T

rung der freien Energie gleich der dem System bei reversibler Prozessführung entnomme-
nen bzw. zugeführten Arbeit (mechanisch, magnetisch, etc.) ist. Isotherme Prozessführun-
gen, bei denen ein System mit seiner Umgebung nur Wärme, aber keine Arbeit austauschen
kann, streben also nach einem Minimum der freien Energie, das heißt, gleichzeitig nach
minimaler innerer Energie und maximaler Entropie.
Betrachten wir einen Prozess, bei dem dT = 0 und dV = 0, so gilt19

1 ∂ℱ
Mi = − ( ) (12.3.11)
V ∂B ext,i V ,T

∂M i µ0 ∂2 ℱ
χ i j = µ0 ( ) =− ( ) . (12.3.12)
∂B ext,j V ,T V ∂B ext,i ∂B ext,j V ,T

Aus dieser Definition ergibt sich sofort eine Messvorschrift für die Magnetisierung. Bringen
wir einen Festkörper in einen Feldgradienten, so können wir schreiben:

dℱ = ℱ(︀B ext (x + dx)⌋︀ − ℱ(︀B ext (x)⌋︀

∂ℱ ∂B ext ∂B ext
= dx = −V M dx . (12.3.13)
∂B ext ∂x ∂x
19
Prozesse mit dV = 0 sind experimentell oft schwierig zu realisieren. Deshalb ist es manchmal
zweckmäßiger, die freie Enthalpie (auch Gibbs Potenzial genannt, da diese Größe von J. W. Gibbs
im Jahr 1875 eingeführt wurde)
𝒢 = U − T S + pV − V M ⋅ Bext
zu betrachten, deren totales Differential gegeben ist durch
d𝒢 = dU − SdT − TdS + pdV + Vd p − V M ⋅ dBext − V Bext ⋅ dM
= −SdT + Vd p − V M ⋅ dBext .
Betrachten wir jetzt einen Prozess, der bei konstanter Temperatur und konstantem Druck
abläuft, was experimentell leichter zu realisieren ist, so ist M = − V1 ( ∂B∂𝒢ext ) p,T und χ i j =
∂2 𝒢
− µV0 ( ∂B ext,i ) . Wir werden im Folgenden trotzdem die freie Energie benutzen.
∂B ext,j p,T
12.3 Atomarer Dia- und Paramagnetismus 675

Wir erhalten also eine Kraft f pro Volumen

1 ∂ℱ ∂B ext
f =− =M , (12.3.14)
V ∂x ∂x
die auf den Festkörper in dem Feldgradienten wirkt. Diese Kraft ist direkt proportional zur
Magnetisierung und zum Feldgradienten. Auf ihr beruht das Prinzip der Faraday-Waage, bei
der ein Festkörper in ein Magnetfeld gebracht wird, dem ein Feldgradient überlagert ist. Man
misst dann die Auslenkung der Probe aus seiner Ruhelage durch die in dem Feldgradienten
wirkende Kraft.
Um die freie Energie bei einer endlichen Temperatur T zu bestimmen, müssen wir die Wahr-
scheinlichkeiten p n , mit der Zustände der Energie E n besetzt sind, verwenden. Sie sind ge-
geben durch

e−E n ⇑k B T e−E n ⇑k B T
pn = = , (12.3.15)
∑ e−E n ⇑k B T Z
n

Hierbei ist

Z = ∑ e−E n ⇑k B T = ∑ e−βE n (12.3.16)


n n

die Zustandssumme und β ≡ 1⇑k B T. Es gilt ferner ∑n p n = 1. Für die mittlere Energie ∐︀Ẽ︀
erhalten wir damit

∑ E n e−E n ⇑k B T
∂Z⇑∂β ∂ ln Z
∐︀Ẽ︀ = =− =−
n
. (12.3.17)
∑ e−E n ⇑k B T Z ∂β
n

Für die Entropie pro Teilchen gilt

S̃ = −k B ∑ p n ln p n , (12.3.18)
n

wobei das Minuszeichen aus der Tatsache folgt, dass p n < 1. Unter Benutzung von (12.3.15)
erhalten wir daraus
−E n ⇑k B T
S̃ = −k B ∑
e En
]︀− − ln Z{︀ (12.3.19)
n Z kB T

und damit

∐︀Ẽ︀
S̃ = k B ln Z + . (12.3.20)
T

Wir betrachten nun ein System aus N unabhängigen unterscheidbaren Teilchen. Ihre innere
Energie U und Entropie S können wir schreiben als

U = N∐︀Ẽ︀ S = N S̃ . (12.3.21)
676 12 Magnetismus

Damit erhalten wir für die freie Energie

ℱ = U − T S = N∐︀Ẽ︀ − T S = N (∐︀Ẽ︀ − k B T ln Z − ∐︀Ẽ︀) (12.3.22)

und somit

ℱ = −N k B T ln Z = −k B T ln Z N . (12.3.23)

Mit dℱ = −SdT − pdV − V M ⋅ dBext folgt

1 ∂ℱ N k B T ∂ ln Z
Mi = − ( ) = ( ) (12.3.24)
V ∂B ext,i T,V V ∂B ext,i T,V

und
∂M i µ0 ∂2 ℱ
χ i j = µ0 =− ( )
∂B ext,j V ∂B ext,i ∂B ext,j T,V

µ0 ∂ 2 ln Z
=− N kB T ( ) (12.3.25)
V ∂B ext,i ∂B ext,j T,V

sowie
∂ℱ ∂ ln Z
S = −( ) = N k B ln Z + N k B T ( ) . (12.3.26)
∂T V ,B ∂T V ,B

12.3.3 Larmor-Diamagnetismus
Der Larmor-Diamagnetismus tritt in Isolatoren auf, deren Atome oder Ionen im Grundzu-
stand ⋃︀0̃︀ vollkommen gefüllte Elektronenschalen haben, so dass L = S = J = 0 gilt. In diesem
Fall müssen wir nur den 3. Term in (12.3.8) betrachten. Da eine vollkommen gefüllte Elek-
tronenschale kugelsymmetrisch ist, können wir ferner ∐︀0⋃︀x i2 ⋃︀0̃︀ = ∐︀0⋃︀y 2i ⋃︀0̃︀ = 13 ∐︀0⋃︀r 2i ⋃︀0̃︀ setzen
und erhalten damit

µ0 ∂2 ℱ e2 N
χ dia = − ( 2 ) = −µ 0 ∑∐︀n⋃︀r i ⋃︀ñ︀ .
2
(12.3.27)
V ∂B ext V ,T 6m V i

Hierbei ist N⇑V die Anzahl der Atome bzw. Ionen pro Volumeneinheit. Wir sehen,
dass χ dia < 0 und unabhängig von der Temperatur ist. Da der Beitrag der Elektronen in
den äußersten Schalen aufgrund des größten r i dominiert, kann die Summe ∑ i ∐︀0⋃︀r 2i ⋃︀0̃︀
üblicherweise gut durch Z a r 2a angenähert werden, wobei Z a die Zahl der Elektronen in der
äußersten Schale und r a der Atom- bzw. Ionenradius ist. Wir erhalten dann
e2 N
χ dia ≃ −µ 0 Z a r 2a . (12.3.28)
6m V
Wir können das Ergebnis (12.3.28) näherungsweise auch mit Hilfe der klassischen
Physik ableiten, indem wir überlegen, zu welchem Kreisstrom I die Elektronen der
12.3 Atomarer Dia- und Paramagnetismus 677

äußeren Schale aufgrund ihrer Larmor-Präzessionsbewegung führen. Mit der Larmor-


Frequenz ω L = eB ext ⇑2m erhalten wir
ωL Za e2
I = −Z a e =− B ext (12.3.29)
2π 4πm
und damit das magnetische Moment
Za e2
µ=I⋅A=− B ext π (∐︀x 2 ̃︀ + ∐︀y 2 ̃︀) . (12.3.30)
4πm
Mit (∐︀x 2 ̃︀ + ∐︀y 2 ̃︀) = 23 ∐︀r 2a ̃︀ erhalten wir schließlich

Za e2
µ=I⋅A=− B ext ∐︀r 2a ̃︀ . (12.3.31)
6m
und damit die Zusatzenergie
Za e2 2 2
∆E = −µB ext = B ∐︀r ̃︀ . (12.3.32)
6m ext a
Durch zweimaliges Ableiten nach dem äußeren Feld und Multiplikation mit der Dichte N⇑V
der Atome erhalten wir dann bis auf einen Faktor zwei das Ergebnis (12.3.28) für die Sus-
zeptibilität.
Häufig werden auch die magnetische Massensuszeptibilität und die molare magnetische Sus-
zeptibilität benutzt. Die Massensuszeptibilität χmass
dia bezeichnet die Suszeptibilität pro Dichte
χ dia
dia =
χmass (12.3.33)
ρ

und wird in m3 kg−1 angegeben. Die molare Suszeptibilität χ dia


mol
unterscheidet sich durch die
Verwendung der molaren Masse M mol
M mol χ dia
dia =
χmol (12.3.34)
ρ
und wird in m3 mol−1 angegeben. Da ein Mol eines Stoffes gerade N A = M mol ⇑m A Atome
oder Moleküle enthält (N A ist die Avogadro-Konstante, m A die Molekül- bzw. Atommasse
des betrachteten Stoffes), so erhält man für die molare magnetische Suszeptibilität
NA e 2
dia ≃ −µ 0
χmol Z a r 2a . (12.3.35)
6m
Wie Abb. 12.5 zeigt, sind die experimentellen Daten der diamagnetischen Suszeptibilität von
Atomen und Ionen in guter Übereinstimmung mit diesem Ausdruck, wenn man den Wert
von Gleichung (12.3.35) noch mit 0.35 multipliziert. Für einen typischen Festkörper sind
die Dichten etwa 0.2 Mol/cm3 , so dass die typischen diamagnetischen Suszeptibilitäten im
Bereich von 10−6 bis 10−4 (in SI-Einheiten) liegen, also sehr viel kleiner als eins sind. Im Ge-
gensatz dazu war die elektrische Suszeptibilität in der Größenordnung von eins. Dies erklärt,
warum bei der Festkörperspektroskopie mit elektromagnetischer Strahlung üblicherweise
keine magnetischen Effekte berücksichtigt werden müssen.
678 12 Magnetismus

I-
Xe
Cs+
Br-
Kr

m /mol)
K+ Ar

F-

3
10

-11
Ne
Na+

- dia (10
Abb. 12.5: Molare diamagnetische
Suszeptibilität von Atomen und Io-

mol
nen mit abgeschlossener Elektro- He
nenschale aufgetragen gegen Z a r 2a .
Die Suszeptibilität eines Gases oder Li+
1
Festkörpers, der aus diesen Ato-
men oder Ionen zusammenge-
setzt ist, erhält man, indem man 1 10
mit ρ⇑M mol in mol/cm3 multipliziert. Zar2a (Å2)

25

12.3.4 Magnetische Momente in Festkörpern


Bevor wir den Langevinschen Paramagnetismus aufgrund von atomaren magnetischen Mo-
menten diskutieren, wollen wir uns zuerst kurz mit der Ursache magnetischer Momente in
Festkörpern beschäftigen. Grundsätzlich müssen wir zwischen

∎ den magnetischen Momenten von lokalisierten Elektronen in teilweise gefüllten Schalen


und
∎ den magnetischen Momenten von delokalisierten Leitungselektronen in Metallen

unterscheiden. Die magnetische Suszeptibilität aufgrund der Leitungselektronen diskutieren


wir in Abschnitt 12.4. Hier wollen wir uns nur mit den atomaren magnetischen Momenten
lokalisierter Elektronen beschäftigen. Die atomaren Momente sind mit dem Gesamtdrehim-
puls der Elektronen eines Atoms verknüpft. Da der Gesamtdrehimpuls von vollkommen ge-
füllten Schalen null ist, müssen wir nur die teilweise gefüllten Schalen berücksichtigen.
In einer Schale haben wir 2 ⋅ (2ℓ + 1) mögliche Zustände, wobei der Faktor 2 aus den
beiden Spinrichtungen resultiert. Die Zahl ℓ = 0, 1, 2, 3, . . . gibt den Bahndrehimpuls der
s, p, d, f , . . . Schale an. Wären alle Zustände energetisch entartet, so könnten wir die
Elektronen beliebig auf diese Zustände verteilen. Durch Wechselwirkung der Elektronen
untereinander und durch die Spin-Bahn-Kopplung wird die Entartung teilweise aufgeho-
ben und die Zustände werden gemäß den Hundschen Regeln bevölkert. In vielen Atomen
liegt eine starke Kopplung sowohl zwischen den Bahndrehimpulsen ℓ i und Spins s i der
einzelnen Elektronen einer Schale vor, so dass die Bahndrehimpulse zuerst zu einem Ge-
samtdrehimpuls L = ∑ i ℓ i und die Spins zu einem Gesamtspin S = ∑ i s i koppeln. Erst
dann koppeln L und S zu einem Gesamtdrehimpuls J = L + S.20 Diese Russel-Saunders-
Kopplung liegt vor allem bei leichteren Elementen vor und beschreibt z. B. sehr gut die
Übergangsmetalle der 3d-Reihe (ℓ = 2) und die Seltenen Erden der 4 f -Reihe (ℓ = 3). Für
20
Der Hamilton-Operator ℋ kommutiert mit den Operatoren für den Gesamtspin S = ∑ i s i , den
Gesamtbahndrehimpuls L = ∑ i ℓ i und den Gesamtdrehimpuls J = L + S. Dies bedeutet, dass die
Operatoren L2 , Lz , S2 , Sz sowie J2 und Jz die Eigenwerte L, L z , S, S z , J, J z annehmen.
12.3 Atomarer Dia- und Paramagnetismus 679

sehr große Kernladungszahlen Z erhält man zuerst eine Kopplung von ℓ i und s i zu j i , die
dann erst zu einem Gesamtdrehimpuls J koppeln ( j j-Kopplung). Dies kommt durch eine
starke Spin-Bahn-Wechselwirkung (siehe Abschnitt 12.5.4) zustande.
Bei der Berechnung des zum Gesamtdrehimpuls J gehörenden magnetischen Moments µ J ist
zu beachten, dass die beteiligten g-Faktoren der Bahn- und Spin-Anteile verschieden groß
sind. Wir müssen deshalb einen von den Quantenzahlen L, S und J abhängigen g-Faktor
(Russel-Saunders-Kopplung)
J(J + 1) + S(S + 1) − L(L + 1)
gJ = 1 + (12.3.36)
2J(J + 1)
verwenden, welcher als Landéscher g-Faktor bezeichnet wird. Wir erhalten für das Gesamt-
moment
J
µ J = −g J µ B ∐︀J2 ̃︀ = J(J + 1)ħ 2 . (12.3.37)
ħ
Ferner ergibt sich für den Betrag des Gesamtmoments
⌈︂
µ J = g J µ B J(J + 1) = µ B p (12.3.38)
und für seine z-Komponente
µ z = −g J µ B m J . (12.3.39)

Hierbei haben wir die effektive Magnetonenzahl


⌈︂
p = g J J(J + 1) (12.3.40)
eingeführt, so dass das effektive magnetische Moment als µ J = pµ B geschrieben werden
kann.

12.3.4.1 Hundsche Regeln


Die Quantenzahlen L, S und J, welche den Grundzustand eines Atoms oder Ions beschrei-
ben, lassen sich mit Hilfe der Hundschen Regeln21 bestimmen, die im Folgenden kurz dis-
kutiert werden sollen. Die Hundschen Regeln lauten:

1. Hundsche Regel: Maximierung der Gesamtspinquantenzahl S. Die Spins s i der Elek-


tronen einer Schale orientieren sich so zueinander, dass sich unter Berücksichtigung des
Pauli-Prinzips der maximale Wert von S = ∑ i m s i ergibt. Bei Halbfüllung liegt daher maxi-
males S vor. Die 1. Hundsche Regel folgt aus dem Pauli-Prinzip und der Coulomb-Wech-
selwirkung und resultiert in einer Minimierung der Coulomb-Abstoßung der Elektronen.
Aufgrund des Pauli-Prinzips können sich nämlich Elektronen mit gleichem Spin nicht am
gleichen Ort aufhalten (symmetrische Spin-Funktion erfordert antisymmetrische Ortsfunk-
tion). Dadurch wird die Coulomb-Abstoßung minimiert.
21
Friedrich Hund, geboren am 4. Februar 1896 in Karlsruhe, gestorben am 31. März 1997 in Göt-
tingen.
680 12 Magnetismus

Friedrich Hund (1896–1997)


Friedrich Hund wurde am 4. Februar 1896 in Karlsruhe ge-
boren. Er studierte Mathematik, Physik und Geographie in
Göttingen und Marburg. Er promovierte und habilitierte sich
bei Born in Göttingen. Er war dann ab 1925 zunächst Privat-
dozent für theoretische Physik in Göttingen und wurde 1927
Professor in Rostock. Im Jahr 1929 kam er nach Leipzig als
enger Kollege Heisenbergs. Er war anschließend Professor in
Jena (1946), Frankfurt (1951) und ab 1956 wieder in Göttin-
gen. Insgesamt wurden mehr als 250 Schriften und Aufsätze
von Hund veröffentlicht.
Friedrich Hund stellte 1925 die nach ihm benannte Hund-
sche Regel auf. Diese war zunächst eine rein empirische Regel
in der Atomphysik, die erst später begründet und zu drei Quelle Wikimedia Commons.
Regeln erweitert wurde. 1926/27 hat er den so genannten
Tunneleffekt zuerst bei isomeren Molekülen entdeckt und beschrieben. In der Molekülphy-
sik und -spektroskopie unterscheidet man die Hundschen Kopplungsfälle, abhängig davon
wie die verschiedenen quantenmechanischen Drehimpulse (Elektronenspin, Bahndrehim-
puls, Rotation) zum Gesamtdrehimpuls koppeln. Bekannt ist in der Molekülphysik auch
die Hund-Mulliken-Methode, die von der Heitler-London-Methode zu unterscheiden ist.
Hund hat sich besonders auch mit der Geschichte der Physik befasst. So hat er u. a. die Stu-
dien von Wilfried Schröder zu Emil Johann Wiechert sowie zum Ätherproblem bei Ein-
stein, Mie und Wiechert sehr gefördert.
Friedrich Hund starb am 31. März 1997 in Göttingen.

2. Hundsche Regel: Maximierung der Gesamtbahndrehimpulsquantenzahl L. Die Bahn-


drehimpulse ℓ i der einzelnen Elektronen der Schale orientieren sich so, dass sich unter
Berücksichtigung der 1. Hundschen Regel eine maximale Gesamtbahndrehimpulsquanten-
zahl L = ∑ i m ℓ i ergibt. Bei halber Füllung liegt wegen der 1. Hundschen Regel natürlich L = 0
vor. Die 2. Hundsche Regel resultiert in einer Reduktion der Coulomb-Energie durch eine
gleichmäßigere Verteilung der Ladung.

3. Hundsche Regel: Kopplung von L und S zu J. Die resultierende Gesamtdrehim-


pulsquantenzahl J kann Werte von ⋃︀L − S⋃︀ bis (L + S) annehmen. Dies ermöglicht ins-
gesamt (2L + 1) ⋅ (2S + 1) Kombinationen. Diese Entartung wird durch die Spin-Bahn-
Kopplung aufgehoben, die im Hamilton-Operator durch einen Term λL ⋅ S berücksichtigt
wird (siehe Abschnitt 12.5.4). Für λ < 0 sollte L parallel, für λ > 0 dagegen antiparallel
zu S sein, damit die Spin-Bahn-Wechselwirkung zu einer Energieabsenkung führt. Das
Vorzeichen von λ entscheidet also über die bevorzugte Ausrichtung. Für Füllungen unter-
halb Halbfüllung (n < 2ℓ + 1) gilt λ > 0, für Füllungen oberhalb Halbfüllung (n > 2ℓ + 1)
12.3 Atomarer Dia- und Paramagnetismus 681

gilt λ < 0. Für J folgt daraus:


)︀
⌉︀
⌉︀⋃︀L − S⋃︀ für n ≤ (2ℓ + 1), λ>0
J = ⌋︀ . (12.3.41)
⌉︀
⌉︀ L + S für n > (2ℓ + 1), λ<0
]︀
Die 3. Hundsche Regel optimiert also die Spin-Bahn-Wechselwirkungsenergie. Die Ände-
rung des Vorzeichens von λ bei einer mehr als halbvollen Schale können wir qualitative so
verstehen, dass wir die zum vollständigen Füllen der Schale fehlenden Elektronen als Löcher
auffassen, deren Bahnbewegung ein im Vergleich zu Elektronen gerade entgegengesetztes
orbitales Magnetfeld erzeugt. Dadurch wird dann eine parallele Einstellung von L und S be-
vorzugt.
Für die Bezeichnung der Zustände benutzt man üblicherweise die spektroskopische
Notation 2S+1 L J , wobei für die Gesamtbahndrehimpulsquantenzahl L die Buchsta-
ben S, P, D, F, G, . . . für L = 0, 1, 2, 3, 4, . . . verwendet werden.

12.3.4.2 Seltene Erden


Die Ionen der Seltenen Erden haben eine nicht abgeschlossene 4 f -Schale. Die 4 f -Schale
(Radius etwa 0.3 Å) wird durch die Elektronen der abgeschlossenen 5s- und 5p-Schalen (Ra-
dius etwa 1 Å) gegen elektrische Felder der Nachbarionen gut abgeschirmt. Die Momente der
Elektronen der 4 f -Schale werden deshalb durch Kristallfelder kaum beeinflusst.
Wir diskutieren den Grundzustand der Ionen der Seltenen Erden exemplarisch anhand
von Tb3+ . Die Grundzustände der anderen Ionen folgen analog. Dem Periodensystem
entnehmen wir, dass das Element Terbium die Elektronenkonfiguration [Xe]4f9 6s2 besitzt.
Hierbei bezeichnen wir mit [Xe] die Konfiguration des Edelgases Xe, die als geschlosse-
ne Schale der Elektronenkonfiguration zugrunde liegt. Zusätzlich besitzt Tb nun noch
9 Elektronen in der 4 f -Unterschale sowie 2 Elektronen in der 6s-Schale. Im dreiwertigen
Oxidationszustand, in dem die Lanthaniden am häufigsten auftreten, werden die beiden
Außenelektronen in der 6s-Schale abgegeben. Sofern ein 5d-Elektron vorhanden ist, wird
dieses ebenfalls abgegeben. Andernfalls wird ein Elektron aus der darunter liegenden 4 f -
Schale abgegeben. Die Elektronenkonfiguration von Tb3+ vereinfacht sich somit zu [Xe]4f8 .
Allen dreiwertigen Ionen der Seltenen Erden ist gemein, dass sie eine [Xe] Grundkon-
figuration und eine teilweise gefüllte 4 f -Schale besitzen beginnend mit Ce3+ mit einem
Elektron in der 4 f -Schale und endend bei Yb3+ mit 13 Elektronen. Eine völlige leere bzw.
volle 4 f -Schale besitzen die Ionen am Anfang und Ende der Reihe, nämlich La3+ und Lu3+ .
Der Radius der dreiwertigen Ionen nimmt von 1.11 Å bei Ce bis zu 0.94 Å bei Yb ab, was als
Lanthaniden-Kontraktion bezeichnet wird.
Die magnetischen Momente der Ionen erhalten wir mit den Hundschen Regeln. Für Tb
müssen wir 8 Elektronen auf die 4 f -Orbitale verteilen. Wir diskutieren dies anhand von
Tabelle 12.1. Die f -Orbitale repräsentieren Zustände mit Bahndrehimpuls-Quanten-
zahl ℓ = 3. Damit liegen (2ℓ + 1) = 7 verschiedene Orbitale vor, welche sich hinsichtlich
der Orientierungsquantenzahl m ℓ = −3, −2, −1, 0, +1, +2, +3 unterscheiden. Jedes der Or-
bitale kann maximal mit 2 Elektronen unterschiedlicher Spin-Richtung besetzt werden.
Nach der 1. Hundschen Regel wird zunächst jedes Orbital mit einem Elektron der Quan-
tenzahl m s = + 21 besetzt, um S zu maximieren. Das verbleibende 8. Elektron muss nun
682 12 Magnetismus

Tabelle 12.1: Grundzustandskonfiguration und effektive Magnetonenzahl p der dreiwertigen Ionen


der Seltenen Erden.

Ion Konfiguration Schema S L= J Term p p


mℓ = +3, +2, +1, 0, -1, -2, -3 𝚺𝒎ℓ (berechnet) (Experiment)
La3+ [Xe]4f0 0 0 0 1S
0 0 0
Ce3+ [Xe]4f1 ↑ 1/2 3 5/2 2F
5/2 2.54 2.4
Pr3+ [Xe]4f2 ↑ ↑ 1 5 4 3H
4 3.58 3.5
Nd3+ [Xe]4f2 ↑ ↑ ↑ 3/2 6 9/2 4I
9/2 3.62 3.5

Pm3+ [Xe]4f4 ↑ ↑ ↑ ↑ 2 6 4 5I
4 2.68 --

Sm3+ [Xe]4f5 ↑ ↑ ↑ ↑ ↑ 5/2 5 5/2 6H


5/2 0.84 1.5

Eu3+ [Xe]4f6 ↑ ↑ ↑ ↑ ↑ ↑ 3 3 0 7F
0 0 3.4
Gd3+ [Xe]4f7 ↑ ↑ ↑ ↑ ↑ ↑ ↑ 7/2 0 7/2 8S
7/2 7.94 8.0

Tb3+ [Xe]4f8 ↑↓ ↑ ↑ ↑ ↑ ↑ ↑ 3 3 6 7F
6 9.72 9.5

Dy3+ [Xe]4f9 ↑↓ ↑↓ ↑ ↑ ↑ ↑ ↑ 5/2 5 15/2 6H


15/2 10.63 10.6
Ho3+ [Xe]4f10 ↑↓ ↑↓ ↑↓ ↑ ↑ ↑ ↑ 2 6 8 5I
8 10.60 10.4
Er3+ [Xe]4f11 ↑↓ ↑↓ ↑↓ ↑↓ ↑ ↑ ↑ 3/2 6 15/2 4I
15/2 9.59 9.5
Tm3+ [Xe]4f12 ↑↓ ↑↓ ↑↓ ↑↓ ↑↓ ↑ ↑ 1 5 6 3H
6 7.57 7.3
Yb3+ [Xe]4f13 ↑↓ ↑↓ ↑↓ ↑↓ ↑↓ ↑↓ ↑ 1/2 3 7/2 2F
7/2 4.54 4.5

Lu3+ [Xe]4f14 ↑↓ ↑↓ ↑↓ ↑↓ ↑↓ ↑↓ ↑↓ 0 0 0 1S
0 0 0

einen m s = − 12 Zustand besetzen. Die 2. Hundsche Regel erfordert ferner, dass dabei das
Elektron in einen Zustand mit möglichst großer Quantenzahl m ℓ eingebaut wird, so dass
die Gesamtbahndrehimpulsquantenzahl L = ∑ i m ℓ i maximal wird. Das heißt, m ℓ = 3. Wir
erhalten insgesamt somit S = 3, L = 3 und J = 6. In spektroskopischer Notation 2S+1 L J ergibt
sich damit der Zustand 7 F6 .
Die Konfigurationen der anderen Ionen ergeben sich entsprechend und sind in Tabelle 12.1
zusammengestellt. Wir sehen, dass die effektive Magnetonenzahl, die wir aus der mit Hilfe
der Hundschen Regeln bestimmten Grundzustandskonfiguration berechnet haben, in den
meisten Fällen sehr gut mit dem experimentellen Wert übereinstimmt. Eine Ausnahme bil-
den Eu3+ und Sm3+ . Hier ist die Aufspaltung des LS-Multipletts so gering, dass bereits bei
Raumtemperatur höhere Multiplettniveaus besetzt sind und deshalb der aus der Grundzu-
standskonfiguration berechnete Wert eine schlechte Übereinstimmung ergibt.

12.3.4.3 Übergangsmetalle
Bei den 3d-Übergangsmetallen liegt die nicht abgeschlossene 3d-Schale ganz außen. Im
Gegensatz zu den 4 f -Elektronen der Seltenen Erden, die sich tief in den Atomrümpfen
aufhalten und durch die äußeren Elektronen abgeschirmt werden, sind die Elektronen der
3d-Schale somit den starken elektrischen Feldern der Nachbarionen ausgesetzt. Das resul-
tierende inhomogene elektrische Feld wird Kristallfeld genannt. Hierdurch kommt es zu
einer weitgehenden Entkopplung der mit den Quantenzahlen L und S verknüpften Bahn-
und Spin-Momente (die Kristallfeldaufspaltung ist wesentlich größer als die Spin-Bahn-
12.3 Atomarer Dia- und Paramagnetismus 683

Tabelle 12.2: Grundzustandskonfiguration und effektive Magnetonenzahl p einiger Ionen der 3d-
Übergangsmetalle.

Ion Konfiguration Schema S L= J Term p= p= p


mℓ = +2, +1, 0, -1, -2, 𝚺𝒎ℓ gJ [J(J+1)]1/2 gS [S(S+1)]1/2 (Exp.)
Ti3+
[Ar]3d1 ↑ 1/2 2 3/2 2D
3/2 1.55 1.73 1.8
V4+
V3+ [Ar]3d2 ↑ ↑ 1 3 2 3F
2 1.63 2.83 2.8
Cr3+
V2+ [Ar]3d3 ↑ ↑ ↑ 3/2 3 3/2 4F
3/2 0.77 3.87 3.8
Mn4+
Mn3+
[Ar]3d4 ↑ ↑ ↑ ↑ 2 2 0 5D
0 0 4.90 4.9
Cr2+
Fe3+
[Ar]3d5 ↑ ↑ ↑ ↑ ↑ 5/2 0 5/2 6S
5/2 5.92 5.92 5.9
Mn2+
Fe2+ [Ar]3d6 ↑↓ ↑ ↑ ↑ ↑ 2 2 4 5D
4 6.70 4.90 5.4
Co2+ [Ar]3d7 ↑↓ ↑↓ ↑ ↑ ↑ 3/2 3 9/2 4F
9/2 6.63 3.87 4.8
Ni2+ [Ar]3d8 ↑↓ ↑↓ ↑↓ ↑ ↑ 1 3 4 3F
4 5.59 2.83 3.2
Cu2+ [Ar]3d9 ↑↓ ↑↓ ↑↓ ↑↓ ↑ 1/2 2 5/2 2D
5/2 3.55 1.73 1.9
Zn2+ [Ar]3d10 ↑↓ ↑↓ ↑↓ ↑↓ ↑↓ 0 0 0 1S
0 0 0 0

Kopplung). Als Folge davon verliert die Quantenzahl J ihre Bedeutung. Im inhomogenen
Kristallfeld bleibt zwar der Betrag des Bahndrehimpulses erhalten, seine z-Komponente ist
aber keine Konstante der Bewegung mehr. Ihr zeitlicher Mittelwert und damit der Beitrag
der Bahnbewegung zum magnetischen Moment verschwindet. Gleichzeitig wird die Ent-
artung der reinen Bahndrehimpulszustände durch das Kristallfeld aufgehoben. Es entsteht
ein so genanntes Kristallfeld-Multiplett, auf das wir hier nicht näher eingehen wollen.22 Ist
der Grundzustand eines Kristallfeld-Multipletts ein Zustand mit der Orientierungsquanten-
zahl m ℓ = 0, d. h. ein so genanntes Kramers-Singulett,23 so ist überhaupt keine Spin-Bahn-
Wechselwirkung vorhanden und der Spin kann sich völlig frei nach dem äußeren Feld aus-
richten. Man spricht hier von einer Auslöschung der Bahnmomente. Die effektive Magneto-
nenzahl wird in diesem Fall durch
⌈︂
p = g s S(S + 1) (12.3.42)

mit g s ≃ 2 gegeben, sie ist also allein durch die Spin-Beiträge gegeben. Ist der Grund-
zustand dagegen ein Zustand mit m ℓ ≠ 0 (Kramers-Multiplett), so führt die jetzt noch
immer vorhandene Spin-Bahn-Kopplung zu einer effektiven Magnetonenzahl, die von der
durch (12.3.42) gegebenen abweicht. In Tabelle 12.2 sind die nach (12.3.40) und (12.3.42)
berechneten Magnetonenzahlen von Übergangsmetallionen mit den experimentellen Wer-
ten verglichen. Wir sehen, dass der experimentelle Wert in den meisten Fällen ganz gut mit
dem nach Gleichung (12.3.42) berechneten Wert übereinstimmt.

22
siehe z. B. Quantentheorie des Magnetismus I+II, W. Nolting, Teubner, Stuttgart (1986).
23
Hendrik Anthony Kramers, niederländischer Physiker, geboren am 17. Dezember 1894 in Rotter-
dam, gestorben am 24. April 1952 in Oegstgesst.
684 12 Magnetismus

12.3.5 Langevin-Paramagnetismus
Wir betrachten jetzt die Magnetisierung und magnetische Suszeptibilität eines Systems aus
Atomen mit J ≠ 0. In diesem Fall dominiert der 1. Term in (12.3.8) und wir können die
beiden weiteren Terme vernachlässigen.

12.3.5.1 Klassische Betrachtung


Wir beginnen unsere Diskussion mit einer klassischen Betrachtung, die in guter Näherung
für große Quantenzahlen J gültig ist. Bei einer klassischen Betrachtung können die magne-
tischen Momente jeden beliebigen Winkel relativ zur Richtung des externen Magnetfeldes
einnehmen und damit beliebige Werte parallel zur Feldrichtung annehmen. Dagegen kann
bei einer quantenmechanischen Betrachtung die Komponente des magnetischen Moments
parallel zu der durch das äußere Feld vorgegebenen Quantisierungsachse nur ganz bestimm-
te Werte annehmen.
Bringen wir ein magnetisches Moment µ in ein äußeres Magnetfeld Bext = µ 0 Hext , so ist
seine Energie (siehe Abb. 12.6)

E = −µ ⋅ Bext = −µB ext cos θ . (12.3.43)

Das mittlere magnetische Moment ∐︀µ z ̃︀ in Richtung des angelegten Feldes (z-Richtung), das
wir in einem Experiment messen, müssen wir mit Hilfe einer statistischen Betrachtung er-
mitteln. Es ist gegeben durch
1
∐︀µ z ̃︀ = ∫ µ cos θ p θ dΩ , (12.3.44)

wobei dΩ für das Raumwinkelelement steht und

e µB ext cos θ⇑k B T


pθ = (12.3.45)
∫ e µB ext cos θ⇑k B T dΩ
1

die Wahrscheinlichkeit dafür angibt, dass im thermischen Gleichgewicht das magnetische


Moment im Winkelbereich zwischen θ und θ + dθ liegt. Im Vergleich zu (12.3.15) haben
wir die Summation durch eine Integration ersetzt, da im klassischen Fall die Richtung der

𝑩𝐞𝐱𝐭 ||𝒛 𝟐𝝅 𝐬𝐢𝐧 𝛉 𝐝𝛉


𝝁 𝐬𝐢𝐧 𝛉

𝝁
𝝁 𝐜𝐨𝐬 𝛉

θ 𝐝𝛉

Abb. 12.6: Klassisches magne-


tisches Moment im Magnetfeld.
12.3 Atomarer Dia- und Paramagnetismus 685

magnetischen Momente beliebig ist. Damit erhalten wir


π
∫ µ cos θdα θ
∐︀µ z ̃︀ = 0 π , (12.3.46)
∫0 dα θ
wobei wir die Abkürzung
2π sin θdθ µB ext cos θ⇑k B T 1
dα θ = e = sin θe µB ext cos θ⇑k B T dθ . (12.3.47)
4π 2
benutzt haben.
Mit den Substitutionen y = µB ext ⇑k B T, x = cos θ und dx = − sin θdθ erhalten wir
+1
∫−1 xe dx
xy
∐︀µ z ̃︀ = µ +1 (12.3.48)
∫−1 ex y dx
und damit
∐︀µ z ̃︀ 1 µB ext kB T
= coth y − = ℒ(y) = coth − . (12.3.49)
µ y kB T µB ext
Hierbei ist ℒ die Langevin-Funktion. Die Magnetisierung ist gegeben durch
N
M= ∐︀µ z ̃︀ = n∐︀µ z ̃︀ (12.3.50)
V
mit dem Sättigungswert M s = VN µ = nµ. Für kleine y können wir die Näherung coth y ≃
+ 3 − . . . verwenden und erhalten
1 y
y
M y µB ext
≃ = (12.3.51)
M s 3 3k B T
und somit das Curie-Gesetz
∂M µ 0 nµ 2 C
χ = µ0 ( ) = = . (12.3.52)
∂B ext T,V 3k B T T

Hierbei ist C die Curie-Konstante. Die molare Suszeptibilität erhalten wir, indem wir
in (12.3.52) n durch die Avogadro-Konstante N A ersetzen.

12.3.5.2 Quantenmechanisches Zweiniveausystem


Wir gehen jetzt zu einer quantenmechanischen Betrachtung über und diskutieren ein J = 12
System in einem externen Feld Bext ∥ ⧹︂
z. Die magnetische Quantenzahl kann nur die beiden
Werte m J = ± 12 einnehmen. Es gilt deshalb24
J
E = −µ ⋅ Bext = g J µ B ⋅ Bext
ħ
1
= g J µ B B ext m J = ± g J µ B B ext = ±µ eff B ext . (12.3.53)
2
24
Man beachte, dass für Elektronen das magnetische Moment antiparallel zum Drehimpuls orientiert
ist.
686 12 Magnetismus

Pierre Curie (1859–1906), Nobelpreis für Physik 1903


Pierre Curie wurde am 15. Mai 1859 in Paris als Sohn eines
Arztes geboren. Als Kind für geistig leicht zurückgeblieben
gehalten, überraschte er durch seine Begabung in den Fä-
chern Latein und Mathematik und wurde bereits mit 16 Jah-
ren zum Studium der Naturwissenschaften an der Sorbonne
zugelassen. Ab 1883 war er Leiter des Laboratoriums für
Physik und Chemie in Paris und beschäftigte sich vor al-
lem mit der Symmetrie von Kristallen und der Piezoelek-
trizität, die er zusammen mit seinem Bruder Jacques 1880
entdeckt hatte. Daneben untersuchte er das Verhalten pa-
ramagnetischer und ferromagnetischer Stoffe. Er entdeckte,
dass magnetische Substanzen bei bestimmten Temperatu-
ren ihre magnetischen Eigenschaften vom Ferro- zum Pa-
ramagnetismus ändern. © The Nobel Foundation.
Gemeinsam mit seiner Frau Marie Curie entdeckte er die
radioaktiven Elemente Polonium und Radium, wofür sie zusammen mit Becquerel 1903
den Nobelpreis für Physik bekamen. Pierre Curie wurde 1904 Professor an der Sorbonne
und Mitglied der Akademie der Wissenschaften, bevor er am 19. April 1906 bei einem
Verkehrsunfall in Paris ums Leben kam.

Hierbei haben wir das effektive magnetische Moment µ eff = 12 g J µ B verwendet. Für den Mit-
telwert von m J erhalten wir
+1⇑2
∑ m J e−m J g J µ B B ext ⇑k B T
m J =−1⇑2
∐︀m J ̃︀ = . (12.3.54)
+1⇑2
∑ e−m J g J µ B B ext ⇑k B T
m J =−1⇑2

Für die Magnetisierung erhalten wir mit µ eff = 12 g J µ B 25

N N e+µ eff B ext ⇑k B T − e−µ eff B ext ⇑k B T


M= ∐︀µ z ̃︀ = − g J µ B ∐︀m J ̃︀ = nµ eff +µ B ⇑k T
V V e eff ext B + e−µ eff B ext ⇑k B T
µ eff B ext
= nµ eff tanh (12.3.55)
kB T
und mit dem Sättigungswert M s = nµ eff

M µ eff B ext
= tanh ( ). (12.3.56)
Ms kB T

25
Wir verwenden tanh x = (ex − e−x )⇑(ex + e−x ).
12.3 Atomarer Dia- und Paramagnetismus 687

Für µ eff B ext ⇑k B T ≪ 1 können wir die Näherung tanh x ≃ x verwenden und erhalten wie-
derum das Curie-Gesetz
2
∂M µ 0 nµ eff C
χ = µ0 ( ) = = . (12.3.57)
∂B ext T,V kB T T

Wir erhalten also einen zur klassischen Ableitung sehr ähnlichen Ausdruck. Für Elektronen
mit L = 0 und S = 1⇑2 ist µ eff = 12 g s µ B ≃ µ B , da g s ≃ 2. Die molare Suszeptibilität erhalten
wir wiederum, indem wir in (12.3.57) n durch die Avogadro-Konstante N A ersetzen.

12.3.5.3 Beliebige Werte für J


Wir verallgemeinern nun unsere Diskussion auf den Fall J > 1⇑2. Für den mittleren Wert der
magnetischen Quantenzahl m J erhalten wir
+J
∑ m J e−m J g J µ B B ext ⇑k B T
m J =−J 1 ∂Z
∐︀m J ̃︀ = +J
=− , (12.3.58)
Z ∂x
∑ e−m J g J µ B B ext ⇑k B T
m J =−J

wobei Z = ∑m J e−m J x die Zustandssumme ist und x = g J µ B B ext ⇑k B T. Für die Magnetisie-
rung erhalten wir

N g J µ B ∂Z ∂B ext
M=− g J µ B ∐︀m J ̃︀ = n
V Z ∂B ext ∂x
∂ ln Z
= nk B T . (12.3.59)
∂B ext
Mit der Zustandssumme
sinh(︀(2J + 1) x2 ⌋︀
Z= (12.3.60)
sinh x2

und den Abkürzungen

g J µ B B ext
y = xJ = J (12.3.61)
kB T
M s = ng J µ B J (12.3.62)

erhalten wir

M 2J + 1 2J + 1 1 1
= B J (y) = coth ( y) − coth ( y) . (12.3.63)
Ms 2J 2J 2J 2J

Hierbei ist B J die Brillouin-Funktion, die in Abb. 12.7 zusammen mit dem klassischen Aus-
druck gezeigt ist. Gleichung (12.3.52) ist ein Spezialfall von (12.3.63) für J = 12 .
688 12 Magnetismus

Brillouin-Funktionen
1.0
𝑱 = 𝟏/𝟐
1
0.8 3/2
2
5

0.6 Langevin-Funktion

M / Ms
0.4
Abb. 12.7: Normierte Magne-
tisierung M⇑M s als Funktion
von g J µ B JB ext ⇑k B T für verschie- 0.2
dene Werte von J. Eingezeichnet
ist ferner das klassische Ergebnis 0.0
(Langevin-Funktion), das eine Nä- 0 1 2 3 4 5
herung für den Fall J ≫ 1 darstellt. gJ B JBext / kBT

Für y > 1 nähert sich die Brillouin-Funktion ihrem Sättigungswert an. Dies ist anschaulich 33

klar, da für große Werte von y alle magnetischen Momente in Richtung des angelegten Fel-
des ausgerichtet werden können. Für y ≪ 1 können wir wiederum die Näherung coth y ≃
+ 3 − . . . verwenden und erhalten B J (y) ≃ J+1 y = J+1
1 y
y 3J 3
x. Das heißt, die Brillouin-Funkti-
on nimmt linear mit y zu. Für die Suszeptibilität ergibt sich

∂M µ 0 nJ(J + 1)g J2 µ B2 C
χ = µ0 ( ) = = (12.3.64)
∂B ext T,V 3k B T T

mit der Curie-Konstanten


µ 0 nJ(J + 1)g J2 µ B2 2
µ 0 np2 µ B2 µ 0 nµ eff
C= = = . (12.3.65)
3k B 3k B 3k B
⌈︂
Hierbei haben wir wieder die effektive Magnetonenzahl p = g J J(J + 1) verwendet, mit
der wir ein effektives magnetisches Moment µ eff = pµ B definieren können. Den molaren
Wert der Suszeptibilität erhalten wir wiederum, indem wir n durch N A ersetzen. Verglei-
chen wir (12.3.64) mit dem klassischen Ausdruck (12.3.52), so sehen wir, dass die Curie-
Konstanten übereinstimmen, wenn wir das klassische Moment µ mit dem effektiven Mo-
ment µ eff gleichsetzen.
Es sei hier darauf hingewiesen, dass für ein Feld von 1 Tesla bei Raumtemperatur
µ B B ext ⇑k B T ≃ 2 × 10−3 . Das heißt, dass wir bei Raumtemperatur die in Abb. 12.7 gezeigten
Kurven mit im Labor erzeugbaren Magnetfeldern (< 20 T) nur im linearen Bereich nahe bei
null ausmessen können. Um den gesamten Verlauf auszumessen, müssen Experimente bei
tiefen Temperaturen durchgeführt werden.

12.3.6 Vertiefungsthema: Van Vleck Paramagnetismus


Wir betrachten ein atomares System, das im Grundzustand kein magnetisches Moment be-
sitzt. Falls ein nichtverschwindendes Matrixelement ∐︀0⋃︀⧹︂
Lz + g s ⧹︂
Sz )⋃︀ñ︀ des Drehimpulsopera-
tors existiert, das den Grundzustand mit dem angeregten Zustand ⋃︀ñ︀ verknüpft, so erhalten
12.3 Atomarer Dia- und Paramagnetismus 689

wir einen gestörten Grundzustand

∐︀n⋃︀(⧹︂
Lz + g s ⧹︂
µ B B ext
Ψ0′ = Ψ0 + Sz )⋃︀0̃︀Ψn (12.3.66)
E n − E0
und für den angeregten Zustand erhalten wir

Lz + g s ⧹︂
∐︀0⋃︀(⧹︂
µ B B ext
Ψn′ = Ψn − Sz )⋃︀ñ︀Ψ0 . (12.3.67)
E n − E0
Die zugehörigen magnetischen Momente sind

µ B ′ ⧹︂ 2µ 2 B ext
∐︀0 ⋃︀(Lz + g s ⧹︂
Sz )⋃︀0′ ̃︀ ≃ 2 B ⋃︀∐︀n⋃︀(⧹︂
Lz + g s ⧹︂
Sz )⋃︀0̃︀⋃︀2 (12.3.68)
ħ ħ (E n − E 0 )
und
µ B ′ ⧹︂ 2µ 2 B ext
∐︀n ⋃︀(Lz + g s ⧹︂
Sz )⋃︀n′ ̃︀ ≃ − 2 B ⋃︀∐︀n⋃︀(⧹︂
Lz + g s ⧹︂
Sz )⋃︀0̃︀⋃︀2 (12.3.69)
ħ ħ (E n − E 0 )

Fall 1: Falls ∆ = E n − E 0 ≫ k B T, so ist fast ausschließlich der Grundzustand bevölkert und


wir erhalten die Magnetisierung

2nµ B2 B ext
⋂︀∐︀n⋃︀(⧹︂
Lz + g s ⧹︂
2
M= Sz )⋃︀0̃︀⋂︀ (12.3.70)
E n − E0
und die Suszeptibilität
2nµ 0 µ B2
⋂︀∐︀n⋃︀(⧹︂
Lz + g s ⧹︂
2
χ= Sz )⋃︀0̃︀⋂︀ . (12.3.71)
E n − E0
Dieser temperaturunabhängige paramagnetische Beitrag zur Suszeptibilität wird als Van
Vleck Beitrag bezeichnet.

Fall 2: Falls ∆ = E n − E 0 ≪ k B T, so ist die Überschusspopulation des Grundzustandes ge-


genüber dem angeregten Zustand proportional zu n∆⇑2k B T und wir erhalten einen Bei-
trag zur Magnetisierung und Suszeptibilität, der proportional zu 1⇑T ist. Dieser Curie-artige
Beitrag resultiert aus einer Polarisierung der Zustände des Systems, während der oben dis-
kutierte paramagnetische Beitrag (Fall 1) aus einer Umverteilung zwischen verschiedenen
Drehimpulszuständen der Atome beruht. Wie bereits diskutiert, sind die Van Vleck Beiträ-
ge um mehrere Größenordnungen kleiner als die paramagnetischen Beiträge von Zuständen
mit endlichem Drehimpuls.

12.3.7 Kühlung durch adiabatische Entmagnetisierung


Die adiabatische Entmagnetisierung von paramagnetischen Salzen wie zum Beispiel
2Ce(NO3 )3 ⋅2Mg(NO3 )3 ⋅ 24 H2 O (Cerium-Magnesium-Nitrat) war eine der ersten Metho-
den, mit der Temperaturen unterhalb von 1 mK erreicht werden konnten. Die Methode
690 12 Magnetismus

wurde ursprünglich von Peter Debye26 und W. F. Giauque27 vorgeschlagen. Heute werden
zum Erreichen von Temperaturen bis etwa 10 mK überwiegend kontinuierlich arbeitende
Kühlverfahren wie 3 He/4 He-Mischkühler verwendet.
Um das physikalische Prinzip der adiabatischen Entmagnetisierung zu verstehen, müssen
wir die Entropie S des Systems betrachten. Nach (12.3.10) gilt

∂F ∂F dβ
S = −( ) = −( ) . (12.3.72)
∂T V ,B ∂β dT V ,B

Mit β ≡ 1⇑k B T und dβ⇑dT = −β⇑T = −k B β 2 ergibt sich

∂F
S = kB β2 ( ) . (12.3.73)
∂β V ,B

Mit der freien Energie [vergleiche (12.3.23)]

N N m J =+J
F=− ln Z = − ln ∑ e−m J g J µ B B ext β
β β m J =−J
N m J =+J +µ J B ext β
=− ln ∑ e , (12.3.74)
β m J =−J

wobei wir µ J = −g J m J µ B benutzt haben, erhalten wir

∂F N N ∂
= − (− 2 ln Z + ln Z) , (12.3.75)
∂β β β ∂β

Mit ∂β∂
ln Z = ∐︀µ J ̃︀B ext = −∐︀Ẽ︀ erhalten wir schließlich [vergleiche hierzu (12.3.17) und
(12.3.20)]

S = N k B (︀ln Z(βB ext ) − ∐︀µ J ̃︀βB ext ⌋︀ = f (βB ext ) . (12.3.76)

Die Entropie ist also nur eine Funktion der Größe βB ext = B ext ⇑k B T. Die Änderung der
Entropie als Funktion des Magnetfeldes und der Temperatur können wir anhand von
Abb. 12.8 verstehen:

1. T = const:
Für B ext = 0 sind die 2J + 1 möglichen Zustände alle entartet und die Gesamtzahl der
Zustände, die das System einnehmen kann, ist (2J + 1) N [N Spins auf (2J + 1) Zustände].
Für die Entropie folgt dann

S = N k B ln(2J + 1) . (12.3.77)
26
P. Debye, Einige Bemerkungen zur Magnetisierung bei tiefer Temperatur, Ann. Physik 81, 1154
(1926).
27
W. F. Giauque, A Thermodynamic Treatment of Certain Magnetic Effects: A Proposed Method of Pro-
ducing Temperatures Considerably Below 1 K, J. Am. Chem. Soc. 49, 1864 (1927).
12.3 Atomarer Dia- und Paramagnetismus 691

𝑻 = 𝒄𝒐𝒏𝒔𝒕: isotherme Magnetisierung

𝑺 = 𝒄𝒐𝒏𝒔𝒕: isentropische oder adiabatische Entmagnetisierung Abb. 12.8: Zustandsbesetzung eines


J=2-Systems bei isothermer Magneti-
𝑩 sierung und isentropische Entmagne-
tisierung.

Erhöhen wir bei konstanter Temperatur das Magnetfeld (isotherme Magnetisierung), so


erhalten wir eine Aufspaltung der Zustände und mit zunehmender Aufspaltung wird
immer stärker das unterste Niveau bevölkert. Da dadurch die mittlere Zahl der zugäng-
lichen Zustände des Systems abnimmt, nimmt mit zunehmendem Magnetfeld die Entro-
pie ab. 34

2. S = const:
Schalten wir das Magnetfeld bei konstanter Entropie aus (isentropische oder adiabatische
Entmagnetisierung), so muss die mittlere Zahl der dem System zugänglichen Zustände
konstant bleiben. Da die Aufspaltung der Zustände aber mit kleiner werdendem Feld ab-
nimmt, muss in gleicher Weise die Temperatur abnehmen. Da die Entropie eine Funktion
von βB ext ist, muss für β = const auch βB ext = const gelten. Daraus folgt wiederum, dass
bei einer isentropischen Änderung folgende Beziehung zwischen der Anfangstempera-
tur Ti und der Endtemperatur T f gelten muss:

Bi B f
= (12.3.78)
Ti T f

bzw.

Bf
T f = Ti . (12.3.79)
Bi

Die prinzipielle Funktionsweise des Verfahrens ist in Abb. 12.9 veranschaulicht. Wir küh-
len das paramagnetische Salz zunächst auf eine Temperatur Ti von etwa 1 K ab. Danach
wird das Magnetfeld bei gutem Wärmekontakt mit der Wärmesenke angeschaltet. Durch
das Anschalten des Magnetfeldes wird die Entropie verringert, da die Zahl der möglichen
Zustände wesentlich verringert wird. Die an die Wärmesenke abgegebene Wärmemenge
ist ∆Q = Ti ∆S.28 Nachdem das Magnetfeld seinen Höchstwert erreicht hat, entkoppeln wir
das paramagnetische Salz von der Wärmesenke und schalten das Feld langsam aus. Dabei
kühlt sich das System auf die Temperatur T f ab.
Die erreichbare Endtemperatur hängt von dem Feld B f ab, das nach Abschalten des äußeren
Feldes in der Probe wirkt. Dieses ist aufgrund der endlichen Wechselwirkung der magne-
tischen Momente natürlich immer endlich. Da die Wechselwirkungen der Kernmomente

28 ∂S B B
Es gilt ∆Q = Ti ∫0 ( ∂B )T dB = Ti ∫0 ( ∂M ) dB, wobei wir die Maxwell-Beziehung ( ∂B
∂T B
∂S
)T =
∂M C ∂M
( ∂T )B benutzt haben. Mit M = T B folgt dann ( ∂T )B < 0, das heißt ∆Q < 0. Wir haben es also
wirklich mit einer Wärmeabgabe zu tun.
692 12 Magnetismus

(a) 𝑺
Abb. 12.9: Entropie für ein Spin-1/2- 𝑺 = 𝑵𝒌𝐁 𝐥𝐧 𝟐𝑱 + 𝟏
𝚫𝑸 > 𝟎
System als Funktion der Tempera-
𝑩 = 𝑩𝒇
tur für zwei Magnetfelder B i ≫ B f . (a)
𝑻𝒊
Links ist der schematische Aufbau
eines Systems zur Kühlung mittels 𝑩𝒊 (b)
adiabatischer Entmagnetisierung (b)
gezeigt. In (a) ist das paramagneti-
𝚫𝑸 = 𝟎 𝑩 = 𝑩𝒊
sche Salz über einen Wärmeschal-
ter an eine Wärmesenke angekop-
pelt. In (b) ist der Wärmeschal- 𝑻𝒇
ter geöffnet, so dass bei ∆Q⇑T =
∆S = 0 entmagnetisiert wird. 𝑩𝒇 𝑻𝒇 𝑻𝒊 𝑻

35

wesentliche schwächer sind als diejenigen der elektronischen Momente, kann man mit Kern-
entmagnetisierungsstufen wesentlich niedrigere Temperaturen erreichen. Die ersten Expe-
rimente hierzu wurden von N. Kurti und Mitarbeitern durchgeführt.29 Sie erreichten durch
Abkühlen der Kernspins in Cu eine Endtemperatur von 1.2 µK. Der derzeitige Rekord für
die Spin-Temperatur ist 2.8 pK in Rhodium.30

12.4 Para- und Diamagnetismus von Metallen


In Metallen tragen zur magnetischen Suszeptibilität neben den an die Ionenrümpfe gebun-
denen Elektronen auch die delokalisierten Leitungselektronen bei. Der Beitrag der gebun-
denen Elektronen wurde im vorangegangenen Abschnitt 12.3 bereits behandelt. Wir müssen
jetzt noch den Beitrag der Leitungselektronen diskutieren. Letztere sind weder wie die ge-
bundenen Elektronen von teilweise gefüllten Schalen räumlich lokalisiert, noch können sie
wegen des Pauli-Prinzips völlig unabhängig voneinander auf äußere Magnetfelder reagieren.
Das Verhalten von Kristallelektronen im Magnetfeld haben wir bereits in Abschnitt 9.10 aus-
führlich behandelt. Wir erhielten dort [vergleiche (9.10.11)] für ein System freier Elektronen
in einem Magnetfeld der Stärke B ext parallel zur z-Achse
ħ2 2
E = (n + 12 ) ħω c + k ± µ B B ext . (12.4.1)
2m z
Der 1. und 2. Term resultieren aus der Bahnbewegung der Leitungselektronen. Die Ener-
ħ2 2
gie 2m k z gehört dabei zur Bewegung parallel zur Feldrichtung, die vom Magnetfeld nicht
beeinflusst wird. Senkrecht zum Magnetfeld erhalten wir eine Quantisierung der Bahnbe-
wegung, die dazu führt, dass die erlaubten Elektronenzustände auf Landau-Zylindern lie-
gen (vergleiche Abb. 9.47). Je größer das Magnetfeld ist, desto größer wird der Durchmesser
der Landau-Zylinder. Der Abstand der Zylinder beträgt ħω c = eħB ext ⇑m. Durch die Quan-
tisierung der Elektronenzustände auf die Landau-Zylinder wird die Energieverteilung der
29
N. Kurti, F. N. H. Robinson, F. E. Simon, D. A. Spohr, Nuclear Cooling Nature 178, 450 (1956).
30
P. J. Hakonen et al., Nuclear antiferromagnetism in rhodium metal at positive and negative nanokelvin
temperatures, Phys. Rev. Lett. 70, 2818 (1993).
12.4 Para- und Diamagnetismus von Metallen 693

Elektronen innerhalb der Fermi-Kugel gegenüber dem feldfreien Zustand abgeändert. Die-
se Umbesetzung hängt vom Durchmesser der Landau-Zylinder und damit von der Größe
des Magnetfeldes ab und führt zum so genannten Landau-Diamagnetismus der Leitungs-
elektronen.
Gegenüber unserer Diskussion in Abschnitt 9.10, wo wir nur den Bahnanteil betrachtet ha-
ben, haben wir in Gleichung (12.4.1) jetzt noch als 3. Term den Beitrag addiert, der aus
dem mit dem Elektronenspin verknüpften magnetischen Moment µ s = −g s µ B m s ≃ ∓µ B re-
sultiert (g s ≃ 2, m s = ± 12 ). Wir sehen, dass dieser Term die Energie der Elektronen je nach
Spin-Richtung erniedrigt oder erhöht. Dieser Term führt zum so genannten Pauli-Parama-
gnetismus der Leitungselektronen.

12.4.1 Pauli-Paramagnetismus
Wir betrachten zunächst nur den Spin-Beitrag. Das mit dem Spin verknüpfte magnetische
Moment eines Kristallelektrons kann in Feldrichtung nur die beiden Werte

µ s = −g s µ B m s = ∓µ B (12.4.2)

annehmen. Für den Beitrag zur Magnetisierung erhalten wir deshalb

M = (n+ − n− )µ B , (12.4.3)

wenn n+ die Dichte der Elektronen mit µ s in Feldrichtung und n− die Dichte mit µ s entge-
gen der Feldrichtung ist. Bei einer naiven Betrachtung würden wir ein ähnliches Ergebnis
erwarten wie für ein atomares Spin-1/2-System, das heißt M = C⇑T. Im Experiment wird
allerdings ein temperaturunabhängiger Beitrag gemessen. Die Ursache dafür ist die Fermi-
Statistik der Leitungselektronen. Da µ B B ext ⇑k B ≃ 1 K bei B ext ≃ 1 T, gilt für Metalle bei nicht
allzu tiefen Temperaturen µ B B ext ⇑k B ≪ T ≪ TF , wobei TF = E F ⇑k B die Fermi-Temperatur
ist. Es können deshalb nur wenige Elektronen in einem Energieintervall um die Fermi-
Energie ihren Spin ändern. Ihren Anteil können wir grob mit k B T⇑E F = T⇑TF angeben, wes-
halb sich gerade ein temperaturunabhängiger Beitrag CT ⋅ TTF ergibt.
Wir machen jetzt eine genauere Betrachtung anhand von Abb. 12.10. Schalten wir das äuße-
re Magnetfeld ein, so erhalten wir eine energetische Verschiebung der Elektronen mit ent-
gegengesetzter Richtung ihrer Spins bzw. der damit verbundenen magnetischen Momente.
Da die Elektronen untereinander im thermischen Gleichgewicht sind, muss das chemische

(a) 𝑬 (b) 𝟏 E
𝑫 𝑬𝐅
𝟐
𝑬𝐅
Abb. 12.10: Zur Erklärung des Pau-
lischen Paramagnetismus. Die Pfeile
deuten die Richtung der magnetischen
Momente der Elektronen an. Man
beachte, dass die Richtung des ma-
𝝁𝐁 𝑩𝐞𝐱𝐭
gnetischen Moments für Elektronen
𝑫 𝑬 𝑫 𝑬 antiparallel zur Spin-Richtung ist.
694 12 Magnetismus

Wolfgang Pauli (1900–1958), Nobelpreis für Physik 1945


Wolfgang Pauli wurde am 25. April 1900 in Wien gebo-
ren, wo er die Grundschule und das Gymnasium besuch-
te. Nach bestandener Matura zog er nach München und
schrieb sich an der dortigen Ludwig-Maximilians-Universi-
tät ein. Er hörte dort Physik bei Wilhelm Wien und Arnold
Sommerfeld. Sommerfeld übertrug Pauli die zusammenfas-
sende Darstellung der Relativitätstheorie für die Enzyklo-
pädie der Mathematischen Wissenschaften, welche er als
Student des 5. Semesters abschloss. Noch 1921 erschien die-
se als eigenständiges Buch und wurde ein Klassiker. Eben-
falls 1921 wurde er promoviert und ging für ein Semester
als Assistent zu Max Born nach Göttingen. Ab 1922 war er
dann als Assistent bei Wilhelm Lenz in Hamburg tätig. Hier
formulierte er 1924 das Ausschlussprinzip (heute als Pauli- © The Nobel Foundation.
Prinzip bekannt) und damit die Erklärung für den Schalen-
aufbau der Elektronen im Periodensystem der Elemente. 1945 erhielt er den Nobelpreis für
Physik „für die Entdeckung des als Pauli-Prinzip bezeichneten Ausschlussprinzips“.
Die im Jahr 1926 von Pauli zur Erklärung des Paramagnetismus eingeführten Spin-
Matrizen bildeten den Ausgangspunkt für die 1928 von Dirac aufgestellte relativistische
Wellengleichung des Elektrons. Im Jahr 1927 zeigte Pauli ferner auf, wie der Elektronen-
spin, der bis dahin nicht unmittelbar in die Quantentheorie einbezogen war, durch Er-
weiterung der Schrödinger-Gleichung berücksichtigt werden konnte. Im Jahr 1928 nahm
Pauli einen Ruf an die Eidgenössische Technische Hochschule (ETH) Zürich an. Bei der Su-
che nach einer Erklärung der Kernbindungskräfte postulierte er bereits 1930 ein neutrales
(später Neutrino genanntes) Teilchen, dessen Existenz erst 1956 experimentell nachgewie-
sen werden konnte. Sein Aufenthalt in Zürich wurde durch Professuren am Institute for
Advanced Study in Princeton in den Jahren 1935/36 und 1940 bis 1946 unterbrochen. Im
Jahr 1946 wurde er amerikanischer Staatsbürger, kehrte jedoch noch im gleichen Jahr end-
gültig nach Zürich zurück, wo er 1949 zusätzlich die Schweizer Staatsbürgerschaft annahm.
Bis zu seinem Tode gehörte er der ETH an.
Wolfgang Pauli verstarb am 15. Dezember 1958 in Zürich.

Potenzial waagrecht verlaufen. Das heißt, wir erhalten im Magnetfeld einen Überschuss an
Elektronen mit magnetischen Momenten parallel zum angelegten Feld. Die Größenverhält-
nisse in Abb. 12.10 sind allerdings nicht richtig wiedergegeben. Die Energie µ B B ext beträgt
bei einem Feld von 1 T weniger als 0.1 meV und ist deshalb verschwindend klein gegenüber
der Fermi-Energie von typischerweise einigen eV.
12.4 Para- und Diamagnetismus von Metallen 695

Für die Dichten n+ und n− der Elektronen mit magnetischen Momenten parallel und anti-
parallel zur Feldrichtung können wir allgemein schreiben

1
n+ = ∫ D(E + µ B B ext ) f (E)dE (12.4.4)
2V
0


1
n− = ∫ D(E − µ B B ext ) f (E)dE , (12.4.5)
2V
0

wobei D die Zustandsdichte für beide Spinrichtungen und f die Fermi-Verteilungsfunktion


sind. Für die Magnetisierung ergibt sich damit

µB 1 ∂D
M = (n+ − n− )µ B = ∫ 2µ B B ext f (E)dE
V 2 ∂E
0

µ B2 B ext ∂D
= ∫ f (E)dE
V ∂E
0
⎨ ∞ ⎬
µ B2 B ext ⎝ ∞ ⎠
= ⎝D(E) f (E)⨄︀ − ∫ D(E) ∂ f dE ⎠
⎝ ∂E ⎠⎠
V ⎝
⎪ ⎮
0
0

µ B2 B ext ∂f
=− ∫ D(E) dE . (12.4.6)
V ∂E
0

Für niedrige Temperaturen können wir die Näherung −∂ f ⇑∂E ≃ δ(E − E F ) verwenden und
erhalten
µ B2 B ext
M= D(E F ) . (12.4.7)
V
Mit der Zustandsdichte des freien Elektronengases [vergleiche (7.1.18)]
V 2m 3⇑2 1⇑2 3 nV
D (E F ) = ( ) EF = (12.4.8)
2π 2 ħ 2 2 k B TF
erhalten wir
3nµ B2 B ext
M= (12.4.9)
2k B TF
und damit die temperaturunabhängige Paulische Spin-Suszeptibilität

∂M D(E F ) 3µ 0 µ B2
χP = µ0 ( ) = µ 0 µ B2 =n = const . (12.4.10)
∂B ext T,V V 2k B TF

Vergleichen wir dieses Ergebnis mit dem für ein Spin-1⇑2-System aus gebundenen Elektro-
nen, so sehen wir, dass der wesentliche Unterschied gerade ein Faktor T⇑TF ist. Dieser be-
rücksichtigt, dass für das Fermi-Gas freier Elektronen nur ein geringer Bruchteil T⇑TF der
Elektronen zur Suszeptibilität beitragen kann.
696 12 Magnetismus

Für höhere Temperaturen wird die Näherung −∂ f ⇑∂E ≃ δ(E − E F ) schlechter. Allerdings
sind die Korrekturen zum Ergebnis (12.4.10) sehr gering.31 Der Paramagnetismus der Lei-
tungselektronen ist also praktisch unabhängig von der Temperatur. Im Experiment stellt
man fest, dass Übergangsmetalle eine hohe Paulische Spin-Suszeptibilität besitzen. Dies liegt
hauptsächlich an der hohen Zustandsdichte der Übergangsmetalle, die sich z.B. durch Mes-
sung der spezifischen Wärme des Elektronengases bestimmen lässt.

12.4.2 Landau-Diamagnetismus
Wir haben bisher nur den Spin-Beitrag der Leitungselektronen diskutiert. Um den orbitalen
Beitrag zu bestimmen, müssen wir die Gesamtenergie der Leitungselektronen als Funktion
des angelegten Magnetfeldes berechnen. Dies haben wir in Abschnitt 9.10 bereits getan und
gesehen, dass die freie Energie ℱ und damit die Magnetisierung M = −(1⇑V )(∂ℱ⇑∂B ext )T,V
für tiefe Temperaturen und reine Proben (ħω c ≫ k B T, ω c τ ≫ 1) eine oszillierende Funktion
von B ext ist. Bei höheren Temperaturen und üblichen Proben sind diese Bedingungen zwar
nicht erfüllt, trotzdem mittelt sich die Magnetfeldabhängigkeit von ℱ nicht heraus und wir
erhalten deshalb nach wie vor eine endliche Magnetisierung. Es kann gezeigt werden, dass
diese Magnetisierung antiparallel zu B ext ist. Der Einfluss des äußeren Feldes auf die Orbi-
talbewegung der Elektronen führt zum Landauschen Diamagnetismus.
Es kann gezeigt werden, dass die mit dem Landauschen Diamagnetismus verbundene Sus-
zeptibilität für ein freies Elektronengas dem Betrag nach genau ein Drittel der paramagne-
tischen Suszeptibilität nach Gleichung (12.4.10) beträgt:

χ L = − 13 χ P . (12.4.11)

Für das Elektronengas erhalten wir dann insgesamt eine paramagnetische Suszeptibilität von

µ 0 µ B2
χ = χP + χL = n . (12.4.12)
k B TF
Setzen wir charakteristische Zahlenwerte für die Elektronendichte n und die Fermi-Tempe-
ratur TF von Metallen ein, so sehen wir, dass χ in der Größenordnung 10−6 liegt. Größere
Werte treten bei einigen Übergangsmetallen auf, die wie bereits erwähnt eine sehr hohe Zu-
standsdichte D(E F ) am Fermi-Niveau besitzen.
Bei der bisher geführten Diskussion sind wir von freien Elektronen ausgegangen. Für Kris-
tallelektronen gibt es durch die Wechselwirkung mit dem periodischen Potenzial des Gitters
Abweichungen. Das Verhältnis von χ P und χ L ist hier nicht exakt 3:1. Die Abweichung von
diesem Wert wird um so größer, je größer die effektive Masse m∗ der Leitungselektronen
wird, wobei in etwa

1 m 2
χL = − χP ( ∗ ) (12.4.13)
3 m
2
31 π2
Im Rahmen einer Sommerfeld-Entwicklung erhalten wir χ P (T) = χ P (0) ]︀1 − 12
( TTF ) + . . .{︀. Da
bei Raumtemperatur T⇑TF ≃ 0.01 ist der Korrekturfaktor verschwindend klein.
12.5 Kooperativer Magnetismus 697

gilt. Weitere Abweichungen entstehen durch Wechselwirkungen unter den Elektronen, die
meist zu einer Erhöhung der Paulischen Spinsuszeptibilität führen und mit einem so ge-
nannten Austauschparameter berücksichtigt werden können.
Die gesamte, in einem Experiment gemessene Suszeptibilität ergibt sich schließlich aus der-
jenigen der freien und gebundenen Elektronen. Die Atomrümpfe der Metallionen haben
häufig eine geschlossenene Elektronenschale, so dass der Anteil der gebundenen Elektronen
rein diamagnetisch ist. Der Gesamtbeitrag der Leitungselektronen ist dagegen paramagne-
tisch. Da beide Beiträge in der gleichen Größenordnung liegen, können Metalle aber sowohl
dia- als auch paramagnetisch sein. Alkalimetalle sind z. B. mit Ausnahme von Cs alle para-
magnetisch. Edelmetalle wie Cu, Ag und Au sind dagegen diamagnetisch.

12.5 Kooperativer Magnetismus


Einige Substanzen zeigen auch ohne äußeres Magnetfeld unterhalb einer materialspezifi-
schen Temperatur eine Ordnung von magnetischen Momenten, die in vielen Fällen mit einer
endlichen Magnetisierung verbunden ist. Diese können wir so erklären, dass eine endliche
Wechselwirkung unter den atomaren magnetischen Momenten zu einer Ausrichtung der
Momente führt. Wir sprechen deshalb von kooperativem Magnetismus. Bei ferromagneti-
schen Materialien ist diese Ausrichtung parallel, bei antiferromagnetischen oder ferrimagne-
tischen Materialien (siehe Abschnitt 12.6.3 und 12.6.4) ist sie dagegen antiparallel. Es gibt
aber auch Substanzen mit einer komplizierteren Anordnung der magnetischen Momente
(vergleiche Abschnitt 12.6.1).
Der Ordnung der magnetischen Momente durch ihre endliche Wechselwirkung wirkt die
thermische Energie entgegen. Der Wettstreit von ordnenden Wechselwirkungseffekten und
der Unordnung erzeugenden thermischen Energie bestimmt das Temperaturverhalten der
magnetischen Ordnung. Der Übergang von einem völlig ungeordneten zu einem Zustand
mit endlicher Ordnung erfolgt dabei bei einer kritischen Temperatur und kann in einfachs-
ter Form durch die Landau-Theorie der Phasenübergänge beschrieben werden, die wir be-
reits im Zusammenhang mit der Diskussion der Ferroelektrizität in Abschnitt 11.8.1 einge-
führt haben. Für ferromagnetische Materialien wird die Ordnungstemperatur Curie-Tem-
peratur TC , für antiferromagnetische Materialien Néel-Temperatur TN genannt.
Die Hauptursache für die Wechselwirkung magnetischer Momente in ferromagnetischen
und antiferromagnetischen Materialien und damit für das Auftreten des kooperativen Ma-
gnetismus ist, wie erstmals von Werner Heisenberg32 und Paul Dirac33 unabhängig von-
einander im Jahr 1926 erkannt wurde, die quantenmechanische Austauschwechselwirkung,
die wir bereits in Kapitel 3 bei der Diskussion der Bindungskräfte in Festkörpern disku-
tiert haben. Die Dipol-Dipol-Wechselwirkung spielt nur eine untergeordnete Rolle. Die mi-
kroskopische Beschreibung von kollektiven Phänomenen ist allgemein schwierig, da Kor-
32
Werner Karl Heisenberg, siehe Kasten auf Seite 700.
33
Paul Adrien Maurice Dirac, geboren am 8. August 1902 in Bristol, gestorben am 20. Oktober 1984
in Tallahassee; britischer Physiker. Er erhielt 1933 zusammen mit Schrödinger den Nobelpreis für
Physik „für die Entdeckung einer neuen, nützlichen Form der Atomtheorie“.
698 12 Magnetismus

relationen und somit Mehrelektronenaspekte eine entscheidende Rolle spielen. Wir werden
im Folgenden wie bei der Diskussion des Dia- und Paramagnetismus wiederum zwischen
der Austauschwechselwirkung von lokalisierten Elektronen (Abschnitt 12.5.2) und deloka-
lisierten Elektronen in einem freien Elektronengas (Abschnitt 12.5.6.2) unterscheiden. Da-
bei können wir aufgrund der Komplexität des Problems nur die Grundzüge behandeln.
Zusätzlich werden wir kurz die Dzyaloshinskii-Moriya Wechselwirkung (Abschnitt 12.5.3),
die Spin-Bahn-Wechselwirkung (Abschnitt 12.5.4) und die Zeeman-Wechselwirkung (Ab-
schnitt 12.5.5) diskutieren.

12.5.1 Dipol-Dipol-Wechselwirkung
Wenn wir mögliche Wechselwirkungen diskutieren, die zu einer Kopplung der magneti-
schen Momente führen, müssen wir zunächst die Dipol-Dipol-Wechselwirkung betrachten.
Diese ist gegeben durch

µ 1 ⋅ µ 2 − 3(µ 1 ⋅⧹︂
r)(µ 2 ⋅⧹︂
r)
E dd = µ 0 3
. (12.5.1)
r
Hierbei ist ⧹︂
r der Einheitsvektor in Richtung des Verbindungs-
vektors der beiden magnetischen Momente µ 1 und µ 2 an den
Orten r1 und r2 . Setzen wir µ 1 ≃ µ 2 ≃ µ B und r ≃ 2 Å ein, so erhal-
𝝁𝟏 𝝁𝟐
ten wir eine maximale Wechselwirkungsenergie in der Größenord- 𝒓ො
nung von weniger als 0.1 meV, die wesentlich kleiner als die ther-
mische Energie k B T ≃ 25 meV bei Raumtemperatur ist. Das heißt,
dass die Dipol-Dipol-Wechselwirkung viel zu schwach ist, um die
für manche Materialien auch bei Temperaturen weit oberhalb von Abb. 12.11: Zur dipo-
Raumtemperatur beobachtete magnetische Kopplung zu erklären. laren Wechselwirkung
zwischen zwei magne-
tischen Momenten.
12.5.2 Austauschwechselwirkung
zwischen lokalisierten Elektronen
Wir diskutieren in diesem Abschnitt zunächst die Wechselwirkung zwischen den magne-
tischen Momenten lokalisierter Elektronen. Dabei betrachten wir Paarwechselwirkungen
zwischen lokalisierten Momenten, die durch unterschiedliche Austauschwechselwirkungs-
arten (siehe Abschnitt 12.5.2.3) vermittelt werden. Wir werden erst später in Abschnitt 12.5.6
die bekannten metallischen Ferromagnete wie Fe oder Ni behandeln, bei denen wir es mit
der Austauschwechselwirkung zwischen itineranten Leitungselektronen zu tun haben. Da-
bei versagt der auf Paarwechselwirkungen basierende Ansatz. Wir müssen dort vielmehr das
kollektive Verhalten aller Leitungselektronen diskutieren. Die Austauschwechselwirkung
zwischen lokalisierten Elektronen haben wir bei der Diskussion der kovalenten Bindung
in Abschnitt 3.4 ausführlich diskutiert. Qualitativ kann die physikalische Ursache der
Austauschwechselwirkung auf die Coulomb-Wechselwirkung in Verbindung mit der Hei-
senbergschen Unschärferelation und dem Paulischen Ausschließungsprinzip zurückgeführt
werden.
12.5 Kooperativer Magnetismus 699
𝒑𝒙
Betrachten wir z. B. zwei Elektronen an benachbar-
ten Gitterplätzen, so könnten wir aufgrund der Hei-
senbergschen Unschärfe-Beziehung ∆p ⋅ ∆x ≥ ħ de-
ren kinetische Energie p2 ⇑2m ∼ ħ 2 ⇑2m e (∆x)2 er-

𝜟𝒑𝒙
niedrigen, wenn wir die Ortsunschärfe ∆x erhö- 𝒙
hen, also die Elektronen delokalisieren und quasi
auf beide Gitterplätze verteilen. Allerdings verbie-
tet das Pauli-Prinzip, dass wir zwei Elektronen im
gleichen Quantenzustand am gleichen Ort haben.
Dies können wir dadurch vermeiden, dass wir für die 𝜟𝒙
Zweielektronen-Wellenfunktion eine symmetrische
Ortsfunktion und eine antisymmetrische Spin-Funktion verwenden. Für den antisymme-
trischen Spin-Singulett-Zustand haben die beiden Elektronen entgegengesetzten Spin und
können sich somit auf die beiden Gitterplätze verteilen ohne das Pauli-Prinzip zu verlet-
zen. Ferner ergibt sich für die symmetrische Ortsfunktion eine erhöhte Ladungsdichte ge-
nau zwischen den positiv geladenen Gitteratomen, was zu einer Reduzierung der Coulomb-
Abstoßung führt. Der Zustand mit antiparalleler Spin-Stellung (Spin-Singulett-Zustand) der
Elektronen ist also in diesem Beispiel energetisch wesentlich günstiger als der Zustand mit
paralleler Spinstellung (Spin-Triplett-Zustand). Allgemein können wir sagen, dass die Ge-
samtwellenfunktion der Elektronen (Fermionen) antisymmetrisch sein muss und damit eine
symmetrische Ortsfunktion eine antisymmetrische Spin-Funktion und umgekehrt bedingt.
Da aber die elektrostatische Wechselwirkung von der Ortsfunktion bestimmt wird, hängt
diese auch von der Spin-Funktion ab.
Um den Energieunterschied zwischen Spin-Singulett-Zustand (symmetrische Ortsfunkti-
on Ψ s ) und dem Spin-Triplett-Zustand (antisymmetrische Ortsfunktion Ψ a ) näher zu ana-
lysieren, verwenden wir den bereits in Abschnitt 3.4.2 beschriebenen Ansatz von Heitler
und London

Ψ s,a = c (︀ϕ A (r1 ) ⋅ ϕ B (r2 ) ± ϕ A (r2 ) ⋅ ϕ B (r1 )⌋︀ , (12.5.2)

wobei das Pluszeichen für die symmetrische (s) und das Minuszeichen für die antisymmetri-
sche (a) Ortswellenfunktion steht, c eine Normierungskonstante ist und ϕ A und ϕ B die ato-
maren Wellenfunktionen sind. Mit diesem Ansatz können wir die potenzielle Energie des
Grundzustandes berechnen. Dabei gehen wir davon aus, dass das Potenzial V (r1 , r2 ), das
sowohl die Wechselwirkung der Elektronen mit den Ionen als auch zwischen den Elektro-
nen beschreibt, symmetrisch bezüglich des Austausches der Elektronen ist, d. h. V (r1 , r2 ) =
V (r2 , r1 ). Wir erhalten damit

s,a
E pot = 2c 2 ∫ ϕ∗A (r1 )ϕ∗B (r2 )V (r1 , r2 )ϕ A (r1 )ϕ B (r2 )dV1 dV2

± 2c 2 ∫ ϕ∗A (r1 )ϕ∗B (r2 )V (r1 , r2 )ϕ B (r1 )ϕ A (r2 )dV1 dV2 , (12.5.3)

wobei das Pluszeichen in der zweiten Zeile für den Singulett- und das Minuszeichen für
den Triplett-Zustand gilt. Da sich die kinetische Energie der beiden Zustände kaum unter-
scheidet, ergibt sich die Differenz E s − E a der Energieeigenwerte im Wesentlichen aus der
700 12 Magnetismus

Werner Heisenberg (1901–1976), Nobelpreis für Physik 1932


Werner Heisenberg wurde am 5. Dezember 1901 in Würz-
burg als Sohn von Dr. August Heisenberg und seiner Frau
Annie Wecklein geboren. Sein Vater wurde später Profes-
sor für griechische Sprachen an der Universität München.
Heisenberg ging bis 1920 in München zur Schule und be-
gann dann an der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU)
München bei Sommerfeld, Wien, Pringsheim, und Rosen-
thal zu studieren. Im Winter 1922/1923 wechselte er nach
Göttingen, um bei Born, Franck, und Hilbert Physik zu stu-
dieren. Im Jahr 1923 promovierte er an der LMU München
und wurde dann Assistent bei Max Born an der Universität
Göttingen, wo er 1924 die Lehrbefugnis erhielt. Von 1924 © Deutsches Bundesarchiv.
bis 1925 arbeitete er mit Niels Bohr an der Universität Ko-
penhagen, von wo er im Sommer 1925 nach Göttingen zurückkehrte. Im Jahr 1927 wurde
er, nur 26 Jahre alt, zum Professor für Theoretische Physik an der Universität Leipzig er-
nannt. 1941 wurde er dann Professor für Physik an der Universität Berlin und Direktor des
dortigen Kaiser-Wilhelm-Instituts für Physik.
Nach dem 2. Weltkrieg reorganisierte Heisenberg mit einigen Kollegen das Institut für
Physik in Göttingen, das dann in Max-Planck-Institut für Physik umbenannt wurde. Im
Jahr 1955 war Heisenberg mit dem Umzug des Max-Planck-Instituts für Physik nach Mün-
chen beschäftigt. Immer noch Direktor dieses Instituts ging er mit ihm nach München und
wurde dort im Jahr 1958 zum Professor für Physik an der LMU München ernannt. Sein In-
stitut wurde dann in Max-Planck-Institut für Physik und Astrophysik umbenannt.
Heisenberg’s Name wird wohl immer mit seiner Theorie zur Quantenmechanik, die er 1925
im Alter von 23 Jahren publizierte, verbunden bleiben. Für diese Theorie erhielt er 1932 den
Nobelpreis für Physik. Später formulierte Heisenberg die nach ihm benannte Unschärfere-
lation. Nach 1957 beschäftigte sich Heisenberg hauptsächlich mit Problemen der Plasma-
physik. Als er 1953 Präsident der Alexander von Humboldt Stiftung wurde, setzte er sich
sehr für die Weiterentwicklung dieser Stiftung ein. Eines seiner Hobbies war die klassische
Musik: Er war ein sehr guter Pianist.
Werner Heisenberg starb am 1. Februar 1976 in München.

Differenz der potenziellen Energie. Wir erhalten deshalb in guter Näherung

J A = E s − E a ≃ 4c 2 ∫ ϕ∗A (r1 )ϕ∗B (r2 )V (r1 , r2 )ϕ B (r1 )ϕ A (r2 )dV1 dV2 . (12.5.4)

Hierbei haben wir für die Energiedifferenz die Austauschkonstante J A eingeführt, deren
Größe und Vorzeichen von der speziellen Form der Wellenfunktionen und des Potenzials
abhängt. Abhängig vom Vorzeichen von J A ist eine parallele oder antiparallele Orientierung
der Spins energetisch günstiger. Da J A > 0 gleichbedeutend mit E s > E a ist, erhalten wir

JA > 0 ⇒ ferromagnetische Kopplung


(12.5.5)
JA < 0 ⇒ antiferromagnetische Kopplung .
12.5 Kooperativer Magnetismus 701

Wie wir in Abschnitt 3.4 bereits gezeigt haben, ist die Austauschenergie z. B. für ein Was-
serstoffmolekül immer negativ, d. h. der symmetrische Spin-Singulett-Zustand besitzt die
niedrigere Energie. Für andere Systeme kann dies auch umgekehrt sein.
Das Potenzial V (r1 , r2 ) können wir in drei Anteile Vi (r1 ) + Vi (r2 ) + Ve e (r1 , r2 ) zerlegen,
wobei die beiden ersten Terme die Wechselwirkung der Elektronen mit den Ionen und der
letzte Term die gegenseitige Wechselwirkung der Elektronen beschreibt. Da Ve e (r1 , r2 ) =
e 2 ⇑4πє 0 ⋃︀r1 − r2 ⋃︀, bewirkt die Coulomb-Wechselwirkung zwischen den Elektronen immer
einen positiven Beitrag zur Austauschkonstanten und damit eine parallele Ausrichtung der
Elektronenspins. Die Wechselwirkung der Elektronen mit den Ionen ist dagegen attraktiv
und bewirkt einen negativen Beitrag zu J A . Sie führt deshalb zu einer Energieabsenkung bei
antiparalleler Ausrichtung der Spins. Welches Vorzeichen letztendlich J A besitzt, hängt von
der relativen Größe der entgegengesetzt wirkenden Beiträge ab.

12.5.2.1 Heisenberg-Modell
Aufgrund des Pauli-Prinzips sind mit den symmetrischen und antisymmetrischen
Ortswellenfunktionen in eindeutiger Weise antisymmetrische und symmetrische Spin-
Wellenfunktionen verknüpft. Mit Hilfe der Austauschkonstante J A können wir dann formal,
ohne auf die Details der Austauschwechselwirkung einzugehen, einen Modell-Hamilton-
Operator einführen, der nur auf die Spin-Funktionen wirkt und die gleiche energetische
Aufspaltung zwischen den beiden Energieniveaus für parallele und antiparallele Spin-
Stellung bewirkt.34 Bezeichnen wir die Spin-Operatoren der beiden Elektronen mit s1
und s2 , so gilt für den Gesamtspin S2 = (s1 + s2 )2 = 23 ħ 2 + 2s1 ⋅ s2 .35 Es lässt sich leicht
zeigen, dass der Operator s1 ⋅ s2 die Eigenwerte − 34 ħ 2 für den Singulett- und + 14 ħ 2 für den
Triplett-Zustand besitzt.36 Damit können wir den Spin-Hamilton-Operator schreiben als
1 1 1 1
ℋspin = (E s + 3E a ) − (E s − E a ) 2 s1 ⋅ s2 = (E s + 3E a ) − J A 2 s1 ⋅ s2 . (12.5.6)
4 ħ 4 ħ
Setzen wir die Eigenwerte des Operators s1 ⋅ s2 ein, so sehen wir sofort, dass dieser Ope-
rator in der Tat die Eigenwerte E s und E a für den Singulett- und Triplett-Zustand ergibt.
Der Term 14 (E s + 3E a ) führt nur zu einer Verschiebung des Energienullpunkts und kann
weggelassen werden. Wir erhalten dann den Modell-Hamilton-Operator zu
1
ℋ A = −J A s1 ⋅ s2 , (12.5.7)
ħ2
der die Paarwechselwirkung zwischen den beiden Spins s1 und s2 angibt. Unsere Vorgehens-
weise lässt sich auf beliebige Spin-Operatoren S i und S j auf den Gitterplätzen i und j und un-
ij
terschiedliche Austauschkonstanten J A erweitern. Um die gesamte Wechselwirkungsenergie
34
Ein Beweis für diese Aussage kann gefunden werden in Quantum Theory of Magnetism,
R. M. White, Springer Ser. Solid-State Sci., Vol. 32, Springer, Berlin, Heidelberg (1983), oder in
The Theory of Magnetism I and II, D. C. Mattis, Springer, Berlin, Heidelberg (1988).
35
Es gilt (s1 + s2 )2 = s21 + s22 + 2s1 ⋅ s2 = 34 ħ 2 + 34 ħ 2 + 2s1 ⋅ s2 = 32 ħ 2 + 2s1 ⋅ s2 .
36
Es gilt (s1 + s2 )2 = s21 + s22 + 2s1 ⋅ s2 und damit s1 ⋅ s2 = 21 )︀(s1 + s2 )2 − s21 − s22 ⌈︀. Für s1 ∥ s2 folgt
daraus s1 ⋅ s2 = 12 )︀2ħ 2 − 34 ħ 2 − 34 ħ 2 ⌈︀ = 14 ħ 2 . Für s1 ∥ −s2 folgt daraus s1 ⋅ s2 = 12 )︀0 − 34 ħ 2 − 34 ħ 2 ⌈︀ =
− 34 ħ 2 .
702 12 Magnetismus

in einem Festkörper zu erhalten, müssen wir über alle möglichen Paarwechselwirkungen


aufsummieren und gelangen dadurch zum so genannten Heisenberg-Modell, in dem der
spinabhängige Hamilton-Operator wie folgt ausgedrückt werden kann:

1
ℋA = − ∑ J A Si ⋅ S j .
ij
(12.5.8)
j≠i,i> j ħ2

Die Summation erfolgt dabei über alle Atome i und alle Nachbarn j, wobei die Einschrän-
kung i > j verhindert, dass Paare doppelt gezählt werden.37 Gleichung (12.5.8) ist der Aus-
gangspunkt zahlreicher theoretischer Modelle. Wichtig ist, dass in diese Modelle nur die
paarweise Wechselwirkung zwischen Elektronen eingeht.

Ising-Modell: In einer Dimension geht das Heisenberg-Modell in das Ising-Modell38 über:


1
ℋIsing = − ∑ J A (Sz ) i ⋅ (Sz ) j .
ij
(12.5.9)
j≠i,i> j ħ2

Beim Ising-Modell wird also die Zahl der Spin-Komponenten auf eins reduziert (d. h. pa-
rallel oder antiparallel zu einer ausgezeichneten Quantisierungsachse, in unserem Fall zur
z-Achse).

12.5.2.2 Hubbard-Modell
Im Heisenberg-Modell wird der effektive Hamilton-Operator explizit durch die Spin-Opera-
toren ausgedrückt. Im Hubbard-Modell wird dieser dagegen anders formuliert (vergleiche
hierzu Abschnitt 8.3.2). Der Spin wird hier nicht explizit benutzt, obwohl er bei der Be-
rechnung von Matrixelementen berücksichtigt wird. Die zentrale Idee ist zu untersuchen,
inwieweit das Wechselspiel zweier konkurrierender Energien den elektronischen Zustand
eines mehratomigen Mehrelektronensystems bestimmt. Die eine Energie ist die elektrostati-
sche Coulomb-Wechselwirkung zwischen Elektronen, die andere die kinetische Energie der
Elektronen. Die Minimierung der Coulomb-Energie U führt zu einem möglichst großen
Abstand der Elektronen und damit einer Lokalisierung der Elektronen auf den Gitterplät-
zen. Die Reduzierung der kinetischen Energie erfordert eine Delokalisierung der Elektronen
und damit ein Hüpfen zwischen den einzelnen Gitterplätzen, das mit der Hüpfenergie t cha-
rakterisiert wird. Da die Reduzierung der kinetischen Energie umso größer ist je größer t,
gilt ∆E kin ∝ −t. Der Spin kommt dadurch ins Spiel, dass beim Hüpfen der Elektronen das
Pauli-Prinzip beachtet werden muss. Unter Berücksichtigung dieser beiden Energien erhal-
ten wir den Hubbard-Hamilton-Operator zu
N
ℋHubbard = −t ∑ (c †i,σ c j,σ + c †j,σ c i,σ ) + ∑ Un i,↑ n i,↓ . (12.5.10)
∐︀i, j̃︀,σ i

37
Wird die Einschränkung i > j weggelassen, so muss ein Faktor 1⇑2 vor der Summe zugefügt wer-
den.
38
Ernst Ising, deutscher Mathematiker und Physiker, geboren am 10. Mai 1900 in Köln; gestorben
am 11. Mai 1998 in Peoria, Illinois, USA.
12.5 Kooperativer Magnetismus 703

Hierbei bezeichnet ∑∐︀i, j̃︀ die Summation über nächste Nachbarn und σ =↓, ↑. Die Opera-
toren c †i,σ (c i,σ ) erzeugen (vernichten) dabei ein Elektron mit Spin σ am Gitterplatz i. Der
Operator n i,σ = c †i,σ c i,σ ist der Teilchenzahloperator, der die Besetzung auf Platz i angibt. Der
erste Term in (12.5.10) beschreibt das Hüpfen von Elektronen von Gitterplatz zu Gitterplatz
ohne Änderung des Spins, da jeweils ein Elektron mit Spin σ auf einem Platz erzeugt und
auf dem anderen vernichtet wird. Der zweite Term beschreibt die Coulomb-Wechselwirkung
von Elektronen mit entgegengesetztem Spin auf dem gleichen Gitterplatz.
Die Analyse von (12.5.10) für t, U > 0 zeigt sofort, dass für U ≫ t die Elektronen nach Mög-
lichkeit eine Doppelbesetzung von Gitterplätzen vermeiden wollen. In diesem Fall werden
die Elektronen auf den einzelnen Gitterplätzen lokalisiert, wobei die verbleibende endliche
Hüpfamplitude in einer antiferromagnetischen Ausrichtung der Elektronenspins resultiert
und für die Austauschkonstante J A = −4t 2 ⇑U gilt. Wir erhalten also einen antiferromagne-
tischen Isolator. Für t ≫ U verhindert das im Vergleich zur Hüpfenergie kleine U jetzt nicht
eine Delokalisierung der Elektronen. Wir erhalten einen nichtmagnetischen metallischen
Zustand.

12.5.2.3 Austauschwechselwirkungsarten
Die Austauschkonstante J A hängt von der Überlappung der Elektronenwellenfunktionen der
beteiligten Gitteratome ab. Dabei muss die Überlappung der Elektronenhüllen der Gitter-
atome mit magnetischen Momenten nicht direkt sein, sondern kann auch über dazwischen
liegende Atome vermittelt werden. Man unterscheidet folgende Wechselwirkungstypen:

Direkte Austauschwechselwirkung: Diese Wechselwirkung resultiert aus der direkten


Überlappung der Wellenfunktionen der Gitteratome mit magnetischen Momenten (siehe
Abb. 12.12a).

Superaustausch: Beim Superaustausch39 , 40 erfolgt die Wechselwirkung zwischen den Git-


teratomen mit magnetischen Momenten indirekt über die Orbitale von dazwischen liegen-
den diamagnetischen Atomen/Ionen. Ein wichtiges Beispiel dieser indirekten Wechselwir-
kung ist der Superaustausch über das diamagnetische O2− -Ion, das eine abgeschlossene 2p-
Schale besitzt. In Abb. 12.12b ist der Superaustausch für MnO dargestellt. Die Elektronen-
hüllen von benachbarten Manganionen überlappen mit der Elektronenhülle des dazwischen
liegenden Sauerstoffions, wodurch indirekt eine Kopplung der Momente der Mn2+ -Ionen
zustande kommt. Bei MnO ist diese Kopplung antiferromagnetisch. Formal können wir den
Superaustausch auch mit dem Heisenberg-Modell [Gleichung (12.5.7)] beschreiben, das ur-
sprünglich für die direkte Austauschwechselwirkung entwickelt wurde. Allerdings müssen
wir bei der Ableitung der Austauschkonstante anders vorgehen.41
39
H. A. Kramers, L’interaction Entre les Atomes Magnétogènes dans un Cristal Paramagnétique, Phy-
sica 1, 182 (1934).
40
P. W. Anderson, Antiferromagnetism: Theory of Superexchange Interaction, Phys. Rev. 79, 350–356
(1950).
41
D. I. Khomskii und G. A. Sawatzky, Interplay between spin, charge and orbital degrees of freedom in
magnetic oxides , Sol. State. Comm. 102, 87 (1997).
704 12 Magnetismus

(a) (d)

1
(b)
0

JA
-1
0 4 8 12 16 20
Mn2+ O2- Mn2+ O2- Mn2+ 2kFr

(c)

Mn3+ O2- Mn4+ Mn4+ O2- Mn3+

Abb. 12.12: Direkte Austauschwechselwirkung (a), Superaustausch über diamagnetische Sauerstoffio-


nen (b), Doppelaustausch (c) und indirekte Austauschwechselwirkung (RKKY) von Atomen mit loka-
len magnetischen Momenten über Leitungselektronen (d). Bei der RKKY-Wechselwirkung oszilliert
das Vorzeichen der Austauschkonstante J A als Funktion von k F r.

Entscheidend beim Superaustausch ist, dass ein Elektron, das vom Sauerstoffion zum Mn-
Ion hüpft, dort eine stark erhöhte Coulomb-Energie besitzt. Es muss sozusagen für den Ver-
such, durch Hüpfen zum Nachbaratom, also durch Delokalisieren seine kinetische Energie
zu reduzieren, eine hohe Coulomb-Energie U bezahlen. Ein realer Hüpfprozess ist deswe-
gen energetisch verboten, er kann aber virtuell innerhalb der Energie-Zeit-Unschärferela-
tion trotzdem stattfinden. Mit Störungsrechnug 2. Ordnung kann man zeigen, dass die ef-
fektive Austauschkonstante J A ∝ −t 2 ⇑U ist, wobei t die Hüpfwahrscheinlichkeit zwischen
Sauerstoff- und Manganion angibt. Es ist anschaulich klar, dass der Hüpfprozess der beiden
Elektronen mit antiparallelem Spin im Sauerstoff 2p-Orbital nur dann zu beiden Nachbar-
Manganionen stattfinden kann, wenn diese antiparallel ausgerichtete Momente haben.

Doppelaustausch: Der Doppelaustausch42 ist ähnlich zum Superaustausch. Wie


Abb. 12.12c zeigt, besitzen jetzt allerdings die beiden Mn-Ionen unterschiedliche Va-
lenzen, z. B. Mn3+ und Mn4+ wie in La1−x Srx MnO3 . Dann kann z. B. ein Spin-↑-Elektron
vom Sauerstoffion zum rechten Mn4+ -Ion hüpfen, wenn quasi gleichzeitig ein Spin-↑-
Elektron vom linken Mn3+ -Ion wieder zum Sauerstoffion hüpft. Die Endsituation ist zur
Anfangssituation energetisch entartet und der Hüpfprozess damit energetisch nicht verbo-
ten. Er kann real stattfinden, wodurch die Elektronen durch Delokalisieren ihre kinetische
Energie absenken können. Die Austauschkonstante J A ist in diesem Fall proportional zur
Hüpfamplitude t. Da wegen der starken Hundschen Kopplung (typischerweise größer als
1 eV) die Spins der 3d-Elektronen in den Manganionen alle parallel ausgerichtet sind, führt

42
C. Zener, Interaction between the d-Shells in the Transition Metals. II. Ferromagnetic Compounds of
Manganese with Perovskite Structure, Phys. Rev. 82, 403–405 (1951).
12.5 Kooperativer Magnetismus 705

der Doppelaustausch zwischen den Mn3+ - und Mn4+ -Ionen zu einer parallelen Ausrichtung
der Mn-Momente. Bei antiparalleler Ausrichtung könnte nämlich vom linken Manganion
kein Spin-↑-Elektron nachhüpfen, da dort dann ja nur Spin-↓-Elektronen vorhanden wären.

RKKY-Wechselwirkung: Eine weitere indirekte Wechselwirkung ist die nach M. A. Ruder-


man, C. Kittel, T. Kasuya und K. Yosida benannte RKKY-Wechselwirkung.43 , 44 , 45 Sie spielt
in solchen Systemen eine Rolle, deren magnetische Momente aus stark lokalisierten Elektro-
nen innerer Schalen resultieren (z. B. durch die 4 f -Elektronen der Seltenen Erden), deren
direkte Überlappung mit benachbarten Gitteratomen verschwindend klein ist. Die Kopp-
lung dieser Momente erfolgt dann indirekt über die Leitungselektronen. Die magnetischen
Momente der benachbarten Gitteratome richten um sich herum die Spins der Leitungselek-
tronen aus und diese polarisierten Leitungselektronen vermitteln die Austauschwechselwir-
kung. Im Gegensatz zur direkten Austauschwechselwirkung oder zum Superaustausch be-
sitzt die RKKY-Wechselwirkung eine längere Reichweite und zeigt ferner ein oszillatorisches
Verhalten als Funktion des Produkts aus Fermi-Wellenvektor k F und Abstand r der Gittera-
tome: J A ∝ cos 2k F r⇑(2k F r)3 . Das heißt, abhängig vom gegenseitigen Abstand der Gittera-
tome kann ferro- und antiferromagnetische Kopplung vorliegen.

12.5.3 Dzyaloshinskii-Moriya Wechselwirkung


Es gibt verschiedene weitere Terme in der Spin-Spin-Wechselwirkung, die von höherer Ord-
nung sind oder eine kompliziertere Form haben. Wir diskutieren hier als wichtiges Beispiel
die Dzyaloshinskii-Moriya (DM) Wechselwirkung.46 , 47 Sie besitzt die Form

ℋDM = D i j ⋅ (S i × S j ) . (12.5.11)

Hierbei ist D i j ein zeitunabhängiger aber möglicherweise räumlich inhomogener Vektor, der
die Wechselwirkung zwischen den beiden Spins S i und S j beschreibt.
Wir machen nun einige einfache Symmetriebetrachtungen, um uns klar zu machen, unter
welchen Bedingungen dieser Term auftreten kann. Hierzu müssen wir alle Symmetrieope-
rationen in Betracht ziehen, die in Abb. 12.13 den Mittelpunkt M auf der Verbindungslinie
der beiden Spins fest lassen. Der Hamilton-Operator des Systems und insbesondere der DM-
Term müssen unter diesen Symmetrieoperationen unverändert bleiben. In Abb. 12.13a liegt
das rote Atom (z.B. ein Sauerstoffatom, das eine Austauschwechselwirkung zwischen den
beiden Spins vermittelt) genau im Mittelpunkt M, so dass ein Inversionszentrum vorliegt.
43
M. A. Ruderman and C. Kittel, Indirect Exchange Coupling of Nuclear Magnetic Moments by Con-
duction Electrons, Phys. Rev. 96, 99 (1954).
44
T. Kasuya, A Theory of Metallic Ferro- and Antiferromagnetism on Zener’s Model, Prog. Theor.
Phys. 16, 45–57 (1956).
45
K. Yosida, Magnetic Properties of Cu-Mn Alloys, Phys. Rev. 106, 893 (1957).
46
I. E. Dzyaloshinskii, Thermodynamic theory of weak ferromagnetism in antiferromagnetic substan-
ces, Sov. Phys. JETP 5, 1259 (1957).
47
T. Moriya, Anisotropic superexchange interaction and weak ferromagnetism, Phys. Rev. 120, 91-98
(1960).
706 12 Magnetismus

(a) 𝑰
𝑴
Abb. 12.13: Zur Veranschaulichung der
Dzyaloshinskii-Moriya Wechselwirkung. In 𝑺𝒊 𝑫𝒊𝒋 𝑺𝒋 𝑧
(a) liegt das rote Atom im Mittelpunkt M der 𝑦
Verbindungslinie der beiden Spins, so dass ein (b)
𝑥
Inversionszentrum vorliegt. In (b) liegt kein
Inversionszentrum mehr vor und C 2 ist eine 𝑴
zweifache Drehachse, die senkrecht auf der Ver- 𝑫𝒊𝒋
bindungslinie zwischen den beiden Spins steht. 𝑺𝒊 𝑪𝟐 𝑺𝒋

Durch eine Inversionsoperation werden die beiden Spins zwar ausgetauscht, bleiben aber
ansonsten gleich (Spins sind Pseudovektoren). Das heißt, wir erhalten

Si × S j → S j × S i = −S i × S j .
Inversion
(12.5.12)
Wir sehen sofort, dass ℋDM unter der Symmetrieoperation der Inversion nur dann unverän-
dert bleibt, wenn D i j = 0. Eine endliche DM-Wechselwirkung erfordert also eine gebrochene
Inversionssymmetrie.
Wir betrachten nun ein System mit gebrochener Inversionssymmetrie (siehe Abb. 12.13b).
Um etwas über die Richtung von D i j aussagen zu können, betrachten wir eine zweifache
Drehachse C 2 durch M, die senkrecht auf der Verbindungslinie steht. Führen wir die Sym-
metrieoperation aus, so transformieren sich die Komponenten der Spins wie
C2 C2 C2
S i,x → −S j,x S i, y → −S j, y S i,z → +S j,z (12.5.13)
und wir erhalten
ℋDM = D i j,x (S i, y S j,z − S i,z S j, y ) + D i j, y (S i,z S j,x − S i,x S j,z )
+ D i j,z (S i,x S j, y − S i, y S j,x ) . (12.5.14)
Mit (12.5.13) folgt sofort, dass der 3. Term unter C 2 sein Vorzeichen ändert, während die bei-
den anderen Terme gleich bleiben. Das bedeutet, dass ℋDM unter C 2 nur dann unverändert
bleibt, wenn D i j,z = 0. Folglich muss der Vektor D i j in der Ebene senkrecht zur Drehachse
C 2 liegen. Um die Richtung innerhalb der Ebene zu bestimmen, müssten wir eine weiter-
führende Symmetriebetrachtung machen, auf die wir hier aber verzichten wollen.
Aus der Form (12.5.11) der DM-Wechselwirkung können wir folgern, dass diese versucht,
die beiden Spins aus einer kollinearen Anordnung herauszukippen, da ihr Beitrag ansons-
ten verschwindet. Optimal wäre eine rechtwinklige Anordnung der Spins, wobei diese dann
in einer Ebene liegen sollten, die senkrecht auf D i j steht. In Antiferromagneten führt eine
endliche DM-Wechselwirkung zu einer Verkantung der Spins, d. h. einer Verdrehung der
Spins aus ihrer antiparallelen Stellung. Dadurch entsteht ein schwaches ferromagnetisches
Moment, welches senkrecht auf der Spin-Achse des Antiferromagneten steht. In einer Kette
von parallel (ferromagnetisch) angeordneten Spins würde die DM-Wechselwirkung je nach
Richtung von D i j in einer helikalen oder zykloidalen Spin-Anordnung resultieren, wobei
der Drehsinn durch das Vorzeichen von D i j gegeben ist. Wir weisen abschließend darauf
hin, dass die Inversionssymmetrie immer an Oberflächen und Grenzflächen gebrochen ist,
weshalb die DM-Wechselwirkung für die Spin-Ordnung an Ober- und Grenzflächen oft eine
wichtige Rolle spielt.
12.5 Kooperativer Magnetismus 707

12.5.4 Spin-Bahn-Wechselwirkung
Die Spin-Bahn-Wechselwirkung verursacht eine Kopplung zwischen dem Spin s und Bahn-
drehimpuls ℓ eines Elektrons zu einem Gesamtdrehimpuls j = ℓ + s. Die Spin-Bahn-Wech-
selwirkung ist typischerweise um den Faktor 10 bis 100 kleiner als die Austauschkopplung,
die wir in Abschnitt 12.5.2 diskutiert haben. Trotzdem spielt sie für die magnetischen Ei-
genschaften von Festkörpern eine wichtige Rolle. Wir werden sie hier zuerst anhand einer
semiklassischen Betrachtung einführen (siehe hierzu Abb. 12.14). Wir stellen uns dazu vor,
dass der im Ruhesystem des Elektrons um dieses kreisende Kern mit Ladung Ze einen Kreis-
strom I verursacht, der ein Magnetfeld Borb = (µ 0 I⇑2r)⧹︂
n im Zentrum der Kreisbahn erzeugt
(der Einheitsvektor ⧹︂
n steht senkrecht auf der von der Kreisbahn umschlossenen Fläche).
Die Wechselwirkungsenergie zwischen dem Spin-Moment µ s = −g s µ B s⇑ħ des Elektrons und
diesem Feld können wir schreiben als

E so = −µ s ⋅ Borb = −µ s B orb cos θ . (12.5.15)

Benutzen wir die allgemeine Definition µ ℓ = πr 2 I ⧹︂


n für das magnetische Moment und au-
ßerdem den Zusammenhang µ ℓ = (Ze⇑2m e )ℓ zwischen magnetischem Moment und Bahn-
drehimpuls eines Elektrons, so erhalten wir für das durch den Kreisstrom erzeugte Feld den
Ausdruck
µ0 µ ℓ µ 0 Ze
Borb = = ℓ. (12.5.16)
2πr 3 4πm e r 3
Benutzen wir noch µ 0 = 1⇑є 0 c 2 , so ergibt sich für die Spin-Bahn-Wechselwirkungsenergie

Ze 2
E so = −µ s ⋅ Borb = ℓ⋅s. (12.5.17)
4πє 0 m 2e c 2 r 3

Für µ s ≃ µ B erhalten wir E so ≃ 5.788 × 10−5 eV⋅B orb [T]. Da die gemessenen Werte von E so
im Bereich zwischen 10 und 100 meV liegen, sind die effektiven Felder B orb beträchtlich.

𝒔
𝑰 𝜃
ℓ, 𝝁ℓ
𝑩𝐨𝐫𝐛
𝒓 Abb. 12.14: Zur Veranschaulichung der physikalischen Ursache
der Spin-Bahn-Wechselwirkung. Im Ruhesystem des Elektrons
𝒆− bewegt sich der Kern mit Ladung Ze um das Elektron und ver-
ursacht an dessen Position ein Magnetfeld Borb , das mit dem
Spin-Moment µ s des Elektrons wechselwirkt. Den Kreisstrom
können wir mit einem magnetischen Moment µ ℓ und dieses
wiederum mit einem Bahndrehimpuls ℓ assoziieren, so dass wir
𝝁𝒔 𝒁𝒆 die Spin-Bahn-Wechselwirkung als λℓ ⋅ s schreiben können.

Die quantenmechanische Berechnung der Spin-Bahn-Wechselwirkung beruht auf der Tatsa-


che, dass die relative Bewegung zwischen Elektron und Kern in einem effektiven Magnetfeld
(siehe hierzu Abb. 12.15)
v×E 1
B∗ = − 2
= (p × ∇ϕ el ) (12.5.18)
2c 2m e c 2
⇒ 𝑬𝒔𝒐 ∝ 𝒁𝟒
72
708 12 Magnetismus

resultiert, wobei E(r, t) = −∇ϕ el (r, t). Den Operator für die Spin-Bahn-Wechselwirkung
erhalten wir, indem wir die Wechselwirkung dieses Feldes mit dem Spin-Moment µ s =
−g s µ B s⇑ħ = −(e⇑m e )s eines Elektrons betrachten. Mit ∇ϕ el (r) = (r⇑r)dϕ el (r)⇑dr für ein
Zentralpotenzial und (r × p) = ℓ erhalten wir

e e 1 dϕ el (r)
ℋso = 2 2
s ⋅ (p × ∇ϕ el ) = ℓ ⋅ s = λ(r)ℓ ⋅ s . (12.5.19)
2m e c 2m 2e c 2 r dr

Der Erwartungswert der Spin-Bahn-Kopplungskonstante λ(r) ist durch



∐︀λ(r)̃︀ = ∫ R nl (r)λ(r)R∗nl (r)r 2 dr (12.5.20)
0

gegeben und hängt von den Quantenzahlen n und l der jeweiligen radialen Wellenfunk-
tion der Elektronenzustände ab. Verwenden wir ϕ el (r) = Ze⇑4πє 0 r, so erhalten wir λ(r) =
Ze 2 ⇑8πє 0 m 2e c 2 r 3 . Dieser Wert weicht vom klassisch ermittelten Wert um den so genannten
Thomas-Faktor 2 ab.48 Wichtig ist, dass die Spin-Bahn-Wechselwirkungsstärke proportional
zum Gradienten dϕ el ⇑dr des Coulomb-Potenzials ist, welcher für große Kernladungszah-
len besonders groß ist. Im Rahmen des Bohrschen Atommodells gilt ∐︀r̃︀ = n 2 aZB (n: Haupt-
quantenzahl, a B : Bohrscher Radius). Daher ist λ am größten für die innerste Bohrsche Bahn
(n = 1). Insgesamt wächst die Aufspaltung durch die Spin-Bahn-Kopplung mit steigender
Ordnungszahl Z also wie Z 4 an.49
Gemäß der Definition der magnetostatischen Energie E = −µ ⋅ Bext eines magnetischen Mo-
ments µ in einem externen Feld Bext entspricht die Energie E so = −µ s ⋅ Borb dem Energiege-
winn, den wir erhalten, wenn wir den Spin s von einer zu ℓ senkrechten in eine zu ℓ parallelen
Stellung bringen. Da das Bahnmoment häufig eine bestimmte kristallographische Richtung
bevorzugt, wird sich auch der Spin s parallel zu dieser Vorzugsrichtung einstellen wollen.
Die Spin-Bahn-Wechselwirkung bewirkt somit eine magnetokristalline Anisotropie, auf die

Abb. 12.15: Zur Veranschaulichung der elektrischen und magne-


𝑬
tischen Felder einer Ladung in einem relativ zum Beobachter be-
wegten Bezugssystem. Für Geschwindigkeiten nahe der Licht-
geschwindigkeit ist das elektrische Feld auf die Ebene senkrecht 𝑬
zur Bewegungsrichtung konzentriert, da die Komponente par- 𝑩 𝑩 𝒗
allel zu v um den Faktor 1⇑γ 2 = (︀1 − (v 2 ⇑c 2 )⌋︀ reduziert und die 𝒆−
Komponente senkrecht zu v um den Faktor γ gegenüber dem 𝑬
Wert im Ruhesystem erhöht wird. Die sich bewegende Ladung
resultiert in einem Magnetfeld B = −v × E⇑c 2 , das in der Ebene
senkrecht zu v liegt. Dieser Feldwert ist um den Faktor 2 größer 𝑬
als das korrekte, aus der Dirac-Gleichung abgeleitete Ergebnis.
𝑩
48
L. H. Thomas, The Motion of the Spinning Electron, Nature 117, 514 (1926).
49
Die genaue quantenmechanische Rechnung liefert bei Vernachlässigung der Einflüsse anderer
Z3
Elektronen den Erwartungswert ∐︀ r13 ̃︀ = a 3 n 3 (l +1)(l +1⇑2) l
.
B
12.5 Kooperativer Magnetismus 709

wir in Abschnitt 12.7.2 noch eingehen werden. Die magnetokristalline Anisotropie ist von
enormer Bedeutung für technische Anwendungen, da sie eine Vorzugsrichtung für die Ma-
gnetisierung festlegt und verhindert, dass die Magnetisierung ohne Energieaufwand in eine
andere Richtung gedreht werden kann.

12.5.4.1 Rashba-Effekt
Eine interessante Manifestation der Spin-Bahn-Kopplung ist der Rashba-Effekt50 , 51 in
zweidimensionalen (2D) Elektronengasen (vergleiche Abschnitt 7.4). Entscheidend für das
Auftreten des Rashba-Effekts ist das Vorliegen einer gebrochenen Inversionssymmetrie.
Ein zweidimensionales Elektronengas, wie es zum Beispiel in Halbleiter-Heterostrukturen
auftritt, ist innerhalb der Bandverbiegungszone lokalisiert. Diese Bandverbiegung ent-
spricht einem Potenzialgradienten, der senkrecht zur Grenzfläche ausgerichtet ist. Er führt
zu einer Inversionsasymmetrie (wir sprechen hier von einer senkrechten strukturellen
Inversionsasymmetrie, SIA) und resultiert im so genannten Rashba-Beitrag zur Spin-Bahn-
Kopplung. Es ist bekannt, dass bei gleichzeitigem Vorliegen von Inversionssymmetrie
[E(k ↑) = E(−k ↑)] und Zeitumkehrsymmetrie [Kramers-Entartung: E(k ↑) = E(−k ↓)]
eine Entartung E(k ↑) = E(k ↓) der beiden Spin-Zustände vorliegt. Der Rashba-Effekt hebt
diese Entartung auf, was durch Messung des de Haas-van Alphen-Effekts nachgewiesen wer-
den kann. Er führt damit zu spinpolarisierten elektronischen Zuständen. Wir weisen aber
darauf hin, dass für inversionsasymmetrische Systeme bei gegebener Zeitumkehrsymmetrie
(B = 0) nach wie vor eine Kramers-Entartung vorliegt (siehe Abb. 12.16).
Die Brechung der Inversionssysmmetrie kann außer durch eine strukturelle Inversionasym-
metrie (SIA) auch durch eine gitterbedingte Asymmetrie (BIA: bulk inversion asymmetry)
oder eine grenzflächenbedingte Asymmetrie (IIA: interface inversion asymmetry) verur-
sacht werden. Die BIA ist unabhängig von jeglichen makroskopischen elektrischen Feldern
und tritt in Kristallstrukturen ohne Inversionszentrum wie z. B. in der Zinkblendestruktur
(GaAs, InSb, Hgx Cd1−x Te) auf. Sie führt z. B. zur Dresselhaus-Spin-Bahn-Kopplung,52 auf
die wir hier nicht eingehen wollen.
Wir diskutieren im Folgenden kurz den Rashba-Effekt für ein isotropes zweidimensionales
Elektronengas. Der Gradient des Potenzials senkrecht zur Bewegungsebene (x y-Ebene) des
Elektronensystems entspricht einem elektrischen Feld E. Nach (12.5.18) resultiert dieses in
einem effektiven Magnetfeld B∗ im Ruhesystem des Elektrons, welches wiederum in einer
Aufspaltung
e
E so = −µ s ⋅ B∗ = − (v × E) ⋅ s . (12.5.21)
2m e c 2

50
E. I. Rashba, Properties of Semiconductors with an Extremum Loop. 1. Cyclotron and Combinational
Resonance in a Magnetic Field Perpendicular to the Plane of the Loop, Sov. Phys. Solid State. 20,
1109-1122 (1960).
51
Roland Winkler, Spin–Orbit Coupling Effects in Two-Dimensional Electron and Hole Systems, Sprin-
ger Verlag, Berlin (2003).
52
G. Dresselhaus, Spin-Orbit Coupling Effects in Zinc Blende Structures, Phys. Rev. 100, 580-586
(1955).
710 12 Magnetismus

𝑘𝑦

𝑘𝑥

Abb. 12.16: Dispersionsrelation eines 2D-Elektronengases mit endlicher Rashba-Kopplung, die zu ei-
ner Aufspaltung von Zuständen mit entgegengesetzter tangentialer Spin-Richtung führt (blauer und
roter Paraboloid). Rechts ist ein Schnitt für E(k) = const. gezeigt. Die Spin-Richtung (rote und blaue
Pfeile) stehen jeweils senkrecht auf dem k-Vektor (braune Pfeile), sind aber für die beiden Paraboloide
74

in entgegengesetzte tangentiale Richtung ausgerichtet.

resultiert, wobei µ s = −g s µ B s⇑ħ = −(e⇑m e )s das Spin-Moment des Elektrons ist. Wir kön-
nen deshalb den Hamilton-Operator für den Rashba-Effekt allgemein schreiben als

ℋRashba = α (⧹︂
E × k) ⋅ σ , (12.5.22)

wobei k = mv⇑ħ, ⧹︂ E der Einheitsvektor in Feldrichtung und σ = (σx , σ y , σz ) der Vektor der
Pauli-Matrizen ist. Die Stärke des Rashba-Effekts wird durch den Rashba-Parameter α =
eE⇑2m 2e c 2 quantifiziert.
In der Dispersionsrelation des 2D-Elektronengases (siehe Abb. 12.16) äußert sich der
Rashba-Effekt in einer gegenseitigen Verschiebung der zunächst für beide Spin-Richtungen
entarteten Bandparabeln. Die Impulsverteilung für konstante Energie besteht aus konzentri-
schen Kreisen. Die Spin-Polarisation dieser beiden elektronischen Zustände ist vollständig
(100%) und tangential ausgerichtet (innerhalb der x y-Ebene und senkrecht zur Ausbrei-
tungsrichtung). Aufgrund der Zeitumkehrsymmetrie bleibt das System nichtmagnetisch.
Ähnliche Effekte wie in Halbleiter-Heterostrukturen erwarten wir für Metalloberflächen.
Dabei übernehmen Oberflächenzustände die Rolle des zweidimensionalen Elektronengases.
Unter Oberflächenzuständen verstehen wir elektronische Zustände, die auf wenige Atom-
schichten an der Probenoberfläche lokalisiert sind. Der Potenzialgradient wird durch die
Oberflächenbarriere zum Vakuum, das so genannte Bildladungspotenzial, erzeugt. Der dar-
aus resultierende Rashba-Effekt führt zu einer spinpolarisierten, aufgespaltenen Oberflä-
chenbandstruktur.

12.5.5 Zeeman-Wechselwirkung
Als weitere magnetische Wechselwirkung betrachten wir die Zeeman-Wechselwirkung von
magnetischen Momenten mit einem äußeren Magnetfeld. Der Wechselwirkungsoperator ist
12.5 Kooperativer Magnetismus 711

gegeben durch
ℋZeeman = −µ ⋅ Bext . (12.5.23)
Die Wechselwirkungsenergie entspricht derjenigen eines magnetischen Dipols mit einem
externen Magnetfeld. Falls die Spin-Bahn-Kopplung klein gegen die Zeeman-Energie ist,
können wir ungekoppelte Spin- und Bahnmomente betrachten und erhalten
µB µB
ℋZeeman = g L L ⋅ Bext + g S S ⋅ Bext . (12.5.24)
ħ ħ
Falls die Spin-Bahn-Kopplung groß gegen die Zeeman-Energie ist, können wir gekoppelte
Spin- und Bahnmomente, J = L + S, betrachten und erhalten
µB
ℋZeeman = g J J ⋅ Bext . (12.5.25)
ħ
Wir weisen ferner darauf hin, dass in die Zeeman-Wechselwirkung nur reale Magnetfel-
der eingehen und keine fiktiven Austausch- oder Molekularfelder (vergleiche hierzu Ab-
schnitt 12.6.2.1). Letztere wirken nur auf das Spin-Moment, während reale Felder sowohl
auf das Spin- als auch das Bahnmoment wirken.
Die Zeeman-Wechselwirkung hat eine große Bedeutung für Ferromagnete. Wir werden spä-
ter sehen, dass in Ferromagneten die spontane Magnetisierung üblicherweise in so genann-
te Domänen zerfällt, in denen die Magnetisierung unterschiedlich orientiert ist und die
durch Domänenwände getrennt sind. Beim Anlegen eines externen Magnetfeldes führt die
Zeeman-Energie zu einem Ausrichten der Magnetisierung in den Domänen parallel zur
Feldrichtung und zu einer Verschiebung von Domänenwänden. Diese Prozesse bestimmen
zusammen mit der magnetokristallinen Anisotropie die Form der gemessenen M(B ext )-
Hysteresekurven (vergleiche Abschnitte 12.7.2 und 12.8.5).

12.5.6 Austauschwechselwirkung zwischen itineranten Elektronen


Für typische Bandferromagnete wie z. B. Ni, Co oder Fe versagt die Beschreibung im Rah-
men eines Heisenberg-Modells, in die nur die paarweise Wechselwirkung zwischen Elek-
tronen eingeht. Es muss hier die kollektive Austauschwechselwirkung eines Elektrons mit
dem gesamten Elektronengas einbezogen werden. Wir werden zuerst als instruktives Bei-
spiel den Austausch zwischen nur zwei freien Elektronen diskutieren und dann auf die Aus-
tauschwechselwirkung von Elektronen in einem freien Elektronengas als Grundlage für den
Bandferromagnetismus in Metallen eingehen.

12.5.6.1 Vertiefungsthema: Austauschwechselwirkung zwischen freien Elektronen


Wir betrachten zwei freie Elektronen i und j und ihre Paarwellenfunktion Ψi j . Für zwei
Elektronen mit gleichem Spin muss die Paarwellenfunktion im Ortsraum antisymmetrisch
sein:
1
Ψi j = ⌋︂ (e ık i ⋅r i e ık j ⋅r j − e ık i ⋅r j e ık j ⋅r i )
2V
1
= ⌋︂ e ık i ⋅r i e ık j ⋅r j (1 − e−ı(k i −k j )⋅(r i −r j ) ) . (12.5.26)
2V
712 12 Magnetismus

Die Wahrscheinlichkeit dafür, das Elektron i im Volumenelement d 3 r i an der Stelle r i und


gleichzeitig das Elektron j im Volumenelement d 3 r j an der Stelle r j zu finden, ist gegeben
durch
1
⋃︀Ψi j ⋃︀2 d 3 r i d 3 r j = )︀1 − cos{(k i − k j ) ⋅ (r i − r j )}⌈︀ d 3 r i d 3 r j . (12.5.27)
V2
Dieser Ausdruck zeigt einige interessante Aspekte. Erstens ist die Wahrscheinlichkeit dafür,
zwei Elektronen mit gleichem Spin am gleichen Ort zu finden, gleich null. Zweitens kön-
nen als Folge davon für ein bestimmtes Spin-↑-Elektron alle anderen Elektronen mit glei-
cher Spin-Richtung lokal das Coulomb-Potenzial der Ionenrümpfe nicht effektiv abschir-
men. Dies führt insgesamt zu einer höheren Bindungsenergie des Spin-↑-Elektrons, also zu
einer Energieabsenkung. Dieser Energiegewinn wird optimiert, wenn ein möglichst großer
Anteil der Elektronen mit gleicher Richtung vorliegt. Wir erhalten also eine Energieabsen-
kung für parallele Spin-Orientierung und eine kollektive Austauschwechselwirkung mit po-
sitivem Vorzeichen. Wie wir weiter unten noch diskutieren werden, müssen wir aber ne-
ben der Absenkung der potenziellen Energie auch die Zunahme der kinetischen Energie
berücksichtigen. Welcher Zustand sich dann im Einzelfall einstellt, wird durch das subtile
Wechselspiel dieser beiden Energieänderungen bestimmt (siehe hierzu Stoner-Kriterium in
Abschnitt 12.5.6.2).
Wir wollen kurz die Bedeutung von (12.5.27) weiter diskutieren. Um eine k-gemittelte Wahr-
scheinlichkeit zu erhalten, mitteln wir über die Fermi-Kugel. Mit der Relativkoordinate r =
r i − r j können wir die Wahrscheinlichkeit dafür, das zweite Spin-↑-Elektron im Volumen-
element d 3 r im Abstand r vom ersten zu finden, schreiben als

P(r)dr = n↑ d 3 r (︀1 − cos(k i − k j ) ⋅ r⌋︀ . (12.5.28)

Hierbei ist n↑ = n⇑2 die Dichte der Spin-↑-Elektronen. Statt von der Wahrscheinlichkeit P
können wir auch von einer effektiven Elektronendichte ρ sprechen, die auf das Spin-↑-
Elektron wirkt:
en
ρ(r) = (︀1 − cos(k i − k j ) ⋅ r⌋︀
2
)︀ [︀
en ⌉︀
⌉︀ 1 1 +ı(k i −k j )⋅r −ı(k i −k j )⋅r ⌉︀
⌉︀
= ⌋︀1 − 2 ∫ d 3
k i∫ d 3
k (e + e )⌈︀
2 ⌉︀ ⌉︀
j
⌉︀
]︀ )︀ 4
3
πk F
3 ⌈︀ 2 ⌉︀
⌊︀
)︀
⌉︀ [︀
⌉︀
en ⌉︀ 1 ⌉︀
= ⌋︀1 − ∫ d 3 k i e ık i ⋅r i ∫ d 3 k j e ık j ⋅r j ⌈︀ . (12.5.29)
⌉︀
2 ⌉︀ )︀ 43 πk F3 ⌈︀
2 ⌉︀
⌉︀
]︀ ⌊︀
Lösen des Integrals ergibt

en (sin k F r − k F r cos k F r)2


ρ(r) = {1 − 9 (︀ . (12.5.30)
2 (k F r)6

Die gesamte Ladungsdichte, die von dem Spin-↑-Elektron gesehen wird, setzt sich
aus (12.5.30) und der homogenen Dichte e2n der Spin-↓-Elektronen zusammen. Wir
12.5 Kooperativer Magnetismus 713

1.0

0.8
eff / en

Austauschloch Abb. 12.17: Normierte effektive Ladungsdich-


0.6
te ρ eff ⇑ne, die von einem Elektron in einem
freien Elektronengas gesehen wird. Aufgrund
0.4
der Austauschwechselwirkung ist die Elektro-
nendichte der Elektronen mit gleicher Spin-
0.2
richtung in unmittelbarer Umgebung reduziert.
Jedes Elektron bohrt sich sozusagen ein „Aus-
0.0
0 2 4 6 tauschloch“ in die Elektronendichte gleicher
kF r Spin-Richtung.
77

erhalten also insgesamt:

9 (sin k F r − k F r cos k F r)2


ρ eff (r) = en {1 − (︀ . (12.5.31)
2 (k F r)6

Diese Ladungsdichte ist in Abb. 12.17 gezeigt. Wir sehen, dass in der unmittelbaren Um-
gebung eines Elektrons die Ladungsdichte aufgrund der Austauschwechselwirkung redu-
ziert ist. Wir sprechen von einem „Austauschloch“. Die räumliche Ausdehnung dieses Aus-
tauschlochs beträgt etwa 2⇑k F ∼ 1 − 2 Å.53
Um abzuleiten, ob durch die Austauscheffekte im Elektronengas eine parallele oder anti-
parallele Spin-Orientierung bevorzugt wird, müssen wir eine energetische Betrachtung ma-
chen. Wenn das Austauschloch die Energie des Systems verringert, werden alle Elektronen
versuchen hiervon Gebrauch zu machen und ihre Spins in eine Richtung zu stellen. Falls
das Austauschloch die Energie erhöhen sollte, werden die Elektronen die Energie dadurch
minimieren, dass sie ihre Spins antiparallel stellen. Die Energie des Austauschlochs besteht
aus zwei Beiträgen, der Coulomb-Energie und der kinetischen Energie. Auf der einen Seite
erfolgt durch das Austauschloch eine Energieabsenkung aufgrund der verringerten Abschir-
mung der Ionenrümpfe. Auf der anderen Seite lokalisieren wir das Elektron im Austausch-
loch, was aufgrund der Unschärferelation zu einer Erhöhung der kinetischen Energie führt.
Da der Radius des Austauschlochs etwa 1⇑k F beträgt, können wir δ p ∼ ħ⇑∆x ∼ ħk F schrei-
ben und erhalten die Erhöhung der kinetischen Energie zu ∆E kin ∼ δ p2 ⇑2m∗ ∝ k F2 ⇑m∗ . Um
die Erhöhung der kinetischen Energie klein zu halten, brauchen wir also eine große effektive
Masse und einen kleinen Fermi-Wellenvektor, d. h. eine niedrige Elektronendichte. Die Ab-
senkung der Coulomb-Energie geht proportional zum inversen Radius des Austauschlochs,
also proportional zu k F . Wir stellen also insgesamt fest, dass es vorteilhaft für die Elektro-
nen ist, ihre Spins parallel auszurichten, wenn die effektive Masse groß und/oder die Elek-
tronendichte klein ist, denn dann ist die Energieabsenkung durch die reduzierte Coulomb-
Energie größer als die Energieerhöhung durch die Zunahme der kinetischen Energie. Eine
53
Wir wollen noch darauf hinweisen, dass die effektive Ladungsdichte ρ eff dazu benutzt werden kann,
eine neue, renormalisierte Schrödinger-Gleichung zu formulieren. Dies führt uns zur Hartree-
Fock-Näherung. Ferner sei darauf hingewiesen, dass die in (12.5.31) enthaltenen Korrelationen
zwischen beliebig weit voneinander entfernten Elektronen daher resultieren, dass wir den unrea-
listischen Ansatz ebener Wellen gemacht haben.
714 12 Magnetismus

große effektive Masse erhalten wir für flache Energiebänder, die wiederum mit einer hohen
Zustandsdichte verbunden sind. Dieses Szenario liegt z. B. bei Systemen mit Leitungselek-
tronen vor, die aus relativ stark lokalisierten 3d, 4 f oder 5 f Zuständen stammen.

12.5.6.2 Bandferromagnetismus in Metallen


Wir wollen in diesem Abschnitt ein einfaches Modell für den so genannten Bandferroma-
gnetismus entwickeln, mit dem wir den ferromagnetischen Austausch in einem System frei-
er Elektronen verstehen können. Dieses Modell geht auf Überlegungen von Stoner54 zu-
rück.55 Wir nehmen an, dass durch die Korrelationen unter den Elektronen mit gleicher
Spin-Richtung die Ein-Elektronenniveaus renormalisiert werden. Da durch die Austausch-
effekte im Elektronengas eine parallele Spin-Richtung bevorzugt wird, nehmen wir an, dass
einige Spin-↓-Elektronen in Spin-↑-Zustände umverteilt werden. Dies führt aber zu einer
Erhöhung der kinetischen Energie der umverteilten Elektronen um δE (siehe Abb. 12.18).
Durch die Umverteilung haben wir die Zahl der Spin-↑-Elektronen um

δN = 12 D(E F )δE (12.5.32)

erhöht und die Zahl der Spin-↓-Elektronen um die gleiche Zahl erniedrigt. Dies führt zu
einer Erhöhung der kinetischen Energiedichte des Elektronensystems um

∆E kin δN 1
= ⋅ δE = D(E F )(δE)2 . (12.5.33)
V V 2V
Wir müssen nun überlegen, unter welchen Bedingungen diese Erhöhung der kinetischen
Energie durch eine Erniedrigung der potenziellen Energie kompensiert werden kann, so dass
insgesamt eine Energieerniedrigung stattfindet. Mit den Elektronenzahlen

N 1 N
N↑,↓ = ± D(E F )δE = ± δN (12.5.34)
2 2 2

𝑬
𝟏
𝑫 𝑬𝑭
𝟐
𝑬𝑭 𝜹𝑬

Abb. 12.18: Umverteilung von Spin-↓-Elektronen in Spin-


↑-Zustände in einem Bandferromagneten. Die Umver-
teilung führt zu einer Erhöhung der kinetischen Energie. 𝑫(𝑬)

54
Edmund Clifton Stoner, geboren am 2. Oktober 1899 in Surrey, England, gestorben am 27. De-
zember 1968 in Leeds, England.
55
E. C. Stoner, Proc. Roy. Soc. London A 165 372–414 (1938) und Proc. Roy. Soc. London A 169,
339–371 (1939).
12.5 Kooperativer Magnetismus 715

und den entsprechenden Dichten

N 1 n
n↑,↓ = ± D(E F )δE = ± δn (12.5.35)
2V 2V 2
für die beiden Spin-Richtungen erhalten wir die Magnetisierung56

1 D(E F )
M A = − g s µ B (n↑ − n↓ ) = −µ B δE . (12.5.36)
2 V
Hierbei haben wir g s ≃ 2 verwendet. Wir können nun auch so argumentieren, dass diese
Magnetisierung durch ein fiktives inneres Molekularfeld B A = µ 0 γM A zustande gekommen
ist, wobei γ die Molekularfeldkonstante ist. Die mittlere Erniedrigung der potenziellen Ener-
giedichte können wir dann schreiben als
BA MA
∆E pot 1
= − ∫ MdB = −µ 0 γ ∫ MdM = − µ 0 γM A2 . (12.5.37)
V 2
0 0

Setzen wir den Ausdruck für M A ein, so ergibt sich

D(E F )
2
∆E pot 1 1
= − µ 0 µ B2 γ ⌊︀ δE}︀ = − U(2δN)2
V 2 V 4V
1 1
=− U(N↑ − N↓ )2 = − UV (n↑ − n↓ )2 . (12.5.38)
4V 4
Hierbei ist

U = 2µ 0 µ B2 γ⇑V (12.5.39)

die charakteristische Energiedichte, die wir aufgrund der Coulomb-Wechselwirkung im


Elektronengas für jedes Elektronenpaar mit entgegengesetzter Spin-Richtung (z. B. durch
gelegentlichen gleichzeitigen Aufenthalt im gleichen Orbital) bezahlen müssen. Um uns
Gleichung (12.5.38) plausibel zu machen, bestimmen wir zunächst die Anzahl von Elek-
tronenpaaren mit parallelem Spin. Da jedes Elektron mit jedem anderen ein Paar bilden
kann, ist die Gesamtzahl der Paare mit Spin nach oben etwa 12 (N↑ )2 = 12 ( N2 + δN)2 , wobei
die Selbstpaare, die hier in verschwindender Größe eingehen, nicht berücksichtigt werden.
Die Austauschenergie, um die die Gesamtenergie abgesenkt wird, beträgt gerade U mal der
Anzahl der Paare, also − U2 ( N2 + δN)2 . Genauso ergibt sich für die Elektronen mit Spin nach
unten − U2 ( N2 − δN)2 und damit insgesamt für beide Spin-Richtungen − U4 N 2 − U(δN)2 .
Der erste Term gibt hier die Energie bei Gleichbesetzung der beiden Spin-Richtungen an
und die Änderung bei einer Ungleichbesetzung der beiden Spin-Richtungen ist deshalb
durch −U(δN)2 gegeben. Mit δN = 12 (N↑ − N↓ ) erhalten wir dann die Änderung der
potenziellen Energiedichte zu Vpot = − 4V (N↑ − N↓ )2 = − 14 UV (n↑ − n↓ )2 .
∆E U

56
Hierbei müssen wir wiederum beachten, dass das magnetische Moment antiparallel zur Spin-
Richtung orientiert ist.
716 12 Magnetismus

D(EF) / 2N (1/eV)
3

Ni
2
Abb. 12.19: Zustandsdich- UD(EF) / 2 Fe
te pro Atom und Spin-
Richtung (a) und Stoner- 1 Sc Pd
Parameter 12 U D(E F ) Li Co Rb
Na
als Funktion der Ord-
nungszahl Z (Daten
aus J. F. Janak, Phys. 0
0 10 20 30 40 50
Rev. B 16, 255–262 (1977)). Z

Für die gesamte Änderung der Energiedichte erhalten wir mit Hilfe von (12.5.33) und
(12.5.38)
∆E ∆E kin ∆E pot 1 1
= + = D(E F )(δE)2 ]︀1 − U D(E F ){︀ . (12.5.40)
V V V 2V 2
Wir sehen, dass wir insgesamt eine Absenkung der Energiedichte erhalten, wenn wir die
Bedingung

1
2
U D(E F ) >1 (12.5.41)

erfüllen. Diese Bedingung bezeichnet man als Stoner-Kriterium. Ist die Stoner-Bedingung
erfüllt, ist es für das Elektronengas vorteilhaft, seine Spins parallel auszurichten, da die damit
verbundene Erhöhung der kinetischen Energiedichte durch die Absenkung der potenziellen
Energiedichte überkompensiert wird. Das Elektronengas nimmt dann einen ferromagne-
tischen Zustand ein.57 Wie Abb. 12.19 zeigt, ist das nur für Fe, Co und Ni der Fall. Glei-
chung (12.5.41) zeigt, dass wir das Stoner-Kriterium erfüllen können, wenn wir eine hohe
Zustandsdichte am Fermi-Niveau und/oder eine hohe Korrelationsenergie U haben. Dies

57
Unsere Überlegungen haben wir nur für die Temperatur T = 0 gemacht. Die Betrachtung kann
aber leicht auf endliche Temperaturen ausgedehnt werden. Man muss dazu bei der Berechnung
der Differenz der Besetzungszahlen von Spin-↑-Elektronen und Spin-↓-Elektronen die Fermi-Ver-
teilung berücksichtigen. Tut man das, so erhält man ein Stoner-Kriterium

1 ∂ f (E, T)
U dE D(E) ( ) >1,
2 ∫ ∂E T
0

in dem auch die Temperatur auftaucht. Das Kriterium wird dann nur unterhalb einer bestimmten
Temperatur, der Curie-Temperatur TC erfüllt. Das heißt, der ferromagnetische Zustand ist nur
für T ≤ TC stabil.
12.5 Kooperativer Magnetismus 717

wird für einige 3d-Übergangsmetalle (Z = 21 bis 30) erfüllt, die aufgrund der schmalen d-
Bänder eine sehr hohe Zustandsdichte pro Atom und Spin-Richtung haben (siehe Abb. 12.19
oben).

12.5.6.3 Suszeptibilität
Um einen Ausdruck für die Suszeptibilität abzuleiten, betrachten wir das Elektronensystem
in einem äußeren Magnetfeld. Wir erhalten dann einen zusätzlichen Beitrag −MB ext zur
Energiedichte, also insgesamt
∆E 1 1
= D(E F )(δE)2 ]︀1 − U D(E F ){︀ − MB ext
V 2V 2
1 M2 1
= ]︀1 − U D(E F ){︀ − MB ext . (12.5.42)
2 µ B (D(E F )⇑V )
2 2
Der Wert der Magnetisierung wird durch das Minimum von ∆E bestimmt. Durch Differen-
zieren nach M und Nullsetzen der Ableitung erhalten wir
B ext D(E F )
M= µ B2 . (12.5.43)
1 − 12 U D(E F ) V
Für die Suszeptibilität χ = µ 0 ∂M⇑∂B ext ergibt sich dann

µ 0 µ B2 (︀D(E F )⇑V ⌋︀ χP
χ= = . (12.5.44)
1 − 12 U D(E F ) 1 − 12 U D(E F )

Hierbei haben wir die Pauli-Suszeptibilität (12.4.10) benutzt. Den Faktor (︀1 − 12 U D(E F )⌋︀−1
bezeichnet man als Stoner-Faktor. Durch die Austauschwechselwirkung im Elektronengas
wird das Elektronengas leichter polarisierbar und dadurch die Suszeptibilität größer als die
Pauli-Suszeptibilität, die wir ja für ein System ohne jegliche Austauschwechselwirkung er-
halten haben. Wir sehen ferner, dass wir für 12 U D(E F ) = 1 eine Polarisationskatastrophe
erhalten, die zu einem ferromagnetischen Zustand führt. Dies ist völlig analog zu Polarisa-
tionskatastrophe in ferroelektrischen Materialien (vergleiche Abschnitt 11.8).

12.5.6.4 Sättigungsmagnetisierung bei T = 0


Wir wollen in diesem Abschnitt kurz den Wert der Sättigungsmagnetisierung in Ferroma-
gneten bei T = 0 diskutieren. Hierzu betrachten wir exemplarisch den ferromagnetischen
Isolator EuO (ferromagnetische Ordnung lokalisierter Momente) und den Bandferroma-
gneten Ni.
Bei EuO bestimmen die 7 Elektronen der nicht abgeschlossenen 4 f -Schale des Eu2+ -Ions
das magnetische Verhalten. Nach den Hundschen Regeln hat das Eu2+ -Ion im Grundzu-
stand die Quantenzahlen S = 7⇑2, L = 0 und J = 7⇑2 (vergleiche
⌈︂ Tabelle 12.1). Hieraus folgt
der Landé-Faktor g J = 2. Damit erwarten wir µ eff = g J µ B J(J + 1) = 7.94µ B und eine Sät-
tigungsmagnetisierung von M s (0) = nµ eff = 1920 kA/m. Dies stimmt sehr gut mit dem ex-
perimentellen Wert überein. Auch die für J = 7⇑2 mit Hilfe der Molekularfeldnäherung be-
stimmte Temperaturabhängigkeit der Magnetisierung (vergleiche hierzu Abschnitt 12.6.2)
beschreibt das beobachtete Verhalten außer für den Bereich T ≪ TC recht gut.
718 12 Magnetismus

(a) (b) (c)


Cu Ni Ni
0.54 Elektronen 0.54 Elektronen
𝑬𝐅 0.54 Löcher
2.2 eV 0.27 Löcher
7.1 eV

3.46 eV 𝑬𝐅 𝑬𝐅

𝟑𝒅↓ 𝟑𝒅↑
𝟒𝒔 𝟒𝒔 𝟑𝒅↓ 𝟑𝒅↑ 𝟒𝒔 𝟑𝒅↓ 𝟑𝒅↑
3 3
(d) Ni 𝑬𝐅 Cu 𝑬𝐅
2 2
DOS (1 / eV Atom Spin)

1 1

0 0

-1 -1

-2 -2

-3 -3
-10 -5 0 5 -10 -5 0 5
E (eV) E (eV)
81
Abb. 12.20: Schematische Darstellung der Besetzung der 3d- und 4s-Niveaus bei Cu (a) und Ni im
paramagnetischen (b) und ferromagnetischen Zustand (c). In (d) ist die berechnete Zustandsdichte
der 3d- und 4s-Elektronen von Cu und Ni gezeigt (nach J. Callaway und C. S. Wang, Phys. Rev. B 7,
1096–1103 (1983)). Die 4s-Elektronen resultieren in einer geringen Zustandsdichte, die sich über einen
weiten Energiebereich (große Bandbreite) von etwa -10 bis +7 eV erstreckt. Die 3d-Elektronen resul-
tieren dagegen in einer hohen Zustandsdichte in einem schmalen Band mit einer Breite von etwa 4 eV.

⌈︂
Bei Ni sind die Verhältnisse wesentlich schwieriger. Aus dem gemessenen Wert M s (0) =
510 kA/m erhält man aus M s (0) = ng J µ B J(J + 1) für J = 1⇑2 den g-Faktor g J = 1.2. Die-
ser Wert erscheint zunächst unverständlich zu sein. Ni hat ein Elektron weniger als Cu, bei
dem die 3d-Schale mit 10 Elektronen vollkommen gefüllt ist und ein Elektron das 4s-Niveau
bevölkert (siehe Abb. 12.20a). Zu Ni kommen wir, indem wir dem Cu-Atom ein Elektron
wegnehmen. Bandstrukturrechnungen zeigen nun, dass dieses eine Elektron im parama-
gnetischen Zustand zu 46% aus dem 4s- und zu 54% aus dem 3d-Niveaus kommt. Im 4s-
Band verbleiben also 0.54 Elektronen pro Atom, während wir im 3d-Band 0.54 Löcher pro
Atom haben (siehe Abb. 12.20b). Im ferromagnetischen Bereich haben wir nach wie vor
0.54 Elektronen im 4s-Band und insgesamt 0.54 Löcher im 3d-Band, allerdings kommen
jetzt die 0.54 Löcher vollständig aus dem 3d ↓-Band, da es im ferromagnetischen Zustand
aufgrund der Austauschwechselwirkung zu einer Verschiebung der 3d ↑- und 3d ↓-Bänder
um etwa 0.5 eV kommt. Dies ist in Abb. 12.20d gezeigt, wo wir die berechnete Zustands-
dichte pro Energie, Atom und Spin-Richtung für Cu und Ni gegen die Energie aufgetragen
haben. Das heißt, dass wir für Ni insgesamt einen Überschuss von etwa 0.54 Elektronen pro
Atom mit einer präferentiellen Spin-Richtung in eine Richtung haben und wir deshalb jedem
Ni-Atom ein effektives magnetisches Moment µ eff = 0.54g J µ B J ≃ 0.6µ B (J = 1⇑2, g J = 2) zu-
ordnen können. Die Größe 0.54g J stimmt gut mit dem aus der gemessenen Sättigungsma-
gnetisierung bestimmten Wert 1.2 des „effektiven“ g-Faktors überein.
12.6 Magnetische Ordnungsphänomene 719

12.6 Magnetische Ordnungsphänomene


Bisher haben wir uns hauptsächlich damit beschäftigt, wie magnetische Momente in Festkör-
pern entstehen und wie die Coulomb-Wechselwirkung zwischen den Leitungselektronen im
Zusammenspiel mit dem Pauli-Prinzip zu einer effektiven Wechselwirkung zwischen diesen
magnetischen Momenten führt. Wir wollen jetzt diskutieren, welche Ordnungsphänomene
aufgrund dieser Wechselwirkung entstehen können und welche Temperatur- und Magnet-
feldabhängigkeit diese Ordnungsphänomene zeigen. Es zeigt sich, dass selbst wenn wir das
einfache Heisenberg-Modell als Ausgangspunkt nehmen, es sehr schwierig ist, die Tempera-
tur- und Magnetfeldabhängigkeit der magnetischen Eigenschaften von Festkörpern theore-
tisch richtig zu beschreiben. Wir werden deshalb starke Vereinfachungen machen müssen,
um die wesentlichen Aspekte qualitativ zu beschreiben. Dabei werden wir vor allem die so
genannte Molekularfeld-Näherung verwenden. Diese beschreibt die Wechselwirkung eines
magnetischen Moments mit allen anderen durch ein mittleres Austausch- oder Molekular-
feld.

12.6.1 Magnetische Ordnungsstrukturen


Bevor wir uns mit der Temperatur- und Magnetfeldabhängigkeit der magnetischen Eigen-
schaften von Festkörpern beschäftigen, wollen wir hier kurz die wichtigsten magnetischen
Ordnungsstrukturen zusammenfassen, die aufgrund von wechselwirkenden magnetischen
Momenten entstehen. Einige typische Strukturen sind in Abb. 12.21 gezeigt.
Je nachdem, wie sich die einzelnen magnetischen Momente in einem magnetisch geord-
neten Festkörper aufsummieren, unterscheiden wir zwischen ferromagnetischen, antifer-
romagnetischen und ferrimagnetischen Materialien. In ferromagnetischen Materialien sind
alle magnetischen Momente, deren Wert unterschiedlich sein kann, entweder parallel ausge-
richtet oder sie besitzen alle eine endliche, in eine bestimmte Richtung zeigende Komponen-
te. Ferromagnete besitzen deshalb eine endliche Magnetisierung. In antiferromagnetischen

(a) (b)

Abb. 12.21: Lineare Anord-


nungen von magnetischen
Momenten zur Veranschau-
lichung von (a) ferroma-
gnetischen, (b) antiferro-
magnetischen und (c) fer-
rimagnetischen Ordnungs-
strukturen. In (d) sind eine
(c) (d) zykloidale (oben, Verkip-
pung der Momente entlang
der Kette) und helikale Ord-
nung (unten, Verkippung
der Momente senkrecht zur
Kette) gezeigt.
720 12 Magnetismus

Materialien sind die magnetischen Momente zwar geordnet, sie summieren sich aber alle
zu einem verschwindenden Gesamtmoment auf. Das heißt, die Magnetisierung von Anti-
ferromagneten ist wie diejenige von Paramagneten null, wobei in paramagnetischen Ma-
terialien aber wegen der fehlenden Wechselwirkung keine magnetische Ordnungsstruktur
auftritt. Ferrimagnetische Materialien besitzen wie ferromagnetische eine endliche Magneti-
sierung, in dieser Materialklasse besitzen aber nicht alle magnetischen Momente eine endli-
che Komponente in eine bestimmte Richtung. Im einfachsten Fall favorisiert die Austausch-
wechselwirkung in Ferrimagneten eine antiparallele Ausrichtung benachbarter Momente,
die aber unterschiedlich groß sind und somit zu einer endlichen Nettomagnetisierung füh-
ren. Im Einzelfall können magnetische Ordnungsstrukturen sehr komplex sein. Beispiele
sind helikale und zykloidale Strukturen, die wir formal zu den antiferromagnetischen Ord-
nungsstrukturen zählen können, da sie keine Nettomagnetisierung besitzen. Eine interessan-
te Ordnungstruktur stellt das Anfang 2009 an der TU München in MnSi entdeckte Skyrmio-
nengitter dar.58 Skyrmionen sind wirbelartige Spintexturen in magnetischen Materialien, die
dank ihrer besonderen Struktur stabil sind und deshalb für die magnetische Datenspeiche-
rung interessant sind.
Ähnliche Unterscheidungen können wir auch für magnetische Ordnungsstrukturen in
Metallen machen. Die Ordnungsstruktur können wir anhand einer Spin-Dichte s z (r) =
1
2
(︀n↑ (r) − n↓ (r)⌋︀ entlang einer bestimmten Richtung, in unserem Fall der ⧹︂z-Richtung,
beschreiben. Hierbei sind n↑ (r) und n↓ (r) die Beiträge der Spin-Populationen mit Spin
parallel und antiparallel zur z-Achse. In ferromagnetischen Metallen ist die integrierte
Spin-Dichte ∫ s z (r)d 3 r in eine bestimmte Richtung endlich, während sie in antiferroma-
gnetischen Metallen für jede beliebige Richtung verschwindet. Die Details der magnetischen
Ordnungsstrukturen können wiederum sehr komplex sein. So besitzt zum Beispiel anti-
ferromagnetisches Chrom eine endliche periodische Spin-Dichte, deren Periode aber nicht
mit der Periodizität des Gitters übereinstimmt. Wir sprechen dann von einer inkommensu-
rablen Spin-Struktur.

12.6.2 Ferromagnetismus
Eine ferromagnetische Ordnung tritt immer nur unterhalb einer für jedes ferromagneti-
sche System charakteristischen Temperatur, der Curie-Temperatur TC auf. Oberhalb dieser
Temperatur wird die ferromagnetische Ordnung durch thermische Fluktuationen zerstört.
Wir wollen in diesem Abschnitt nun die Temperaturabhängigkeit der Suszeptibilität für den
Temperaturbereich oberhalb und unterhalb von TC diskutieren. Oberhalb und nicht allzu
weit unterhalb von TC ist eine einfache Beschreibung mit Hilfe einer Molekularfeld-Nähe-
rung möglich. Weit unterhalb von TC ist dagegen eine quantitative Beschreibung mit der
Molekularfeldtheorie schwierig. Wir werden in Abschnitt 12.10 sehen, dass wir in diesem
Temperaturbereich die Änderung der Magnetisierung durch die Anregung von Spinwellen
beschreiben können.

58
S. Mühlbauer, B. Binz, F. Jonietz, C. Pfleiderer, A. Rosch, A. Neubauer, R. Georgii, P. Böni, Skyrmion
Lattice in a Chiral Magnet, Science 323, 915–919 (2009).
12.6 Magnetische Ordnungsphänomene 721

12.6.2.1 Molekularfeld-Näherung
Die Molekularfeld-Näherung wurde bereits im Jahr 1907 von Pierre Weiss59 zur phänome-
nologischen Beschreibung des Ferromagnetismus entwickelt und erhielt erst später durch
die Einführung der Austauschwechselwirkung seine physikalische Berechtigung. Wir gehen
bei der Molekularfeld-Näherung davon aus, dass zusätzlich zum äußeren Magnetfeld B ext
ein inneres Feld B A wirkt, durch das die endliche Austauschwechselwirkung erfasst wird.
Wir müssen nun zuerst überlegen, wie groß dieses fiktive Austausch- oder Molekularfeld
ist.
Wir haben bereits diskutiert, dass wir die Austauschwechselwirkung zwischen magnetischen
Momenten durch das Heisenberg-Modell beschreiben können. Beschränken wir uns auf
Wechselwirkungen zwischen nächsten Nachbarn, ist die Austausch-Konstante zwischen al-
len wechselwirkenden Paaren gleich. Wir erhalten für die Austauschenergie des i-ten Gitter-
atoms mit seinen z nächsten Nachbarn
JA z
Ei = − ∑ Ji ⋅ J j . (12.6.1)
ħ 2 j=1

Wir betrachten jetzt nur Mittelwerte und ersetzen die Momentanwerte der Drehimpulsvek-
toren J j durch ihre Mittelwerte ∐︀J j ̃︀ und erhalten somit eine mittlere Austauschenergie

JA
E i = −z ∐︀J j ̃︀ ⋅ J i . (12.6.2)
ħ2
Für die Magnetisierung gilt ferner

∐︀J j ̃︀
M = −ng J µ B , (12.6.3)
ħ
wobei n die Dichte der Gitteratome und g J der Landé-Faktor ist. Wir können diesen Aus-
druck nach ∐︀J j ̃︀ auflösen und dann in (12.6.2) einsetzen. Wir erhalten

g J µB Ji zJ A
E i = − (− ) ⋅ 2 2 M = −µ i ⋅ B A . (12.6.4)
ħ ng J µ B

59
Pierre Ernest Weiss, geboren am 25. März 1865 in Mühlhausen, gestorben am 24. Oktober 1940
in Lyon.
Als Jahrgangsbester schloss Weiss 1887 am Züricher Polytechnikum sein Ingenieurstudium ab. Im
Jahr 1888 wurde er an die École Normale Supérieure in Paris berufen. Seine folgenden Stationen
waren die Universitäten Rennes (1895) und Lyon (1899), bis er 1902 an das Polytechnikum in Zü-
rich berufen wurde, an welchem auch Albert Einstein tätig war. Dort bekam er ein großes Labor zur
Untersuchung von magnetischen Phänomenen, welches eine große Anzahl an bekannten Physi-
kern anzog. Im Jahr 1919 etablierte er das physikalische Institut an der Universität Straßburg. 1926
wurde er in die Pariser Akademie aufgenommen. Er führte grundlegende Untersuchungen über
den Para- und Ferromagnetismus (entdeckte dabei die nach ihm benannten Weissschen Bezirke),
sowie zur Temperaturabhängigkeit der Magnetisierung durch. Er entwickelte das Curie-Weisssche
Gesetz und entdeckte den quantenhaften Charakter der magnetischen Momente der Atome. Seine
wichtigste Veröffentlichung war das Werk „Le magnetisme‘“ (1926).
722 12 Magnetismus

Wir sehen also, dass wir die Austauschenergie formal als Produkt eines magnetischen Mo-
ments µ i = −g J µ B J i ⇑ħ und einem effektiven Magnetfeld B A schreiben können. Wir bezeich-
nen dieses effektive Magnetfeld als Austauschfeld oder Molekularfeld. Es ist gegeben durch

zJ A
BA = M = µ 0 γM . (12.6.5)
ng J2 µ B2

Hierbei ist
1 zJ A
γ= (12.6.6)
µ 0 ng J2 µ B2

die Molekularfeldkonstante. Das Molekularfeld ist natürlich nur ein fiktives Magnetfeld, das
in einem Festkörper die gleiche magnetische Ordnung schaffen würde wie die vorliegen-
de Austauschwechselwirkung, deren Stärke durch die Austauschkonstante J A charakteri-
siert wird. Die von ihrem Charakter her nicht-magnetische Austauschwechselwirkung eines
Atoms mit allen anderen Atomen wird somit durch ein mittleres effektives Magnetfeld be-
schrieben. Damit wird das komplexe Problem der Wechselwirkung eines Atoms mit allen
anderen Atomen formal auf das Verhalten des magnetischen Moments eines Atoms in ei-
nem mittleren Feld (mean field) reduziert. Das fiktive Molekularfeld geht natürlich nicht in
die Maxwell-Gleichungen ein.
Mit dem Molekularfeld können wir das effektive Magnetfeld am Ort eines Gitteratoms
schreiben als

Beff = Bext + µ 0 γM . (12.6.7)

In der von uns gemachten Betrachtung (mean-field Theorie) ist also der einzige Effekt der
Austauschwechselwirkung derjenige, dass wir Bext durch Beff ersetzen müssen.60 Die Magne-
tisierung eines Systems aus magnetischen Dipolen können wir nach (12.3.62) und (12.3.63)
andererseits schreiben als

M = ng J µ B JB J (y) , (12.6.8)

wobei wir in den Ausdruck für y jetzt das effektive Magnetfeld einsetzen müssen:
g J µ B JB eff g J µ B J(B ext + µ 0 γM)
y= = . (12.6.9)
kB T kB T
Wir können aus (12.6.8) die Magnetisierung und damit die Suszeptibilität als Funktion
von T und B ext nicht explizit ermitteln, da ja M auch im Argument der Brillouin-Funkti-
on B J (y) steht. Wir können aber in einfacher Weise eine grafische Lösung durchführen.
Lösen wir (12.6.9) nach M auf, so erhalten wir
kB T B ext
M= y− . (12.6.10)
µ 0 γg J µ B J µ0 γ
60
In einigen Fällen ist diese Annahme nicht realistisch. Sie erfordert nämlich, dass einzelne Spin-
Richtungen nicht stark vom Mittelwert abweichen oder dass die Wechselwirkung langreichweitig
ist, so dass wir zur Ermittlung von B A über viele Spins mitteln müssen.
12.6 Magnetische Ordnungsphänomene 723

1.0 1.0
𝑻 > 𝑻𝑪
𝑻 = 𝑻𝑪
𝑩𝑱 𝒚
0.8 0.8
𝑩𝑱 𝒚 𝑻 < 𝑻𝑪
0.6 0.6

M / Ms
M / Ms

0.4 0.4

𝐵ext ≠ 0 𝐵ext = 0
0.2 0.2

(a) (b)
0.0 0.0
0 2 4 6 0 2 4 6
y y

Abb. 12.22: Zur grafischen Bestimmung der Magnetisierung eines Ferromagneten als Schnittpunkt der
Brillouin-Funktion B J (y) und einer Geraden nach Gleichung (12.6.10) für B ext ≠ 0 (a) und B ext = 0 (b).
84

Wir können jetzt M als Funktion von y sowohl nach Gleichung (12.6.10) als auch nach Glei-
chung (12.6.8) auftragen, wie dies in Abb. 12.22a gezeigt ist. Die Schnittpunkte der beiden
Kurven ergeben dann gerade den gesuchten Magnetisierungswert. Hierzu müssen natürlich
die Werte für γ, J und g J bekannt sein.
Setzen wir in (12.6.10) B ext = 0, so können wir die spontane Magnetisierung eines Ferro-
magneten in Abhängigkeit von der Temperatur bestimmen. Der in Abb. 12.22b gezeigte Kur-
venverlauf zeigt, dass wir eine spontane Magnetisierung nur dann erhalten, wenn die Stei-
gung der durch (12.6.10) gegebenen Geraden kleiner als die Steigung der Brillouin-Funktion
für kleine Feldwerte ist. Für y ≪ 1 können wir die Brillouin-Funktion in eine Reihe ent-
wickeln und erhalten B J (y) ≃ J+1
3J
y. Mit dieser Näherung ergibt sich für die Steigung der
Brillouin-Funktion
dM dB J J+1
⋁︀ = ng J µ B J ⋁︀ = ng J µ B . (12.6.11)
d y y=0 d y y=0 3

Nach (12.6.10) erhalten wir


dM kB T
⋁︀ = . (12.6.12)
d y y=0 µ 0 γg J µ B J

Eine spontane Magnetisierung, d. h. einen ferromagnetischen Zustand erhalten wir nur


dann, wenn die Steigung nach (12.6.12) kleiner ist als diejenige nach (12.6.11), das heißt,
wenn
kB T J+1
< ng J µ B (12.6.13)
µ 0 γg J µ B J 3
gilt, bzw. wenn die Temperatur unterhalb der charakteristischen Temperatur

µ 0 g J2 J(J + 1)µ B2
TC = nγ =γ⋅C (12.6.14)
3k B
724 12 Magnetismus

liegt. Hierbei ist TC die ferromagnetische Curie-Temperatur und C die Curie-Konstante [ver-
gleiche (12.3.65)]. Gleichung (12.6.14) beschreibt das anschaulich erwartete Ergebnis, dass
Materialien mit einer hohen Molekularfeldkonstante γ, d. h. mit einer hohen Austausch-
kopplung J A eine hohe Curie-Temperatur besitzen.
Für den paramagnetischen Bereich erhalten wir mit der Näherung B J (y) ≃ J+1
3J
y für y ≪ 1

1 µ 0 g J2 J(J + 1)µ B2 1 C
M= n (B ext + µ 0 γM) = (B ext + µ 0 γM) . (12.6.15)
µ0 3k B T µ0 T

Lösen wir diese Gleichung nach M auf und verwenden TC = γC, so erhalten wir

1 C
M= B ext (12.6.16)
µ 0 T − TC

und damit für die Suszeptibilität das Curie-Weisssche Gesetz

C
χ= . (12.6.17)
T − TC

Experimentell findet man, dass im paramagnetischen Bereich für T ≫ TC die gemessene


Suszeptibilität sehr gut durch ein Curie-Weiss-Gesetz beschrieben werden kann, allerdings
mit einer paramagnetischen Curie-Temperatur Θ, die stets höher ist als die ferromagneti-
sche Curie-Temperatur TC , oberhalb der die spontane Magnetisierung verschwindet (siehe
Tabelle 12.3 und Abb. 12.23). Die Größe Θ ist ein Maß für die Wechselwirkung zwischen
den magnetischen Momenten, die auch im paramagnetischen Bereich vorhanden ist, aber
aufgrund der hohen thermischen Energie noch nicht zu einem Ordnungszustand führt.

Tabelle 12.3: Ferromagnetische und Material TC (K) Θ (K) C (K) M s (kA/m) p


paramagnetische Curie-Tempera-
tur TC und Θ, Curie-Konstante C, Fe 1044 1100 2.22 1 750 2.22
Sättigungsmagnetisierung M s (T = 0) Co 1360 1415 2.24 1 450 1.72
und der Sättigungsmagnetisierung
Ni 629 649 0.588 510 0.60
entsprechende Zahl p der Bohrschen
Magnetonen pro Formeleinheit eini- Gd 289 302 5.00 2 060 7.63
ger ferromagnetischer Materialien. Dy 85 157 — 3 050 10.4
EuO 69.4 78 4.68 1 880 7.0
CrO2 396 — — 325 2.0
MnAs 630 318 — 501 3.4

Aus Gleichung (12.6.14) lässt sich mit Hilfe der gemessenen Werte von TC und der Curie-
Konstanten C die Molekularfeldkonstante γ bestimmen. Mit den Werten aus Tabelle 12.3
erhalten wir für Ni γ = 1070. Mit diesem Wert lässt sich ferner mit der gemessenen Sätti-
gungsmagnetisierung M s (T = 0) = 510 kA/m das Austauschfeld zu B A = µ 0 γM s (0) = 685 T
abschätzen. Für Fe ergibt sich γ = 470 und B A = 1030 T. Wir sehen, dass das Austauschfeld
bei Temperaturen nicht allzu nahe bei TC wesentlich größer ist als externe Felder, die mit gän-
gigen Labormagneten erzeugt werden können (typischerweise einige Tesla). Deshalb haben
12.6 Magnetische Ordnungsphänomene 725

(a) 𝝌, 𝝌−𝟏 (b) 𝝌, 𝝌−𝟏


paramagnetisch FM paramagnetisch Abb. 12.23: Temperaturabhängig-
keit der Suszeptibilität (durchgezo-
gen) und der inversen Suszeptibilität
(gestrichelt) eines Paramagneten (a)
und eines Ferromagneten (b). Das
Curie-Weiss-Gesetz (gepunktete Linie
in (b)) ist nur weit oberhalb von TC
eine gute Näherung. Die Extrapolation
von χ−1 (T) auf χ−1 = 0 ergibt die pa-
ramagnetische Curie-Temperatur Θ.
𝟎 𝑻 𝟎 𝑻𝑪 Q 𝑻 Diese ist immer größer als TC .

in diesem Temperaturbereich externe Felder kaum mehr einen Einfluss auf das Verhalten
eines Ferromagneten.
87
Den Übergang vom paramagnetischen in den ferromagnetischen Zustand können wir auch
als einen Phasenübergang 2. Ordnung beschreiben. Die unterhalb von TC auftretende spon-
tane Magnetisierung M s ist dabei der Ordnungsparameter. Nach der Landau-Theorie der
Phasenübergänge (vergleiche Abschnitt 11.8.1) würden wir
⌈︂
⋃︀M s ⋃︀ ∝ TC − T . (12.6.18)

erwarten. Dies stimmt mit der gemessenen Abhängigkeit nicht überein. In der Nähe von TC
weicht ferner die gemessene Temperaturabhängigkeit der Suszeptibilität von einem einfa-
chen 1⇑T-Verhalten ab. Man beobachtet vielmehr χ ∝ (T − TC )−α mit α = 4⇑3 für T > TC
und χ ∝ (TC − T) β mit β = 1⇑3 für T < TC . Hierbei sind α und β die so genannten kri-
tischen Exponenten, die man aus der Theorie der Phasenübergänge erhält. Die einfache
Landau-Theorie liefert β = 1⇑2. Das tatsächliche Verhalten kann im Rahmen dieser einfa-
chen Molekularfeld-Näherung nicht richtig beschrieben werden, da sie Fluktuationen, die
im Temperaturbereich nahe TC wichtig werden, nicht berücksichtigt. Die Behandlung der
Temperaturabhängigkeit im kritischen Bereich nahe bei TC soll hier aber nicht diskutiert
werden. Es sei abschließend noch darauf hingewiesen, dass bei der Diskussion des Tempe-
raturverhaltens von Bandferromagneten berücksichtigt werden muss, dass die Zahl δN↑,↓
der umverteilten Elektronen temperaturabhängig ist. Dies wurde bei unserer Betrachtung
in Abschnitt 12.5.6.2 nicht berücksichtigt.

12.6.2.2 Temperaturabhängigkeit der Magnetisierung für T ≪ TC :


Um die Temperaturabhängigkeit der Magnetisierung für T ≪ TC zu diskutieren, betrachten
wir der Einfachheit halber ein J = 1⇑2-System. Ferner nehmen wir B eff ≃ B A an, da üblicher-
weise B A ≫ B ext . Mit B eff ≃ B A = µ 0 γM erhalten wir für die Magnetisierung den Ausdruck
1
1 g J µ B γµ 0 M µ eff γµ 0 M
M = ng J µ B tanh ( 2 ) = nµ eff tanh ( ). (12.6.19)
2 kB T kB T
726 12 Magnetismus

Für T ≪ TC wird das Argument der tanh-Funktion groß. Wir können dann die Nähe-
rung tanh x ≃ 1 − 2e−2x verwenden und erhalten
µ eff γµ 0 M
M = nµ eff (1 − 2 exp ]︀−2 {︀) . (12.6.20)
kB T
Wir sehen, dass
2
nµ eff γµ 0
∆M = M(0) − M(T) ≃ 2nµ eff exp ⌊︀−2 }︀ (12.6.21)
kB T
sehr klein wird, da das Argument der Exponentialfunktion etwa 2TC ⇑T entspricht und
für T ≪ TC sehr groß wird. Hierbei haben wir im Argument der Exponentialfunkti-
on M ≃ nµ eff gesetzt. Für T = 0.1TC erwarten wir deshalb ∆M⇑nµ eff ∼ 10−9 . Das heißt,
für T ≪ TC sollte sich die Sättigungsmagnetisierung über einen weiten Temperaturbereich
kaum ändern. Im Experiment wird aber eine wesentlich stärkere Abnahme der Sättigungs-
magnetisierung mit zunehmender Temperatur beobachtet, die die Form
∆M
= AT 3⇑2 (12.6.22)
nµ eff
besitzt. Wir werden in Abschnitt 12.10 sehen, dass diese Temperaturabhängigkeit durch die
Anregung von Spinwellen erklärt werden kann.

12.6.3 Ferrimagnetismus
In vielen magnetischen Kristallen stimmt die Sättigungsmagnetisierung bei T = 0 K nicht
mit dem Wert überein, den man bei einer parallelen Anordnung der atomaren magneti-

(a) A-Plätze, tetraedrisch (b)

𝑺 = 𝟓/𝟐
Fe(B)
8Fe3+
B-Plätze, oktaedrisch

𝑺=𝟐 O 2-
𝑺 = 𝟓/𝟐

8Fe3+ 8Fe2+ Fe(A)

Abb. 12.24: (a) Spin-Anordnung in Magnetit, FeO⋅Fe2 O3 . Die Spins der tetraedrisch und oktaedrisch
koordinierten Fe3+ -Ionen stehen antiparallel, so dass zur Sättigungsmagnetisierung effektiv nur die
Magnetit:
Spin-Momente der oktaedrisch koordinierten Fe2+ -Ionen beitragen. (b) Inverse Spinellstruktur von
Magnetit. Bei der inversen Spinellstruktur werden die tetraedrisch koordinierten A-Plätze von drei-
wertigen und die oktaedrisch koordinierten B-Plätze zu jeweils 50% von drei- und zweiwertigen Ionen
Fe2+: Sdagegen
besetzt. Bei der normalen Spinellstruktur werden Fe3+: S = 5/2, Lkoordinierten
= 2, L = 0 die tetraedrisch =0 A-Plätze nur
von zweiwertigen und die oktaedrisch koordinierten B-Plätze nur von dreiwertigen Ionen 88besetzt.
12.6 Magnetische Ordnungsphänomene 727

schen Momente erwartet. Ein typisches Beispiel ist Magnetit, Fe3 O4 oder Fe2+ O2− ⋅Fe3+ 2−
2 O3 .
Aus Tabelle 12.2 folgt, dass Fe einen Grundzustand mit S = 5⇑2 und L = 0 einnimmt. Jedes
3+

Fe3+ -Ion sollte deshalb ein magnetisches Moment von 5µ B beitragen. Fe2+ hat einen Grund-
zustand mit S = 2 und L = 0 und sollte 2µ B beitragen. Deshalb erwarten wir insgesamt eine
Sättigungsmagnetisiertung von 2 ⋅ 5 + 4 = 14 Bohrschen Magnetonen pro Formeleinheit. Im
Experiment gemessen werden dagegen nur etwa 4µ B . Dieser Unterschied kann dadurch er-
klärt werden, dass die magnetischen Momente der Fe3+ -Ionen antiparallel zueinander ste-
hen (siehe Abb. 12.24a), so dass nur das Moment der Fe2+ -Ionen übrig bleibt, das gerade 4µ B
beträgt. Neutronenbeugungsexperimente an Magnetit haben diese Vorstellung bestätigt.
Eine systematische Untersuchung der Konsequenzen der für Magnetit gefundenen Spin-
Ordnung wurde von Louis Néel61 im Zusammenhang mit der Materialklasse der Ferrite
durchgeführt. Ferrite sind magnetische Oxide der Form MO⋅Fe2 O3 , wobei das zweiwerti-
ge Metallion M = Zn, Cd, Fe, Ni, Cu, Co, Mg sein kann. Die Bezeichnung Ferrimagnetismus
wurde ursprünglich eingeführt, um die magnetische Ordnung in den Ferriten zu beschrei-
ben. Heute bezeichnen wir ganz allgemein solche Substanzen als Ferrimagnete, bei denen
die magnetischen Momente einiger Ionen der strukturellen Einheitzelle antiparallel zu den-
jenigen der übrigen stehen.
Viele Ferrimagnete, insbesondere die Ferrite, haben eine schlechte elektrische Leitfähigkeit
und kommen deshalb z. B. in Hochfrequenztransformatoren zum Einsatz. In Abb. 12.24b ist
die Kristallstruktur von Magnetit gezeigt. Magnetit ist ein kubischer Ferrit mit einer inver-
sen Spinellstruktur. In einer Einheitszelle befinden sich 8 tetraedrisch (A-Plätze) und 16 ok-
taedrisch koordinierte Fe-Plätze (B-Plätze) in einem Würfel mit einer Seitenlänge von etwa
8 Å. Bemerkenswert ist, dass die Austauschkonstanten J AA , J BB und J AB alle negativ sind und
damit eine antiparallele Anordnung der Spins auf den A-Plätzen, den B-Plätzen sowie eine
antiparallele Anordnung zwischen A- und B-Plätzen favorisieren. Dies ist natürlich nicht
möglich. Aufgrund des wesentlich geringeren AB-Abstands dominiert allerdings die Kopp-
lungskonstante J AB und erzwingt eine antiparallele Ausrichtung des A- und B-Untergitter.
Die Spins auf dem A- und dem B-Untergitter stehen damit trotz negativer Kopplungskon-
stanten J AA und J BB jeweils parallel zueinander.

12.6.3.1 Molekularfeld-Näherung
Wir wollen im Folgenden zeigen, dass die drei antiferromagnetischen Wechselwirkun-
gen J AB , J AA , J BB < 0 in einer ferrimagnetischen Ordnung resultieren können. Wir werden
für unsere Analyse die Molekularfeldnäherung benutzen. In dieser Näherung können
wir ein mittleres Austauschfeld definieren, das auf das A- und B-Spin-Untergitter wirkt
[vergleiche hierzu (12.6.5) und (12.6.6)]:

B Aa = µ 0 γ AA M A + µ 0 γ AB MB (12.6.23)

BBa = µ 0 γ BB MB + µ 0 γ BA M A . (12.6.24)

61
Louis Eugène Felix Néel, französischer Physiker, geboren am 22. November 1904 in Lyon, gestor-
ben am 14. November 2000. Néel erhielt 1970 den Physik-Nobelpreis für seine grundlegenden
Leistungen und Entdeckungen betreffend des Antiferromagnetismus und des Ferromagnetismus,
die zu wichtigen Erkenntnissen in der Festkörperphysik geführt haben.
728 12 Magnetismus

Hierbei sind nach (12.6.6) die Molekularfeldkonstanten γ AA , γ BB und γ AB alle negativ we-
gen J AB , J AA , J BB < 0. Ferner gilt γ AB = γ BA .
Die Wechselwirkungsenergiedichte beträgt

U = − 12 (B Aa ⋅ M A + BBa ⋅ MB )
= − 12 µ 0 γ AA M A2 − µ 0 γ AB M A ⋅ MB − 12 µ 0 γ BB M B2 . (12.6.25)

Da alle Molekularfeldkonstanten negativ sind, kann U nur dann negativ werden, wenn M A
antiparallel zu MB ist. Für diesen Fall erhalten wir eine Absenkung der Gesamtenergiedichte,
wenn

µ 0 γ AB M A ⋅ MB > − 12 µ 0 (γ AA M A2 + γ BB M B2 ) . (12.6.26)

Diese Bedingung können wir erfüllen, wenn ⋃︀γ AB ⋃︀ ≫ ⋃︀γ AA ⋃︀, ⋃︀γ BB ⋃︀ gilt, das heißt, wenn die
Austauschkopplung zwischen dem A- und B-Untergitter gegenüber der Austauschkopplung
innerhalb des A- und B-Untergitters dominiert. Dies ist in Magnetit aufgrund des geringeren
AB-Abstandes der Fall.

12.6.3.2 Curie-Temperatur von Ferrimagneten


Wir ordnen den Atomen auf dem A- und B-Untergitter zwei verschiedene Curie-Konstan-
ten C A und C B zu. Dies ist notwendig, da die Anzahl der paramagnetischen Ionen auf den
beiden Untergittern unterschiedlich groß sein kann. In Gegenwart eines äußeren Magnet-
feldes Bext ergibt sich das effektive Feld auf dem A- und B-Untergitter zu

A = Bext + µ 0 γ AB M B + µ 0 γ AA M A
Beff (12.6.27)
Beff
B = Bext + µ 0 γ BA M A + µ 0 γ BB MB . (12.6.28)

Um unsere Diskussion einfach zu gestalten, vernachlässigen wir die Wechselwirkung inner-


halb der Untergitter, d. h. wir setzen γ AA = γ BB = 0. Wir erhalten dann

A = Bext + µ 0 γ AB M B
Beff (12.6.29)

B = Bext + µ 0 γ BA M A .
Beff (12.6.30)

Für die Magnetisierung auf den beiden Untergittern ergibt sich damit
C A eff CA
MA = B = (Bext + µ 0 γ AB MB ) (12.6.31)
µ0 T A µ0 T
C B eff CB
MB = BB = (Bext + µ 0 γ AB M A ) . (12.6.32)
µ0 T µ0 T

Hierbei haben wir χ A = C A ⇑T bzw. χ B = C B ⇑T benutzt. Für B ext = 0 hat das Gleichungssys-
tem genau dann nichtverschwindende Lösungen für M A und M B , wenn

T −γ AB C A
⋁︀ ⋁︀ = 0 . (12.6.33)
−γ AB C B T
12.6 Magnetische Ordnungsphänomene 729

Damit erhalten wir die ferrimagnetische Curie-Temperatur (siehe hierzu Tabelle 12.4) zu
⌈︂
TC = ⋃︀γ AB ⋃︀ C A C B . (12.6.34)

Material TC (K) M s (kA/m) Material TC (K) M s (kA/m) Tabelle 12.4: Curie-


Temperatur TC und
Fe3 O4 860 480 CoFe2 O4 790 450 Sättigungsmagneti-
NiFe2 O4 865 330 CuFe2 O4 728 160 sierung M s (T = 0)
von einigen Ferri-
MnFe2 O4 575 500 MgFe2 O4 710 180
magneten.
BaFe12 O19 740 380 Y3 Fe5 O12 560 143

12.6.3.3 Suszeptibilität von Ferrimagneten


Um die Suszeptibilität von Ferrimagneten im Bereich oberhalb von TC zu erhalten, lösen wir
das Gleichungssystem (12.6.31) und (12.6.32), um Ausdrücke für M A und M B als Funktion
des angelegten Magnetfeldes zu erhalten. Mit diesen erhalten wir dann die Suszeptibilität zu

∂(M A + M B ) (C A + C B )T − 2⋃︀γ AB ⋃︀C A C B


χ = µ0 = . (12.6.35)
∂B ext T 2 − TC2

Wir sehen, dass wir für einen Ferrimagneten eine Temperaturabhängigkeit der Suszeptibili-
tät erhalten, die vom Curie-Weiss-Gesetz eines Ferromagneten, χ = C⇑(T − TC ), abweicht.
Insbesondere erhalten wir, wie in Abb. 12.25 gezeigt ist, keine Gerade mehr, wenn wir den
Kehrwert der Suszeptibilität gegen T auftragen. Eine gekrümmte χ−1 (T) Kurve ist ein Cha-
rakteristikum von Ferrimagneten.
3

Fe3O4

2
 (10 )
-4
-1

𝑻𝑪 Abb. 12.25: Kehrwert der Suszeptibi-


0
lität von Magnetit aufgetragen gegen
600 700 800 die Temperatur. Die gestrichelte Kurve
T (°C) wurde nach (12.6.35) berechnet.

91

12.6.3.4 Eisengranate
Eine wichtige Familie von ferrimagnetischen Oxiden sind die Eisengranate der Zusammen-
setzung M 3 Fe5 O12 , wobei M ein dreiwertiges Ion ist und Eisen als dreiwertiges Ion vorliegt.
730 12 Magnetismus

Ein wichtiger Vertreter ist Y3 Fe5 O12 , das als YIG (engl. Yttrium Iron Garnet) bezeichnet
wird. Die Sättigungsmagnetisierung von YIG resultiert aus zwei entgegengesetzt ausgerich-
teten Fe3+ Untergittern. Bei T = 0 trägt jedes Fe3+ -Ion zur Magnetisierung mit 5µ B bei, wo-
bei die 3 Fe3+ -Ionen auf den so genannten A-Plätzen in die eine und die beiden Fe3+ -Ionen
auf den so genannten D-Plätzen in die entgegengesetzte Richtung ausgerichtet sind, so dass
ein magnetisches Moment von 5µ B pro Formeleinheit verbleibt.
Die Molekularfeldkonstante γ AB beträgt für YIG etwa −1.5 × 104 und die Curie-Temperatur
ist TC = 560 K. YIG zeigt einen starken Faraday-Effekt, hat eine hohe Güte im Mikrowellen-
bereich und eine sehr kleine Linienbreite in der ferromagnetischen Resonanz (FMR). Das
Material wird in Mikrowellen- sowie in optischen und magnetooptischen Bauelementen ein-
gesetzt, z. B. als Resonator in Filtern und Oszillatoren für Frequenzen im Gigahertz-Bereich.

12.6.4 Antiferromagnetismus
Wir betrachten als letzte magnetische Ordnung den Antiferromagnetismus. Wie beim Fer-
rimagnetismus ist die Austauschkopplung benachbarter Atome negativ, so dass eine antipar-
allele Orientierung der magnetischen Momente bevorzugt wird. Im Gegensatz zu ferrima-
gnetischen Substanzen befinden sich aber auf den beiden antiparallel orientierten Unter-
gittern die gleichen magnetischen Momente, so dass sich diese gerade kompensieren. Vom
physikalischen Standpunkt aus können wir also antiferromagnetische Substanzen wie fer-
rimagnetische Substanzen behandeln, allerdings mit der Vereinfachung, dass C A = C B = C
gilt.
Das Paradebeispiel für eine antiferromagnetische Substanz ist das in Abb. 12.26 gezeigte
MnO, das bei Raumtemperatur eine NaCl-Struktur mit einer Gitterkonstanten a = 4.43 Å
besitzt. In Neutronenbeugungsexperimenten wurden bei 80 K zusätzliche Beugungsrefle-
xe bei jeweils dem halben Winkel gefunden, was einer Verdopplung der Einheitszelle ent-
spricht. Röntgenbeugungsexperimente zeigten dagegen diese Beugungsreflexe nicht. Die Ur-
sache dafür ist das Auftreten einer antiferromagnetischen Ordnungsstruktur unterhalb von
etwa 120 K, die von den Neutronen, nicht aber von den Röntgenquanten gesehen wird. Die
Anordnung der Spins ist in Abb. 12.26 gezeigt. Innerhalb einer (111)-Ebene sind die Spins
parallel angeordnet, wobei die Spin-Richtung in benachbarten (111)-Ebenen gerade ent-
gegengesetzt ist. Die magnetische Einheitzelle hat genau die doppelte Abmessung wie die
strukturelle Einheitszelle.

12.6.4.1 Néel-Temperatur
Wir gehen von Gleichung (12.6.27) und (12.6.28) für die effektiven Felder auf den beiden
Untergittern aus und verwenden γ AA = γ BB sowie M A = −MB . Damit erhalten wir

A = Bext + µ 0 (γ AB − γ AA )M B
Beff (12.6.36)

B = Bext + µ 0 (γ AB − γ AA )M A .
Beff (12.6.37)
12.6 Magnetische Ordnungsphänomene 731

chemische Einheitszelle
magnetische Einheitszelle

Abb. 12.26: Anordnung der Spins der Mn2+ -Ionen


in antiferromagnetischem MnO. Die zwischen den
Mn2+ -Ionen liegenden O2− -Ionen sind nicht ge-
zeigt.

Diese beiden Gleichungen entsprechen gerade (12.6.29) und (12.6.30), wenn wir γ AB
durch (γ AB − γ AA ) ersetzen. Für die Ordnungstemperatur ergibt sich dann
99

TN = ⋃︀γ AB − γ AA ⋃︀C . (12.6.38)

Hierbei ist zu beachten, dass sich die Curie-Konstante C nur auf ein Untergitter bezieht,
und aufgrund der antiferromagnetischen Kopplung γ AB , γ AA < 0. Bezieht man C auf dass
gesamte Gitter, muss auf der rechten Seite noch der Faktor 12 eingefügt werden. Die Ord-
nungstemperatur wird nach Louis Néel als Néel Temperatur bezeichnet. Wir sehen, dass
eine zusätzliche antiferromagnetische Kopplung γ AA zwischen den Spins auf dem gleichen
Untergitter zu einer Reduktion von TN führt. Für das in Abb. 12.26 gezeigte MnO bedeutet
dies, dass in der Richtung senkrecht zu den (111)-Ebenen die Kopplung sowohl zwischen
den nächsten als auch den übernächsten Nachbarn antiferromagnetisch ist. Dies führt zu
Frustration, da sich ein Spin nicht gleichzeitig zum nächsten und übernächsten Nachbarn
antiparallel ausrichten kann. Falls γ AB ≃ γ AA führt die Frustration dazu, dass sich trotz einer
starken antiferromagnetischen Austauschwechselwirkung bis zu tiefen Temperaturen kein
Ordnungszustand einstellt.

12.6.4.2 Suszeptibilität
Suszeptibilität oberhalb von TN : Für T > TN , also im paramagnetischen Bereich, ist in
einem äußeren Magnetfeld M A = M B und somit M = M A + M B = 2M A . Setzen wir diese in
Gleichung (12.6.36) ein, so erhalten wir

A = Bext + µ 0 (γ AB + γ AA )M A = B B = B
Beff eff eff
. (12.6.39)

Schreiben wir nun wieder die Magnetisierung als

1 2C eff
M = 2M A = B , (12.6.40)
µ0 T

so folgt durch Einsetzen von (12.6.39)

1 2C M 1 2C
M= ]︀Bext + µ 0 (γ AB + γ AA ) {︀ = Bext . (12.6.41)
µ0 T 2 µ 0 T − C(γ AB + γ AA )
732 12 Magnetismus

Tabelle 12.5: Néel-Tempera- Substanz TN (K) Θ (K) Θ⇑TN


tur TN und paramagnetische Néel-
Temperatur Θ für einige anti- MnO 122 610 5.3
ferromagnetische Substanzen. MnF2 67 82 1.24
FeO 195 570 2.9
FeCl2 24 48 2
CoO 291 330 1.14
CoCl2 25 38.1 1.53
NiO 525 ∼ 2 000 ∼4
NiCl2 50 68.2 1.37

Das heißt, wir erhalten die Suszeptibilität

∂M 2C
χ = µ0 = (12.6.42)
∂B ext T + Θ

mit der paramagnetischen Néel-Temperatur

Θ = −(γ AB + γ AA )C = ⋃︀γ AB + γ AA ⋃︀C . (12.6.43)

Hierbei ist wieder zu beachten, dass sich C nur auf ein Untergitter bezieht und dass aufgrund
der antiferromagnetischen Kopplung γ AB , γ AA < 0.
Wir sehen sofort, dass die paramagnetische Néel-Temperatur Θ immer größer als die Néel-
Temperatur TN ist, falls sowohl γ AB als auch γ AA negativ sind, das heißt, falls sowohl die
Kopplung zwischen nächsten (AB) als auch diejenige zwischen den übernächsten Nach-
barn (AA) antiferromagnetisch ist. Für das Verhältnis der beiden Temperaturen erhalten
wir
Θ ⋃︀γ AB + γ AA ⋃︀
= . (12.6.44)
TN ⋃︀γ AB − γ AA ⋃︀

Nur wenn wir die Wechselwirkung mit den übernächsten Nachbarn vernachlässigen kön-
nen, d. h. γ AA ≃ 0, erhalten wir Θ ≃ TN . In Tabelle 12.5 sind die beiden Temperaturen und
ihr Verhältnis für einige Substanzen angegeben. Die Tatsache, dass für alle betrachteten Ma-
terialien Θ⇑TN > 1 zeigt, dass für diese Materialien sowohl γ AB als auch γ AA negativ ist.

Suszeptibilität unterhalb von TN : Oberhalb von TN ist die Suszeptibilität fast unabhängig
von der Richtung des äußeren Feldes relativ zur Spin-Richtung auf den Untergittern. Dies
ändert sich für T < TN . Hier müssen wir die beiden Fälle mit dem äußeren Feld parallel und
senkrecht zur Spin-Richtung unterscheiden.
Bext ⊥ Spin-Richtung: Die Energiedichte können wir in diesem Fall wie folgt angeben:
1
U = − (B Aa ⋅ M A + BBa ⋅ MB ) − Bext ⋅ (M A + MB ) . (12.6.45)
2
12.6 Magnetische Ordnungsphänomene 733

𝑴𝑨 𝑩𝐞𝐱𝐭 𝑴𝑩

𝝋 𝝋
Abb. 12.27: Zur Herleitung der Suszeptibilität
𝝋 eines Antiferromagneten.

Setzen wir hier die Ausdrücke (12.6.23) und (12.6.24) für die Austauschfelder auf den A-
und B-Plätzen ein, so erhalten wir bei Vernachlässigung der Terme mit γ AA und γ BB

U = −µ 0 γ AB M A ⋅ MB − Bext ⋅ (M A + MB ) . (12.6.46)

Mit M = ⋃︀M A ⋃︀ = ⋃︀M B ⋃︀ können wir für kleine Winkel φ folgende Näherungen verwenden (sie-
he hierzu Abb. 12.27):
1
M A ⋅ MB = −M 2 cos 2φ ≃ −M 2 (1 − (2φ)2 ) (12.6.47)
2
M A + MB = M sin 2φ ≃ M2φ . (12.6.48)
103
Damit erhalten wir

U ≃ −µ 0 γ AB M 2 (1 − 2φ 2 ) − 2B ext Mφ . (12.6.49)

Setzen wir die Ableitung dieses Ausdrucks nach φ gleich null, so erhalten wir das Minimum
der Energiedichte für den Winkel
B ext
φ= . (12.6.50)
2µ 0 ⋃︀γ AB ⋃︀M
Setzen wir diesen Ausdruck in (12.6.48) ein, so ergibt sich
B ext
M A + M B = M2φ = (12.6.51)
µ 0 ⋃︀γ AB ⋃︀
und damit die Suszeptibilität zu
∂M 1
χ⊥ = µ 0 = . (12.6.52)
∂B ext ⋃︀γ AB ⋃︀
Wir sehen, dass die Suszeptibilität χ⊥ unabhängig von der Temperatur ist.
Bext ∥ Spin-Richtung: Falls das Magnetfeld parallel zur Untergittermagnetisierung ausge-
richtet ist, ändert sich die magnetische Energie nicht, wenn die Spins auf dem A- und B-
Untergitter gleiche Winkel mit dem Feld einnehmen. Das bedeutet, dass für T = 0

χ∥ = 0 . (12.6.53)

Für T > 0 nimmt χ∥ mit der Temperatur zu und erreicht dann bei T = TN den Wert 1⇑⋃︀γ AB ⋃︀.
Dies liegt daran, dass mit zunehmendem Magnetfeld im statistischen Mittel durch thermi-
sche Aktivierung immer mehr Momente parallel zum Magnetfeld ausgerichtet werden. Die
734 12 Magnetismus

Magnetisierung nimmt mit dem anliegenden Magnetfeld zu und resultiert in einer endli-
chen Suszeptibilität χ∥ > 0.62 In Abb. 12.28 ist der Verlauf der Suszeptibilität oberhalb und
unterhalb von TN schematisch dargestellt.

Spin-Flop Übergang: Da χ⊥ > χ∥ , erwarten wir für T < TN , dass die Untergittermagneti-
sierungen MA,B immer senkrecht zu Bext sind. Diese Phase nennt man die Spin-Flop-Phase.
Dies wird allerdings meist durch eine magnetokristalline Anisotropie K∥ verhindert, die ver-
sucht, MA,B parallel zur leichten antiferromagnetischen Achse auszurichten. Legen wir dann
Bext ∥ MA,B an, so erhalten wir einen Spin-Flop-Übergang bei dem Feldwert B sf , bei dem die
parallele und senkrechte Konfiguration energetisch entartet sind. Mit den Energiedichten
E∥ = −2K∥ − 2µ1 0 χ∥ B 2sf und E⊥ = − 2µ1 0 χ⊥ B 2sf erhalten wir das Spin-Flop-Feld
⌉︂
B sf = 4µ 0 K∥ ⇑(χ⊥ − χ∥ ) , (12.6.54)

das typischerweise im Bereich von 10 T liegt.

Abb. 12.28: Temperaturabhängigkeit (a) 𝝌, 𝝌−𝟏 (b) 𝝌, 𝝌−𝟏


der Suszeptibilität (durchgezogen)
und der inversen Suszeptibilität (ge- paramagnetisch AFM paramagnetisch
strichelt) eines Paramagneten (a)
und eines Antiferromagneten (b). 𝝌−𝟏
Das Curie-Weiss-Gesetz (strichge-
punktete Linie in (b)) ist nur weit
oberhalb von TC eine gute Nähe-
rung. Die Extrapolation von χ−1 (T) 𝝌⊥ 𝝌
auf χ−1 = 0 ergibt die paramagne-
tische Néel-Temperatur Θ. Der Be- 𝝌∥
trag von Θ ist meist größer als TN .
𝟎 𝑻 −𝚯 𝟎 𝑻𝑵 𝑻

12.7 Magnetische Anisotropie


In Experimenten wird im Allgemeinen beobachtet, dass die Magnetisierung M bevorzugt in
eine oder mehrere Richtungen zeigt. Andere Richtungen werden dagegen nach Möglichkeit
gemieden. Wir bezeichnen die Energie E ani , die aufgebracht werden muss, um die Magneti-
sierung aus einer bevorzugten , der magnetisch leichten Achse, in die ungünstigste Richtung,
die magnetisch schwere Achse, zu drehen, als magnetische Anisotropieenergie. Die magne-
tische Anisotropie ist für Anwendungen von grundlegender Bedeutung. Bei verschwinden-
der Anisotropie ließe sich die Magnetisierungsrichtung ohne Energieaufwand ändern. Zum
Beispiel ließen sich Kompassnadeln so leicht ummagnetisieren, dass sie unbrauchbar wären,
oder eine Speicherung von binären Daten in Form entgegengesetzter Magnetisierungsrich-
tungen wäre nicht möglich.
62
Eine genaue Diskussion der Temperaturabhängigkeit kann in Solid State Physics, Harald Ibach,
Hans Lüth, 2. Auflage, Springer Verlag, Berlin (1995) gefunden werden.
12.7 Magnetische Anisotropie 735

𝑯𝐞𝐱𝐭 = 𝟎
leichte 𝑴
Achse

schwere Achse
𝑯𝐞𝐱𝐭 ≠ 𝟎
𝑴

leichte
Achse

schwere Achse

Abb. 12.29: Veranschaulichung der magnetischen Anisotropie anhand der Ausrichtung von Kompass-
nadeln. Rechts sind die Konturlinien konstanter magnetischer freier Energie als Funktion der Magne-
tisierungsrichtung gezeigt. Oben: Ohne äußeres Feld richten sich die Nadeln aufgrund der dipolaren
105
Wechselwirkung parallel zu ihrer Verbindungsachse aus. Dies entspricht einem Minimum der freien
Energie und somit einer magnetisch leichten Achse. Unten: Die Magnetisierung zeigt entlang der ma-
gnetisch schweren Achse. Dieser Zustand kann nur durch ein genügend hohes äußeres Magnetfeld
erzwungen werden.

In Abb. 12.29 ist ein einfaches Beispiel zur Veranschaulichung der magnetischen Anisotro-
pie dargestellt. Aufgrund der dipolaren Wechselwirkung richten sich die Kompassnadeln
bevorzugt parallel zu ihrer Verbindungsachse aus. Diese Richtung stellt also eine magne-
tisch leichte Achse dar, die durch ein Minimum der freien magnetischen Energiedichte ge-
kennzeichnet ist. Die Ausrichtung der Nadeln senkrecht zur Verbindungsachse ist dagegen
energetisch ungünstig, sie entspricht einer magnetisch schweren Achse. Diese Ausrichtung
kann nur mit einem genügend hohen äußeren Feld erzwungen werden.
Es gibt drei Hauptursachen für die magnetische Anisotropie, nämlich die magnetokristalline
Anisotropie (engl. magnetocrystalline anisotropy), die Formanisotropie (engl. shape aniso-
tropy) und eine durch äußere Einflüsse induzierte Anisotropie. Diese tragen mit den Beiträ-
gen fmc , fform und find zur magnetischen freien Energiedichte bei:
fani = fmc + fform + find + . . . . (12.7.1)
Die magnetokristalline Anisotropie stellt eine intrinsische Materialeigenschaft dar. Sie wird
durch Kristallfelder erzeugt, die zu einer Vorzugsrichtung des Bahndrehimpulses und über
die Spin-Bahn-Kopplung zu einer Vorzugsrichtung des Spins führen. Die Formanisotropie
hängt mit der speziellen Form eines Festkörpers zusammen. Sie wird durch die von der Form
abhängenden Entmagnetisierungsfelder verursacht. Die induzierte Anisotropie kann durch
elastischen Verspannungen erzeugt werden, die häufig in dünnen Filmen aufgrund der Git-
terfehlanpassung mit dem Substrat auftreten. Weitere Ursachen sind mechanischer Druck
oder Fluktuationen der chemischen Zusammensetzung. Zur induzierten Anisotropie kön-
nen wir auch die 1956 von Meiklejohn und Bean bei General Electric entdeckte unidirek-
tionale Austauschanisotropie63 , 64 rechnen, die in Zwei- oder Mehrlagensystemen aus ferro-
63
W. H. Meiklejohn, C. B. Bean, New Magnetic Anisotropy, Phys. Rev. 105, 904-913 (1957).
64
J. Nogués, I. K. Schuller, Exchange Bias, J. Magn. Magn. Mat. 192, 203-232 (1999).
736 12 Magnetismus

magnetischen und antiferromagnetischen Materialien auftritt. An der Grenzfläche existiert


eine Austauschkopplung zwischen dem hartmagnetischen Verhalten des Antiferromagne-
ten und dem üblicherweise weichmagnetischen Verhalten des Ferromagneten, die eine be-
vorzugte Magnetisierungsrichtung im Ferromagneten erzeugt. Die Austauschanisotropie ist
von großer Bedeutung für die Leseköpfe von magnetischen Festplatten.
Bei der Diskussion der magnetischen Anisotropie ist wichtig, dass in Materialien mit Inver-
sionssymmetrie Kristallfelder, die Probenform oder elastische Verspannungen durch polare
Vektoren beschrieben werden. Sie können deshalb keine Vorzugsrichtung der Magnetisie-
rung definieren, die ja einen axialen Vektor darstellt. Deshalb existieren keine bevorzugten
Anisotropierichtungen sondern nur bevorzugte Achsen. Die mit der magnetischen Aniso-
tropie verbundene Energiedichte darf deshalb nicht von der Richtung der Magnetisierung
abhängen. Sie muss eine gerade Funktion des Winkels sein, den die Magnetisierung mit der
Vorzugsachse einschließt. Diese Tatsache werden wir im Folgenden häufig ausnutzen.

12.7.1 Magnetische freie Energiedichte


Wir können die magnetische Anisotropie phänomenologisch dadurch beschreiben, dass wir
die magnetische freie Energiedichte fani für ein magnetisches System als Funktion der Ma-
gnetisierungsrichtung m(r) = M(r)⇑M berechnen. Der Wert von fani hängt für einen vor-
gegebenen magnetischen Körper von der Richtung der Magnetisierung ab. Die leichten und
schweren Achsen sind durch die Minima und Maxima von fani gegeben. Ohne äußeres Feld
(Bext = 0) zeigt die Magnetisierung M in Richtung minimaler Energiedichte, also entlang der
leichten Achse. In einem angelegten äußeren Magnetfeld kommt als weiterer Energiedichte-
beitrag noch die Zeeman-Energie E Zeeman ⇑V = −M(r) ⋅ Bext dazu, die zu einer bevorzugten
Ausrichtung der Magnetisierung M(r) parallel zu Bext führt. Um M aus der leichten Rich-
tung herauszudrehen, müssen wir Arbeit verrichten. Dies kann z.B. mit Hilfe eines äußeren
Feldes geschehen, mit dem wir die Arbeit ∫ Bext ⋅ dM pro Volumen verrichten. Für Bext > 0
wird die bevorzugte Richtung der Magnetisierung durch die Minima der freien Enthalpie-
dichte

gani (m(r)) = fani (m(r)) − M(r) ⋅ Bext (12.7.2)

bestimmt. Wir werden im Folgenden die verschiedenen Beiträge zur freien Energiedichte
fani aufgrund der magnetokristallinen Anisotropie, der Formanisotropie und der induzier-
ten Anisotropie kurz diskutieren. Wir wollen hier auch noch darauf hinweisen, dass an Ober-
flächen und Grenzflächen aufgrund der dort gebrochenen Translationsinvarianz Anisotro-
piebeiträge auftreten können. Diese sind vor allem für sehr dünne magnetische Schichten
und Mehrschichtsysteme von Bedeutung, werden aber im Folgenden nicht diskutiert.

12.7.2 Magnetokristalline Anisotropie


Die magnetokristalline Anisotropie führt dazu, dass sich die Magnetisierung entlang einer
bestimmten kristallographischen Richtung ausrichten will. Die Ursache für die magnetokris-
talline Anisotropie ist nicht die Austauschwechselwirkung, die wir als isotrop angenommen
12.7 Magnetische Anisotropie 737

(a)

(b)

Abb. 12.30: Zur Ursache der magnetokristallinen Anisotropie. Aufgrund der endlichen Spin-Bahn-
Kopplung ist die Ladungsverteilung der Atome nicht mehr sphärisch. Die asphärische Ladungsver-
teilung (blau) ist über die Spin-Bahn-Kopplung an die Spin-Richtung (rot) gekoppelt und sorgt für
unterschiedliche Richtungen des Spins für eine unterschiedliche Austauschwechselwirkung und elek-
trostatische Wechselwirkungsenergie.

haben. Sie resultiert vielmehr aus der endlichen Spin-Bahn-Kopplung. Für das ferromagne-
tische Verhalten von z. B. Fe, Co oder Ni ist zwar hauptsächlich der Elektronenspin verant-
wortlich, durch die endliche Spin-Bahn-Kopplung ist aber die Spin-Richtung mit dem Bahn-
moment gekoppelt. Das bedeutet, dass das Kristallgitter über die Spin-Bahn-Kopplung auf
die Richtung der Spins einwirken kann. Für Elemente mit nicht vollständig gefüllten Schalen
(z. B. 3d-Elektronen in Übergangsmetallen oder 4 f -Elektronen in den Seltenen Erden) ist
die Elektronenverteilung eines Atoms nicht mehr sphärisch, wie in Abb. 12.30 schematisch
gezeigt ist. Dadurch resultiert eine Drehung der Bahnmomente in einer Änderung des Über-
lapps der Wellenfunktionen benachbarter Atome und damit in einer Änderung der elektro-
statischen Wechselwirkungsenergie. Die Bahnmomente haben deshalb bevorzugte kristallo-
graphische Richtungen und damit über die Spin-Bahn-Kopplung auch die Spin-Momente.
Insgesamt resultiert für verschiedene Spin-Richtungen relativ zu den kristallographischen
Achsen ein unterschiedlicher Überlapp der Elektronenwolken von benachbarten Atomen
und damit eine unterschiedliche Austauschenergie und elektrostatische Wechselwirkungs-
energie. Beide Effekte führen zur magnetokristallinen Anisotropie.
Die Berechnung der magnetokristallinen Anisotropie ist in der Regel schwierig. Es ist je-
doch anschaulich klar, dass der damit verbundene Beitrag fmc die Symmetrieeigenschaften
der elektronischen Struktur und damit des Kristallgitters aufweisen muss. Das bedeutet, dass
Symmetrieoperationen, die das Kristallgitter invariant lassen, auch fmc nicht ändern dürfen.
Wir können deshalb fmc nach geeigneten Funktionen f j (m(r)) entwickeln, die mit der Kris-
tallsymmetrie kompatibel sind:
fmc = K 0 + K 1 f 1 (m(r)) + K 2 f 2 (m(r)) + K 3 f 3 (m(r)) + . . . . (12.7.3)
Hierbei sind K j die Anisotropiekonstanten, welche die Einheit J/m3 besitzen. Da die Ma-
gnetisierungsrichtung m durch die Richtungskosinusse m i = cos α i = M i ⇑M der Winkel,
die eine willkürliche Magnetisierungsrichtung m = M⇑M mit den kartesischen Achsen ein-
schließt, ausgedrückt werden kann, werden meist Entwicklungen nach Potenzen der Rich-
tungskosinusse vorgenommen. Wir werden nur Systeme diskutieren, bei denen eine In-
versionssymmetrie vorliegt. In diesem Fall müssen alle f j gerade Funktionen der m i sein.
Statt einer Entwicklung nach Richtungskosinussen könnten wir auch eine Entwicklung nach
sphärischen Koordinaten vornehmen. In der Praxis wählt man natürlich eine Entwicklung,
die eine möglichst einfache Formulierung des Problems erlaubt. Wir betrachten im Folgen-
den einige einfache Fälle.
738 12 Magnetismus

12.7.2.1 Uniaxiale Anisotropie


Viele Materialien können in einer Ebene senkrecht zu einer ausgezeichneten Achse mit Rich-
tung u als isotrop angenommen werden. Dies trifft näherungsweise häufig für Kristallstruk-
turen zu, die eine einzelne Achse mit hoher Symmetrie besitzen. Wir sprechen in diesem Fall
von einer uniaxialen Anisotropie. Nehmen wir an, dass die Richtung u der leichten Achse mit
der z-Achse zusammenfällt, können wir den Beitrag zur freien Enthalpiedichte als Potenzrei-
he von m 2z = cos2 ϑ schreiben, wobei ϑ der Winkel zwischen der Magnetisierungsrichtung m
und der Anisotropieachse u ist. Äquivalent dazu können wir m 2x + m 2y = 1 − m 2z = sin2 ϑ ver-
wenden und erhalten

mc = K 0 + K 1 sin ϑ + K 2 sin ϑ + . . . .
funi uni uni 2 uni 4
(12.7.4)

Hierbei ist K 0uni ein konstanter Beitrag, der auch weggelassen werden kann, und K 1uni
und K 2uni sind die uniaxialen Anisotropiekonstanten 1. und 2. Ordnung. Häufig ist es
ausreichend, nur den Term K 1uni sin2 ϑ zu berücksichtigen. Typische Beispiele der resultie-
renden Flächen konstanter freier Energiedichte sind in Abb. 12.31(a) und (b) für u parallel
zur z-Achse und unterschiedliches Vorzeichen von K 1uni gezeigt. Für K 1uni > 0 liegt die leichte
Achse in der x y-Ebene, für K 1uni < 0 senkrecht dazu.

12.7.2.2 Kubische Kristallstruktur


Für ein kubisches System können wir den Beitrag der magnetokristallinen Anisotropie zur
freien Energiedichte schreiben als

mc = K 0
fkub + K 1kub (m 2x m 2y + m 2y m 2z + m 2z m 2x ) + K 2kub (m 2x m 2y m 2z ) + . . . ,
kub
(12.7.5)

wobei wir wieder berücksichtigt haben, dass für Systeme mit Inversionssymmetrie in der
Anisotropieenergie nur gerade Potenzen der Richtungskosinusse auftauchen dürfen. Fer-
ner haben wir ausgenutzt, dass die Anistotropieenergie invariant gegenüber einer Vertau-
schung der Richtungskosinusse sein muss. Diese Forderung wird in niedrigster Ordnung
durch die Kombination m 2x + m 2y + m 2z erfüllt. Diese ist allerdings immer gleich eins und

(a) z (c) z
𝑲𝐮𝐧𝐢
𝟏 >𝟎 𝑲𝐤𝐮𝐛
𝟏 >𝟎

Abb. 12.31: Flächen konstanter magneti- x


y
scher freier Energiedichte aufgrund einer
(a, b) uniaxialen und (c, d) kubischen ma- z
gnetischen Anisotropie mit jeweils unter- (b) (d)
schiedlichem Vorzeichen der Anisotropie- 𝑲𝐮𝐧𝐢𝟏 <𝟎 z 𝑲𝐤𝐮𝐛
𝟏 <𝟎
konstanten. Es wurden jeweils nur die Bei-
träge 1. Ordnung berücksichtigt. In (a, b)
wurde die Richtung der uniaxialen Aniso-
tropie parallel zur z-Achse angenommen. x
Die graue Fläche beschreibt die x y-Ebene. y

108
12.7 Magnetische Anisotropie 739

führt zu einem isotropen Verhalten. Die nächst höheren Ordnungen sind die in (12.7.5) ent-
haltenen Kombinationen 4. und 6. Ordnung mit den kubischen Anisotropiekonstanten K 1kub
und K 2kub . Im einfachsten Fall können wir den Term 6. Ordnung (und den konstanten Bei-
trag) vernachlässigen und erhalten

mc ≃ K 1 (m x m y + m y m z + m z m x ) = 2 K 1 )︀1 − (m x + m y + m z )⌈︀ .
fkub kub 2 2 2 2 2 2 1 kub 4 4 4
(12.7.6)

Hierbei haben wir das Additionstheorem m 4x + m 4y + m 4z = 1 − 2(m 2x m 2y + m 2y m 2z + m 2z m 2x )


benutzt. Typische Beispiele der resultierenden Flächen konstanter freier Energiedichte sind
in Abb. 12.31(c) und (d) für unterschiedliches Vorzeichen von K 1kub gezeigt. Für K 1kub > 0
erhalten wir leichte Achsen entlang der x-, y- und z-Achse (∐︀100̃︀-Richtungen) und schwere
Achsen entlang der Raumdiagonalen (∐︀111̃︀-Richtungen). Für K 1kub < 0 ist es gerade umge-
kehrt.

12.7.2.3 Hexagonale Kristallstruktur


Für eine hexagonale Kristallstruktur mit der sechszähligen hexagonalen Achse in z-Richtung
können wir den Beitrag der magnetokristallinen Anisotropie zur freien Energiedichte unter
Benutzung des Polarwinkels ϑ und des Azimuthalwinkels φ schreiben als

ani = K 0 + K 1 sin ϑ + K 2 sin ϑ + K 3 sin ϑ cos 6φ + . . . .


fhex hex hex 2 hex 4 hex 4
(12.7.7)

In einfachster Näherung können wir den letzten Term vernachlässigen und erhalten eine
uniaxiale Anisotropie in Richtung der hexagonalen Achse, die wir mit den beiden hexago-
nalen Anisotropiekonstanten K 1hex und K 2hex charakterisieren können. Für K 1,2
hex
> 0 ist die
hexagonale Achse die leichte Achse.

Beispiele
In Tabelle 12.6 haben wir typische Werte für die Anisotropiekonstanten einiger magnetischer
Materialien angegeben. Eisen besitzt ein kubisch-raumzentriertes Kristallgitter. Da K 1kub > 0
ist, erfolgt die spontane Magnetisierung entlang der ∐︀100̃︀-Richtungen. Nickel besitzt ein
kubisch-flächenzentriertes Kristallgitter. Da K 1kub < 0 ist, sind hier die ∐︀111̃︀-Richtungen die

Tabelle 12.6: Anisotropiekonstanten einiger ferromagnetischer Materialien. Nach B. D. Cullity,


C. D. Graham, Introduction to Magnetic Materials, John Wiley (2005) und Handbook of Magnetic Ma-
terials, E. P. Wohlfarth, K. H. J. Buschow (Herausgeber), North-Holland, Amsterdam (1988).

Substanz Kristallstruktur K 1 (kJ/m3 ) K 2 (kJ/m3 )


Fe bcc 40-55 5-15
Ni fcc −(50-130) 20-60
Co hexagonal 400-800 100-150
Gd hexagonal −(70-90) 230-280
YCo5 hexagonal 5500
MnBi hexagonal 890 270
740 12 Magnetismus

leichten Achsen. Kobalt hat ein hexagonales Kristallgitter. Die leichte Achse ist bei Raum-
temperatur die so genannte hexagonale Achse senkrecht zur hexagonalen Basisebene. Ko-
balt besitzt also in erster Näherung eine uniaxiale Anisotropie. Wir möchten noch darauf
hinweisen, dass hartmagnetische Materialien wie SmCo5 oder Nd2 Fe14 B Anisotropiekon-
stanten weit oberhalb von 2 MJ/m3 besitzen und sich deshalb sehr gut für leistungsfähige
Permanentmagnete eignen.

12.7.3 Formanisotropie
Um die mit der Form eines ferromagnetischen Festkörpers verbundene magnetische
Anisotropie abzuschätzen, müssen wir seine magnetostatische Selbstenergie betrachten.
Nach (12.1.26) ist sie für einen homogen magnetisierten Körper gegeben durch

E M = 12 µ 0 ∫ M ⋅ N ⋅ M dV = 12 µ 0 V N M 2 , (12.7.8)
V

wobei wir die Beziehung HN = −N ⋅ M zwischen Entmagnetisierungsfeld HN und Magneti-


sierung M benutzt haben. N ist der Entmagnetisierungsfaktor (im Allgemeinen ein Tensor),
der von der Form des betrachteten Festkörpers abhängt. Da ein magnetischer Körper ver-
sucht seine Selbstenergie zu minimieren, richtet sich die Magnetisierung entlang der Achse
aus, für die N minimal ist. Für eine Kugel verschwindet folglich die Formanisotropie, da der
Entmagnetisierungsfaktor für jede Richtung N = 1⇑3 beträgt.
Für einen dünnen Film gilt N ≃ 1 für M senkrecht und N ≃ 0 für M parallel zur Filmebene.
Der Beitrag zur freien Energiedichte durch die Formanisotropie ist dann gegeben durch
µ0
fform ≃ 2
∫ M dV . (12.7.9)
2V
Für eine Sättigungsmagnetisierung von µ 0 M s ≈ 1 T erhalten wir fform ≈ 400 kJ/m3 . Unsere
Betrachtung gilt natürlich nur für eindomänige Proben. Bei einem Mehrdomänen-Zustand
erzeugt jede einzelne Domäne Entmagnetisierungsfelder und unterliegt selbst den Streufel-
dern der Nachbardomänen.

12.7.4 Induzierte Anisotropie


Als Bespiele für von außen induzierte Anisotropien diskutieren wir im Folgenden kurz
die verspannungsinduzierte Anisotropie und die Austauschanisotropie in magnetischen
Schichtstrukturen.

12.7.4.1 Anisotropie durch elastische Verspannung


Eine uniaxiale Anisotropie in ferromagnetischen Materialien kann zum Beispiel auch durch
eine uniaxiale elastische Verspannung σ erzeugt werden. Die resultierende induzierte An-
isotropie wird durch den Energiedichtebeitrag
σ
find = 1
V ∫
3
2
σ λ s dV (12.7.10)
12.7 Magnetische Anisotropie 741

beschrieben. Hierbei ist λ s die Sättigungsmagnetostriktion, die für Eisen λ s = −7 × 10−6 be-
trägt. Physikalische Ursache ist die durch die elastische Verformung des Festkörpers entstan-
dene Verzerrung der Ladungsverteilung. Diese führt zu einer Vorzugsrichtung des Bahndre-
himpulses und über die Spin-Bahn-Kopplung zu einer Vorzugsrichtung des Spins.65

12.7.4.2 Austauschanisotropie
Um die Grundzüge der Austauschanisotropie zu diskutieren, betrachten wir die in
Abb. 12.32a gezeigte ideale Grenzfläche zwischen einer ferromagnetischen und antifer-
romagnetischen Schicht. An der Grenzfläche sollen die Spins SFM und SAFM in der ferro-
und antiferromagnetischen Schicht die Austauschkopplung J ex besitzen und es soll ein
äußeres Magnetfeld Bext parallel zur Schichtstruktur angelegt sein. Naiv würden wir für
diese Anordnung folgenden Energiegewinn pro Flächeneinheit erwarten:
∆E nJ ex
= − 2 SFM ⋅ SAFM − MFM ⋅ Bext t FM . (12.7.11)
F 2ħ
Hierbei ist n die Flächendichte der wechselwirkenden Spins an der Grenzfläche, M FM die
Sättigungsmagnetisierung und t FM die Dicke der ferromagnetischen Schicht. Der erste Term
auf der rechten Seite bewirkt für J ex > 0 (ferromagnetische Kopplung) eine parallele Aus-
richtung der Spins an der Grenzfläche und der zweite (Zeeman-) Term eine Ausrichtung
M ∥ Bext . Wenn wir die Richtung des Magnetfeldes umpolen, erwarten wir ein Schalten der
Magnetisierung bei dem Feld B b , für das ∆E = 0 wird (wir nehmen ein verschwindend klei-
nes Koerzitivfeld des Ferromagneten an):
nJ ex S FM S AFM
Bb = . (12.7.12)
2ħ 2 M FM t FM
Wie in Abb. 12.32b gezeigt, wird die Hysteresekurve des Ferromagneten um B b verschoben,
weshalb wir von einer Austauschpolung (engl. exchange bias) sprechen. Den Beitrag der
Austauschanisotropie zur freien Energiedichte können wir mit (12.7.12) schreiben als
nJ ex S FM S AFM nJ ex S FM S AFM
ind = B b M FM =
faus = . (12.7.13)
2ħ 2 t FM 2ħ 2

Leider widersprechen die experimentellen Befunde unserer einfachen Abschätzung. So ist


die gemessene Größe von B b typischerweise etwa 100-mal kleiner als der nach (12.7.12) mit
vernünftigen Parametern berechnete Wert. Es wird ferner beobachtet, dass B b in epitakti-
schen Schichten häufig kleiner als in polykristallinen Schichten ist. Um die Austauschani-
sotropie quantitativ zu verstehen, ist die Kenntnis der Grenzflächen- und Defektstruktur
notwendig. Es ist einfach einzusehen, dass z.B. bereits eine geringe Grenzflächenrauigkeit
dazu führt, dass die Grenzflächenspins im Antiferromagneten nicht mehr alle die gleiche
Richtung besitzen und sich somit lokal entgegengesetzte Werte von B b ergeben. Auf eine
detaillierte Diskussion wollen wir hier aber verzichten.
65
Genauso wie eine mechanische Verspannung zu einer Vorzugsrichtung der Magnetisierung führt,
verursacht auch umgekehrt eine Änderung der Magnetisierungsrichtung (z.B. durch eine äußeres
Magnetfeld) eine mechanische Verspannung und damit elastische Verzerrung eines Ferromagne-
ten. Dies kann bei Transformatoren beobachtet werden. Das periodische Umpolen der Magneti-
sierungsrichtung führt hier zu einer periodischen elastischen Verzerrung, die wir als „Brummen“
des Transformators wahrnehmen.
742 12 Magnetismus

(a) 𝑩𝐞𝐱𝐭
𝑻 > 𝑻𝑵 (b) 𝑩𝐞𝐱𝐭
𝑻 < 𝑻𝑵

Austausch-
kopplung
𝑴 𝑴

𝑩𝐞𝐱𝐭 𝑩𝐞𝐱𝐭
𝑩𝐛

Abb. 12.32: Zur Ursache der magnetischen Austauschanisotropie. In (a) ist T > TN , so dass die Spins
im Antiferromagneten noch ungeordnet sind und kein Nettoeffekt auf den Ferromagneten zustande
kommt. In (b) ist T < TN , so dass sich die Spins im Antiferromagneten ordnen. Durch den ferromagne-
tischen Grenzflächenaustausch (J ex > 0) resultiert an der Grenzfläche eine parallele Spin-Ausrichtung,
die zu einer Verschiebung der ferromagnetischen Hysteresekurve um das Austauschfeld B b führt.

12.8 Magnetische Domänen 112

Wir erwarten, dass für T ≪ TC in einem Ferromagneten alle magnetischen Momente par-
allel ausgerichtet sind, so dass wir bei einer Magnetisierungsmessung die Sättigungsmagne-
tisierung M s erhalten sollten. Trotzdem beobachten wir im Experiment häufig eine Magne-
tisierung M ≪ M s und das Material erscheint nach außen fast unmagnetisch zu sein. Die
Ursache dafür sind so genannte Weisssche Bezirke oder Domänen. Innerhalb dieser Domä-
nen sind die magnetischen Momente zwar ausgerichtet und die spontane Magnetisierung
entspricht der Sättigungsmagnetisierung, die Magnetisierung zeigt allerdings in verschiede-
nen Domänen in unterschiedliche Richtungen, so dass sich die Magnetisierungen der ein-
zelnen Domänen nach außen aufheben können. Magnetische Domänen treten nicht nur in
Ferromagneten auf, sondern auch in Ferri- und Antiferromagneten. Ganz allgemein wer-
den Domänen auch in zahlreichen anderen Stoffen, z. B. in Ferro- und Antiferroelektrika, in
ferroelastischen Stoffen oder in Supraleitern beobachtet. Dies zeigt, dass Domänen ein allge-
meines Phänomen sind und in vielen physikalischen Systemen eine wichtige Rolle spielen.

12.8.1 Ferromagnetische Domänen


Die physikalische Ursache für die Bildung von Domänen in Ferromagneten ist die Minimie-
rung der magnetischen freien Enthalpiedichte (12.7.2). Wie oben bereits diskutiert wurde,
müssen wir insbesondere den Beitrag fform aufgrund der Formanisotropie [siehe (12.7.8)],
den Beitrag fmc durch die magnetokristalline Anisotropie [siehe (12.7.4), (12.7.5) und
(12.7.7)] und den Beitrag find durch induzierte Anisotropien [siehe (12.7.10) und (12.7.13)]
berücksichtigen. Ferner müssen wir bei endlichem Bext noch den Energiedichtebeitrag
E Zeeman ⇑V = −M ⋅ Bext , (12.8.1)
einschließen, welcher die Wechselwirkung eines magnetischen Körpers mit dem äußeren
Feld beinhaltet.
12.8 Magnetische Domänen 743

(a) (b) (c) (d)

N N N N NN S S N S N S

Abb. 12.33: Zur Ursache der Domä-


nenstruktur in Ferromagneten. Die
magnetische Feldenergie nimmt von
S S S S S S NN S N S N
links nach rechts ab, die Wand- und
Anisotropieenergie dagegen zu.

Die Ursache für die Domänenbildung können wir uns anhand von Abb. 12.33 veranschauli-
chen (Bext = 0). Betrachten wir einen einkristallinen ferromagnetischen Festkörper, so kann
dieser im ferromagnetischen Zustand aus einer einzigen oder aus mehreren ferromagneti-
schen Domänen bestehen. In Abb. 12.33a liegt nur eine einzelne Domäne vor. Die Rich-
tung der Magnetisierung wird hierbei durch die in Abschnitt 12.7 diskutierte magnetische
Anisotropie festgelegt. Abb. 12.33 veranschaulicht, dass die magnetostatische Selbstenergie
E M = − 21 µ 0 ∫ HN ⋅ M dV [vergleiche (12.1.25)] bei einer eindomänigen Konfiguration be-
sonders groß ist. Sie ist immer positiv (HN ∥ −M) und führt zu einer Erhöhung der Ge-
samtenergie. Da Entmagnetisierungs- und Streufelder immer dann auftreten, wenn die Ma-
gnetisierung eine Normakomponente an der Oberfläche besitzt, können diese Felder und
damit die Selbstenergie durch Domänenbildung reduziert werden.
Für die in Abb. 12.33b und c gezeigten Konfigurationen nimmt die mit dem Streufeld ver-
bundene Energie ab, da wir durch Bildung von Domänen mit anti-paralleler Magnetisie-
rungsrichtung die Streufelder reduziert haben. Gleichzeitig müssen wir jedoch zum Aufbau
der Wände zwischen den einzelnen Domänen Energie aufwenden, da wir ja an der Domä-
nengrenze jetzt keine parallele Anordnung der Spins vorliegen haben und somit Austausch-
energie verlieren. Die Energieerhöhung EWand durch Domänenwände werden wir in Ab-
schnitt 12.8.3 diskutieren. Bezüglich der Minimierung der Streufeldenergie ist es besonders
günstig, wenn die antiparallel orientierten Domänen durch so genannte Abschlussdomänen
begrenzt sind (siehe Abb. 12.33d). Die Wand zwischen einer Abschlussdomäne und einer
in Abb. 12.33 senkrecht verlaufenden Domäne bildet mit der Magnetisierungsrichtung in
beiden Domänen einen 45○ Winkel. In diesem Fall gehen die Normalkomponenten der Ma-
gnetisierung an der Domänengrenze stetig ineinander über. Es treten deshalb keine magne-
tischen Pole auf und das magnetische Streufeld außerhalb des betrachteten Festkörpers ver-
schwindet. Allerdings müssen wir berücksichtigen, dass die Anisotropieenergie im Bereich
der Abschlussdomänen zu einer Energieerhöhung führt, da hier die Magnetisierungsrich-
tung nicht in die bevorzugte Richtung zeigt.
Um die Domänenstruktur zu bestimmen, müssen wir die totale freie Enthalpie des Systems
ermitteln, indem wir die Enthalpiedichte (12.7.2) aufintegrieren. Wir erhalten66

𝒢tot = ∫ (︀fform + fmc + find + fWand − M ⋅ Bext ⌋︀ dV , (12.8.2)

66
Wir weisen darauf hin, dass das Streu- bzw. Entmagnetisierungsfeld bereits über die Formani-
sotropie eingeht. Bei der Diskussion der magnetischen Anisotropie haben wir aber immer nur
eindomänige Systeme betrachtet und überlegt, in welche Richtung die Magnetisierung in solchen
Systemen durch das Wechselspiel von magnetokristalliner Anisotropie, Formanisotropie und in-
744 12 Magnetismus

wobei wir die sich aus den Maxwell-Gleichungen ergebenden Zusatzbedingungen ∇ ⋅ Bs = 0


und ∇ × Bs = 0 erfüllen müssen. Insgesamt erhalten wir eine komplizierte Integro-Differen-
tialgleichung, die wir nur numerisch lösen können. Die gesuchte Domänenstruktur ergibt
sich durch Minimieren der gesamten freien Enthalpie. Im Allgemeinen können Domänen-
strukturen eine sehr komplizierte Form haben.67 Es ist aber sofort einsichtig, dass ihre phy-
sikalische Ursache immer darin begründet ist, dass das magnetische System seine Energie
durch einen Übergang von einer gesättigten, eindomänigen Konfiguration zu einer Konfi-
guration mit einer Domänenanordnung erniedrigen kann. Die Form der Domänenstruktur
wird dabei durch die Minimierung der Gesamtenergie aus magnetischer Feldenergie, Ani-
sotropieenergie, Wandenergie und der Zeeman-Energie bestimmt.

12.8.2 Antiferromagnetische Domänen


In Antiferromagneten gibt es keine Streufelder. Deshalb könnten wir davon ausgehen, dass
die energetisch günstigste Konfiguration ein eindomäniger Zustand ist. In der Realität neh-
men aber auch Antiferromagnete mehrdomänige Zustände an. Eine häufige Ursache dafür
sind strukturelle Defekte (z. B. Zwillings- oder Korngrenzen), welche die langreichweitige
Ordnung der Spins stören und dadurch eine Änderung der Spinrichtung bewirken können.
Selbst in einem perfekten Kristall kann durch Bildung von Domänen die Entropie erhöht
werden. Falls die damit verbundene Änderung −TdS der freien Energie größer ist als die zur
Bildung von Domänenwänden notwendige Energie, wird ein Multidomänenzustand ther-
modynamisch stabil.

12.8.3 Domänenwände
Zwischen zwei in unterschiedliche Richtungen magnetisierten Domänen in einem ferro-
magnetischen Material muss ein Bereich auftreten, in dem sich die Spin-Richtung ändert.
Wir wollen in diesem Abschnitt zeigen, dass sich beim Übergang von einer Domäne zur
benachbarten die Spin-Richtung nicht sprunghaft von einem Gitteratom zum nächsten än-
dert, sondern dass die Richtungsänderung innerhalb einer so genannten Domänenwand in
vielen kleinen Schritten über einen breiteren Bereich erfolgt. Man unterscheidet zwischen
zwei Typen von Domänenwänden, der Bloch-Wand und der Néel-Wand, je nachdem ob die
Änderung der Spin-Richtung in einer Ebene verläuft, die parallel oder senkrecht zur Domä-
nenwand ist.

12.8.3.1 Bloch-Wand
Bei einer Bloch-Wand erfolgt die Änderung der Spin-Richtung in einer Ebene, die paral-
lel zur Domänenwand ist. In Abb. 12.34a ist die Änderung der Spin-Orientierung in einer

duzierter Anisotropie zeigt. Jetzt betrachten wir mehrdomänige Systeme, bei denen jede einzelne
Domäne Entmagnetisierungsfelder erzeugt und wiederum selbst den Streufeldern der Nachbardo-
mänen unterliegt.
67
Alex Hubert, Rudolf Schäfer, Magnetic Domains: The Analysis of Magnetic Microstructures, Sprin-
ger-Verlag Berlin Heidelberg (1998).
12.8 Magnetische Domänen 745

dB dN

(a) (b)

Abb. 12.34: Schematische Darstellung der Spin-Orientierung in einer 180○ Bloch-Wand (a) und einer
180○ Néel-Wand (b) zwischen zwei in entgegengesetzte Richtung magnetisierten Domänen.

180○ Bloch-Wand schematisch dargestellt. Die Austauschkopplung zwischen zwei Spins, die
miteinander den Winkel φ einschließen, ist gegeben durch

S2
E φ = −J A cos φ . (12.8.3)
ħ2
Da cos φ ≤ 1, wird bei einer Verkippung benachbarter Spins die Austauschenergie reduziert.
Um diese Reduktion abzuschätzen, betrachten wir zwei Fälle: (i) Wir ändern die relative
Richtung der Spins nur an einer einzigen Stelle und zwar um 180○ , (ii) wir ändern die Spin-
Richtung kontinuierlich in n Schritten um kleine Winkel φ = 180○ ⇑n, so dass wir insgesamt
wieder eine Änderung um 180○ erhalten. Für die Änderung der Spin-Richtung an einer Stelle
um 180○ erhöhen wir die Energie um

S2
∆E 1 = 2J A , (12.8.4)
ħ2
2 2
da wir die Austauschkopplung von −J A ħS 2 nach +J A ħS 2 ändern. Für die Änderung in n kleinen
Winkelschritten erhalten wir nach (12.8.3)

S2 S2 φ2
E n = −nJ A cos φ = −nJ A (1 − ). (12.8.5)
ħ2 ħ2 2

Hierbei haben wir die Näherung cos φ ≃ 1 − 12 φ 2 verwendet, da φ ein kleiner Winkel sein
soll. Für die Änderung der Austauschkopplung gegenüber paralleler Ausrichtung ergibt sich
also
S 2 (nφ)
2
S 2 φ2 1 π2 S2
∆E n = nJ A 2
= ⋅ JA 2 = ⋅ JA 2 . (12.8.6)
ħ 2 n ħ 2 2n ħ
Vergleichen wir diesen Energiezuwachs ∆E n mit dem Zuwachs ∆E 1 , den wir für nur eine
einzige Winkeländerung um den gesamten Winkel 180○ = nφ erhalten haben, so ergibt sich
offensichtlich folgender Zusammenhang

1 π2 S 2 1 π2
∆E n = 2J A 2 = ∆E 1 . (12.8.7)
n 4 ħ n 4
746 12 Magnetismus

Wir sehen also, dass wir den Energiezuwachs klein halten können, indem wir die Anzahl n
der Kippschritte an einer Bloch-Wand vergrößern, das heißt, indem wir die Bloch-Wand
dicker machen.
Unsere bisherige Betrachtung würde natürlich implizieren, dass wir eine Bloch-Wand im
Prinzip unendlich breit machen sollten. Wir müssen allerdings bei unserer Analyse einen
weiteren Energieterm berücksichtigen, nämlich die Anisotropieenergie. Aufgrund der Ani-
sotropieenergie müssen wir Energie aufbringen, um einen Spin aus seiner energetisch güns-
tigsten Richtung (leichte Achse) herauszukippen. Da aber die Spin-Richtungen innerhalb
der Bloch-Wand fast alle nicht in die energetisch günstigste Richtung zeigen, ist es im Hin-
blick auf die Anisotropieenergie am besten, die Bloch-Wand möglichst dünn zu machen. Da
die Anisotropieenergie mit zunehmender Dicke der Bloch-Wand zunimmt, der Energiezu-
wachs aufgrund der Austauschkopplung dagegen abnimmt, stellt sich eine optimale Dicke
der Bloch-Wand ein, bei der die Summe der beiden Energien minimal ist.
Wir wollen die optimale Dicke einer 180○ Bloch-Wand (nφ = π) für ein kubisch primitives
Gitter mit Gitterkonstante a abschätzen. Für den Energiezuwachs pro Flächeneinheit F = a 2
aufgrund der Austauschkopplung gilt nach (12.8.6)
2
S
∆E n π 2 J A ħ 2
= . (12.8.8)
F 2na 2
Hierbei ist 1⇑a 2 die Anzahl der Spins pro Flächeneinheit. Die Anisotropieenergie pro Flä-
cheneinheit können wir näherungsweise schreiben als

∆E ani
≃ Kna , (12.8.9)
F
das heißt, als Produkt aus Isotropiekonstante K und Breite na der Bloch-Wand. Damit er-
halten wir für die Wandenergie

E Wand π 2 J A S 2
= 2 + Kna . (12.8.10)
F ħ 2na 2
Dieser Ausdruck besitzt ein Minimum für
1 ∂E Wand π2 J A S 2
= − 2 2 2 + Ka = 0 , (12.8.11)
F ∂n ħ 2n a
das heißt, für die Wanddicke

1⇑2
π2 J A S 2
d B = na = ( ) . (12.8.12)
ħ 2 2Ka

Wir sehen, dass die Breite d B der Bloch-Wand umso größer wird, je größer der Wert der
Kopplungskonstante J A und je kleiner die Anisotropiekonstante K ist. Für Eisen beträgt die
Dicke einer Bloch-Wand typischerweise 40 nm bzw. n ≃ 300.
12.8 Magnetische Domänen 747

12.8.3.2 Néel-Wand
In dünnen Filmen ist die Ausbildung einer Bloch-Wand energetisch ungünstig, da im Wand-
bereich die Magnetisierungsrichtung aus der Filmebene herausdrehen müsste, was zu einem
großen Streufeld führen würde. Es treten hier bevorzugt Néel-Wände auf (siehe Abb. 12.34b),
bei denen die Spins in einer Ebene senkrecht zur Wandfläche drehen. Die obige Ableitung
für die Dicke der Domänenwand gilt auch für Néel-Wände, wobei für die Néel-Wand noch
ein zusätzlicher Streufeldbeitrag berücksichtigt werden muss. In sehr dünnen Filmen wer-
den Oberflächenbeiträge zur magnetokristallinen Anisotropie wichtig, so dass hier wegen
der großen Oberflächenbeiträge wiederum Bloch-Wände auftreten können.

12.8.4 Abbildung der Domänenstruktur


Die Domänenstruktur kann experimentell mit Hilfe von magnetooptischen Verfahren, der
so genannten Bitter-Technik oder mit Hilfe von spin-polarisierter Rasterelektronenmikro-
skopie abgebildet werden. Bei der magnetooptischen Abbildung wird über der Probe ein
dünner magnetooptischer Film aufgebracht, der die Polarisationsebene von linear polari-
siertem Licht je nach vorliegender Magnetisierungsrichtung aufgrund des Faraday-Effekts
in entgegengesetzte Richtungen dreht. Die Drehung kann über einen Analysator in einen
Hell-Dunkel-Kontrast umgewandelt werden. Die räumliche Auflösung dieser Technik ist
aufgrund der verwendeten Lichtoptik auf etwa 1 µm beschränkt. Bei der Bitter-Technik wird
Eisenpulver zur Dekoration der Domänenstruktur verwendet. Das Eisenpulver lagert sich
bevorzugt an den Domänengrenzen an, an denen starke lokale Streufelder auftreten, die das
Eisenpulver anziehen. Die räumliche Anordnung des Eisenpulvers kann mit einem Licht-
oder Rasterelektronenmikroskop abgebildet werden. Mit sehr hoher Auflösung können ma-
gnetische Domänenstrukturen auch mit Hilfe eines Spin-Rasterelektronenmikroskops auf-
genommen werden, bei dem die Spin-Richtung der aus dem magnetischen Film austreten-
den Sekundärelektronen analysiert wird.

Laserstrahl

Balken

Abb. 12.35: Magnetische Raster-Kraftmikrosko-


pie (MFM: Magnetic Force Microscopy).

Eine hohe räumliche Auflösung im Bereich zwischen 10 und 100 nm erhält man ebenfalls
mit der Magnetischen Rasterkraftmikroskopie (MFM: Magnetic Force Microscopy, siehe
Abb. 12.35), bei der die unmagnetische Spitze eines gewöhnlichen Rasterkraftmikroskops
durch eine ferromagnetische Spitze ersetzt wird und die Kraft aufgrund der Wechselwir-
kung zwischen ferromagnetischer Spitze und dem Streufeld über einer magnetischen Pro-
be gemessen wird. Auf die ferromagnetische Spitze wirkt aufgrund des Feldgradienten eine
Kraft, die die Spitze zur Probe hin oder von der Probe weg bewegt. Die daraus resultieren-
748 12 Magnetismus

de Verbiegung des Balkens kann mit Hilfe der Ablenkung eines auf den Balken treffenden
Laserstrahls bestimmt werden.

12.8.5 Magnetisierungskurve
Mit unseren jetzigen Kenntnissen können wir diskutieren, wie sich die Magnetisierung ei-
nes ferromagnetischen Materials als Funktion eines äußeren Magnetfeldes verhält. Bringen
wir ein ferromagnetisches Material in ein äußeres Magnetfeld, so müssen wir zusätzlich zu
den oben genannten Energiebeiträgen (magnetostatische Selbstenergie, Wandenergie, Ani-
sotropieenergie) auch noch den Energiebeitrag durch das äußere Feld (Zeeman-Energie)
berücksichtigen. Letzterer versucht, die Magnetisierung parallel zum äußeren Feld zu stel-
len. Erhöhen wir das äußere Magnetfeld, so ändert sich aufgrund des zusätzlichen Energie-
beitrags die Domänenstruktur des ferromagnetischen Materials. Zuerst erfolgt bei kleinen
Feldstärken eine Wandverschiebung, die anfangs reversibel und bei höheren Feldern irrever-
sibel verläuft. Diese bewirkt ein Wachstum von Domänen mit einer relativ zum äußeren
Feld günstigen Magnetisierungsrichtung und einem Schrumpfen von solchen mit ungüns-
tiger Richtung. Anschließend folgen bei höheren Feldstärken Rotationsprozesse, bei denen
die Magnetisierungsrichtung in Feldrichtung gedreht wird (siehe hierzu Abb. 12.36, links).

(a) 𝑴
𝑴𝒔
𝑩𝐞𝐱𝐭 = 𝟎 𝑴𝒓
irreversible Drehung
Wandver- der
schiebung Magneti-
(b) sierungs-
richtung
𝑩𝐞𝐱𝐭
−𝑩𝒌 reversible 𝑩𝒌 𝑩𝐞𝐱𝐭
Wandver-
schiebung
(c)
−𝑴𝒓
𝑩𝐞𝐱𝐭
−𝑴𝒔

Abb. 12.36: Links: Schematische Darstellung der Änderung der Domänenstruktur eines einkristalli-
nen Ferromagneten unter dem Einfluss eines äußeren Magnetfeldes B ext = µ 0 H ext : (a) B ext = 0, (b) Be-
126
reich der Wandverschiebung, (c) Bereich der Drehung der Magnetisierung in Richtung des angelegten
Magnetfeldes. Rechts: Magnetisierungskurve eines Ferromagneten mit Sättigungsmagnetisierung M s ,
Remanenz M r und Koerzitivfeld B k .

Aus den eben beschriebenen Prozessen folgt die in Abb. 12.36 (rechts) gezeigte Magnetisie-
rungskurve eines Ferromagneten, die eine ausgeprägte Hysterese besitzt. Der steile Anstieg
der Kurve bei kleinen Feldstärken resultiert aus der Wandverschiebung, während der fla-
che Verlauf bei höheren Feldstärken durch Drehprozesse verursacht wird. Schalten wir das
Magnetfeld nach einer vollen Aufmagnetisierung des Ferromagneten wieder ab, so geht die
Magnetisierung nicht auf null zurück, sondern es verbleibt die mit M r gekennzeichnete Re-
12.8 Magnetische Domänen 749

manenz zurück. Um die remanente Magnetisierung zu beseitigen, müssen wir das Magnet-
feld in entgegengesetzte Richtung bis zum Koerzitivfeld B k erhöhen.
Beim Durchfahren einer kompletten Hystereseschleife wird die Energiedichte ∮ µ 0 MdH ext
dissipiert, die proportional zur Fläche der Hystereseschleife ist. Für Transformatorkerne,
bei denen die Hystereseschleife periodisch durchfahren wird, verwendet man deshalb mög-
lichst Materialien, bei denen die Hystereseschleife sehr klein ist. Dies erreicht man z. B.
durch sehr kleine Koerzitivfelder (magnetisch weiche Materialien). Die Koerzitivfeldstärke
des für Pulstransformatoren verwendeten Materials Supermalloy (79% Ni, 15% Fe, 5% Mo)
beträgt z. B. nur etwa 0.005 Gauss. Für kommerzielle Netztransformatoren wird meist Fe-
Si(4%) mit B k ≃ 0.5 Gauss verwendet. Für Permanentmagnete will man dagegen möglichst
große Koerzitivfelder (magnetisch harte Materialien) und eine hohe Remanenz haben (z. B.
Fe14 Nd2 B: B k ≥ 1 T, µ 0 M r ≥ 1.2 T). Das hohe Koerzitivfeld verhindert, dass der Haftmagnet
bereits durch kleine Magnetfelder seine Magnetisierung verliert. Die hohe Remanenz resul-
tiert in einer hohen magnetischen Haftkraft.

12.8.6 Magnetische Speichermedien


Eine Hauptanwendung von ferromagnetischen Materialien ist die Datenspeicherung. Da-
bei werden dünne ferromagnetische Schichten verwendet. Diese bestehen aus ferromagne-
tischen Teilchen mit einem mittleren Größe, die je nach Speicherdichte zwischen weniger
als 10 nm und etwa 100 nm variiert. Bei dieser Größe liegt in jedem Teilchen meist nur
noch eine einzelne Domäne vor, wir nennen diese Teilchen dann eindomänig. Ein ideales
eindomäniges Teilchen ist nicht rund, sondern elliptisch oder nadelförmig. Aufgrund der
Formanisotropie (bzw. beim Vorliegen einer starken uniaxialen Anisotropie) sind für die
Magnetisierung nur zwei Richtungen entlang der Nadel bzw. der großen Halbachse der El-
lipse erlaubt.
Das erste erfolgreiche Material für magnetische Speichermedien war τ-Fe2 O3 mit einem
Länge zu Breite-Verhältnis von 5:1 und einem Koerzitivfeld von etwa 200 G bei einer Teil-
chengröße kleiner als 1 µm. Verbesserte Medien wurden dann mit CrO2 Teilchen mit einem
Länge zu Breite-Verhältnis von 20:1 und einem Koerzitivfeld von etwa 500 G realisiert.
Abb. 12.37 zeigt den enormen Fortschritt in der Speicherdichte von magnetischen Fest-
platten. Im Zeitraum von 1984 bis 2000 wurde die Speicherdichte von Festplatten von et-
wa 0.04 Gbit/in2 bis auf etwa 20 Gbit/in2 , also um einen Faktor 500 erhöht. Im Jahr 2012 wur-
den bereits Speicherdichten von mehr als 1 TBit/in2 erreicht. Das heißt, die Speicherdichte
wurde in etwa 2 Jahren jeweils verdoppelt. Die Bit-Größe wurde dabei von etwa 15x1 µm2
bis auf weniger als 30x30 nm2 verkleinert. Diese riesigen Fortschritte waren nur durch die
enorme Weiterentwicklung der Schreib- und Leseköpfe und der für die Speicherung ver-
wendeten ferromagnetischen Schichten möglich.68
Zur Datenspeicherung verwendete ferromagnetische Filme bestehen üblicherweise aus we-
niger als 10 nm großen, eindomänigen ferromagnetischen Teilchen, die magnetisch weit-
gehend voneinander entkoppelt sein müssen. Will man die Bit-Größe weiter verkleinern,
68
Shan X. Wang, Alex M. Taratorin, Magnetic Information Storage Technology, Academic Press, San
Diego (1999).
750 12 Magnetismus

so muss auch die Größe dieser Teilchen verkleinert werden, um eine gleichbleibende Zahl
von Teilchen pro Bit zu gewährleisten und dadurch statistische Schwankungen im Lesesi-
gnal klein zu halten. Dies führt allerdings zum Problem des so genannten Superparama-
gnetismus. Die Anisotropieenergie der Teilchen wird bei immer kleiner werdendem Volu-
men irgendwann so klein, dass sie in den Bereich der thermischen Energie k B T kommt. Die
Teilchen können dann ihre Magnetisierungsrichtung durch thermische Aktivierung drehen.
Der gesamte magnetische Film verhält sich somit wie ein System von nicht wechselwirken-
den magnetischen Momenten, deren Ausrichtung aufgrund der großen thermischen Ener-
gie im Nullfeld beliebig ist. Das heißt, der magnetische Film verhält sich wie ein Paramagnet.
Da die magnetischen Momente aber immer noch groß gegenüber den atomaren Momenten
sind, spricht man von Superparamagnetismus.
Dem Problem des Superparamagnetismus kann im Prinzip dadurch begegnet werden, dass
Materialien mit einer größeren Anisotropieenergie verwendet werden. Durch Vergrößern
der Anisotropiekonstante K kann das Volumen V eines Bits entsprechend verkleinert wer-
den ohne die magnetische Anisotropieenergie KV zu ändern. Die Vergrößerung der ma-
gnetischen Anisotropie hat aber auch zur Folge, dass beim Schreibvorgang höhere Felder
erzeugt werden müssen, um die Magnetisierungsrichtung zu drehen. Eine Lösung stellt das
Heat-Assisted-Magnetic-Recording-(HAMR-) Verfahren dar. Dabei wird das magnetische
Medium mit einem Laser präzise lokal an der Stelle erwärmt, an der gerade Daten geschrie-
ben werden sollen. Außerdem wird seit etwa 2005 die Magnetisierungsrichtung in den ein-
zelnen Bits nicht mehr in der Ebene des ferromagnetischen Films sondern senkrecht dazu
ausgerichtet (PMR: Perpendicular Magnetic Recording). Dadurch kann einerseits der vom
Schreibkopf erzeugte magnetische Fluss effektiver eingekoppelt werden und somit auch bei
höherem Koerzitivfeld geschrieben werden. Andererseits kann durch das Senkrechtstellen
der magnetischen Bits bei gleichem Bit-Volumen eine höhere Flächendichte erreicht werden.

2000: 17 GB/in²
1990: 0.1 GB/in²
1984: 0.04 GB/in²
Abb. 12.37: Verkleinerung des Bitmusters auf einer magnetischen Festplatte zwischen 1984 und 2000.
Der Bildauschnitt beträgt jeweils 30 × 30 µm2 (Quelle: IBM Deutschland).
12.9 Magnetisierungsdynamik 751

12.9 Magnetisierungsdynamik
Wir haben in Abschnitt 12.7.2 gesehen, dass die Magnetisierung in einem Ferromagneten ei-
ne Vorzugsrichtung hat, die durch ein Minimum der freien Enthalpiedichte gegeben ist. Wir
betrachten im Folgenden die Dynamik der Magnetisierung eines homogen magnetisierten
Ferromagneten unter der Wirkung von äußeren Kräften. Dabei gehen wir zunächst davon
aus, dass die einzelnen Momente im Ferromagneten starr gekoppelt sind und sich nur als Ge-
samtheit phasensynchron drehen können. Das bedeutet, dass wir uns auf die Diskussion der
homogenen Mode mit Wellenzahl q = 0 bzw. Wellenlänge λ = ∞ beschränken. Wir werden
unsere Diskussion in Abschnitt 12.10 bei der Diskussion von Spinwellen auf q > 0 erweitern.
Mit den gemachten Annahmen können wir die Magnetisierung als klassischen Makrospin
betrachten und für seine Bewegung eine klassische Bewegungsgleichung aufstellen.
Im Gleichgewicht zeigt die Magnetisierungsrichtung m = M⇑M in Richtung eines effektives
Magnetfeldes

Beff = B0,ext + B1,ext (t) + Bani + BA , (12.9.1)

das sich aus einem statischen und zeitabhängigen externen Feld sowie einem Feld aufgrund
von Anisotropieeffekten und dem Austauschfeld zusammensetzt. Das Anisotropiefeld
1
Bani = − ∇m gani , (12.9.2)
M
wird durch den Gradienten der freien Enthalpiedichte gani bezüglich der Magnetisierungs-
richtung m bestimmt. Das Austauschfeld BA beschreibt die Wechselwechselwirkung zwi-
schen benachbarten Momenten in der hier gemachten Kontinuumsbeschreibung. Für kleine
Verkippungen φ benachbarter Momente ist es proportional zur Austauschkonstante J A , zur
Dichte n der Momente und zum Quadrat der Verkippung

n na 2 ∇M 2
BA = − JA φ2 = − JA ( ) . (12.9.3)
M M M
Hierbei haben wir die gegenseitige Verkippung der Momente durch φ ≃ ∇ma, d.h. durch
einen Gradienten der Magnetisierungsrichtung m und den Abstand a der Momente aus-
gedrückt. Da wir hier nur die homogene Mode mit parallel angeordneten Momenten, also
φ = 0 diskutieren wollen, ist für die folgende Betrachtung das Austauschfeld nicht relevant.
Es spielt bei den in Abschnitt 12.10.1 diskutierten Austauschmoden eine zentrale Rolle.
Lenken wir M aus seiner Gleichgewichtslage aus, so wirkt ein Drehmoment

T = V M × Beff (12.9.4)

das senkrecht auf M und Bext steht (siehe Abb. 12.38a). Das Drehmoment bewirkt also eine
Präzessionsbewegung des Magnetisierungsvektors um die Feldrichtung. Es liegt damit eine
Situation ähnlich zum Kreisel vor, der einer einwirkenden Kraft (z.B. der Schwerkraft) eben-
falls senkrecht ausweicht. Ohne Dämpfung besteht die Präzessionsbewegung für alle Zeiten
fort.
752 12 Magnetismus

(a) 𝑩𝐞𝐟𝐟 (b) 𝑩𝐞𝐟𝐟


𝒅𝑴
𝑴×
𝒅𝒕

𝑴
𝑴 −𝑴 × 𝑩𝐞𝐟𝐟

Abb. 12.38: Zur Ableitung der Landau-Lifshitz-Gilbert-Gleichung. Die Auslenkung der Magnetisie-
rung aus ihrer Gleichgewichtslage parallel zum effektiven Magnetfeld resultiert in einer Präzessions-
bewegung um Beff . In (a) ist der Fall ohne in (b) mit Dämpfung gezeigt.

Das gesamte magnetische Moment µ = V M der Probe ist mit dem Drehimpuls
µ V
L=− =− M (12.9.5)
γ γ
verbunden, wobei γ = g µ B ⇑ħ das gyromagnetische Verhältnis ist. Aus T = dL⇑dt folgt dann
die Bewegungsgleichung
dM
= −γ M × Beff . (12.9.6)
dt
Diese Gleichung, die sich sowohl klassisch als auch quantenmechanisch herleiten lässt, wur-
de erstmals 1935 von Landau und Lifshitz formuliert. Multiplizieren wir diese Gleichung
von links mit M, so erhalten wir
dM 1 d 2
M⋅ = M = −γ M ⋅ (M × Beff ) = 0 . (12.9.7)
dt 2 dt
Wir sehen also, dass der Betrag der Magnetisierung zeitlich konstant bleibt. Landau und
Lifshitz haben Gleichung (12.9.6) mit einem phänomenologischen Dämpfungsterm

F λ = λ M × (M × Beff ) . (12.9.8)

erweitert, um Dissipationseffekte zu berücksichtigen. Hierbei ist λ = −ηγ⇑M mit dem di-


mensionslosen Dämpfungsparameter η. Der Dämpfungsterm steht senkrecht zum Präzessi-
onsterm und führt zu einer Relaxation von M in Richtung des effektiven Feldes. Damit ergibt
sich insgesamt die Landau-Lifshitz-Gleichung 69
dM
= −γ M × Beff + λ M × (M × Beff ) . (12.9.9)
dt
Sie beschreibt die gedämpfte Präzessionsbewegung von M nach Auslenkung aus der Gleich-
gewichtslage, die zu einer spiralförmigen Bahn um Beff führt (siehe Abb. 12.38b).
69
L. D. Landau, E. M. Lifshitz, Theory of the dispersion of magnetic permeability in ferromagnetic bo-
dies, Phys. Z. Sowjetunion 8, 153 (1935).
12.9 Magnetisierungsdynamik 753

20 Jahre nach der Formulierung der Landau-Lifshitz-Gleichung stellte Gilbert fest, dass der
von Landau und Lifshitz eingeführte Dämpfungsterm für große λ zu einem unphysikali-
schen Verhalten führt.70 Gilbert erweiterte deshalb den Dämpfungsterm um einen Dissi-
pationsterm, der die Ankopplung an ein Wärmebad berücksichtigt. Die von ihm erhaltene
Gilbert-Gleichung lautet71 , 72
dM dM
= −γ M × Beff + α M × . (12.9.10)
dt dt
Diese Gleichung kann in die Landau-Lifshitz-Gilbert-Gleichung 73

dM γ αγ
=− M × Beff + M × (M × Beff ) (12.9.11)
dt 1 + α2 M2 1 + α2 M2
transformiert werden, welche die Korrektur des Dämpfungsterms durch Gilbert enthält,
aber ansonsten die gleiche Struktur wie die Landau-Lifshitz-Gleichung (12.9.9) besitzt. Üb-
licherweise wird der dimensionslose Parameter G = αM als Gilbert-Dämpfungskonstante
bezeichnet. Die Landau-Lifshitz-Gilbert-Gleichung liefert auch für große Dämpfungspara-
meter physikalisch sinnvolle Ergebnisse. Der von Gilbert eingeführte neue dimensionslose
Dämpfungsparameter G = αM ist wie η eine rein phänomenologische Größe, welche die
Stärke von dissipativen Prozessen beschreibt, die aber im Detail nicht bekannt sind. Wir se-
hen, dass in (12.9.11) die Gilbert-Dämpfungskonstante G sowohl im Präzessions- als auch
im Dämpfungsterm auftaucht. Für G ≪ 1 geht die Landau-Lifshitz-Gilbert-Gleichung in die
Landau-Lifshitz-Gleichung über. In diesem Fall können wir G 2 im Nenner vernachlässigen
und αγ mit λ identifizieren.

12.9.1 Ferromagnetische Resonanz


Die Landau-Lifshitz-Gilbert-Gleichung kann zur Erklärung der Ferromagnetischen Reso-
nanz (FMR) verwendet werden. Bei der FMR wird die Magnetisierung einer ferromagne-
tischen Probe in einem hochfrequenten Magnetfeld B1,ext (t) = B1 exp(ıω 1 t) mit Frequen-
zen, die typischerweise im Bereich von 1-100 GHz liegen, zur Präzession um das effektive
Magnetfeld angeregt. Stimmt die Frequenz ω 1 des Hochfreuqenzfeldes mit der Präzessions-
frequenz ω = γB eff überein, so erfolgt resonante Absorption.
Um ein einfaches Verständnis für die FMR zu entwickeln, nehmen wir vereinfachend an,
dass Beff ∏︁B0,ext und B1,ext (t) ⊥ B0,ext . Das durch das externe Wechselfeld erzeugte Dreh-
70
Betrachtet man z.B. eine homogen magnetisierte Kugel, so nimmt die Ummagnetisierungszeit für
größer werdendes λ nach Gleichung (12.9.9) ab, obwohl man das Gegenteil erwartet, da sich die
Magnetisierung aufgrund der größeren Dämpfung ja langsamer bewegen müsste und dadurch die
Ummagnetisierungszeit eigentlich zunehmen sollte.
71
T. L. Gilbert, A Lagrangian formulation of the gyromagnetic equation of the magnetic field, Phys. Rev.
100, 1243 (1955).
72
T. L. Gilbert, A phenomenological theory of damping in ferromagnetic materials, IEEE Trans. Mag.
40, 3443-3449 (2004).
73
Hierzu wenden wir auf beiden Seiten von links M× an und benutzen die Vektoridentität a × b × c =
b(a ⋅ c) − c(a ⋅ b).
754 12 Magnetismus

moment −M × B1 bewirkt eine Verkippung des Magnetisierungsvektors aus der Richtung


des effektiven Magnetfeldes. Da B1,ext (t) aber periodisch sein Vorzeichen ändert, mittelt
sich dieser Beitrag heraus. Dies gilt allerdings nicht für die Resonanzbedingung ω = ω 1 , da
hier der Magnetisierungsvektor mit der gleichen Frequenz wie das externe Magnetfeld prä-
zediert. Verwenden wir ein mit dieser Frequenz rotierendes Bezugssystem, so erhalten wir
die in Abb. 12.39 gezeigte Situation. Das Drehmoment −M × B1 durch das Hochfrequenz-
feld bewirkt eine Verkippung weg von der Feldachse, während der Dämpfungsterm dem ge-
rade entgegenwirkt. Da −M × B1 = −MB 1 cos Θ mit zunehmendem Öffnungswinkel Θ des
Präzessionskonusses abnimmt, während der Dämpfungsterm konstant bleibt, stellt sich ein
Gleichgewichtsöffnungswinkel ein, der durch die Stärke der Dämpfung und die Amplitu-
de des Hochfrequenzfeldes bestimmt wird. Durch die resonante Präzessionsbewegung wird
dem Hochfrequenzfeld Energie entzogen und wir beobachten im Experiment eine Reso-
nanzabsorption. Üblicherweise wird die Frequenz festgehalten und das externe Magnetfeld
variiert. Man beobachtet dann eine Absorptionslinie mit einer Breite ∆B res , die proportio-
nal zur Dämpfung ist. Für den Gleichgewichtsöffnungswinkel gilt Θ ∝ B 1 ⇑∆B res , da die-
ser ja mit zunehmendem B 1 zu und mit steigender Dämpfung abnimmt. Da ω 1 = γB eff =
γ(B 0,ext + B ani ), verschiebt sich die Position B 0,ext der Resonanzlinie, wenn sich das Aniso-
tropiefeld ändert. Rotieren wir z.B. B0,ext in der Ebene senkrecht zu B1 , so können wir die
Winkelabhängigkeit des Anisotropiefeldes in dieser Ebene durch Messung der Winkelab-
hängigkeit der Resonanzposition bestimmen.
Wir haben bisher angenommen, dass Beff ∏︁B0,ext und damit im Gleichgewicht M∏︁B0,ext . Auf-
grund der magnetischen Anisotropie liegt die Magnetisierung im Allgemeinen aber nicht
parallel zum externen Magnetfeld, sondern schließt mit diesem einen endlichen Winkel ein,
was die Beschreibung der FMR wesentlich komplizierter macht. Für eine detailliertere Dis-
kussion verweisen wir auf die Fachliteratur.74 , 75

𝑩𝐞𝐟𝐟 𝑴×
𝒅𝑴
𝒅𝒕

−𝑴 × 𝑩𝐞𝐟𝐟
𝑴
−𝑴 × 𝑩𝟏
Abb. 12.39: Darstellung der unterschiedlichen Drehmo- Θ
mente bei der Ferromagnetischen Resonanz in einem
mit der Resonanzfrequenz rotierenden Bezugssystem. 𝑩𝟏

12.10 Spin-Wellen
Wir haben in Abschnitt 12.6.2.2 gesehen, dass wir die für tiefe Temperaturen beobachte-
te Temperaturabhängigkeit der Sättigungsmagnetisierung von Ferromagneten nicht mit ei-

74
A. H. Morrish, The Physical Principles of Magnetism, IEEE Press, New York (1999).
75
C. Kittel, On the Theory of Ferromagnetic Resonance Absorption, Phys. Rev. 73, 155-161 (1948).
12.10 Spin-Wellen 755

ner Brillouin-Funktion beschreiben können. Eine Möglichkeit, die Sättigungsmagnetisie-


rung bzw. das Sättigungsmoment eines Ferromagneten bei tiefen Temperaturen T ≪ TC zu
ändern, ist das Umklappen des magnetischen Moments eines einzelnen Gitteratoms (siehe
Abb. 12.41b). Die Energie, die wir dafür benötigen, wird durch die Austauschkopplung J A
mit den Nachbarmomenten bestimmt. Dies trifft im Prinzip sowohl für die magnetischen
Momente lokalisierter Elektronen zu als auch für diejenigen von delokalisierten Elektro-
nen, die wir mit einem Bandmodell beschrieben haben. Im Rahmen des Bandmodells des
Ferromagnetismus entspricht das Umklappen des Spins eines Leitungselektrons einem In-
terbandübergang z. B. vom Spin-↑ ins Spin-↓-Subband, die durch die Austauschkopplung
energetisch aufgespalten sind. Die minimale Energie, die für einen solchen Prozess benötigt
wird, ist durch den Abstand der Oberkante des Majoritäts-Spinbandes und der Fermi-Kante
gegeben und wird Stoner-Lücke ∆ genannt (siehe Abb. 12.40).

𝑬
𝑬𝐅
𝚫

𝑫 𝑬 Abb. 12.40: Stoner-Lücke.

Wir wollen in diesem Abschnitt eine weitere Möglichkeit für die Änderung des Gesamt-
moments diskutieren. Statt nur das Moment eines einzelnen Gitteratoms ganz umzudrehen,
können wir auch die Momente aller Gitteratome um nur einen kleinen Betrag ändern, das
heißt, wir können die Anregung auf alle Gitteratome aufteilen. Wir sprechen in diesem Fall
von kollektiven Anregungen des gesamten Systems. Diese kollektiven Anregungen bezeich-
nen wir als Spin-Wellen. Ihre mathematische Beschreibung ist weitgehend ähnlich zur Be-
schreibung von Gitterschwingungen. Spin-Wellen sind Oszillationen in der relativen Orien-
tierung von magnetischen Momenten auf einem Gitter. Gitterschwingungen sind Oszillatio-
nen der relativen Positionen von Atomen auf einem Gitter. Da der Betrag des magnetischen
Moments gleich bleibt, benötigen wir nur zwei Freiheitsgrade, um die Bewegung einer Spin-
Wellenanregung zu beschreiben. Die Dimensionalität der Anregungen ist damit kleiner als
154
bei Gitterschwingungen. Die Energie der Spin-Wellen ist quantisiert. Die Quanten der Spin-
Wellen bezeichnen wir als Magnonen. Sie lassen sich wie andere elementare Anregungen
(wie z. B. Phononen) als Quasiteilchen auffassen, die der Bose-Einstein-Statistik gehorchen.
Spin-Wellen spielen in ferro-, ferri- und antiferromagnetischen Materialien eine wichtige
Rolle. Wir werden sie anhand von ferromagnetischen Materialien einführen und später in
Abschnitt 12.10.3 auch kurz auf Spin-Wellen in Antiferromagneten eingehen.
In Abschnitt 12.9 haben wir bereits die Dynamik des Spin-Systems für den Fall verschwin-
dender Wellenzahl (q = 0) bzw. großer Wellenlänge (λ = ∞) diskutiert (homogene Mode).
Wir werden jetzt eine Verallgemeinerung für endliche Wellenzahlen q > 0 vornehmen. Für
die homogene Mode konnten wir den Beitrag des Austauschfeldes B A zum effektiven Feld
B eff [vergleiche (12.9.2)] vernachlässigen, da ja bei der uniformen Bewegung alle Spin par-
756 12 Magnetismus

allel ausgerichtet bleiben. Dies ändert sich, wenn wir zu großen q bzw. kleinen λ übergehen.
Da jetzt die gegenseitige Verkippung der Spins groß wird, ist die Austauschwechselwirkung
zwischen den magnetischen Momenten die dominierende Wechselwirkung. Entsprechend
sprechen wir von Austauschmoden. Für kleiner werdende q bzw. größer werdende λ wird
der Einfluss der Austauschwechselwirkung kleiner und es überwiegt dann irgendwann wie-
der der Beitrag der magnetischen Anisotropie. Da bei großen Wellenlängen häufig dipolare
Wechselwirkungen aufgrund von Streufeldern (Formanisotropie) dominant werden, spre-
chen wir hier auch von dipolaren Moden.

12.10.1 Austauschmoden
Wir werden im Folgenden zunächst die Austauschmoden diskutieren. Dabei nehmen wir
eine semi-klassische Beschreibung vor, bei der wir die magnetischen Momente, die wir ja
durch quantenmechanische Drehimpulsoperatoren beschreiben müssten, durch klassische
Vektoren der Länge S = ⋃︀S⋃︀ ersetzen. Im Rahmen des Heisenberg-Modells (12.5.7) erhalten
wir für die Kopplungsenergie eines Spins mit seinem linken und rechten Nachbarn in einer
Spin-Kette bei paralleler Spin-Stellung (siehe Abb. 12.41a)

JA JA JA
EA = − (S i−1 ⋅ Si + S i ⋅ S i+1 ) = − 2 S i ⋅ (S i−1 + S i+1 ) = −2 2 S 2 . (12.10.1)
ħ2 ħ ħ
Hierbei ist wichtig, dass das letzte Gleichheitszeichen nur dann gilt, wenn wir die Spins als
klassische Vektoren der Länge S auffassen. Klappen wir den Spin S i um, so erhalten wir E A =
+2J A S 2 ⇑ħ 2 . Das heißt, die Anregungsenergie beträgt 4J A S 2 ⇑ħ 2 . Es kann gezeigt werden, dass
die semi-klassische Behandlung zum gleichen Ergebnis wie eine exakte quantenmechanische
Behandlung führt.76 Um die Diskussion einfach zu halten, werden wir wie bei der Diskussi-
on der Gitterschwingungen in Kapitel 5 ein eindimensionales System, also eine Spin-Kette
aus N Spins betrachten und annehmen, dass wir nur Wechselwirkungen zwischen nächsten

(a) (b)

(c)

(d)

Abb. 12.41: (a) Klassisches Bild des Grundzustandes eines Ferromagneten: alle magnetischen Momen-
te sind parallel ausgerichtet. (b) Eine mögliche Anregung des Grundzustandes ist das Umklappen eines
einzelnen Moments. Eine weitere Anregungsmöglichkeit sind Spin-Wellen. In (c) und (d) ist eine Spin-
Welle in einer linearen Kette gezeigt [(c) perspektivische Darstellung und (d) Blick auf die Spins von
oben].
76
D. D. Stancil, A. Prabhakar, Spin Waves: Theory and Applications, Springer Verlag, Berlin (2009).
12.10 Spin-Wellen 757

Nachbarn haben. Die Wechselwirkungsenergie eines Spins S i am Gitterplatz i mit seinem


linken und rechten Nachbarn S i−1 und S i+1 ist dann gerade durch (12.10.1) gegeben. Die
gesamte Austauschenergie erhalten wir durch Aufsummieren über alle nächste Nachbar-
wechselwirkungen zu

JA N
EA = − ∑ S i ⋅ (S i−1 + S i+1 ) . (12.10.2)
ħ 2 i=1

Das mit dem Spin S i verbundene magnetische Moment beträgt


Si
µ i = −g s µ B . (12.10.3)
ħ
Schreiben wir nun wieder formal die Austauschenergie als
N
E A = − ∑ µ i ⋅ B A,i , (12.10.4)
i=1

also als Produkt eines magnetischen Moments µ i und eines Austauschfeldes B A,i , so erhalten
wir mit Hilfe von (12.10.2)
JA
B A,i = − (S i−1 + S i+1 ) . (12.10.5)
gs µB ħ

Schalten wir zusätzlich eine externes Magnetfeld Bext ein, so beträgt das effektive Feld
JA
Beff ,i = Bext + B A,i = Bext − (S i−1 + S i+1 ) . (12.10.6)
gs µB ħ

In einer semi-klassischen Behandlung ist die zeitliche Ableitung des Drehimpulses S i gleich
dem am Spin S i angreifenden Drehmoment. Es gilt also

dS i gs µB
= (µ i × Beff ,i ) = − (S i × Beff ,i ) = −γ(S i × Beff ,i )
dt ħ
gs µB JA
=− (S i × Bext ) + 2 (︀S i × (S i−1 + S i+1 )⌋︀ . (12.10.7)
ħ ħ
Hierbei ist γ = g s µ B ⇑ħ das gyromagnetische Verhältnis. In kartesischen Koordinaten erhal-
ten wir dann
dS i,x gs µB
=− (S i, y B ext
z − Siz B y )
ext
dt ħ
JA
+ 2 )︀S i, y (S i−1,z + S i+1,z ) − S i,z (S i−1, y + S i+1, y )⌈︀ (12.10.8)
ħ
dS
sowie durch zyklisches Vertauschen von x, y und z zwei weitere Gleichungen für d i,t y
und dSd ti,z . Diese Gleichungen sind in den Spin-Komponenten nichtlinear. Wir können
allerdings eine Linearisierung erreichen, indem wir annehmen, dass wir uns bei genügend
tiefen Temperaturen befinden, bei denen annähernd eine vollständige Magnetisierung
758 12 Magnetismus

in Richtung des angelegten Feldes vorliegt. Ist Bext ∥ ⧹︂ z, so ist ⋃︀S i,x ⋃︀, ⋃︀S i, y ⋃︀ ≪ ⋃︀S i,z ⋃︀ und wir
können Terme, die quadratisch in ⋃︀S i,x ⋃︀ und ⋃︀S i, y ⋃︀ sind, vernachlässigen. Außerdem können
wir S z ≃ −⋃︀S⋃︀ = −S setzen. Hierbei haben wir durch das negative Vorzeichen von S berück-
sichtigt, dass die Ausrichtung des magnetischen Moments µ = −g s µ B S⇑ħ und damit der
Magnetisierung M ∝ µ parallel zum äußeren Feld, also in positive z-Richtung erfolgt.
Mit B ext = B z = B und den gemachten Näherungen erhalten wir aus (12.10.8)
dS i,x gs µB B JAS
=− S i, y − 2 )︀2S i, y − S i−1, y − S i+1, y ⌈︀ (12.10.9)
dt ħ ħ
dS i, y gs µB B JAS
=+ S i,x + 2 (︀2S i,x − S i−1,x − S i+1,x ⌋︀ (12.10.10)
dt ħ ħ
dS i,z
=0 (12.10.11)
dt
Als Lösungsansatz verwenden wir ebene Wellen der Form (siehe hierzu Abb. 12.41c und d)

S i,x = S x e ı(qi a−ωt) (12.10.12)


S i, y = S y e ı(qi a−ωt) , (12.10.13)
wobei a der Abstand der Gitteratome in der linearen Kette ist. Setzen wir den Lösungsansatz
in (12.10.9) und (12.10.10) ein, so erhalten wir das Gleichungssystem
ıωS x − βS y = 0
(12.10.14)
βS x + ıωS y = 0
mit
g s µ B B 2J A S
β= + 2 (1 − cos qa) . (12.10.15)
ħ ħ
Das Gleichungssystem (12.10.14) liefert nur dann von null verschiedene Werte für S x und S y ,
wenn die Koeffizienten-Determinate verschwindet, also wenn
ıω −β
⋁︀ ⋁︀ = 0 (12.10.16)
β ıω
bzw. wenn
ω2 = β2 . (12.10.17)
Damit erhalten wir die in Abb. 12.42 gezeigte Dispersionsrelation der Spin-Wellen zu

g s µ B B 2J A S
ω= + 2 (1 − cos qa) . (12.10.18)
ħ ħ
Für den langwelligen Grenzfall qa ≪ 1 und B = 0 erhalten wir mit 1 − cos qa ≃ 12 (qa)2 die
Näherung
J A Sa 2 2
ω≃ q = Aq 2 . (12.10.19)
ħ2
12.10 Spin-Wellen 759

2.0

1.6
 (2JAS / ћ2)

1.2

0.8

0.4

0.0
Abb. 12.42: Dispersionsrelation für ferromagne-
-1.0 -0.5 0.0 0.5 1.0 tische Spin-Wellen in einer eindimensionalen
q (/a) Spinkette nach Gleichung (12.10.18) für B ext = 0.
156

Die Proportionalitätskonstante A = J A a 2 S⇑ħ wird als Spin-Wellensteifigkeit bezeichnet. Wir


erhalten also eine quadratische Abhängigkeit der Frequenz vom Wellenvektor. Dies steht im
Gegensatz zu den akustischen Gitterschwingungen, für die wir eine lineare Dispersionsre-
lation erhalten haben, wobei die Steigung der Dispersionskurve gerade der Schallgeschwin-
digkeit entsprochen hat.
Mit Gleichung (12.10.17) und (12.10.14) erhalten wir ferner die Beziehung

S y = ıS x . (12.10.20)

Wir sehen, dass die Amplituden von S x und S y gleich groß sind, dass allerdings zwischen ih-
nen eine Phasenverschiebung von π⇑2 besteht. Wir erhalten somit eine zirkulare Präzession
der Spins um die z-Achse mit der Larmor-Frequenz ω = g s µ B B eff ⇑ħ, wobei von Gitteratom
zu Gitteratom zwischen der Präzessionsbewegung der Spins eine Phasenschiebung von qa
besteht (siehe hierzu Abb. 12.41). Für q = 0 präzedieren damit die Spins auf allen Gitterplät-
zen in Phase.
Unsere bisherige Betrachtung, die wir für eine eindimensionale Spin-Kette gemacht haben,
kann leicht auf ein dreidimensionales kubisches Gitter ausgedehnt werden. Für B = 0 erhal-
ten wir die Dispersionsrelation

JAS z
ω= ∑(1 − cos q ⋅ r i ) . (12.10.21)
ħ 2 i=0

Dabei müssen wir die Summation über sämtliche Gittervektoren r i ausführen, die das be-
trachtete Atom mit seinen nächsten Nachbarn verbinden. Bei einem kubisch primitiven Git-
ter sind dies 6, beim kubisch raumzentrierten Gitter 8 und beim kubisch flächenzentrierten
Gitter 12 Vektoren. In allen drei Fällen erhalten wir für den langwelligen Grenzfall qa ≪ 1,
wobei a jetzt die Gitterkonstante des kubischen Gitters ist, die Näherung ω ∝ q 2 .
Die experimentelle Untersuchung der Dispersion der Spin-Wellen erfolgt üblicherweise mit
Hilfe von Spin-Wellenresonanz und inelastischer Neutronenbeugung (vergleiche hierzu Ab-
schnitt 5.5.1). Im Gegensatz zu Röntgenphotonen, die nur die Ladungsverteilung innerhalb
eines Festkörpers sehen, aber nicht, ob diese eine bestimmte Spin-Richtung besitzen, sehen
Neutronen die Verteilung der Kerne und die Verteilung der magnetischen Momente. Dies
760 12 Magnetismus

liegt daran, dass das magnetische Moment der Neutronen mit den magnetischen Momen-
ten der Atome im Festkörper wechselwirkt. Mit Hilfe von elastischer Neutronenstreuung
kann deshalb die Verteilung, die Richtung und die Ordnung der magnetischen Momente
in einem Festkörper bestimmt werden. Ferner kann durch inelastische Neutronenstreuung
die Dispersion von Spin-Wellen bestimmt werden. Dabei wird ein Neutron inelastisch an
der magnetischen Struktur gestreut, wobei ein Magnon mit Energie ħω und Wellenvektor q
erzeugt oder vernichtet wird. Üblicherweise wird für den langwelligen Grenzfall die Spin-
Wellensteifigkeit A = ħω⇑q 2 = J A a 2 S⇑ħ bestimmt, aus der dann die Austauschkonstante ab-
geleitet werden kann. Für Fe, Co und Ni werden die Werte 281, 500 und 364 meVÅ2 erhalten.
In Neutronen-Streuexperimenten werden Spin-Wellen bis nahe an die Curie-Temperatur ge-
funden.

12.10.1.1 Stoner-Anregungen

𝑬 (a) 𝑬 (b)
𝑬↓
Abb. 12.43: (a) Schematische Dar-
stellung der Dispersionrelation von 𝑰
Spin-Wellen und des Anregungs- Stoner 𝑬𝐅 𝚫
Anregungen 𝑬↑
spektrums der Einelektronenanre- 𝑰
gungen mit Spin-Umkehr in einem
Ferromagneten. In (b) ist die Band- 𝚫 𝒒𝐦𝐢𝐧
struktur mit der Austauschaufspal- Spin-Wellen
tung I und der Stoner-Lücke ∆ gezeigt. 𝟎 𝒒𝐦𝐢𝐧 𝒒 𝟎 𝒌

In Abb. 12.43 ist die Dispersionsrelation von Spin-Wellen zusammen mit dem Spektrum der
Einzelelektronenanregungen gezeigt. Letztere werden Stoner-Anregungen genannt. Man er-
hält sie durch Anregung eines Elektrons von dem Majoritäts-Spinband in das Minoritäts-
Spinband. Hierzu ist für q = 0 (wir benutzen q für den Wellenvektor der Anregung und k
für den Wellenvektor der Elektronen) eine Anregungsenergie I notwendig. Hierbei ist I die 157

Austauschaufspaltung der beiden Spin-Bänder, die proportional zu zJ A ist (z ist die Zahl
der nächsten Nachbarn). Für q ≠ 0 gibt es ein ganzes Spektrum von möglichen Anregun-
gen (schraffierte Fläche in Abb. 12.43), das sich aus der Dispersion der Einelektronenzu-
stände ergibt. Die minimale Anregungsenergie ist durch die Stoner-Lücke ∆ gegeben. Die
Stoner-Lücke gibt gerade die Energie an, die benötigt wird, um ein Spin-↑-Elektron in einen
Spin-↓-Zustand beim Fermi-Niveau E F anzuregen. Im Gebiet der Einelektronenanregungen
können Spin-Wellen in Einelektronenanregungen zerfallen. Dies reduziert die Lebensdauer
von Spin-Wellen und beeinflusst ferner ihre Dispersion (siehe hierzu Abb. 12.44).

12.10.1.2 Temperaturabhängigkeit der Magnetisierung von Ferromagneten


durch Spin-Wellenanregung
Durch die Anregung eines Magnons wird der Gesamtspin des Systems um ħ erniedrigt. Um
die Temperaturabhängigkeit der Magnetisierung aufgrund der Anregung von Magnonen
zu bestimmen, müssen wir nur überlegen, wie sich die Zahl der angeregten Magnonen mit
der Temperatur ändert. Die Magnonen lassen sich als Quasiteilchen auffassen, die der Bose-
Einstein-Statistik gehorchen. Im thermischen Gleichgewicht ist die Besetzungszahl der Ma-
12.10 Spin-Wellen 761

50
Abb. 12.44: Dispersionsrelation für
Spin-Wellen in Ni entlang der [111]-
40 Richtung gemessen bei Raumtem-
peratur. Die gestrichelte Linie zeigt
die ω ∝ q 2 Abhängigkeit bei kleinen

Zonengrenze
30 q-Vektoren. Es kommt zu Abweichun-
 (THz)

gen von der theoretisch erwarteten


Dispersionsrelation von Magnonen
20
durch Wechselwirkungen mit über-
nächsten Nachbarn und durch Wech-
selwirkung der Spin-Wellen mit Sto-
10 Ni [111] ner-Anregungen. Letztere führt zu
einer Reduzierung der Lebensdauer
0 der Spin-Wellen, die sich experimen-
0.0 0.4 0.8 1.2 1.6 tell in einer Linienverbreiterung der
-1
q (Å ) Spektren zeigt (schraffiertes Gebiet).

gnonen mit Wellenvektor q durch die Planck-Verteilung


1
∐︀n q ̃︀ = (12.10.22)
eħω q ⇑k B T −1
gegeben. Die Gesamtzahl der angeregten Magnonen erhalten wir dann zu

∑∐︀n q ̃︀ = ∫ dωD(ω)∐︀n(ω)̃︀ , (12.10.23)


q

wobei D(ω) die Zustandsdichte der Magnonen im Frequenzintervall zwischen ω und ω +


dω ist. Die Integration muss über den Frequenzbereich der erlaubten q-Vektoren erfolgen,
also über die 1. Brillouin-Zone. Allerdings kann bei nicht allzu hohen Temperaturen mit
sehr guter Näherung von 0 bis ∞ integriert werden, da ∐︀n(ω)̃︀ → 0 für ω → ∞.
Wir müssen jetzt noch einen Ausdruck für die Zustandsdichte der Magnonen ableiten. Ma-
gnonen besitzen für jeden Wert von q nur eine Polarisation. Nach der Dispersionsrelation
hängt ferner die Frequenz der Magnonen nur vom Betrag und nicht von der Richtung von q
ab. Damit sind die Flächen konstanter Energie im q-Raum Kugeloberflächen. Mit der Zu-
standsdichte Z(q) = V ⇑(2π)3 im q-Raum erhalten wir deshalb die Zahl der Magnonen im
Frequenzintervall zwischen ω und ω + dω zu
V V dq
D(ω)dω = 4πq 2 dq = 4πq 2 dω . (12.10.24)
(2π)3 (2π)3 dω
Wir benutzen nun die Näherung (12.10.19), mit der wir

⌋︂
1⇑2
dω 2J A Sa 2 q J A Sa 2
= = 2 ( ) ω (12.10.25)
dq ħ2 ħ2
erhalten. Setzen wir dies in (12.10.24) ein, so ergibt sich

⌋︂
3⇑2
V ħ2
D(ω) = ( ) ω. (12.10.26)
4π 2 J A Sa 2
762 12 Magnetismus

Mit dieser Zustandsdichte erhalten wir die Gesamtzahl der angeregten Magnonen zu
3⇑2 ∞ ⌋︂
V ħ ω
∑ nq = 2 ( ) ∫ dω ħω⇑k T
q 4π J A Sa 2 e B −1
0
∞ ⌋︂
V k B T 3⇑2 x
= 2( ) ∫ dx x . (12.10.27)
2
4π J A a S e −1
0

Das Integral hat den Wert 0.0587 ⋅ 4π 2 , so dass wir

V k B T 3⇑2
∑ n q = 0.0587 ( ) (12.10.28)
q a3 JA S

erhalten.
Die Spin-Quantenzahl des gesamten Systems beträgt bei T = 0 gerade N S⇑ħ und bei endli-
cher Temperatur N S⇑ħ − ∑q n q , wobei N die Anzahl der Gitteratome des betrachteten Kris-
talls mit Volumen V ist. Damit können wir die relative Änderung der Sättigungsmagnetisie-
rung durch

∑ nq
M s (0) − M s (T) ∆M s q
= = (12.10.29)
M s (0) M s (0) N S⇑ħ

angeben. Setzen wir (12.10.28) ein, so ergibt sich

3⇑2 3⇑2
∆M s V 1 kB T 0.0587 k B T
= 0.0587 3 ( ) = ( ) . (12.10.30)
M s (0) Na S⇑ħ J A S⇑ħ QS⇑ħ J A S⇑ħ

Hierbei haben wir die Anzahl Q = Na 3 ⇑V der Atome pro Einheitszelle eingeführt, die beim
kubisch primitiven Gitter 1, beim kubisch raumzentrierten 2 und beim kubisch flächen-
zentrierten Gitter 4 beträgt. Gleichung (12.10.30) wird als Blochsches T 3⇑2 Gesetz bezeich-
net.77 Es beschreibt die experimentell gemessene Temperaturabhängigkeit der Sättigungsma-
gnetisierung von Ferromagneten bei tiefen Temperaturen in der Regel sehr gut (vergleiche
Abb. 12.45).
Wir weisen darauf hin, dass das Integral (12.10.27) in einer und zwei Dimensionen diver-
giert. Der ferromagnetische Zustand sollte deshalb für Dimensionen kleiner 3 instabil sein.
Dieser wichtige Zusammenhang ist als Mermin-Wagner-Theorem bekannt.78 , 79 Wir erwarten
also für eine eindimensionale Spin-Kette für endliche Temperaturen keinen ferromagnetisch
geordneten Zustand.

77
Felix Bloch, siehe Kasten auf Seite 318.
78
N. D. Mermin, H. Wagner, Absence of Ferromagnetism or Antiferromagnetism in One- or Two-
Dimensional Isotropic Heisenberg Models, Phys. Rev. Lett. 17, 1133–1136 (1966).
79
P. C. Hohenberg, Existence of Long-Range Order in One and Two Dimensions, Phys. Rev. 158, 383
(1967).
12.10 Spin-Wellen 763

0.000

0.002
Ms / Ms (0)

0.004
𝑻𝟑/𝟐

Ni Abb. 12.45: Änderung der Sättigungs-


0.006 magnetisierung eines kugelförmigen Ni-
Einkristalls. Das Feld wurde parallel zur
[111]-Richtung des Kristalls angelegt.
0.008 Die gestrichelte Linie zeigt das Blochsche
0 20 40 60 80 100 T 3⇑2 -Gesetz, dass aufgrund von Spin-Wel-
T (K) lenanregungen erwartet wird.
162

12.10.2 Dipolare Moden


Wir betrachten jetzt noch kurz den Fall großer Wellenlängen, bei denen benachbarte Spins
praktisch parallel zueinander stehen und deshalb ihr Austauschbeitrag häufig vernachlässigt
werden kann. Die auftretenden Spin-Wellenmoden werden dann durch die dipolare Wech-
selwirkung dominiert und heißen deshalb diploare Moden.80 Je nach Orientierung des äu-
ßeren Feldes Bext und der Magnetisierung M unterscheiden wir drei Fälle:

1. Damon-Eshbach oder dipolare Oberflächenmoden:


Die Damon-Eshbach Moden sind Oberflächenmoden, bei denen der Wellenvektor q pa-
rallel zur Oberfläche und senkrecht zum äußeren Feld liegt. Die Präzessionsamplitude
ist an der Oberfläche maximal und fällt ins Innere der Probe exponentiell ab.
2. Vorwärts-Volumenmode:
Bei der Vorwärts-Volumenmode ist die Präzessionsamplitude nicht nur an den Proben-
oberflächen groß, wir haben es mit einer Volumenmode zu tun. Der Wellenvektor liegt
parallel zur Probenoberfläche und senkrecht zum äußeren Feld, das auf der Oberfläche
senkrecht steht.

(a) 𝑩𝐞𝐱𝐭 , 𝑴𝒔 (b) 𝑩𝐞𝐱𝐭 , 𝑴𝒔 (c)


𝒒 𝒒 𝒒

𝑩𝐞𝐱𝐭 , 𝑴𝒔

Abb. 12.46: Orientierung von Wellenvektor q sowie äußerem Magnetfeld Bext und Sättigungsmagneti-
sierung Ms fürDamon-Eshbach-Mode Vorwärts-Volumenmode
verschiedene dipolare Spin-Wellenmoden: Rückwärts-Volumenmode
(a) Damon-Eshbach Moden, (b) Vorwärts-
Volumenmode (dipolare
und Oberflächenmode)
(c) Rückwärts-Volumenmode.

80
Daniel D. Stancil, Anil Prabhakar, Spin Waves: Theory and Applications, Springer Verlag (2009).
163
764 12 Magnetismus

3. Rückwärts-Volumenmode:
Bei der Rückwärts-Volumenmode liegt der Wellenvektor ebenfalls parallel zur Proben-
oberfläche, im Gegensatz zu der Vorwärts-Volumenmode aber parallel zum äußeren
Feld, das dann ebenfalls parallel zur Oberfläche orientiert sein muss.

12.10.3 Vertiefungsthema: Antiferromagnetische Spin-Wellen


Die Dispersionsrelation von Magnonen in einem eindimensionalen Antiferromagneten
können wir in Analogie zu Abschnitt 12.10 ableiten, indem wir in den entsprechenden
Gleichungen geeignete Substitutionen machen. Wir nehmen an, dass Spins mit geraden In-
dizes 2i nach oben zeigen (S z = S) und das Untergitter A bilden. Diejenigen mit ungeraden
Indizes 2i + 1 sollen nach unten zeigen (S z = −S) und das Untergitter B bilden. Wir wollen
ferner nur nächste Nachbarwechselwirkungen mit negativer Austauschkonstante J A < 0
betrachten und benutzen B ext = B z = B.
Die den Gleichung (12.10.9) bis (12.10.11) entsprechenden Differentialgleichungen für das
Untergitter A lauten dann
dS 2i,x gs µB B JAS
=− S 2i, y + 2 )︀−2S 2i, y − S 2i−1, y − S 2i+1, y ⌈︀ (12.10.31)
dt ħ ħ
dS 2i, y gs µB B JAS
=+ S 2i,x − 2 (︀−2S 2i,x − S 2i−1,x − S 2i+1,x ⌋︀ (12.10.32)
dt ħ ħ
dS 2i,z
=0. (12.10.33)
dt
Für das Untergitter B erhalten wir entsprechend
dS 2i+1,x gs µB B JAS
=− S 2i+1, y + 2 )︀2S 2i+1, y + S 2i, y + S 2i+2, y ⌈︀ (12.10.34)
dt ħ ħ

dS 2i+1, y gs µB B JAS
=+ S 2i+1,x − 2 (︀2S 2i+1,x + S 2i,x + S 2i+2,x ⌋︀ (12.10.35)
dt ħ ħ
dS 2i+1,z
=0. (12.10.36)
dt
Mit S + = S x + ıS y können wir dies für B = 0 vereinfacht schreiben als
+
dS 2i ıJ A S + + +
= + 2 (︀2S 2i + S 2i−1 + S 2i+1 ⌋︀ (12.10.37)
dt ħ
+
dS 2i+1 ıJ A S + + +
= − 2 (︀2S 2i+1 + S 2i + S 2i+2 ⌋︀ . (12.10.38)
dt ħ
Als Lösungsansatz verwenden wir
+ +
S 2i = ue ı(︀2i qa−ωt⌋︀ S 2i+1 = ve ı(︀(2i+1)qa−ωt⌋︀ . (12.10.39)
12.10 Spin-Wellen 765

Setzen wir diesen Ansatz in (12.10.37) und (12.10.38) ein, so erhalten wir mit der Abkür-
zung β = −2J A S⇑ħ 2 = 2⋃︀J A ⋃︀S⇑ħ 2 das Gleichungssystem

ωu = 12 β(2u + ve−ı qa + ve+ı qa ) (12.10.40)

−ωv = 12 β(2v + ue−ı qa + ue+ı qa ) . (12.10.41)

Dieses Gleichungssystem besitzt nichttriviale Lösungen für

β − ω β cos qa
⋁︀ ⋁︀ = 0 , (12.10.42)
β cos qa β + ω

das heißt, für ω 2 = β 2 (1 − cos2 qa). Wir erhalten somit die Disperisonsrelation für antifer-
romagnetische Magnonen zu

2⋃︀J A ⋃︀S
ω= ⋃︀sin qa⋃︀ . (12.10.43)
ħ2

2.0
ferromagnetische
Magnonen
1.6
 (4 IJAI S / ћ2)

1.2 antiferromagnetische Abb. 12.47: Dispersionsrelation für antifer-


Magnonen romagnetische Magnonen. Zum Vergleich
0.8 ist die Dispersionsrelation von ferromagne-
tischen Magnonen gestrichelt eingezeich-
net. Das Maximum der Dispersion liegt
0.4 bei den antiferromagnetischen Magnonen
bei π⇑2a, da wir hier im Vergleich zu den
0.0 ferromagnetischen Magnonen eine Ver-
-1.0 -0.5 0.0 0.5 1.0 dopplung der magnetischen Einheitszelle
q (/a) haben.
164

Abb. 12.47 zeigt, dass sich diese Dispersionsrelation deutlich von der Disperisonsrelati-
on (12.10.18) für ferromagnetische Magnonen unterscheidet. Insbesondere verläuft die
Dispersionsrelation für ferromagnetische Magnonen im langwelligen Grenzfall (qa ≪ 1)
quadratisch, während wir aus (12.10.43) für den langwelligen Grenzfall eine lineare Disper-
sion erhalten. Wir wollen noch darauf hinweisen, dass antiferromagnetische Magnonen als
mögliche Austauschbosonen diskutiert werden, die in den Hochtemperatur-Supraleitern
die Paarwechselwirkung vermitteln.
766 12 Magnetismus

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13 Supraleitung
Der elektrische Widerstand von Metallen wird durch Streuung der Leitungselektronen
an Phononen und Gitterdefekten sowie durch Streuung der Elektronen untereinander
bestimmt (vergleiche hierzu Kapitel 7 und 9). Mit abnehmender Temperatur erwarten
wir zwar eine Abnahme des Widerstands, da die Phononen ausfrieren und das verfügba-
re Phasenraumvolumen für Elektron-Elektron-Streuprozesse abnimmt, es sollte aber bei
sehr tiefen Temperaturen immer noch ein endlicher Restwiderstand durch Streuung an
unvermeidbaren Gitterdefekten, Verunreinigungen oder Fremdatomen übrigbleiben. Die
magnetische Suszeptibilität eines Metalls sollte in erster Näherung keine Temperaturab-
hängigkeit zeigen, da sowohl die Paulische Spinsuszeptibilität als auch der Landausche
Diamagnetismus temperaturunabhängig sind (vergleiche hierzu Kapitel 12).
Im Jahr 1911 entdeckte nun Heike Kamerlingh
Onnes,1 dass der Widerstand von Quecksilber un-
terhalb einer bestimmten Temperatur sprungartig
unmessbar klein wird.2 Die charakteristische Tem-
peratur wurde deshalb als Sprungtemperatur Tc be-
zeichnet. Unterhalb dieses heute auch mit kritischer
Temperatur oder Übergangstemperatur bezeichne-
ten Temperaturwertes liegt ein perfekter Leiter vor,
weshalb das Phänomen die Bezeichnung Supralei-
tung erhielt. Kamerlingh Onnes erhielt u. a. für diese wichtige Entdeckung im Jahr 1913
den Nobelpreis für Physik. Bis heute wurde Supraleitung in einer Vielzahl von Metallen
und anderen Materialsystemen gefunden. Erst 1933 entdeckten dann Walther Meißner3 und
Robert Ochsenfeld,4 dass supraleitende Materialien nicht nur perfekte Leiter sind, sondern
auch perfekte Diamagnete.5 Sie besitzen also unterhalb der Sprungtemperatur die Suszepti-
bilität χ = −1 und verdrängen deshalb Magnetfelder vollkommen aus ihrem Inneren. Es hat
sich herausgestellt, dass der perfekte Diamagnetismus, der heute als Meißner-Ochsenfeld-
Effekt bezeichnet wird, zwar die grundlegendere Eigenschaft als die perfekte Leitfähigkeit

1
Heike Kamerlingh Onnes, siehe Kasten auf Seite 773.
2
H. Kamerlingh Onnes, The Superconductivity of Mercury, Leiden Commun. 120b, 122b, 124c
(1911).
3
Walther Meißner, siehe Kasten auf Seite 775.
4
Robert Ochsenfeld, geboren am 18. Mai 1901 in Helberhausen, gestorben 5. Dezember 1993 eben-
da.
5
W. Meißner, R. Ochsenfeld, Ein neuer Effekt bei Eintritt der Supraleitfähigkeit, Naturwissenschaf-
ten 21, 787-788 (1933).
770 13 Supraleitung

ist. Trotzdem sprechen wir heute nicht von Superdiamagnetismus, sondern aus historischen
Gründen nach wie vor von Supraleitung.
Auch mehr als 100 Jahre nach seiner Entdeckung hat das Phänomen Supraleitung nichts
von seiner Faszination verloren. Die Suche nach neuen supraleitenden Materialien und dem
Mechanismus der Supraleitung hat viele Generationen von Physikern beschäftigt. Erst 1957
gelang es John Bardeen, Leon Neil Cooper und John Robert Schrieffer, eine mikroskopische
Theorie, die nach ihnen benannte BCS-Theorie, zu entwickeln, die das Auftreten von Supra-
leitung in Metallen befriedigend beschreiben kann.6 , 7 Sie erhielten dafür im Jahr 1972 den
Nobelpreis für Physik. Die Vorhersagen der BCS-Theorie wurden durch zahlreiche Experi-
mente an Metallen und Legierungen bestätigt. Ein zentrales Experiment war dabei der Nach-
weis der Flussquantisierung durch Robert Doll und Martin Näbauer am Walther-Meißner-
Institut und fast zeitgleich durch B. S. Deaver und W. M. Fairbank an der Stanford Univer-
sity im Jahr 1961.8 , 9 Bis Mitte der 1980er Jahre glaubte man schon, das Phänomen Supralei-
tung weitgehend verstanden zu haben. Dies änderte sich allerdings schlagartig, als Johan-
nes Georg Bednorz und Karl Alexander Müller im Jahr 1986 Supraleitung in Kupferoxiden
entdeckten.10 Sie erhielten dafür bereits 1987 den Nobelpreis für Physik. Da die Sprung-
temperatur in der von Bednorz und Müller untersuchten La-Ba-Cu-O-Verbindung mit 35 K
oberhalb der maximalen Sprungtemperatur von etwa 23 K der bis damals bekannten Metalle
und Legierungen lag und diese Temperatur schnell bis auf etwa 135 K erhöht werden konn-
te, erhielten die Kuprat-Supraleiter die Bezeichnung Hochtemperatur-Supraleiter.11 Der Me-
chanismus der Supraleitung in den Kupraten ist bis heute noch nicht vollständig verstanden.
Das Gleiche gilt für die Supraleitung in Verbindungen mit schweren Fermionen, die 1979 von
Frank Steglich entdeckt wurde,12 genauso wie für die von der Arbeitsgruppe um H. Hosono
erst 2008 entdeckten Eisen-Pniktide.13
Supraleiter spielen heute eine große Rolle in zahlreichen Anwendungsgebieten. Supraleiten-
de Magnete erzeugen die großen Magnetfelder, die für die Kernspintomographie, Teilchen-
beschleuniger oder die Kernfusion benötigt werden. Supraleitende Quanteninterferenzde-
tektoren erlauben die Messung kleinster Magnetfelder, wie sie z. B. durch Gehirnströme
6
J. Bardeen, L. N. Cooper, J. R. Schrieffer, Microscopic Theory of Superconductivity, Phys. Rev. 106,
162–164 (1957).
7
J. Bardeen, L. N. Cooper, J. R. Schrieffer, Theory of Superconductivity, Phys. Rev. 108, 1175 (1957).
8
R. Doll, M. Näbauer, Experimental Proof of Magnetic Flux Quantization in a Superconducting Ring,
Phys. Rev. Lett. 7, 51 (1961).
9
B. S. Deaver Jr., W. M. Fairbank, Experimental Evidence for Quantized Flux in Superconducting Cy-
linders, Phys. Rev. Lett. 7, 43 (1961).
10
J. G. Bednorz, K. A. Müller, Possible High Tc Superconductivity in the Ba-La-Cu-O System,
Z. Phys. B 64, 189 (1986).
11
Die Bezeichnung Hochtemperatur-Supraleiter erhielten allerdings auch bereits die im Jahr 1953/54
entdeckten A 15-Verbindungen V3 Si (G. F. Hardy, J. K. Hulm, Phys. Rev. 87, 884 (1953), Phys.
Rev. 93, 1004 (1954)) und Nb3 Sn (B. T. Matthias, T. H. Geballe, S. Geller, E. Corenzwit, Phys.
Rev. 95, 1453 (1954) mit Sprungtemperaturen von 17 und 18 K.
12
F. Steglich, J. Aarts, C. D. Bredl, W. Lieke, D. Meschede, W. Franz, H. Schäfer, Superconductivity in
the Presence of Strong Pauli Paramagnetism: CeCu2 Si2 , Phys. Rev. Lett. 43, 1892–1896 (1979).
13
Y. Kamihara, T. Watanabe, M. Hirano, H. Hosono, Iron-Based Layered Superconductor
La[O1−x Fx ]FeAs (x = 0.05 − 0.12) with Tc = 26 K, J. Am. Chem. Soc. 130, 3296 (2008).
13 Supraleitung 771

erzeugt werden, und ermöglichen dadurch nicht nur neue Einsatzgebiete in der Medizin-
technik, sondern auch in der zerstörungsfreien Materialprüfung oder der Geoprospektion.
Schließlich spielen supraleitende Mikrowellendetektoren eine zentrale Rolle in der Radio-
astronomie, seit 1990 wird der Voltstandard mit supraleitenden Josephson-Kontakten rea-
lisiert und seit etwa 2000 werden supraleitende Materialien erfolgreich für die Realisierung
von Quanteninformationssystemen eingesetzt.
Bei der Supraleitung handelt es sich um ein Phänomen, bei dem Korrelationen im Elektro-
nensystem eines Festkörpers eine wichtige Rolle spielen. Solche Korrelationen haben wir
bereits bei der Diskussion der magnetischen Eigenschaften kennen gelernt. Diese Korre-
lationen führen unterhalb einer bestimmten Temperatur, bei der die thermische Energie
klein genug ist, zu einem neuartigen Ordnungszustand. Die theoretische Beschreibung von
Systemen mit elektronischen Korrelationen ist generell anspruchsvoll, da die Beschreibung
der Dynamik der Kristallelektronen nicht mehr auf ein effektives Einteilchenproblem
zurückgeführt werden kann. Aus diesem Grund gibt es bis heute für Phänomene wie die
Hochtemperatur-Supraleitung noch keine etablierte mikroskopische Theorie. Wir wollen in
diesem Kapitel zunächst einen Einblick in die Geschichte der Supraleitung geben und die
grundlegenden Eigenschaften von Supraleitern vorstellen (Abschnitt 13.1). Anschließend
werden wir dann kurz die thermodynamischen Eigenschaften von Supraleitern erörtern
(Abschnitt 13.2), phänomenologische Modelle zur Beschreibung des Phänomens Supralei-
tung (Abschnitt 13.3) vorstellen, auf die charakteristischen Eigenschaften von Typ-I und
Typ-II Supraleitern eingehen (Abschnitt 13.4) und die von Bardeen, Cooper und Schrief-
fer entwickelte mikroskopische Theorie diskutieren (Abschnitt 13.5). In Abschnitt 13.6
werden wir uns dann mit dem Josephson-Effekt beschäftigen, auf dem heute zahlreiche
Anwendungen in der Sensorik und Supraleitungselektronik beruhen. Mit dem für tech-
nische Anwendungen ebenfalls wichtigen Themengebiet der kritischen Ströme und der
Flusslinienverankerung befassen wir uns in Abschnitt 13.7 bevor wir uns zum Abschluss in
Abschnitt 13.8 mit unkonventioneller Supraleitung beschäftigen und in Abschnitt 13.9 die
zentralen Eigenschaften der Kuprat-Supraleiter diskutieren.
772 13 Supraleitung

13.1 Geschichte und grundlegende Eigenschaften


13.1.1 Geschichte der Supraleitung
13.1.1.1 Perfekte Leitfähigkeit
Am 10. Juli 1908 gelang es Heike Kamerlingh Onnes an dem von ihm geleiteten Kältelabo-
ratorium der Universität Leiden Helium als letztes der Edelgase zu verflüssigen.14 Die Siede-
temperatur von Helium liegt bei Atmosphärendruck bei 4.2 K und kann durch Abpumpen
weiter erniedrigt werden. Dadurch wurde es erstmals möglich, Experimente mit Festkörpern
nahe am absoluten Temperaturnullpunkt durchzuführen.
Kamerlingh Onnes interessierte sich damals stark für die Physik des Ladungstransports in
Metallen, da das Verständnis der Leitungsmechanismen noch wenig verstanden war. Ex-
perimente zeigten, dass der Widerstand von Metallen bei Raumtemperatur etwa linear mit
der Temperatur abnimmt, dass diese Abnahme zu tieferen Temperaturen hin aber immer
kleiner wird. Die bei sehr tiefen Temperaturen erwartete Temperaturabhängigkeit des elek-
trischen Widerstands wurde kontrovers diskutiert. Während James Dewar vorhersagte, dass
der elektrische Widerstand für T → 0 ebenfalls gegen null gehen sollte, erwartete Heinrich
Friedrich Ludwig Matthiesen,15 dass er gegen einen endlichen Grenzwert strebt. William
Thomson, heute meist als Lord Kelvin bezeichnet, spekulierte dagegen, dass der elektrische
Widerstand mit abnehmender Temperatur durch ein Minimum laufen und bei sehr tiefen
Temperaturen wieder ansteigen sollte. Die Idee dahinter war, dass bei sehr tiefen Tempe-
raturen die Elektronen wieder an die Atomrümpfe gebunden sind und somit unbeweglich
werden.
Kamerlingh Onnes führte deshalb zuerst Experimente zur Temperaturabhängigkeit des elek-
trischen Widerstands von Au und Pt Proben durch. Er fand heraus, dass sich für sehr tie-
fe Temperaturen der Widerstand einem festen Grenzwert, dem so genannten Restwider-
stand, annähert. Er vermutete, dass dieser Restwiderstand verschwindend klein werden soll-
te, wenn hochreine Materialien verwendet werden.16 Diese These wurde von Albert Einstein
unterstützt, der vorhersagte, dass die Schwingungsenergie von Festkörpern für tiefe Tempe-
raturen exponentiell abnimmt. Da der Widerstand von hochreinen Proben nach Kamer-
lingh Onnes’ Vorstellung aber im Wesentlichen nur durch die Bewegung der Atome hervor-
gerufen wird, sollte dieser für T → 0 verschwinden. Um dies experimentell zu überprüfen,
entschloss sich Kamerlingh Onnes, Experimente mit Quecksilber durchzuführen, da dieses
Metall durch mehrfache Destillation mit hohem Reinheitsgrad hergestellt werden konnte.
In den ersten Experimenten war die Auflösung der verwendeten Messapparatur gerade so,
dass der Widerstand der Hg-Probe bei 4.2 K noch gemessen werden konnte, aber bei noch
14
H. Kamerlingh Onnes, Proc. Roy. Acad. Amsterdam 11, 168 (1908).
15
A. Matthiessen, Ann. Phys. Chem. (Poggendorfsche Folge) 110, 190 (1860); A. Matthiessen,
C. Vogt, Ann. Phys. Chem. (Poggendorfsche Folge) 122, 19 (1864).
16
Auf dem 3. Internationalen Kältekongress in Chicago sagte Kamerlingh Onnes: „Allowing a correc-
tion for the additive resistance, I came to the conclusion that probably the resistance of absolutely pure
Pt would have vanished at the boiling point of Helium“, siehe hierzu H. Kamerlingh Onnes, Comm.
Leiden, Suppl. No. 34 (1913).
13.1 Geschichte und grundlegende Eigenschaften 773

Heike Kamerlingh Onnes (1853–1926), Nobelpreis für Physik 1913


Heike Kamerlingh Onnes wurde am 21. September 1853 in
Groningen, Niederlande, geboren. Er begann dort 1870 sein
Studium und wechselte anschließend von Oktober 1871 bis
April 1873 für einige Semester nach Heidelberg zu Kirchhoff
und Bunsen, wo er einen Seminarpreis erringen konnte. Er
kehrte dann nach Groningen zurück, wo er 1878 mit dem
Master of Science abschloss. Bereits 1879 schloss er seine
Doktorprüfung zum Thema „Nieuwe bewijzen voor de as-
wenteling der aarde“ (Neue Beweise für die Rotation der Er-
de) ab. Im Jahr 1882 wurde er Professor an der Universität
Leiden. Hier arbeitete er eng mit Johannes D. van der Waals
und Hendrik A. Lorentz zusammen. Sein Hauptarbeitsge-
biet bildete die Verflüssigung von Gasen und die damit zu-
sammenhängenden Korrekturglieder des Drucks und des © The Nobel Foundation.
Volumens in der van der Waals-Gleichung. Hierzu bedurfte
es der Kenntnis der Gase über ein möglichst großes Temperaturintervall insbesondere im
Bereich der tiefen Temperaturen. Seit 1894 verfügte Kamerlingh Onnes über ein Kältebad
von flüssigem Sauerstoff (Siedetemperatur: 90.18 K = −182.97 ○ C) und seit 1906 über flüs-
sigen Stickstoff (Siedetemperatur: 77.35 K = −195.80 ○ C). Er stellte schließlich am 10. Juli
1908 als erster flüssiges Helium her (Siedetemperatur: 4.22 K = −268.93 ○ C).
Für die Van der Waals-Gleichung schlug Kamerlingh Onnes eine Reihenentwicklung vor,
die sich auch auf Gasgemische sowie auf Gemische von Gasen und Flüssigkeiten erstre-
cken sollte. Hierzu mussten dann als Korrekturglieder auch die molekularen Anziehungs-
kräfte, die Kapillarität und die Viskosität einbezogen werden. Das Arbeitsprogramm der
Forschungsgruppe in Leiden erweiterte sich dementsprechend auch um Phänomene wie
die elektrische Leitfähigkeit bei tiefen Temperaturen und die Temperaturabhängigkeit der
Thermokraft.
Am 8. April 1911 machte Kamerlingh Onnes die erstaunliche Entdeckung, dass bei ei-
ner ganz bestimmten Temperatur – der so genannten Sprungtemperatur – in Quecksilber
der elektrische Widerstand verschwindet. Damit hatte Kamerlingh Onnes das Phänomen
Supraleitung entdeckt. Um 1911 machte er ferner die Entdeckung, dass sich flüssiges He-
lium (4 He-II) als dünner Film (so genannter Rollin-Film) an Gefäßwänden langsam auf-
wärts bewegt. Dieses Phänomen wird als Onnes-Effekt bezeichnet. Damit hat Kamerlingh
Onnes anscheinend auch schon eine wesentliche Eigenschaft der Suprafluidität erkannt. Im
Jahr 1913 erhielt er den Nobelpreis für Physik „für seine Untersuchungen der Eigenschaften
von Materie bei tiefen Temperaturen, die unter anderem zur Herstellung von flüssigem Heli-
um führten“.
Heike Kamerlingh Onnes starb am 21. Februar 1926 in Leiden.

tieferen Temperaturen unterhalb der Messauflösung lag, also unmessbar klein wurde. Das
erhaltene Ergebnis stimmte gut mit der Erwartung überein.
Bei weiteren Experimenten mit einer verbesserten Apparatur wurde aber schnell klar,
dass das beobachtete Verschwinden des elektrischen Widerstands nichts mit der erwar-
774 13 Supraleitung

0.15

Hg
0.12

0.09

R ()
0.06

0.03

Abb. 13.1: Entdeckung der Supraleitung in Queck- 10-5 


silber (nach H. Kamerlingh Onnes, The Supercon- 0.00
ductivity of Mercury, Leiden Commun. 120b (1911)). 4.0 4.1 4.2 4.3 4.4
T (K)

teten kontinuierlichen Abnahme zu tun hatte. Es zeigte sich nämlich, dass die Wider-
standsabnahme in einem sehr schmalen Temperaturintervall von nur etwa 0.1 K er-
folgte.17 , 18 Dies ist in Abb. 13.1 gezeigt. Kamerlingh Onnes sagte zu der plötzlichen Wider-
standsabnahme bei 4.2 K: „At this point within some hundredths of a degree came a sudden
fall not foreseen by the vibration theory of resistance, that had framed, bringing the resistance
at once to less than a millionth of its original value at the melting point.“ Er fügte ferner einen
Satz hinzu, der dem Phänomen den heutigen Namen Supraleitung gab: „Mercury has passed
into a new state which, on account of its extraordinary electrical properties, may be called
the superconductive state.“ Kamerlingh Onnes hatte zusammen mit seinen Mitarbeitern
Gerrit Flim, Gilles Holst und Gerrit Dorsman bei der sorgfältigen Untersuchung des Tem-
peraturverhaltens des elektrischen Widerstands ein völlig neues Phänomen entdeckt. Wie
wir heute wissen, spielt die Reinheit der Proben für das Auftreten der Supraleitung keine
entscheidende Rolle.
Die Entdeckung von Kamerlingh Onnes wurde nur zwei Jahre später mit dem Nobelpreis für
Physik ausgezeichnet. Dies zeigt, welche Bedeutung dieser Entdeckung bereits damals beige-
messen wurde. Es sollte aber noch sehr lange dauern, bis dieses Phänomen richtig verstanden
wurde. Auf der experimentellen Seite lag dies an den sehr eingeschränkten Experimentier-
möglichkeiten. In Deutschland etablierte erst Walther Meißner, der nach seiner Promotion
bei Max Planck im Jahr 1908 an die Physikalisch-Technische Reichsanstalt in Berlin wech-
selte, das erste Tieftemperaturlabor (das dritte weltweit, nach Leiden und Toronto). Es gelang
ihm dort erstmals am 7. März 1925, Helium zu verflüssigen. Bis zur Entdeckung des perfek-
ten Diamagnetismus in Supraleitern (1933) dauerte es weitere 8 Jahre. Auf der theoretischen
Seite waren die Methoden für die Behandlung von komplexen Festkörperproblemen noch
nicht weit genug entwickelt und es dauert fast 50 Jahre bis mit der BCS-Theorie die erste
mikroskopische Theorie der Supraleitung entwickelt war.

13.1.1.2 Der Meißner-Ochsenfeld-Effekt


Das Verschwinden des elektrischen Widerstands unterhalb der kritischen Temperatur Tc
ist nicht die einzige ungewöhnliche Eigenschaft von Supraleitern. Im Jahr 1933 entdeckten
Walther Meißner und Robert Ochsenfeld, dass Supraleiter ein von außen angelegtes Ma-
17
Nach einem Eintrag im Laborbuch Nr. 15 von Heike Kamerlingh Onnes wird die Entdeckung der
Supraleitung auf den 8. April 1911 datiert.
18
H. Kamerlingh Onnes, The Superconductivity of Mercury, Leiden Commun. 120b (1911).
13.1 Geschichte und grundlegende Eigenschaften 775

Walther Meißner (1882–1974)


Walther Meißner wurde am 16. Dezember 1882 in Berlin
geboren. Er studierte von 1901 bis 1904 Maschinenbau an
der Technischen Hochschule Charlottenburg und anschlie-
ßend Mathematik und Physik an der Berliner Friedrich-Wil-
helms-Universität. Als einer der wenigen Doktoranden von
Max Planck promovierte er 1907 mit dem Thema Zur Theorie
des Strahlungsdrucks. 1908 trat Meißner in die Physikalisch-
Technische Reichsanstalt ein. Im Laboratorium für Pyrome-
trie war er zunächst für Prüf- und Forschungsarbeiten auf dem
Gebiet der Thermometrie zuständig. 1913 wechselte er in das
elektrische Forschungslaboratorium, wo er zunächst für For-
schungsarbeiten auf dem Gebiet der Tieftemperaturphysik ei-
ne Wasserstoffverflüssigungsanlage aufbauen sollte. Von 1922
bis 1925 baute Meißner dann eine Heliumverflüssigungsanla-
ge, die weltweit (nach Leiden und Toronto) die dritte war. Das
Walther Meißner (1882 – 1974)
1927 eingerichtete größere Kältelabor und das Laboratorium für elektrische Atomforschung
wurden von Meißner geleitet. Zusammen mit Robert Ochsenfeld entdeckte er 1933 den per-
fekten Diamagnetimus von Supraleitern. Die fundamentale Eigenschaft von Supraleitern be-
zeichnen wir heute als Meißner-Ochsenfeld-Effekt. Schon vorher, im Jahre 1930, hatte er sich
in Berlin habilitiert.
Im Jahr 1934 nahm Meißner einen Ruf auf den Lehrstuhl für Technische Physik der Techni-
schen Hochschule München (heute Technische Universität München) an. Er richtete dort ein
neues Kältelaboratorium ein, für das von 1936 bis 1938 nach seinen Plänen ein neuer Helium-
verflüssiger gebaut wurde, der nicht mehr mit flüssigem Wasserstoff, sondern durch eine Ex-
pansionsmaschine vorgekühlt wurde. Im Jahr 1943, während des Zweiten Weltkriegs, musste
das Laboratorium nach Herrsching am Ammersee verlagert werden. Nach Kriegsende wurden
Meißner, der politisch unbelastet war, neben der Rückführung des Laboratoriums nach Mün-
chen und dessen Wiederaufbau viele zusätzliche Aufgaben übertragen. An der Technischen
Hochschule wurde er Dekan der Fakultät für Allgemeine Wissenschaften. Gleichzeitig gehör-
te er dem Vorstand des Deutschen Museums an und wurde Vorsitzender der Physikalischen
Gesellschaft in Bayern.
Am 8. Januar 1946 ernannte das Bayerische Kultusministerium Walther Meißner zum kom-
missarischen Präsidenten der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, deren Mitglied er
seit 1938 war und die ihn für die Amtszeit von 1947 bis 1950 für das Präsidentenamt wähl-
te. Während seiner Amtszeit gründete er zusammen mit Klaus Clusius die Kommission für
Tieftemperaturforschung, deren Vorsitzender er bis 1963 war und die vorübergehend in den
behelfsmäßigen Laborgebäuden in Herrsching untergebracht wurde. Der 1967 in Betrieb ge-
nommene Neubau des zur Kommission gehörenden Zentralinstituts für Tieftemperaturfor-
schung in Garching wurde noch von Meißner initiiert. An diesem Institut, das aus Anlass sei-
nes 100. Geburtstages 1982 in Walther-Meißner-Institut umbenannt wurde, experimentierte
Meißner weiterhin auf dem Gebiet der Tieftemperaturforschung bis ins hohe Alter.
Meißners Emeritierung von der Technischen Hochschule erfolgte 1952. Zu seinem Nachfolger
wurde Heinz Maier-Leibnitz berufen, der ihm 1963 auch im Amt des Vorsitzenden der Kom-
mission für Tieftemperaturforschung folgte. Für seine wissenschaftlichen und gesellschaftli-
chen Verdienste erhielt Walther Meißner zahlreiche Ehrungen. 1954 erhielt er das Große Ver-
dienstkreuz, 1959 den Bayerischen Verdienstorden. Die Universität Mainz verlieh ihm 1953,
die Technische Universität Berlin 1963 das Ehrendoktorat.
Walther Meißner starb am 15. November 1974 in München.
776 13 Supraleitung

gnetfeld bis auf eine dünne Randschicht vollständig aus ihrem Inneren verdrängen.19 Supra-
leiter verhalten sich also wie perfekte Diamagnete. Dieser perfekte Diamagnetismus wird
heute nach ihren Entdeckern als Meißner-Ochsenfeld-Effekt bezeichnet.
Bemerkenswert ist, dass der Meißner-Ochsenfeld-Effekt nicht von der Vorgeschichte des
Materials abhängt, er ist damit in der Sprache der Thermodynamik reversibel. Meißner und
Ochsenfeld wiesen so indirekt erstmals nach, dass der supraleitende Zustand ein echter
thermodynamischer Zustand ist. Supraleiter sind also mehr als nur ideale Leiter, deren
elektromagnetische Eigenschaften mit den Maxwell-Gleichungen nur durch Annahme
einer unendlich hohen elektrischen Leitfähigkeit beschrieben werden können. Sie sind
vielmehr auch perfekte Diamagnete. Da der perfekte Diamagnetismus eine unendlich hohe
Leitfähigkeit bedingt aber nicht umgekehrt, müssten wir Supraleiter eigentlich als Super-
diamagnete bezeichnen. Da historisch die Entdeckung der idealen Leitfähigkeit aber viel
früher erfolgte, entstand die aus heutiger Sicht nicht ganz ideale Namensgebung.
Um uns den Unterschied zwischen einem idealen Leiter und einem Supraleiter zu veran-
schaulichen, betrachten wir Abb. 13.2. Wir führen ein Gedankenexperiment durch, bei dem
wir einen Normalleiter (NL) zuerst in ein Magnetfeld bringen und dann abkühlen, oder
zuerst abkühlen und dann in ein Magnetfeld bringen. Wie Abb. 13.2a zeigt, erhalten wir
für einen perfekten Leiter eine vollständige Verdrängung der magnetischen Flussdichte nur
dann, wenn wir zuerst Abkühlen und dann das Magnetfeld anschalten. Dies kann einfach
mit dem Induktionsgesetz

∂B
− =∇×E (13.1.1)
∂t

Abb. 13.2: Perfekter Leiter (a) und (a) (b)


Supraleiter (b) im Magnetfeld. In (a)
wird ein Normalleiter (NL), der beim
PL PL SL SL
Abkühlen zu einem perfekter Lei-
ter (PL) wird, entweder zuerst in 𝑩𝐞𝐱𝐭 ↗ 𝑩𝐞𝐱𝐭 ↗
ein Magnetfeld gebracht und dann 𝑻↘ 𝑻↘
abgekühlt oder umgekehrt. In (b)
wird ein Normalleiter (NL), der
NL NL
beim Abkühlen zu einem Supralei-
ter (SL) wird, entweder zuerst in ein 𝑩𝐞𝐱𝐭 ↗ 𝑩𝐞𝐱𝐭 ↗
Magnetfeld gebracht und dann ab-
gekühlt oder umgekehrt. Während
bei einem perfekten Leiter auf bei- 𝑻↘ 𝑻↘
NL PL NL SL
den Wegen ein unterschiedlicher
Endzustand erhalten wird, ist dies
bei einem Supraleiter nicht der Fall.
21

19
W. Meißner, R. Ochsenfeld, Ein neuer Effekt bei Eintritt der Supraleitfähigkeit, Naturwissenschaf-
ten 21, 787 (1933).
Meißner und Ochsenfeld untersuchten die Kraft zwischen zwei Zinn-Drähten, durch die sie einen
Strom unterhalb und oberhalb der Sprungtemperatur schickten. Aufgrund der Feldverdrängung
in einem perfekten Leiter ist die Kraft in beiden Fällen unterschiedlich. Interessanterweise fanden
sie aber den gleichen Effekt, wenn sie die Drähte bei angeschaltetem Strom unter die Sprungtem-
peratur abkühlten.
13.1 Geschichte und grundlegende Eigenschaften 777

und dem Ohmschen Gesetz


J = σE (13.1.2)
erklärt werden. Für unendlich hohe Leitfähigkeit erhalten wir E = 0 und damit
∂B
=0. (13.1.3)
∂t
Das heißt, im Inneren eines perfekten Leiters ändert sich die magnetische Flussdichte nicht.
Nur an der Oberfläche des perfekten Leiters ändert sich beim Anschalten des Magnetfeldes
die magnetische Flussdichte, wodurch ein elektrisches Feld längs der Probenumrandung er-
zeugt wird. Dieses führt aufgrund der perfekten Leitfähigkeit zu einem dauerhaften Kreis-
strom in einer dünnen Oberflächenschicht, der nach der Lenzschen Regel seine Ursache
gerade kompensiert und somit zu einer vollständigen Verdrängung der magnetischen Fluss-
dichte führt. Schalten wir das Magnetfeld dagegen noch bei hoher Temperatur an, so dringt
das Magnetfeld ein, da die induzierten Ringströme aufgrund des hier endlichen Widerstands
schnell abklingen. Kühlen wir den felddurchsetzten Normalleiter ab, so passiert beim Über-
gang zum perfekten Leiter gar nichts, da keine Flussänderung vorliegt.
In Abb. 13.2b ist das Verhalten eines Supraleiters gezeigt. Wenn wir zuerst abkühlen und
dann das Magnetfeld anschalten, erhalten wir einen flussdichtefreien Supraleiter. Dies kön-
nen wir mit den gleichen Argumenten erklären, die wir für den idealen Leiter benutzt haben.
Das Neue ist nun, dass ein Supraleiter auch dann die Flussdichte verdrängt, wenn wir das
Feld im Normalzustand anlegen und dann bei konstantem Feld abkühlen. Beim Abkühlen
unter die Sprungtemperatur verdrängt der Supraleiter die Flussdichte aus seinem Inneren
auch dann, wenn sich das angelegte Feld zeitlich nicht ändert. Ein Supraleiter verdrängt also
nicht nur wie ein perfekter Leiter zeitlich veränderliche Felder aus seinem Inneren, sondern
auch zeitlich konstante Felder. Im Inneren des Supraleiters gilt
B=0. (13.1.4)
Wir erhalten damit für den Supraleiter immer den gleichen Endzustand, egal ob wir zuerst
abkühlen und dann das Magnetfeld anschalten oder umgekehrt.

13.1.1.3 Theoretische Modelle


Die theoretische Erklärung der Supraleitung in Metallen erfolgte erst viele Jahrzehnte nach
ihrer Entdeckung. Bis heute steht ein umfassendes Verständnis aus. So ist die Supraleitung
in den 1987 entdeckten Kupratsupraleitern bis heute noch nicht vollkommen verstanden.
Da anfangs eine mikroskopische Erklärung des Phänomens Supraleitung nicht möglich war,
wurden mehrere phänomenologische Theorien entwickelt, die viele experimentelle Befunde
zwar gut beschreiben, sie aber nicht erklären konnten.
Eine erste grobe Beschreibung der Supraleitung lieferte das Zweiflüssigkeiten-Modell, das
von Casimir und Gorter in den frühen 1930er Jahren vorgeschlagen wurde.20 In dieser Be-
schreibung verhält sich der Supraleiter wie eine Mischung aus „normalleitenden“ und „su-
praleitenden“ Ladungsträgern. Während die ersteren sich wie die Ladungsträger in einem
20
siehe hierzu D. Shoenberg, Superconductivity, Cambridge University Press (1952).
778 13 Supraleitung

normalen Metall verhalten, besitzen die letzteren keine Entropie und können deshalb keinen
Wärmestrom tragen. Ferner können sie einen elektrischen Strom ohne Widerstand transpor-
tieren. Damit wird das beobachtete Verschwinden des elektrischen Widerstands unterhalb
von Tc und die starke Abnahme der thermischen Leitfähigkeit für T → 0 richtig beschrie-
ben. Obwohl dieses Modell sehr einfach war, hat das Zweiflüssigkeitsbild und das Konzept
einer Supraflüssigkeit in späteren Theorien überlebt.
Im Jahr 1935 schlugen die Brüder Fritz und Heinz London ein phänomenologisches Mo-
dell vor, das die beiden grundlegenden elektrodynamischen Eigenschaften von Supraleitern,
die unendlich hohe Leitfähigkeit und den perfekten Diamagnetismus, beschreiben konnte.21
Sie gingen davon aus, dass in Supraleitern eine endliche Dichte n s von „supraleitenden Elek-
tronen“ existiert, die sich ohne Reibung im Festkörper bewegen können. Sie nahmen ferner
an, dass ihre Dichte von null bei der kritischen Temperatur zu tieferen Temperaturen hin
kontinuierlich anwächst. Mit diesen Annahmen konnten sie die beiden Londonschen Glei-
chungen ableiten, die zusammen mit den Maxwell-Gleichungen die Elektrodynamik von
Supraleitern beschreiben. Eine weitergehende Motivation der London-Gleichungen auf der
Basis der Quantenmechanik wurde später von Fritz London selbst gegeben.22 Alfred Brian
Pippard23 schlug eine nichtlokale Verallgemeinerung der London-Gleichungen vor, indem
er eine Kohärenzlänge einführte.24 Diese Verallgemeinerung ist analog zur nichtlokalen Ver-
allgemeinerung des Ohmschen Gesetzes.
Vitaly Lasarevich Ginzburg25 und Lev Davidovich Landau26 führten 1950 eine komple-
xe makroskopische Wellenfunktion Ψ als Ordnungsparameter im Rahmen der allgemei-
nen Landauschen Theorie der Phasenübergänge ein.27 Diese Wellenfunktion beschreibt die
supraleitenden Elektronen, deren lokale Dichte durch n s (r) = ⋃︀Ψ(r)⋃︀2 gegeben ist. Mit der
Ginzburg-Landau (GL) Theorie konnten insbesondere Phänomene beschrieben werden, bei
denen räumliche Variationen der Dichte der supraleitenden Elektronen wichtig sind. Auf
der Basis der GL-Theorie zeigte im Jahr 1957 Alexei Alexeyevich Abrikosov,28 dass wir zwi-
schen Typ-I und Typ-II Supraleitern unterscheiden müssen. Ferner beschrieb er das Flussli-

21
F. London, H. London, The Electromagnetic Equations of the Supraconductor, Proc. Roy. Soc.
Lond. A 149, 71 (1935).
22
F. London, Superfluids, Wiley, New York (1950).
23
Sir Alfred Brian Pippard, geboren am 7. September 1920 in Earl’s Court, London, gestorben am
21. September 2008 in Cambridge.
24
A. B. Pippard, Proc. Roy. Soc. London A 216, 547 (1953).
25
Vitaly Lasarevich Ginzburg, geboren am 4. Oktober 1916 in Moskau, gestorben am 8. Novem-
ber 2009 in Moskau. Er erhielt zusammen mit Alexei Alexeyevich Abrikosov und Anthony James
Leggett den Nobelpreis für Physik 2003 „für seine bahnbrechende Arbeiten zur Theorie der Supra-
leitung und Supraflüssigkeiten“.
26
Lev Davidovich Landau, siehe Kasten auf Seite 466.
27
V. L. Ginzburg, L. D. Landau, Toward the superconductivity theory, Zh. Eksperim. Teor. Fiz. 20, 1064
(1950).
28
Alexei Alexeyevich Abrikosov, geboren am 25. Juni 1928 in Moskau. Er erhielt zusammen mit
Vitaly Lasarevich Ginzburg und Anthony James Leggett den Nobelpreis für Physik 2003 „für seine
bahnbrechende Arbeiten zur Theorie der Supraleitung und Supraflüssigkeiten“.
13.1 Geschichte und grundlegende Eigenschaften 779

niengitter in Typ-II Supraleitern.29 Anfangs erschien die GL-Theorie sehr phänomenologisch


und ihre allgemeine Gültigkeit wurde kontrovers diskutiert. Dies änderte sich jedoch später,
nachdem Lev Petrovich Gor’kov30 im Jahr 1959 zeigen konnte, dass nahe der Sprungtem-
peratur die GL-Theorie eine beschränkte Form der mikroskopischen BCS-Theorie ist, die
besonders gut für die Beschreibung von Situationen mit räumlichen Variationen geeignet
ist.31 , 32
Der Durchbruch im theoretischen Verständnis der Supraleitung kam mit der Entwicklung
der ersten mikroskopischen Theorie (BCS-Theorie) durch die Arbeiten von John Bardeen,
Leon Neil Cooper und John Robert Schrieffer33 , 34 Sie erkannten, dass bei Vorhandensein ei-
ner attraktiven Wechselwirkung zwischen den Elektronen eines Metalls der Fermi-See eines
normalleitenden Metalls instabil wird und sich Elektronenpaare bilden, die wir als Cooper-
Paare bezeichnen. Diese Paare bilden unterhalb der Sprungtemperatur einen kohärenten
Vielteilchenzustand. Die attraktive Wechselwirkung kann durch Phononen vermittelt wer-
den, wie wir bereits in Abschnitt 11.7.3 diskutiert haben. Ein wesentliches Ergebnis der
BCS-Theorie war die Vorhersage einer Energielücke ∆ = 1.76k B Tc zwischen dem kohären-
ten Grundzustand und dem Einteilchenanregungsspektrum, mit der die beobachtete expo-
nentielle Temperaturabhängigkeit der spezifischen Wärme35 von Supraleitern weit unterhalb
von Tc und Mikrowellenabsorptionsexperimente36 erklärt werden konnten. Die Existenz
der Cooper-Paare wurde 1961 durch die Beobachtung der Flussquantisierung durch Robert
Doll und Martin Näbauer sowie zeitgleich durch Bascom S. Deaver und William M. Fair-
bank belegt.37 , 38 Der Wert des Flussquants wurde in diesen Experimenten zu Φ 0 = h⇑q s
mit q s = 2e bestimmt. Die attraktive Wechselwirkung zwischen den Leitungselektronen, die
zu Cooper-Paaren führt, muss nicht unbedingt durch Phononen vermittelt werden. Es kom-
men auch andere Austauschbosonen wie z. B. Magnonen oder Polaronen in Frage. Bis heute
ist nicht vollkommen klar, wie die Paarwechselwirkung in den Kupratsupraleitern zustan-

29
A. A. Abrikosov, On the Magnetic Properties of Superconductors of the Second Group, Zh. Eksperim.
Teor. Fiz. 32, 1142-1152 (1957).
30
Lev Petrovich Gor’kov, geboren am 14. Juni 1928 in Moskau.
31
L. P. Gor’kov, Microscopic Derivation of the Ginzburg-Landau Equations in the Theory of Supercon-
ductivity, Zh. Eksperim. Teor. Fiz. 36, 1918-1923 (1959).
32
A. A. Abrikosov, L. P. Gor’kov, I. E. Dzyaloshinskii in Quantum Field Theoretical Models in Statisti-
cal Physics, Pergamon Press, London (1965).
33
J. Bardeen, L. N. Cooper, J. R. Schrieffer, Microscopic Theory of Superconductivity, Phys. Rev. 106,
162–164 (1957).
34
J. Bardeen, L. N. Cooper, J. R. Schrieffer, Theory of Superconductivity, Phys. Rev. 108, 1175 (1957).
35
W. S. Corak, B. B. Goodman, C. B. Sattersthwaite, A. Wexler, Exponential Temperature Dependence
of the Electronic Specific Heat of Superconducting Vanadium, Phys. Rev. 96, 1442 (1954); Phys.
Rev. 102, 656 (1956).
36
R. E. Glover, M. Tinkham, Conductivity of Superconducting Films for Photon Energies between 0.3
and 40 k B Tc , Phys. Rev. 104, 844 (1956); Phys. Rev. 108, 243 (1956).
37
R. Doll, M. Näbauer, Experimental Proof of Magnetic Flux Quantization in a Superconducting Ring,
Phys. Rev. Lett. 7, 51 (1961).
38
B. S. Deaver Jr., W. M. Fairbank, Experimental Evidence for Quantized Flux in Superconducting Cy-
linders, Phys. Rev. Lett. 7, 43 (1961).
780 13 Supraleitung

de kommt. Es wird aber vermutet, dass magnetische Anregungen eine entscheidende Rolle
spielen.
Unabhängig von den Details der Wechselwirkung, die zu Cooper-Paaren führt, spielt die
Ausbildung eines kohärenten Vielteilchenzustandes durch die Gesamtheit der Cooper-Paare
eine entscheidende Rolle. Nach den Gesetzen der Quantenmechanik können wir diesen ko-
härenten Zustand mit einer Materiewelle mit wohldefinierter Phase beschreiben. Da wir mit
dieser Wellenfunktion ein makroskopisches System beschreiben, sprechen wir von einer ma-
kroskopischen Wellenfunktion. Supraleitung ist also ein inhärentes Quantenphänomen, das
sich auf einer makroskopischen Längenskala manifestiert. Kohärente Materiewellen spie-
len auch in anderen Bereichen der Physik eine wichtige Rolle. So können wir die Supra-
fluidität39 , 40 , 41 in flüssigem Helium oder den Grundzustand von Bose-Einstein-Kondensa-
ten42 , 43 mit einer makroskopischen Materiewelle beschreiben. Auch das von einem Laser
erzeugte Licht können wir als kohärenten Zustand eines Photonengases auffassen.

13.1.2 Supraleitende Materialien


Supraleitung wurde an dem elementaren Metall Quecksilber entdeckt. Bis heute sind uns
Tausende von supraleitenden Substanzen bekannt. Eine wesentliche Triebfeder war dabei
neben grundlagenphysikalischem Interesse auch immer die Hoffnung, eines Tages einen Su-
praleiter zu finden, der bei Raumtemperatur verwendet werden kann.

Supraleitende Elemente: Das in Abb. 13.3 gezeigte Periodensystem der Elemente zeigt,
dass die Supraleitung keine seltene Eigenschaft ist, sondern dass viele Metalle bereits bei
Normaldruck und eine weitere große Gruppe bei hohen Drücken supraleitend werden. Ihre
strukturelle Ordnung spielt dabei eine untergeordnete Rolle. Bei Atmosphärendruck liegt die
Übergangstemperatur der Elementsupraleiter zwischen 0.32 mK (Rh) und 9.2 K (Nb). Vor
kurzem wurde entdeckt, dass Lithium unter hohem Druck von fast 0.5 Mbar eine Sprung-
temperatur von fast 20 K erreicht. Ähnliche Beobachtungen wurden für Schwefel gemacht.
Ferner tritt Supraleitung in einigen metallischen Hochdruckphasen von Nichtmetallen wie
Si, Ge, P oder As auf. Die Frage, ob alle Metalle bei genügend tiefen Temperaturen supralei-
tend werden, lässt sich bis heute nicht beantworten, da Supraleiter mit sehr kleinen Über-
gangstemperaturen sehr empfindlich auf paramagnetische Verunreinigungen und magne-
tische Restfelder reagieren. Magnetisch ordnende Metalle wie Fe, Co und Ni müssen hier
ausgenommen werden, da sie im ferromagnetischen Zustand mit großer Wahrscheinlich-
keit nicht supraleitend werden können. Allerdings wurde vor kurzem in einer unmagneti-

39
D. M. Lee, The extraordinary phases of liquid 3 He, Rev. Mod. Phys. 69, 645 (1997).
40
D. D. Osheroff, Superfluidity in 3 He: Discovery and understanding, Rev. Mod. Phys. 69, 667 (1997).
41
R. C. Richardson, The Pomeranchuk effect, Rev. Mod. Phys. 69, 683 (1997).
42
E. A. Cornell, C. E. Wieman, Nobel Lecture: Bose-Einstein condensation in a dilute gas, the first 70
years and some recent experiments, Rev. Mod. Phys. 74, 875 (2002).
43
W. Ketterle, Nobel lecture: When atoms behave as waves: Bose-Einstein condensation and the atom
laser, Rev. Mod. Phys. 74, 1131 (2002).
13.1 Geschichte und grundlegende Eigenschaften 781

1H 2He
supraleitend bei p = 1 bar

supraleitend bei p >> 1 bar


3Li 4Be 5B 6C 7N 8O 9F 10Ne

20 0.03 11 0.6
nichtsupraleitend
11Na 12Mg 13Al 14Si 15P 16S 17Cl 18Ar
magnetisch ordnend 1.19 8.5 18 17

19K 20Ca 21Sc 22Ti 23V 24Cr 25Mn 26Fe 27Co 28Ni 29Cu 30Zn31Ga 32Ge 33As 34Se 35Br 36Kr

15 0.35 0.4 5.3 2.0 0.9 1.09 5.4 2.7 5.6 1.4

45Rh
37Rb 38Sr 39Y 40Zr 41Nb 42Mo 43Tc 44Ru 46Pd 47Ag 48Cd 49In 50Sn 51Sb 52Te 53I 54Xe
320
4.0 2.7 0.55 9.2 0.923 7.8 0.5 0.55 3.4 3.7 5.6 7.4 1.1
µK

55Cs 56Ba 57La72Hf 73Ta 74W 75Re 76Os 77Ir 78Pt 79Au 80Hg 81Tl 82Pb 83Bi 84Po 85At 86Pn

5.1 5.9 0.16 4.4 0.01 1.7 0.65 0.14 4.15 2.4 7.2 8.7

87Fr 88Ra 89Ac 58Ce 59Pr 60Nd 61Pm 62Sm 63Eu 64Gd 65Tb 66Dy 67Ho 68Er 69Tm 70Yb 71Lu

1.7 0.1

90Th 91Pa 92U 93Np 94Pu 95Am 96Cm 97Bk 98Cf 99Es 100Fm 101Md 102No 103Lw

1.37 1.3 0.2 0.8

Abb. 13.3: Verteilung der supraleitenden Elemente im Periodensystem der Elemente. Die blau hinter-
legten Elemente werden bereits bei Atmosphärendruck, die grün hinterlegten nur bei höheren Drücken
supraleitend (die in K angegebene Sprungtemperatur ist die maximal unter Druck erreichte kritische
Temperatur). Die orange hinterlegten Elemente ordnen magnetisch. Nur für einige wenige Elemente
wurde bis heute weder eine magnetische geordnete Tieftemperaturphase noch Supraleitung gefun-
den (nach N. W. Ashcroft, Nature 419, 569–572 (2002) sowie C. Buzea, K. Robble, Supercond. Sci.
Techn. 18, R1 (2005)).

schen Hochdruckphase von Fe Supraleitung mit Tc = 2 K gefunden.44 Nur wenige metalli-


sche Elemente sind nach unserem heutigen Wissensstand weder magnetisch geordnet noch
supraleitend (z. B. einige Alkali- und Erdalkalimetalle und Edelmetalle).

Supraleitende Legierungen und Verbindungen: Sehr bald nach der Entdeckung der Su-
praleitung wurden nicht nur Elemente, sondern auch Legierungen und Verbindungen hin-
sichtlich ihrer supraleitenden Eigenschaften untersucht. Bis heute wurden mehr als 1000 su-
praleitende Legierungen und Verbindungen gefunden. Interessant ist, dass es Verbindungen
wie z. B. CuS mit einer Sprungtemperatur von 1.6 K gibt, deren Komponenten selbst kei-
ne Supraleitung zeigen. Technisch interessant sind die 1954 entdeckten Verbindungen mit
der so genannten A 15-Struktur (β-Wolframstruktur).45 , 46 Zu ihnen gehören mit Nb3 Ge
(Tc = 23.2 K), Nb3 Sn (Tc = 18.0 K) und V3 Si (Tc = 17 K) Verbindungen, die hohe Sprung-
temperaturen und hohe kritische Felder besitzen. Nb3 Sn wird deshalb heute zum Bau großer

44
K. Shimizu et al., Superconductivity in the non-magnetic state of iron under pressure, Nature 412,
316 (2002).
45
G. F. Hardy, J. K. Hulm, Superconducting Silicides and Germanides, The Superconductivity of Some
Transition Metal Compounds, Phys. Rev. 87, 884 (1953); Phys. Rev. 93, 1004 (1954).
46
B. T. Matthias, T. H. Geballe, S. Geller, E. Corenzwit, Superconductivity of Nb3 Sn, Phys. Rev. 95,
1435 (1954).
782 13 Supraleitung

supraleitender Magnete eingesetzt. Weitere technisch interessante Nb-Verbindungen sind


NbTi (Tc = 10–11 K) und NbN (Tc = 13–16 K).
Interessante Verbindungen sind die Chevrel-Phasen47 und die Borkarbide.48 Chevrel-Phasen
sind dabei chemische Verbindungen des Molybdäns mit der allgemeinen Form M x Mo6 X 8 .
Als Metall M sind dabei verschiedene Elemente wie Kalzium, Strontium, Barium, Zinn(II),
Blei(II), Gold oder Lanthanoide möglich. Das Gegenion X ist immer ein Chalkogenid, ent-
weder Schwefel, Selen oder Tellur. Die bekannteste Chevrel-Phase ist PbMo6 S8 mit einer
Sprungtemperatur von 15 K und einem oberen kritischen Feld von 60 T. Bei den erst 1994
entdeckten Borkarbiden handelt es sich um Verbindungen der Form RM 2 B2 C, wobei R für
ein Seltenerd-Atom (z. B. Tm, Er, Ho) und M für Ni oder Pd steht. Einige dieser Verbindun-
gen haben Sprungtemperaturen oberhalb von 15 K. Physikalisch interessant ist, dass sowohl
in einigen Chevrel-Phasen als auch in den Borkarbiden eine Koexistenz von Supraleitung
und antiferromagnetischer Ordnung auftreten kann.
Anfang 2001 wurde von Akimitsu und Mitarbeitern entdeckt, dass die Verbindung MgB2
bei Temperaturen knapp unterhalb von 40 K supraleitend wird.49 Diese Entdeckung war sehr
überraschend, da MgB2 seit den 1950er Jahren bekannt und kommerziell erhältlich war und
ferner intermetallische Verbindungen seit langem auf Supraleitung hin untersucht wurden.
MgB2 könnte in Zukunft für technische Anwendungen im Bereich supraleitender Kabel in-
teressant werden.

Schwere-Fermionen-Supraleiter: Ende der 1970er Jahre wurde von Steglich und Mitar-
beitern unterhalb von etwa 0.5 K Supraleitung in der Verbindung CeCu2 Si2 gefunden.50 Da
die Elektronen in dieser und ähnlichen Verbindungen effektive Massen haben, die einige 100
bis 1000-mal größer sind als die Masse freier Elektronen, werden diese metallischen Syste-
me als Schwere-Fermionen-Supraleiter bezeichnet. Der Mechanismus der Supraleitung in
diesen Systemen ist bis heute noch nicht verstanden.

Organische Supraleiter: Bereits 1964 postulierte W. H. Little, dass es möglich sein sollte,
mit organischen Substanzen hohe Sprungtemperaturen zu erreichen. Erst 1980 wurde von
Jérome und Mitarbeitern Supraleitung in der organischen Substanz Tetramethyl-tetraselen-
afulvalen (TMTSF) unterhalb von 0.9 K bei einem angelegten Druck von 12 kbar entdeckt.51
In der Folgezeit wurden viele weitere organische Supraleiter mit Sprungtemperaturen bis zu
etwa 12 K entdeckt. Die Hypothese von Little konnte aber noch nicht bestätigt werden.

47
R. Flukiger, R. Baillif, in Superconductivity in Ternary Compounds I, Hrsg. Ø. Fischer, M. B. Maple,
Springer, New York (1982), S. 113–140.
48
R. J. Cava et al., Superconductivity at 23 K in yttrium palladium boride carbide, Nature 367, 146
(1994).
49
J. Nagamatsu, N. Nakagawa, T. Muranaka, Y. Zenitani, J. Akimitsu, Superconductivity at 39 K in
MgB2 , Nature 410, 63 (2001).
50
F. Steglich et al., Superconductivity in the Presence of Strong Pauli Paramagnetism: CeCu2 Si2 , Phys.
Rev. Lett. 43, 1892–1896 (1979).
51
D. Jérome et al., Acad. Sci. Ser. B 290, 27 (1980).
13.1 Geschichte und grundlegende Eigenschaften 783

Fulleride: Im Jahr 1985 entdeckten R. F. Curk, R. E. Smalley und H. W. Kroto das ball-
förmige Kohlenstoffmolekül C60 . Die C60 -Moleküle lassen sich dotieren und in Molekül-
kristallen regelmäßig anordnen. Dadurch erhält man Fulleride, die bei erstaunlich hohen
Temperaturen von bis zu 40 K supraleitend werden.52 Es deutet vieles darauf hin, dass die
Supraleitung in den Fulleriden wie in metallischen Supraleitern und MgB2 durch Elektron-
Phonon-Wechselwirkung zustande kommt.

Supraleitende Oxide: Viele Oxide sind Isolatoren, weshalb vermutet wurde, dass mit Oxi-
den keine Supraleiter mit hoher Sprungtemperatur erhalten werden können. Umso erstaun-
licher war dann die Entdeckung von Georg Bednorz und Alex Müller, die 1986 in dem
oxidischen System La-Ba-Cu-O Supraleitung bei etwa 25 K fanden.53 Als kurze Zeit später
von Paul Chu und Mitarbeitern in YBa2 Cu3 O7 (Tc = 93 K) erstmals Supraleitung bei einer
Temperatur oberhalb der Siedetemperatur von flüssigem Stickstoff (77 K) gefunden wur-
de,54 begann eine intensive Forschungsaktivität mit dem Ziel, Supraleiter mit noch höhe-
ren Sprungtemperaturen nahe oder oberhalb von Raumtemperatur zu finden. Mittlerweile
kennen wir viele supraleitende Oxide (neben den Kupraten vor allem Wismutoxide und Ru-
thenoxide), ihre Sprungtemperaturen liegen aber unter etwa 135 K bei Atmosphärendruck
und etwa 165 K bei hohem Druck. Die anfängliche Euphorie ist heute verflogen, da sich die
keramischen Materialien auch nur mit großem Aufwand in technische Anwendungen um-
setzen lassen. Wissenschaftlich bleibt aber die Klärung des Mechanismus der Supraleitung
eine der großen Herausforderungen der heutigen Festkörperphysik.

Eisen-Pniktide: Von der Arbeitsgruppe um H. Hosono wurde 2008 Supraleitung in dem


Eisen-Pniktid La[O1−x Fx ]FeAs bei einer Sprungtemperatur von 26 K entdeckt und damit
die „Eisenzeit“ der Supraleitung eingeläutet.55 Mittlerweile sind eine Reihe von unterschied-
lichen Eisen-Pniktiden mit Übergangstemperaturen von bis zu 55 K bekannt. Dies ist nicht
nur wegen der hohen Sprungtemperaturen äußerst interessant, sondern auch hinsichtlich
des generellen Verständnisses der Supraleitung. Supraleitung in einer Eisenverbindung hät-
te man bis vor kurzem noch nicht für möglich gehalten.

13.1.3 Sprungtemperaturen
Supraleitung ist ein ausgeprägtes Tieftemperaturphänomen. Dies erschwert den Einsatz der
Supraleitung in vielen Anwendungsgebieten. Physiker und Materialwissenschaftler haben
deshalb immer versucht, die Sprungtemperaturen zu erhöhen. Das langfristige Ziel ist da-
bei, Sprungtemperaturen oberhalb von Raumtemperatur zu erzielen. Wie Abb. 13.4 zeigt,
52
C. H. Pennington, V. A. Stenger, Nuclear magnetic resonance of C60 and fulleride superconductors,
Rev. Mod. Phys. 68, 855 (1996).
53
J. G. Bednorz, K. A. Müller, Possible High Tc Superconductivity in the Ba-La-Cu-O System,
Z. Phys. B 64, 189 (1986).
54
M. K. Wu, C. W. Chu et al., Superconductivity at 93 K in a New Mixed-Phase Y-Ba-Cu-O Compound
System at Ambient Pressure, Phys. Rev. Lett. 58, 908–910 (1987).
55
Y. Kamihara, T. Watanabe, M. Hirano, H. Hosono, Iron-Based Layered Superconductor
La[O1−x Fx ]FeAs (x = 0.05 − 0.12) with Tc = 26 K, J. Am. Chem. Soc. 130, 3296 (2008).
784 13 Supraleitung

200 HgBaCaCuO @ 30 GPa


H2S

150 TlBaCaCuO HgTlBaCaCuO


BiSrCaCuO HgBaCaCuO
100 LN2
YBaCuO

50 Cs3C60
SmFeAsO
Tc (K)

@ 1.4 GPa MgB2


40
RbCsC60
(Ba,K)Fe2As2
LaBaCuO
30
Nb3Ge BaKBiO YbPd2B2C LaFeAsO
Nb3Sn PuCoGa5 LH2
20 Li
NbN K3C60 CNT
V3Si @ 33 GPa
10 Pb PuRhGa5 CaC6
Nb UBe13 UPt UPd2Al2 CeCoIn5 YbC6 LHe
Hg CeCu2Si2 3 diamond
0
1920 1960 1985 1995 2005 2015
Jahr
Abb. 13.4: Zeitliche Entwicklung der Sprungtemperaturen von Supraleitern. Verschiedene 62Klassen von
Supraleitern wie z. B. die metallischen Supraleiter, die Kuprate, die Schwere-Fermionen-Supraleiter,
die Eisen-Pniktide oder Kohlenstoff-basierte Supraleiter sind unterschiedlich farblich gekennzeichnet.
Man beachte die unterbrochene x- und y-Achse.

wurden auf diesem Weg zwar enorme Fortschritte erreicht, das Ziel Raumtemperatur-Su-
praleitung ist aber immer noch nicht in Sicht. Im Jahr 2015 wurde in H2 S bei einem Druck
von 155 GPa die bisher höchste Sprungtemperatur von 203 K beobachtet.56

13.1.4 Grundlegende Eigenschaften


13.1.4.1 Perfekte Leitfähigkeit
Wir haben in Abschnitt 13.1.1 bereits erwähnt, dass Heike Kamerlingh Onnes bei der Unter-
suchung der Temperaturabhängigkeit des elektrischen Widerstandes die Supraleitung in Hg
entdeckt hat. Messen wir den elektrischen Widerstand eines Supraleiters, so stellen wir fest,
dass dieser bei der Sprungtemperatur Tc innerhalb eines kleinen Temperaturintervalls ∆Tc
auf einen unmessbar kleinen Wert abfällt. Die Übergangsbreite ∆Tc wird üblicherweise
durch

∆Tc = T(R = 0.9 ⋅ R n ) − T(R = 0.1 ⋅ R n ) (13.1.5)

definiert, wobei R n der Normalwiderstand oberhalb von Tc ist. Für homogene Proben findet
man sehr kleine Übergangsbreiten von weniger als 10 mK. Es sei hier darauf hingewiesen,
dass auch verunreinigte Proben und Legierungen Supraleitung mit einem scharfen Über-
gang in den supraleitenden Zustand zeigen können. Ein Beispiel ist PbIn, das bei einem In-
Anteil von 10% eine gegenüber reinem Blei nur um etwa 0.1 K reduzierte Sprungtemperatur
56
A. P. Drozdov et al., Conventional superconductivity at 203 kelvin at high pressures in the sulfur
hydride system, Nature 525, 73-76 (2015).
13.1 Geschichte und grundlegende Eigenschaften 785

𝑩𝐞𝐱𝐭 > 𝟎 𝑩𝐞𝐱𝐭 > 𝟎 𝑩𝐞𝐱𝐭 = 𝟎


Abb. 13.5: Zur Erzeugung eines Dauer-
stroms in einem supraleitenden Ring. Es
wird für T > Tc ein homogenes Magnet-
feld angelegt und dann unter Tc abgekühlt.
Schalten man nun das Feld ab, wird die im
Ring eingeschlossene Flussdichte durch
einen im Ring zirkulierenden Dauerstrom
𝑻 > 𝑻𝒄 𝑻 < 𝑻𝒄 𝑻 < 𝑻𝒄 beibehalten.

besitzt. In manchen Fällen zeigen sogar extrem ungeordnete, amorphe Legierungen höhere
Sprungtemperaturen als entsprechende kristalline Systeme gleicher Zusammensetzung.
Beim Übergang in den supraleitenden Zustand spricht man immer lax von einem Ver-
schwinden des elektrischen Widerstands. Prinzipiell ist es aber nicht möglich, einen
64

Widerstandswert R = 0 experimentell zu messen. Wir können nur eine obere Schran-


ke ∆R = ∆U⇑I angeben. Hierbei ist ∆U die Auflösung des für die Spannungsmessung
verwendeten Messgeräts und I der verwendete Messstrom. Typischerweise liegt ∆U im
Bereich von 10 nV und I kann nicht beliebig erhöht werden, da sonst im normalleitenden
Bereich Heizeffekte auftreten. Bei einem Messstrom von I = 1 A würden wir also eine obere
Schranke für den Widerstand von ∆R = 10 nΩ erhalten.
Einen wesentlich kleineren Wert für die obere Schranke des Widerstands im supraleiten-
den Zustand können wir durch eine induktive Messung erhalten. Dabei kühlen wir, wie in
Abb. 13.5 gezeigt ist, einen supraleitenden Ring mit Fläche A und Induktivität L in einem
homogenen Magnetfeld unter Tc ab. Durch eine Flächenintegration von (13.1.1) erhalten
wir mit dem Stokesschen Theorem

− ∫ B ⋅ ⧹︂
n dS = ∫ (∇ × E) ⋅ ⧹︂
n dS = ∮ E ⋅ dℓ = 0 , (13.1.6)
∂t
A A Γ

wobei ⧹︂
n der auf der Fläche A senkrecht stehende Einheitsvektor ist. Das heißt, der den
Ring durchdringende magnetische Fluss Φ = ∫ A B ⋅ ⧹︂
n dS muss wegen E = 0 konstant bleiben.
Schalten wir das Magnetfeld im supraleitenden Zustand ab, wird in dem supraleitenden Ring
ein Dauerstrom angeworfen. Dieser Dauerstrom kann z. B. durch Messung des damit ver-
bundenen magnetischen Moments µ = I ⋅ A gemessen werden. Hätte der Supraleiter einen
endlichen Widerstand ∆R, so würde der Ringstrom gemäß

∆R
I(t) = I 0 exp (− t) (13.1.7)
L
zeitlich abklingen. Dieses Abklingverhalten kann über einen sehr langen Zeitraum von z. B.
einem Jahr beobachtet werden. Würde man über diesen Zeitraum ein Abklingen des Supra-
stroms um weniger als 10% beobachten, so wäre für L = 1 nH die obere Schranke für den
Widerstand nur etwa 10−17 Ω. Dies wird in der Tat beobachtet. Genaueste Messungen lie-
fern eine unter Schranke der Abklingzeit von mehr als 105 Jahren, was die Annahme R = 0
für den supraleitenden Zustand rechtfertigt. Ein endliches Abklingen des Ringstromes wird
übrigens immer durch die unvermeidbare Wechselwirkung mit dem Messsystem erhalten.
786 13 Supraleitung

13.1.4.2 Perfekter Diamagnetismus


In Abschnitt 13.1.1.2 haben wir bereits den Unterschied zwischen einem perfekten Leiter
und einem Supraleiter diskutiert. Ein Supraleiter besitzt nicht nur eine unendlich hohe Leit-
fähigkeit, sondern zeigt auch den Meißner-Ochsenfeld-Effekt. Das heißt, die magnetische
Induktion B i im Inneren eines Supraleiters ist unabhängig von seiner Vorgeschichte null. Es
gilt also, dass57

B i = µ 0 (Hext + M) = µ 0 (Hext + χHext ) = µ 0 Hext (1 + χ) = 0 . (13.1.8)

Wir sehen, dass die vollständige Feldverdrängung gleichbedeutend damit ist, dass der Supra-
leiter die magnetische Suszeptibilität χ = −1 besitzt, er ist also ein perfekter Diamagnet. Es
sei hier angemerkt, dass die magnetische Suszeptibilität im Allgemeinen ein Tensor 2. Stufe
ist, der durch χ i j = ∂M i ⇑∂H ext,j gegeben ist. Wir werden aber isotrope Systeme betrachten,
für die wir χ als skalare Größe verwenden können.

𝜇0 𝐻ext
normalleitend
𝐵cth
𝑩𝐜𝐭𝐡 𝑻
B
SL NL
4

2 supraleitend 3

SL 1 A NL
𝑇𝑐 𝑇

Abb. 13.6: Magnetfeld-Temperatur-Phasendiagramm eines Supraleiters. Eingezeichnet sind zwei We-


ge 1–2 und 3–4 vom normalleitenden Zustand A (T > Tc , µ 0 H ext = 0) in den supraleitenden Zustand B
(T < Tc , 0 < µ 0 H ext < B cth ).

Abb. 13.6 zeigt nochmals die in Abb. 13.2 bereits diskutierten unterschiedlichen Wege 74von
einem Zustand A im normalleitenden Bereich zu einem Endzustand B im supraleitenden
Bereich. Entlang des Weges 1–2 kühlen wir zunächst unter Tc ab und schalten dann im su-
praleitenden Zustand das Magnetfeld an. Hier könnten wir die Feldverdrängung auch ohne
perfekten Diamagnetismus alleine mit der perfekten Leitfähigkeit und der Lenzschen Regel
erklären. Entlang des Weges 3–4 schalten wir aber zuerst das Magnetfeld oberhalb Tc an und
kühlen dann bei konstantem Magnetfeld ab. Hier würden wir nach unserer obigen Diskussi-
on für einen perfekten Leiter keine Feldverdrängung erhalten. Das Experiment von Meißner
und Ochsenfeld zeigte aber, dass auch entlang dieses Weges eine perfekte Feldverdrängung
erhalten wird. Das heißt, es gilt stets B i = 0 unabhängig von der Vorgeschichte. Damit kann
der supraleitende Zustand als Gleichgewichtszustand im Sinne der Thermodynamik aufge-
fasst werden. Es stellt sich natürlich sofort die Frage, wodurch wenn nicht durch das Fa-
radaysche Induktionsgesetz im Supraleiter Abschirmströme angeworfen werden, wenn wir
bei konstantem Magnetfeld unter die Sprungtemperatur abkühlen. Wir werden später sehen,

57
Wir wollen hier Entmagnetisierungseffekte zunächst vernachlässigen. Auf diese werden wir später
in Abschnitt 13.4.3 noch eingehen.
13.1 Geschichte und grundlegende Eigenschaften 787

dass die Ursache dafür die Existenz einer einheitlichen Phase einer makroskopischen Wel-
lenfunktion ist, mit der wir die Gesamtheit der supraleitenden Elektronen beschreiben. Der
Abschirmstrom ist proportional zum eichinvarianten Gradienten dieser Phase, der durch
das Vektorpotenzial modifiziert wird.
Es sei darauf hingewiesen, dass B i = 0 nur bis auf eine dünne Oberflächenschicht gilt, in wel-
cher der zur Abschirmung notwendige supraleitende Dauerstrom fließt. Wir werden weiter
unten sehen, dass die Dicke dieser Oberflächenschicht typischerweise nur im Bereich von
100 nm liegt und deshalb für massive Proben vernachlässigt werden kann.

13.1.4.3 Kritisches Feld


Die Existenz eines reversiblen Meißner-Ochsenfeld-Effekts erfordert, dass die Supraleitung
durch ein kritisches Magnetfeld B cth zerstört wird. Wäre dies nicht der Fall, so müsste der
Supraleiter ja die Möglichkeit haben, eine unendlich hohe Magnetfeldverdrängungsarbeit
zu leisten. Die Aussage B i = 0 gilt also nur für µ 0 H ext ≤ B cth (T). Erhöhen wir µ 0 H ext , so
bleibt zunächst B i = 0. Erreichen wir aber das kritische Feld B cth (T), so bricht die Abschir-
mung zusammen und es erfolgt ein Übergang in den normalleitenden Zustand, in dem das
innere Feld dann proportional zum externen Feld zunimmt. Dies ist in Abb. 13.7a gezeigt.
Betrachten wir die in Abb. 13.7b gezeigte Magnetisierung des Supraleiters, so nimmt die-
se gemäß −µ 0 M = µ 0 Hext − B i wegen B i = 0 zunächst linear mit dem angelegten Magnet-
feld Hext zu. Wird das kritische Feld erreicht, so nimmt die Magnetisierung schlagartig auf
den sehr kleinen Wert im normalleitenden Bereich ab, da jetzt B i = µ 0 Hext .58 Wir wollen
abschließend noch darauf hinweisen, dass das in Abb. 13.7 gezeigte Verhalten nur für so
genannte Typ-I Supraleiter gilt. Den genauen Unterschied zwischen Typ-I und Typ-II Su-
praleitern werden wir aber erst später in Abschnitt 13.3.3 diskutieren.
Nehmen wir an, dass der Unterschied der freien Enthalpiedichte zwischen normalleitendem
und supraleitendem Zustand bei einer bestimmten Temperatur ∆g(T) = gn (T) − gs (T) be-
trägt, so gilt für das thermodynamisch kritische Magnetfeld

B 2cth (T)
= gn (T) − gs (T) , (13.1.9)
2µ 0

𝑩𝒊
−𝝁𝟎 𝑴

(a) (b)

𝟎 𝑩𝐜𝐭𝐡 𝝁𝟎 𝑯𝐞𝐱𝐭 𝟎 𝑩𝐜𝐭𝐡 𝝁𝟎 𝑯𝐞𝐱𝐭

Abb. 13.7: Schematische Darstellung (a) der magnetischen Flussdichte im Inneren eines Supraleiters
und (b) der Magnetisierung als Funktion des von außen angelegten Magnetfelds.

58
Die Paulische Spin-Suszeptibilität χ Pauli eines normalleitenden Metalls beträgt nur etwa
75 10−5 , so
dass B i = µ 0 Hext eine sehr gute Näherung ist.
788 13 Supraleitung

80

60
Pb

Bcth (mT)
40

Hg
20
Abb. 13.8: Temperaturabhängigkeit
des thermodynamisch kritischen Al Sn
Feldes von Typ-I Supraleitern. Die Cd
Linien geben die nach (13.1.9) erwar- 0
0 2 4 6 8
teten Temperaturabhängigkeit wieder. T (K)

da der Supraleiter ja nicht mehr Energie für die Feldverdrängung aufwenden kann, als
er durch den Übergang in den supraleitenden Zustand gewonnen hat. Die Enthalpiedif-
ferenz ∆g(T) = gn (T) − gs (T) nennen wir auch Kondensationsenergie, da sie aus der
Kondensation der Leitungselektronen in den supraleitenden Zustand resultiert (eine genaue
Diskussion der thermodynamischen Eigenschaften von Supraleitern folgt in Abschnitt 13.2
und Anhang G). Die Temperaturabhängigkeit von B cth hängt von den Details der mikro-
skopischen Theorie ab, die wir erst später diskutieren werden. Empirisch lässt sich die
experimentell gefundene Abhängigkeit sehr gut durch (siehe hierzu Abb. 13.8)

T 2
B cth (T) = B cth (0) ⌊︀1 − ( ) }︀ (13.1.10)
Tc

beschreiben. Typische Werte für B cth (0) betragen für elementare Supraleiter einige 10 mT.

13.1.4.4 Shubnikov-Phase
Die Feldverdrängungsenergie im Meißner-Zustand steigt quadratisch mit dem Feld an und
beim kritischen Feld führt das komplette Eindringen des Magnetfeldes zum Zusammen-
bruch der Supraleitung. Lev Wassiljevitsch Shubnikov zeigte allerdings bereits 1936, dass
eine Verunreinigung von Pb mit Tl zu einer neuen Phase führt, die wir heute Shubnikov-
Phase oder Mischzustand nennen.59 , 60 In dieser Phase wird der Supraleiter bereits für Felder
unterhalb des thermodynamisch kritischen Feldes B cth von magnetischem Fluss durchsetzt
und der supraleitende Zustand verschwindet erst bei Feldern oberhalb von B cth . Die Ma-
gnetfelder B c1 und B c2 , die das untere und obere Ende der Shubnikov-Phase markieren,
bezeichnen wir als unteres und oberes kritisches Magnetfeld. Wir werden später sehen, dass
der magnetische Fluss in der Shubnikov-Phase in Form eines mehr oder weniger regelmä-

59
L. W. Shubnikov et al., Magnetische Eigenschaften supraleitender Metalle und Legierungen, Phys. Z.
Sowjet., Sondernummer zu Arbeiten auf dem Gebiete tiefer Temperaturen, 39-66 (1936).
60
L. W. Shubnikov et al., Magnetische Eigenschaften supraleitender Metalle und Legierungen, Phys. Z.
Sowjet. 10, 165-192 (1936).
13.1 Geschichte und grundlegende Eigenschaften 789

ßigen Gitters einzelner Flusslinien angeordnet ist, deren Flussinhalt gerade ein Flussquant
beträgt.
Heute wissen wir, dass die Shubnikov-Phase keine seltene Erscheinung ist, sondern in allen
Nichtelement-Supraleitern auftritt. Wir können das Auftreten der Shubnikov-Phase dazu
benutzen, Supraleiter in Typ-I und Typ-II Supraleiter einzuteilen. Typ-I Supraleiter zeigen
bis zum thermodynamisch kritischen Feld B cth einen perfekten Meißner-Effekt und gehen
dann direkt in den Normalzustand über. Typ-II Supraleiter zeigen dagegen nur bis zum un-
teren kritischen Magnetfeld B c1 < B cth einen perfekten Meißner-Zustand und gehen dann
im Feldintervall zwischen B c1 und B c2 in die Shubnikov-Phase über. Die Supraleitung ver-
schwindet erst bei Feldern oberhalb des oberen kritischen Magnetfeldes B c2 > B cth . Eine ge-
naue Diskussion der Eigenschaften von Typ-I und Typ-II Supraleitern folgt in Abschnitt 13.4.
Wir werden in Abschnitt 13.7 auch sehen, dass Typ-II Supraleiter eine enorme Bedeutung
für Anwendungen haben, bei denen hohe kritische Ströme und hohe Magnetfelder von In-
teresse sind.

13.1.4.5 Flussquantisierung
Im Jahr 1961 beobachteten etwa zeitgleich zwei experimentelle Gruppen, Robert Doll und
Martin Näbauer am Walther-Meißner-Institut in München, und Bascom S. Deaver und
William M. Fairbank an der Stanford University, dass der in einem supraleitenden Hohl-
zylinder eingefangene magnetische Fluss in Einheiten des Flussquants

h
Φ0 ≡ = 2.067 833 831(13) × 10−15 Vs (13.1.11)
2e

quantisiert ist.61 , 62 , 63 Diese Experimente belegten nicht nur die Quantisierung das magneti-
schen Flusses in mehrfach zusammenhängenden Supraleitern, sondern bewiesen auch zum
ersten Mal die Existenz von Cooper-Paaren mit Ladung q s = −2e und damit eine Kernaus-
sage der wenige Jahre zuvor von John Bardeen, Leon Cooper und Robert Schrieffer (BCS)
entwickelten mikroskopischen Theorie.
In beiden Experimenten wurden supraleitende Hohlzylinder verwendet, die in einem ange-
legten Magnetfeld B kühl unter die Sprungtemperatur abgekühlt wurden. Anschließend wur-
de das Magnetfeld abgeschaltet, so dass ein bestimmter magnetischer Fluss in dem Zylinder
eingefangen wurde (vergleiche hierzu Abb. 13.5). Der Wert des eingefangenen Flusses wur-
de dann als Funktion des Abkühlfeldes mit einer Genauigkeit gemessen, die besser als ein
Flussquant sein musste. Um eine große relative Änderung des eingefangenen Flusses von
Messung zu Messung zu erhalten, wurden kleine Abkühlfelder B kühl verwendet, die in ei-
ner kleinen Zahl von eingefangenen magnetischen Flussquanten resultierten. Da Φ = B ⋅ F,
musste sowohl B kühl als auch die Querschnittsfläche F bzw. der Innendurchmesser d des
Hohlzylinders klein gehalten werden. Man beachte, dass für F = 1 mm2 nur eine winzige
61
R. Doll, M. Näbauer, Experimental Proof of Magnetic Flux Quantization in a Superconducting Ring,
Phys. Rev. Lett. 7, 51 (1961).
62
B. S. Deaver Jr., W. M. Fairbank, Experimental Evidence for Quantized Flux in Superconducting Cy-
linders, Phys. Rev. Lett. 7, 43 (1961).
63
D. Einzel, R. Gross, Paarweise in Fluss, Physik Journal 10, No. 6, 45–48 (2011).
790 13 Supraleitung

Quarz-
faden

Spiegel

𝑩𝒑
Pb
Abb. 13.9: Schematische Darstellung des
Versuchsaufbaus, der von Doll und Näbau- Quarz-
er im Jahr 1961 zur Messung der Flussquan- zylinder
tisierung in einem supraleitenden Hohl-
zylinder verwendet wurde (nach R. Doll,
M. Näbauer, Phys. Rev. Lett. 7, 51 (1961)). 𝐷 ≈ 10 μm

Flussdichte B ≃ 10−9 T benötigt wird, um ein Flussquant in dem Zylinder zu erzeugen. Diese
Flussdichte ist wesentlich kleiner als die durch das Erdmagnetfeld in Mitteleuropa erzeug-
te horizontale Flussdichte B Erde ≃ 2 × 10−5 T. Von beiden experimentellen Gruppen wurden
Hohlzylinder mit einem Außendurchmesser von etwa 10 µm verwendet. Für diesen Durch-
messer wird eine Flussdichte B ≃ 2 × 10−5 T benötigt, um ein Flussquant zu erzeugen. Da
diese Flussdichte immer noch im Bereich der Flussdichte des Erdfeldes liegt, musste das
Erdmagnetfeld in diesen Experimenten sorgfältig abgeschirmt werden.
Im Experiment von Doll und Näbauer wurde ein Hohlzylinder aus Blei verwendet (siehe
Abb. 13.9). Der Zylinder wurde durch Aufdampfen eines Bleifilmes auf einen Quarzzylinder
realisiert. Beim Abkühlen des Zylinders unter die Sprungtemperatur von Blei (7.2 K) wurde
ein kleines Magnetfeld längs der Zylinderachse angelegt und dadurch ein bestimmter Ma-
gnetfluss im Zylinder eingefroren. Die Größe des eingefangenen magnetischen Flusses wur-
de durch die Messung des Drehmoments D = µ × B p bestimmt, das durch ein Messfeld B p
erzeugt wurde, das senkrecht zur Zylinderachse angelegt wurde. Dabei ist µ das magnetische
Moment des eingefangenen Flusses. Da das Drehmoment sehr klein und deshalb schwierig
zu messen ist, wurde eine Resonanzmethode verwendet. Der Zylinder wurde dazu an einem
dünnen Quarzfaden aufgehängt und über ein Wechselfeld B p zu einer Resonanzschwingung
angeregt. Im Fall der Resonanz ist die Schwingungsamplitude resonant überhöht und kann
deshalb leichter gemessen werden. Die Drehung des Zylinders wurde ausgelesen, indem ein
Lichtstrahl auf einen am Quarzfaden befestigten Spiegel geschickt wurde. Die gemessene
Resonanzamplitude ist proportional zum Drehmoment und damit proportional zum ma-
gnetischen Fluss, der im Zylinder eingefroren ist.
Deaver und Fairbank verwendeten in ihrem Experiment einen winzigen Sn Zylinder mit
einer Länge von etwa 0.9 mm, einem Innendurchmesser von 13 µm und einer Wandstär-
ke von 1.5 µm. Der Zylinder wurde mit einer Frequenz von etwa 100 Hz in axialer Richtung
hin- und herbewegt und das resultierende Wechselfeld mit Pickup-Spulen gemessen. Die ex-
perimentellen Daten beider Experimente sind in Abb. 13.10 gezeigt. Die Ergebnisse beider
Experimente waren gleich und zeigen eindeutig die Flussquantisierung. Obwohl die Zylin-
der in einem quasi kontinuierlich eingestellten Magnetfeld abgekühlt wurden, wurden nur
quantisierte Werte für den eingefangenen Fluss gemessen. Wir werden später sehen, dass die
Flussquantisierung als Bohr-Sommerfeld-Quantisierung in einem makroskopischen Quan-
13.1 Geschichte und grundlegende Eigenschaften 791

4
Resonanzamplitude (mm/Gauss) (a) (b)
3

magnetischer Fluss (h/2e)


3
Doll & Näbauer Deaver & Fairbank
2
2

1
1

0 0

-0.1 0.0 0.1 0.2 0.3 0.4 0.0 0.1 0.2 0.3 0.4
Bkühl (Gauss) Bkühl (Gauss)

Abb. 13.10: Der in einem supraleitenden Hohlzylinder eingefangene magnetische Fluss als Funktion
des während des Abkühlens unter die Sprungtemperatur von außen angelegten Magnetfeldes B kühl .
(a) Experiment von Doll und Näbauer (nach R. Doll, M. Näbauer, Phys. Rev. Lett. 7, 51 (1961) und
Zeitschrift für Physik 169, 526 (1962)). (b) Experiment von Deaver und Fairbank (nach B. S. Deaver,
W. M. Fairbank, Phys. Rev. Lett. 7, 43 (1961)).

tensystem aufgefasst werden kann. Der Nachweis der Flussquantisierung zeigte damit erst-
mals klar, dass das Phänomen Supraleitung nicht klassisch beschrieben werden kann. Ferner
lieferte er den Beweis für die Existenz von Cooper-Paaren mit Ladung q s = −2e.

13.1.4.6 Josephson-Effekt
Im Jahr 1962 wurden von Brian D. Josephson interessante Phänomene vorhergesagt,64 die
für schwach gekoppelte Supraleiter auftreten. Für diese Vorhersagen, die wenig später von
J. M. Rowell und P. W. Anderson65 experimentell bestätigt wurden, erhielt Josephson im Jahr
1973 den Nobelpreis für Physik.66 Die von Josephson vorhergesagten Phänomene sind eine
weitere Manifestation der Tatsache, dass es sich beim supraleitenden Zustand um einen ko-
härenten Vielteilchenzustand handelt, den wir mit einer makroskopischen Wellenfunktion
beschreiben können. Koppeln wir zwei Supraleiter schwach, so kommt es zu einem end-
lichen Überlapp dieser Wellenfunktionen. Dieser Überlapp führt zu einer molekülartigen
Bindung der beiden Supraleiter, die mit der Josephson-Kopplungsenergie beschrieben wird,
und interessanten Interferenzeffekten, die wir im Detail in Abschnitt 13.6 diskutieren wer-
den. Der Josephson-Effekt wurde zwar erstmals im Zusammenhang mit gekoppelten Supra-
leitern diskutiert, der Begriff Josephson-Effekt wird heute aber sehr breit verwendet. Wir
sprechen allgemein immer dann von einem Josephson-Effekt, wenn zwei makroskopische
Wellenfunktionen (z.B. diejenigen von Bose-Einstein-Kondensaten) schwach miteinander
gekoppelt sind.

64
B. D. Josephson, Possible New Effects in Superconductive Tunnelling, Phys. Lett. 1, 251–253 (1962).
65
P. W. Anderson, J. M. Rowell, Probable Observation of the Josephson Superconducting Tunneling Ef-
fect, Phys. Rev. Lett. 10, 230–232 (1963).
66
siehe hierzu Kasten auf Seite 884.
792 13 Supraleitung

13.2 Thermodynamische Eigenschaften


von Supraleitern
Wir wollen in diesem Kapitel die thermodynamischen Eigenschaften von Supraleitern dis-
kutieren. Bereits 1924 wurde von W. H. Keesom versucht, den supraleitenden Zustand mit
den Gesetzen der Thermodynamik zu beschreiben.67 Allerdings war zu dieser Zeit noch gar
nicht klar, ob es sich bei dem supraleitenden Zustand tatsächlich um eine thermodynamische
Phase handelt. Die Vermutung, dass es sich beim supraleitenden Zustand um eine eigene
thermodynamische Phase handelt, wurde erst durch die Entdeckung des Meißner-Effekts
im Jahr 1933 belegt und führte später zur Entwicklung der Ginzburg-Landau-Abrikosov-
Gor’kov (GLAG) Theorie, die wir in Abschnitt 13.3.3 diskutieren werden. Wir werden in die-
sem Abschnitt auf einige Grundlagen zu den thermodynamischen Eigenschaften von Fest-
körpern zurückgreifen, die wir in Anhang G zusammengefasst haben.

13.2.1 Typ-I Supraleiter im Magnetfeld


Für einen Typ-I Supraleiter gilt unterhalb des thermodynamisch kritischen Feldes M =
m⇑V = −Hext = −Bext ⇑µ 0 .68 Nehmen wir ferner an, dass der Druck p und die Temperatur T
konstant sind, so erhalten wir aus der Beziehung d𝒢 = −SdT + Vd p − m ⋅ dBext [verglei-
che (G.4.6)] für das Differenzial der freien Enthalpie 𝒢s im supraleitenden Zustand bei
isotherm/isobarer Prozessführung
V
d𝒢s = −mdB ext = B ext dB ext . (13.2.1)
µ0

𝖌𝒏 𝑩𝐞𝐱𝐭
0.0
gs / (Bcth /2µ0), gn / (Bcth /2µ0)

-0.2
2

𝑩𝟐𝐜𝐭𝐡 /𝟐𝝁𝟎

-0.4

Abb. 13.11: Vergleich der Magnet-


-0.6
feldabhängigkeit der freien Ent-
𝖌𝒔 𝑩𝐞𝐱𝐭
halpiedichte eines Normalleiters
und eines Typ-II Supraleiters. Der -0.8
2

Schnittpunkt der beiden Kurven 𝑩𝐜𝐭𝐡


definiert das thermodynamische -1.0
kritische Feld B cth . Der Nullpunkt 0.0 0.2 0.4 0.6 0.8 1.0 1.2
wurde in gn (0, T) gelegt, so dass
nach (13.2.3) gs (0, T) = −B 2cth ⇑2µ 0 . Bext / Bcth
101

67
W. H. Keesom, IV. Congr. Phys. Solvay (1924), Rapp et Disc, Seite 288.
68
Eine genaue Diskussion des Unterschieds zwischen Typ-I und Typ-II Supraleitern werden wir erst
in Abschnitt 13.4 machen. Ferner vernachlässigen wir hier Entmagnetisierungseffekte, auf die wir
erst in Abschnitt 13.4.3 eingehen werden.
13.2 Thermodynamische Eigenschaften von Supraleitern 793

Integrieren wir diese Gleichung auf, so erhalten wir für die Enthalpiedichte gs (B ext ) =
𝒢s (B ext )⇑V
B ext
1 ′ ′ B 2ext
gs (B ext , T) − gs (0, T) = ∫ B dB = . (13.2.2)
µ0 2µ 0
0

Der Verlauf der Enthalpiedichte ist in Abb. 13.11 gezeigt. Wir sehen, dass mit ansteigendem
äußeren Feld die freie Enthalpie des Supraleiters aufgrund der notwendig werdenden grö-
ßeren Feldverdrängungsarbeit quadratisch mit dem Feld zunimmt (Meißner-Parabel). Wir
weisen darauf hin, dass für normalleitende Metalle der Anstieg in der freien Enthalpie ver-
schwindend klein ist, da hier die Paulische Spin-Suszeptibilität im Bereich von 10−5 liegt und
deshalb ⋃︀M⋃︀ ≈ 10−5 B ext ⇑µ 0 sehr klein ist. Wir können also in sehr guter Näherung gn (B) =
gn (0) = const annehmen. Abb. 13.11 zeigt, dass mit zunehmendem Feld die freie Enthal-
piedichte des Supraleiters schließlich den Wert gn des Normalleiters erreicht. Die Konden-
sationsenergie, die durch den Übergang in den supraleitenden Zustand gewonnen wurde,
ist dann vollkommen für die Feldverdrängungsarbeit aufgebraucht. Die supraleitende Phase
wird instabil und wir erhalten einen Phasenübergang in den normalleitenden Zustand. Für
die freie Enthalpiedichte gs am Phasenübergang gilt gs (B cth , T) = gn (B cth , T) = gn (0, T).
Damit erhalten wir für die Differenz der Enthalpiedichten im supraleitenden und normal-
leitenden Zustand
B 2cth
∆g(T) = gn (0, T) − gs (0, T) = . (13.2.3)
2µ 0
Die beim Übergang in den supraleitenden Zustand gewonnene Kondensationsenergie
entspricht also gerade der Feldverdrängungsarbeit, die zur Verdrängung des thermody-
namisch kritischen Feldes B cth aufgebracht werden muss. Die Temperaturabhängigkeit
von B cth wird gut durch den empirischen Ausdruck (13.1.10) beschrieben. Im normal-
leitenden Zustand wird die Entropie bei tiefen Temperaturen überwiegend durch die
Leitungselektronen bestimmt, da die Beiträge der Phononen vernachlässigbar klein werden.
Da c p = T(∂s n ⇑∂T) p,H ext und die spezifische Wärmekapazität des freien Elektronenga-
ses proportional zu T verläuft, ergibt sich auch für die Entropiedichte s n ein linearer und
gn = − ∫0 s n dT ein quadratischer Temperaturverlauf. Der Temperaturverlauf von gs (B = 0)
T

und gn (B = 0) ist in Abb. 13.12a dargestellt. Wir wollen auch noch darauf hinweisen, dass
die Kondensationsenergiedichte gn (0, T) − gs (0, T) relativ klein ist. Für typische kritische
Felder von einigen 10 bis 100 mT beträgt sie nur etwa 103 − 104 J/m3 , was nur etwa 0.1 bis
1 µeV pro Atom entspricht.
Aus der Differenz ∆g(T) der freien Enthalpiedichten können wir mit Hilfe von s =
−(∂g⇑∂T) p,H ext [vergleiche (G.4.7)] eine Aussage über den unterschiedlichen Tempera-
turverlauf der Entropiedichten s s = S s ⇑V und s n = S n ⇑V im normal- und supraleitenden
Zustand machen. Wir erhalten
∂∆g B cth ∂B cth
∆s(T) = s n (T) − s s (T) = − ( ) =− . (13.2.4)
∂T p,B ext µ 0 ∂T
Der Temperaturverlauf der Entropiedichten für die normalleitende und supraleitende Phase
ist in Abb. 13.12b gezeigt.
794 13 Supraleitung

(a) (b)

𝑩𝟐𝐜𝐭𝐡 /𝟐𝝁𝟎

Entropiedichte, Q/V
freie Enthalpiedichte 𝒔𝒏 (𝑻)
𝖌𝒏 𝟎, 𝑻

𝖌𝒔 𝟎, 𝑻 𝚫𝐐 𝐓
𝐕

𝒔𝒔 𝑻
0.0 0.2 0.4 0.6 0.8 1.0 0.0 0.2 0.4 0.6 0.8 1.0

T / Tc T / Tc

Abb. 13.12: Schematische Darstellung des Temperaturverlaufs (a) der Dichten der freien Enthalpie
und (b) der Entropie eines Supraleiters und eines Normalleiters. Die farbig hinterlegten Flächen ge-
102
ben jeweils den Unterschied der Größen im normalleitenden und supraleitenden Zustand wieder. Die
gestrichelte Linie in (b) zeigt den Verlauf der Umwandlungswärme pro Volumeneinheit ∆Q⇑V = T∆s.

Wir können aus Gleichung (13.2.4) einige interessante Schlüsse ziehen. Für T → Tc geht B cth
gegen null, so dass s n − s s ebenfalls gegen null geht. Das heißt, die Entropiedichten der su-
praleitenden und normalleitenden Phase sind genauso wie die Dichten der freien Enthalpie
bei T = Tc (B = 0) identisch. Folglich ist auch die latente Wärme ∆Q⇑V = Tc (s n − s s ) = 0. Es
tritt also keine Umwandlungswärme auf, weshalb wir es mit einem Phasenübergang 2. Ord-
nung zu tun haben. Für T → 0 verschwindet ∂B cth ⇑∂T und somit auch ∆s in Einklang mit
dem 3. Hauptsatz der Thermodynamik.
Im gesamten Temperaturbereich 0 < T < Tc ist ∂B cth ⇑∂T < 0 und damit ∆s > 0. Das heißt,
die Entropiedichte der normalleitenden Phase ist größer als diejenige der supraleitenden
Phase. Daraus können wir ableiten, dass es sich beim supraleitenden Zustand offensicht-
lich um einen Zustand mit höherem Ordnungsgrad handelt. Die Ursache für den höhe-
ren Ordnungsgrad liegt in der Korrelation der Leitungselektronen zu Cooper-Paaren, de-
ren mikroskopische Ursache wir später in Abschnitt 13.5 diskutieren werden. Da ∆s → 0
für T → Tc und T → 0, muss ∆s irgendwo im Temperaturintervall 0 < T < Tc ein Maximum
besitzen. Diese Tatsache ist für die weiter unten diskutierte Wärmekapazität von Bedeu-
tung. Wegen ∆s > 0 erhalten wir auch eine endliche Umwandlungswärme pro Volumenein-
heit ∆Q⇑V = T(s n − s s ) > 0. Wir haben es also im Feld für 0 < T < Tc mit einem Phasen-
übergang 1. Ordnung zu tun. Kühlen wir einen Supraleiter im Nullfeld ab, so überschreiten
wir die Phasengrenze bei Tc (B = 0). Hier ist ∆Q⇑V = 0 und es liegt ein Phasenübergang
2. Ordnung vor. Kühlen wir allerdings in endlichem Feld ab, so überschreiten wir die Pha-
sengrenze bei T = Tc (B) < Tc (B = 0). Die Umwandlungswärme ist hier endlich und wir ha-
ben es mit einem Phasenübergang 1. Ordnung zu tun. Der Temperaturverlauf der Umwand-
lungswärme ist in Abb. 13.12b eingezeichnet.

Spezifische Wärme: Mit der Definition c p = T(∂s n ⇑∂T)B ext , p für die spezifische Wärme-
kapazität [vergleiche (G.6.3)] erhalten wir für den Unterschied der Wärmekapazität im nor-
13.2 Thermodynamische Eigenschaften von Supraleitern 795

malleitenden und supraleitenden Zustand durch nochmaliges Differenzieren von (13.2.4)

T ∂ 2 B cth ∂B cth 2
∆c = c n − c s = − ⌊︀B cth + ( ) }︀ . (13.2.5)
µ0 ∂T 2 ∂T

Dieser wichtige Zusammenhang wird in der Literatur häufig als Rutgers-Formel bezeich-
net.69 Wir sehen, dass sich die Wärmekapazitäten im normalleitenden und supraleitenden
Zustand bei T = Tc unterscheiden, da hier B cth = 0, aber ∂B cth ⇑∂T ≠ 0. Damit wird ∆c < 0,
die Wärmekapazität des supraleitenden Zustands ist also größer als diejenige des normal-
leitenden Zustands. Da sich die Ableitung ∂B cth ⇑∂T bei T = Tc sprunghaft ändert, erhalten
wir hier einen Sprung in der Wärmekapazität. Es gilt

Tc ∂B cth 2
∆c T=Tc = (c n − c s )T=Tc = − ( ) , (13.2.6)
µ 0 ∂T T=Tc

was für viele Supraleiter sehr gut erfüllt wird. Experimentell bestimmt man z. B. für Sn (Tc =
mol
3.72 K) den Sprung ∆c T=T c
der molaren Wärmekapazität zu 10.6 mJ⇑mol⋅K. Für den aus
dem gemessenen thermodynamischen kritischen Feld berechneten Wert erhält man eben-
falls 10.6 mJ⇑mol⋅K. Für In (Tc = 3.40 K) sind die entsprechenden Werte 9.75 mJ/mol⋅K und
9.62 mJ⇑mol⋅K. Die quantitative Vorhersage des Sprunges in der spezifischen Wärme bei
T = Tc war auch eines der Schlüsselergebnisse der mikroskopischen Theorie (siehe hierzu
Abschnitt 13.5.5).
In Abb. 13.13 ist beispielhaft die spezifische Wärme von Al im normalleitenden und supra-
leitenden Zustand gezeigt. Da ∂ 2 B cth ⇑∂T 2 < 0 und ∂B cth ⇑∂T mit abnehmender Temperatur
immer kleiner wird, erhalten wir eine Temperatur, bei der c s = c n . Der Schnittpunkt liegt bei
der Temperatur, bei der s n − s s maximal wird.
molare Wärmekapazität (mJ/ mol K)

Al
3
𝒄𝒔 𝚫𝒄
Abb. 13.13: Temperaturverlauf der molaren
2 spezifischen Wärme von supraleitendem
und normalleitendem Al. Um die spezifi-
sche Wärme im normalleitenden Zustand
1
zu messen, wurde die Supraleitung mit ei-
𝒄𝒏 nem äußeren Magnetfeld von 50 mT unter-
𝑻𝒄 drückt (runde Symbole). Der Gitterbeitrag
zur spezifischen Wärme ist in dem gezeig-
0 ten Temperaturbereich vernachlässigbar
0.0 0.4 0.8 1.2 1.6 2.0
klein (nach N. E. Phillips, Phys. Rev. 114,
T (K) 676 (1959)).
103

69
A. J. Rutgers, Bemerkung zur Anwendung der Thermodynamik auf die Supraleitung, Physica 3, 999
(1936).
796 13 Supraleitung

Für T → 0 können wir c s gegenüber c n vernachlässigen. Da der Sommerfeld-Koeffizient (sie-


he Abschnitt 7.2.1) durch γ = c n ⇑T gegeben ist, erhalten wir

1 ∂ 2 B cth ∂B cth 2 1 ∂ 2 B cth


γ=− ⌊︀B cth 2
+ ( ) }︀ ≃ − B cth . (13.2.7)
µ0 ∂T ∂T µ0 ∂T 2
2 2
Hierbei haben wir ausgenutzt, dass bei tiefen Temperaturen B cth ∂∂TB cth
2 ≫ ( ∂B∂Tcth ) , da die
∂ 2 B cth
Steigung der B cth (T)-Kurve sehr flach wird. Mit ∂T 2
= −2B cth (0)⇑Tc2 erhalten wir schließ-
lich
4 B 2cth (0)
γ≃ . (13.2.8)
Tc2 2µ 0

Wir können also durch die Messung von B cth und Tc den Sommerfeld-Koeffizienten γ =
π2 2
k N(E F ) bestimmen [vergleiche (7.2.8)] und damit eine Aussage über die Zustandsdichte
3 B
am Fermi-Niveau N(E F ) = D(E F )⇑V machen. Ein wichtiger Aspekt von Gleichung (13.2.8)
ist, dass sie einen Zusammenhang zwischen normalleitenden [γ bzw. D(E F )] und supra-
leitenden Materialeigenschaften (B cth , Tc ) liefert. Einen ähnlichen Zusammenhang werden
wir später aus der mikroskopischen Theorie ableiten. Selbst wenn dieser Zusammenhang
nur von qualitativer Natur ist, so erlaubt er doch, experimentelle Ergebnisse hinsichtlich
Plausibilität und Konsistenz zu überprüfen.

Volumenänderung bei Tc : Nach (G.4.7) gilt (∂𝒢⇑∂p)T,B = V . Mit Hilfe von (13.2.2) erhal-
ten wir daraus für die relative Änderung des Volumens beim Phasenübergang vom normal-
in den supraleitenden Zustand

Vn − Vs B cth (T) ∂B cth (T)


( ) = ( ) . (13.2.9)
Vn T,B cth (T) µ0 ∂p T,B cth (T)

Wir erkennen, dass für T → Tc die Volumenänderung gegen null geht, da hier B cth (T) → 0.
Für T < Tc ist üblicherweise Vs > Vn , da ∂B cth (T)⇑∂p < 0. Das heißt, der Supraleiter bläht
sich beim Übergang in den supraleitenden Zustand auf. Für Sn (Tc = 3.7 K) beträgt die
bei 2 K gemessene relative Längenänderung etwa 8 × 10−8 .70 Solche kleinen Längenände-
rungen können mit empfindlichen Dilatometern gemessen werden. In vielen Fällen ist es
allerdings einfacher, die Druckabhängigkeit des kritischen Feldes B cth (p) bei konstanter
Temperatur mit Hilfe einer Hochdruckapparatur zu messen.71 Aus dieser Abhängigkeit kann
dann die Volumenänderung mit (13.2.9) berechnet werden. Wir wollen noch darauf hinwei-
sen, dass eine nochmalige Differenziation von (13.2.9) nach p bzw. T die Differenz κ n − κ s
der Kompressibilitäten bzw. die Differenz α n − α s der thermischen Ausdehnungskoeffizien-
ten liefert.

70
J. L. Olsen, H. Rohrer, The Volume Change at the Superconducting Transition, Helv. Phys. Acta 30,
49 (1957).
71
N. E. Alekseevskii, Yu. P. Gaidukov, The Effect of Pressure on the Superconductivity of Cadmium ,
Sov. Phys. JETP 2, 762 (1956).
13.2 Thermodynamische Eigenschaften von Supraleitern 797

13.2.2 Typ-II Supraleiter im Magnetfeld


Für B ext < B c1 sind die thermodynamischen Eigenschaften von Typ-I und Typ-II Supralei-
tern gleich.72 . In diesem Feldbereich zeigt auch ein Typ-II Supraleiter eine perfekte Feld-
verdrängung und die Dichte der freien Enthalpie nimmt wie in Abb. 13.11 gezeigt bis zum
unteren kritischen Feld parabelförmig zu. Der Temperaturverlauf der freien Enthalpiedich-
ten und der Entropiedichten entspricht den in Abb. 13.12 gezeigten Abhängigkeiten. Auch
die Temperaturabhängigkeit der spezifischen Wärme entspricht für B ext < B c1 derjenigen ei-
nes Typ-I Supraleiters. Das Verhalten von Typ-I und Typ-II Supraleitern unterscheidet sich
erst oberhalb von B c1 . Da hier ein Typ-II Supraleiter das Feld nicht mehr vollständig ver-
drängt, nimmt die freie Enthalpiedichte langsamer als quadratisch mit dem äußeren Feld zu
und der Schnittpunkt mit der konstanten Enthalpiedichte des Normalleiters verschiebt sich
zu B c2 > B cth . Dies ist in Abb. 13.14 gezeigt. Die Abhängigkeit des Innenfeldes B i und der
Magnetisierung M eines Typ-II Supraleiters vom äußeren Magnetfeld Bext werden wir erst
später diskutieren (siehe Abschnitt 13.4 und Abb. 13.23).
Die Feld- und Temperaturabhängigkeit der freien Enthalpiedichte sowie der Entropiedich-
te und der spezifischen Wärme im Mischzustand (B c1 < B ext < B c2 ) wollen wir hier nicht
im Detail diskutieren. Für große Felder nahe dem oberen kritischen Feld B c2 können wir
aber durch einfache Überlegung die Feldabhängigkeit der Differenz ∆s = s n − s s der Entro-
piedichte und ∆c = c n − c s der Wärmekapazitäten angeben. Hierzu benutzen wir (vergleiche
Abschnitt 13.4.1), dass für B c2 ≃ Φ 0 ⇑πξ GL
2
der Supraleiter vollkommen mit normalleitenden
Bereichen der Fläche ∼ πξ GL und dem Flussinhalt Φ 0 ausgefüllt ist. In der Nähe von B c2 kön-
2

nen wir den supraleitenden Volumenanteil in guter Näherung zu Vs = 1 − B ext ⇑B c2 und den
normalleitenden Anteil zu Vn = B ext ⇑B c2 angeben. Für tiefe Temperaturen T ≪ Tc können
wir den Beitrag des supraleitenden Volumenanteils in erster Näherung vernachlässigen und

𝖌𝒏 𝑩𝐞𝐱𝐭
0.0
gs / (Bcth /2µ0), gn / (Bcth /2µ0)

Abb. 13.14: Vergleich der Magnet-


feldabhängigkeit der freien Enthalpie-
-0.2
dichte eines Normalleiters und eines
2

𝖌𝒔 𝑩𝐞𝐱𝐭 Typ-II Supraleiters. Für B ext > B c1


𝑩𝟐𝐜𝐭𝐡 /𝟐𝝁𝟎

-0.4
weicht gs (B ext ) von der gestrichelt
gezeichneten Meißner-Parabel ab,
-0.6
da das äußere Feld jetzt teilweise
eindringt. Beim oberen kritischen
-0.8 Feld B c2 wird gs (B ext ) = gn (B ext ),
2

𝑩𝒄𝟏 𝑩𝐜𝐭𝐡 𝑩𝒄𝟐 wobei gs (B ext ) hier eine waagrechte


-1.0 Tangente besitzt. Der Schnittpunkt
0 1 2 3 4
der gestrichelt eingezeichneten Meiß-
ner-Parabel mit gn (B ext ) definiert das
Bext / Bcth thermodynamische kritische Feld B cth .
104

72
Eine genaue Diskussion des Unterschieds zwischen Typ-I und Typ-II Supraleitern folgt in Ab-
schnitt 13.4.
798 13 Supraleitung

wir erhalten deshalb die Feldabhängigkeit


B ext
∆c(B ext ) = c n (13.2.10)
B c2
B ext
∆s(B ext ) = s n . (13.2.11)
B c2

13.3 Phänomenologische Modelle


Wir stellen in diesem Abschnitt einige phänomenologische Modelle vor, die zur Beschrei-
bung der zentralen Eigenschaften von Supraleitern entwickelt wurden. Sie beschreiben das
Phänomen Supraleitung richtig, ohne dass sie eine mikroskopische Erklärung geben.

13.3.1 London-Gleichungen
Im Jahr 1935 gelang es den Brüdern Fritz und Heinz London, die grundlegenden Eigen-
schaften von Supraleitern, ideale Leitfähigkeit und perfekten Diamagnetismus, im Rahmen
der klassischen Elektrodynamik zu beschreiben.73 Um die London-Gleichungen abzuleiten,
gehen wir von der einfachen Bewegungsgleichung74
d 1
m( + ) v = qE (13.3.1)
dt τ
für Ladungsträger mit Masse m, Ladung q und mittlerer Stoßzeit τ aus. Wir nehmen nun an,
dass wir die gesamte Ladungsträgerdichte n als Summe aus einer Dichte n n von „normallei-
tenden“ und n s von „supraleitenden“ Elektronen schreiben können. Diese Annahme werden
wir später noch rechtfertigen.75 Hierbei gilt im normalleitenden Bereich n n = n und n s = 0
und im supraleitenden Bereich n n = 0 und n s = n für T → 0. Wir beschreiben den supralei-
tenden Zustand also mit einem Zweiflüssigkeiten-Modell.
Um den widerstandslosen Stromfluss für T < Tc zu beschreiben, können wir einfach eine un-
endlich große Streuzeit, τ → ∞, benutzen, wodurch wir σ = n s q 2s τ⇑m s → ∞ erhalten. Hier-
bei sind q s und m s die Ladung und Masse der supraleitenden Elektronen. Verwenden wir
den allgemeinen Ausdruck für die supraleitende Stromdichte Js = n s q s vs , so erhalten wir die
1. London-Gleichung:
∂(ΛJs )
=E. (13.3.2)
∂t
73
F. London, H. London, The Electromagnetic Equations of the Supraconductor, Proc. Roy. Soc.
Lond. A 149, 71 (1935).
74
Um besser zwischen der Flussdichte auf einer mikroskopischen Skala und makroskopischen Mit-
telwerten zu unterscheiden, werden wir im Folgenden für die lokale Flussdichte b und für den
makroskopischen Mittelwert B verwenden.
75
In der ursprünglichen London-Theorie blieb der Wert von n s völlig offen. Nur die obere Gren-
ze n s = n war evident.
13.3 Phänomenologische Modelle 799

Hierbei ist Λ = nms qs 2 der London-Koeffizient. Die 1. London-Gleichung besagt, dass nicht
s
die Stromdichte, wie beim Ohmschen Gesetz, sondern ihre Zeitableitung proportional zum
elektrischen Feld ist. Sie beschreibt den verlustfreien Stromtransport. Fritz und Heinz Lon-
don nahmen an, dass die Masse m s , Ladung q s und Dichte n s der supraleitenden Elektronen
den entsprechenden Werten im Normalzustand entspricht. Nach der Entwicklung der BCS-
Theorie wissen wir heute, dass m s = 2m, q s = −2e und n s = n⇑2. Interessanterweise kürzt
sich der Faktor 2 in dem Ausdruck für den London-Koeffizienten gerade heraus.
Wir können nun Gleichung (13.3.2) in das Faradaysche Induktionsgesetz ∇ × E = −∂b⇑∂t
einsetzen und erhalten

(︀∇ × (ΛJs ) + b⌋︀ = 0 . (13.3.3)
∂t
Diese Gleichung gilt allgemein für alle idealen Leiter. Sie besagt, dass der magnetische Fluss
durch eine beliebige Fläche innerhalb der Probe zeitlich unverändert bleibt. Der Meißner-
Ochsenfeld-Effekt besagt aber nun gerade, dass im Supraleiter nicht nur die zeitlich Än-
derung der Flussdichte, sondern diese selbst verschwinden muss. Deshalb muss der Klam-
merausdruck selbst und nicht nur seine Zeitableitung verschwinden. Wir erhalten somit die
2. London-Gleichung:

∇ × (ΛJs ) + b = 0 . (13.3.4)

Sie verknüpft den Stromfluss mit der magnetischen Flussdichte im Supraleiter. Mit der Max-
well-Gleichung ∇ × b = −µ 0 Js (wir vernachlässigen hier den Verschiebungsstrom ∂D⇑∂t)
folgt b = −(Λ⇑µ 0 ) ∇ × ∇ × b und weiter wegen ∇ × ∇ × b = ∇(∇ ⋅ b) − ∇2 b und ∇ ⋅ b = 0
erhalten wir
µ0 1
∇2 b − b = ∇2 b − 2 b = 0 . (13.3.5)
Λ λL
Hierbei ist
}︂ }︂
Λ ms
λL = = (13.3.6)
µ0 µ 0 n s q 2s

die Londonsche Eindringtiefe. Der Ausdruck (13.3.5) besitzt die Form einer Abschirmglei-
chung. Die Bedeutung der charakteristischen Längenskala λ L wird sofort deutlich, wenn
wir (13.3.5) für einen einfachen Spezialfall lösen. Hierzu betrachten wir den in Abb. 13.15
gezeigten Fall, dass das Magnetfeld in z-Richtung zeigt und der Supraleiter den Halbraum
mit x ≥ 0 einnimmt. Damit vereinfacht sich (13.3.5) zu d 2 b z ⇑dx 2 = b z ⇑λ 2L mit der Lösung
x
b z (x) = B ext,z exp (− ). (13.3.7)
λL
Mit Hilfe der 2. London-Gleichung erhalten wir für die Stromdichte des Abschirmstromes
x H ext,z
J s, y (x) = J s,0 exp (− ) mit J s,0 = . (13.3.8)
λL λL
Sowohl das Magnetfeld als auch der Abschirmstrom fallen also im Inneren des Supraleiters
exponentiell mit der charakteristischen Abklinglänge λ L ab (siehe Abb. 13.15). Wir sehen,
800 13 Supraleitung

(a) (b) 𝑱𝒚,𝟎


Abb. 13.15: Exponentieller Abfall 𝑩𝒛 𝑩𝒛
der magnetischen Flussdich-
te b (a) und des supraleiten- 𝒛 𝒚 𝒛 𝒚
den Abschirmstromes Js (b)
als Funktion des Abstandes x
𝑩
von der Oberfläche eines mas- 𝒛,𝟎
siven Supraleiter. Das ex-
terne Feld ist in z-Richtung
angelegt, der Supraleiter er-
streckt sich im Halbraum x ≥ 0. 𝝀𝐋 𝒙 𝝀𝐋 𝒙

dass ein angelegtes Magnetfeld vom Supraleiter durch an der Oberfläche in einer Schicht 120

der Dicke λ L fließende Abschirmströme vollkommen verdrängt wird. Dies beschreibt gerade
den perfekten Diamagnetismus von Superleitern.
Um die Größenordnung von λ L abzuschätzen, nehmen wir an, dass n s ≃ n⇑2. Wir erhal-
ten dann für typische Metalle wie Pb, Al, In oder Sn Werte im Bereich zwischen etwa 10
und einigen 100 nm. Da die Dichte der supraleitenden Elektronen von n s = n⇑2 für T → 0
auf n s = 0 bei Tc abnimmt, steigt λ L mit der Temperatur an und divergiert für T → Tc . Die
experimentell gefundene Abhängigkeit kann gut mit der empirischen Formel

λ L (0)
λ L (T) = ⌈︂ (13.3.9)
1 − (T⇑Tc )4

beschrieben werden (Gorter-Casimir-Modell76 , 77 , 78 ).


Wir erkennen aus Abb. 13.15, dass in dünnen supraleitenden Schichten mit Dicken d in
der Größenordnung von λ L das Magnetfeld im Inneren der Schicht nicht mehr ganz auf
null abfällt. Nehmen wir an, dass die Schichtnormale parallel zur x-Achse verläuft und
sich die Schicht im Bereich −d⇑2 ≤ x ≤ +d⇑2 befindet, so können wir (13.3.7) mit dem
Ansatz b z (x) = B ext,z exp(−x⇑λ L ) + B ext,z exp(+x⇑λ L ) unter der zusätzlichen Randbedin-
gung b z (−d⇑2) = b z (+d⇑2) = B ext,z lösen und erhalten folgenden Feldverlauf in der dünnen
Schicht:
cosh(x⇑λ L )
b z (x) = B ext,z . (13.3.10)
cosh(d⇑2λ L )

Dieser Flussdichteverlauf ist in Abb. 13.16 gezeigt. Für d = 3λ L nimmt die Flussdichte in
der Mitte des supraleitenden Films auf etwa 10% ab. Die mittlere Flussdichte B = b z (x) be-
trägt B = (2λ L B ext,z ⇑d) tanh(d⇑2λ L ).
Die beiden Londonschen Gleichungen beschreiben zusammen mit den Maxwell-Gleichun-
gen die Elektrodynamik von Supraleitern. Es sei hier darauf hingewiesen, dass wir bisher
die normalleitende Komponente völlig vernachlässigt haben. Dies ist für zeitlich langsam
variierende Ströme eine gute Näherung, da hier die im Supraleiter auftretenden elektrischen
76
C. J. Gorter, H. B. G. Casimir, On Superconductivity I, Physica 1, 306 (1934).
77
C. J. Gorter, H. B. G. Casimir, Z. Physik 35, 963 (1934).
78
C. J. Gorter, H. B. G. Casimir, Z. Techn. Physik 15, 539 (1934).
13.3 Phänomenologische Modelle 801

𝒛
𝒚

𝑩𝐞𝐱𝐭
𝑩𝐞𝐱𝐭,𝒛
Abb. 13.16: Schematische Darstellung des Verlaufs der
magnetischen Flussdichte in einer dünnen supraleitenden
Schicht mit Dicke d in der Größenordnung der London-
𝝀𝐋 𝒙 schen Eindringtiefe λ L . Die Schicht liegt in der yz-Ebene,
das äußere Magnetfeld ist parallel zur z-Achse angelegt.
Die Flussdichte nimmt im Zentrum der Schicht nicht auf
𝒅 null ab.

Felder klein sind. Bei zeitlich schnell variierenden Strömen werden auch die normalleiten-
den Elektronen durch die jetzt beträchtlichen elektrischen Felder hin- und herbeschleunigt
und führen durch Stoßprozesse zu Verlusten. Ein Supraleiter
122
kann aus diesem Grund nur
Gleichströme, nicht aber Wechselströme vollkommen verlustfrei transportieren.
Wir wollen auch noch auf die Problematik der oben gemachten sehr (zu) einfachen Ablei-
tung der Londonschen Gleichungen hinweisen. Wir haben dabei immer eine lokale Bezie-
hung zwischen Js , E und b angenommen, d. h. Js ist an jedem Ort r eindeutig durch die
lokalen Felder bestimmt. Diese Annahme ist für ein Elektronengas nicht ganz richtig. Die
Stromdichte an einem bestimmten Ort ist hier durch den Mittelwert der Felder in einem
Bereich mit Radius ℓ um diesen Ort gegeben. Dies ist unproblematisch, solange die mitt-
lere freie Weglänge ℓ klein ist. In unserem Fall geht aber wegen τ → ∞ auch ℓ → ∞. Um
dieses Problem zu beseitigen, wurde von A. B. Pippard die Kohärenzlänge eingeführt. Da-
durch konnte er eine nichtlokale Verallgemeinerung der London-Gleichungen erhalten, die
wir hier aber nicht diskutieren wollen.79

13.3.2 Verallgemeinerte London Theorie – Supraleitung als


makroskopisches Quantenphänomen
Eine tiefergehende Herleitung der Londonschen Gleichungen, die bereits von Fritz London
selbst gegeben wurde,80 basiert auf der Annahme, dass der supraleitende Grundzustand mit
einer makroskopischen Wellenfunktion beschrieben werden kann. Obwohl die Gültigkeit
dieser Annahme erst durch die Beobachtung von quantenkohärenten Phänomenen wie der
Flussquantisierung oder des Josephson-Effekts in den 1960er Jahren belegt wurde, erkannte
Fritz London bereits 1948, dass er die Londonschen Gleichungen auf der Basis grundlegen-
der quantenmechanischer Konzepte ableiten konnte, wenn er die suprafluiden Elektronen als
kohärente Einheit betrachtete. Der supraleitende Grundzustand kann am ehesten mit dem
kohärenten Licht eines Lasers verglichen werden. London realisierte bereits damals, dass es

79
A. B. Pippard, An Experimental and Theoretical Study of the Relation between Magnetic Field and
Current in a Superconductor, Proc. Roy. Soc. London A 216, 547 (1953).
80
F. London, Superfluids, vol. I, Wiley, New York (1950).
802 13 Supraleitung

sich bei der Supraleitung um ein inhärent quantenmechanisches Phänomen handelt, das sich
auf einer makroskopischen Längenskala manifestiert. Das heißt, bei der Supraleitung han-
delt es sich um ein makroskopisches Quantenphänomen, das es uns erlaubt, ungewöhnliche
Quantenphänomene auf einer makroskopischen Skala zu beobachten.
Das makroskopische Quantenmodell der Supraleitung basiert auf der Hypothese, dass es
eine makroskopische Wellenfunktion

ψ(r, t) = ψ 0 (r, t)e ı θ(r,t) (13.3.11)

mit Amplitude ψ 0 (r, t) und Phase θ(r, t) gibt, welche die Gesamtheit aller supraleitenden
Elektronen eines paarkorrelierten Fermi-Systems, die wir auch als Paar-Kondensat bezeich-
nen, beschreibt. Wir werden später sehen, dass sich diese Hypothese im Rahmen der BCS-
Theorie exakt begründen lässt. Die Darstellung der quantenmechanischen Wellenfunktion
als Amplitude ψ 0 (r, t) und Phase θ(r, t) geht auf Erwin Madelung zurück.81 , 82 Er interpre-
tierte die Schrödinger-Gleichung der linear unabhängigen Funktionen ψ und ψ ∗ als zwei hy-
drodynamische Gleichungen, die eine „Wahrscheinlichkeitsflüssigkeit“, die so genannte Ma-
delung-Flüssigkeit beschreiben. Das Einsetzen der Wellenfunktion ψ = ψ 0 e ı θ in die Schrö-
dinger-Gleichung wird deshalb als Madelung-Transformation bezeichnet. Wendet man die
Idee von Madelung auf das Konzept der makroskopischen Wellenfunktion an, kann man
quantenhydrodynamische Gleichungen für Supraflüssigkeiten ableiten. Wir weisen an die-
ser Stelle auch darauf hin, dass sich das makroskopische Quantenmodell sowohl für die Be-
schreibung von geladenen als auch von ungeladenen Paar-Kondensaten (z. B. suprafluides
3
He) verwenden lässt.83 , 84 Ferner eignet es sich zur Beschreibung von Bose-Einstein-Kon-
densaten (z. B. suprafluides 4 He).
Wir wollen nun die Konsequenzen diskutieren, die sich aus dem Postulieren einer makrosko-
pischen Wellenfunktion ergeben. Wir betrachten zuerst die Bedeutung von ⋃︀ψ⋃︀2 . Für ein ein-
zelnes Teilchen gibt das Absolutquadrat ⋃︀Ψ(r, t)⋃︀2 seiner Wellenfunktion Ψ(r, t) die Wahr-
scheinlichkeit dafür an, das Teilchen zur Zeit t am Ort r anzutreffen. Da das Teilchen sich
zu jeder Zeit irgendwo im Raum befinden muss, ergibt sich daraus sofort die Normierungs-
bedingung ∫ Ψ∗ ΨdV = 1. Mit den gleichen Argumenten können wir für die Wellenfunk-
tion ψ, die das ganze Ensemble von supraleitenden Elektronen repräsentiert, folgende Nor-
mierungsbedingung fordern:


∫ ψ (r, t)ψ(r, t)dV = N s (13.3.12)

⋃︀ψ(r, t)⋃︀2 = ψ ∗ (r, t) ψ(r, t) = n s (r, t) . (13.3.13)

Hierbei ist n s (r, t) die lokale Dichte und N s die Gesamtzahl der supraleitenden Elektronen.
Die Bedingung (13.3.12) sagt nichts anderes, als dass wir alle supraleitenden Elektronen auf-
81
E. Madelung, Eine anschauliche Deutung der Gleichung von Schrödinger, Naturwiss. 14, 1004 (1926).
82
E. Madelung, Quantentheorie in hydrodynamischer Form, Z. Phys. 40, 322 (1926).
83
D. Einzel, Supraleitung und Suprafluidität, in Lexikon der Physik, Spektrum Akademischer Verlag,
Heidelberg, Berlin (2000).
84
D. Einzel, Superfluids, Encyclopedia of Mathematical Physics (2005).
13.3 Phänomenologische Modelle 803

finden müssen, wenn wir den ganzen Raum absuchen. Im Gegensatz zur üblichen Interpre-
tation von ⋃︀ψ(r, t)⋃︀2 als Aufenthaltswahrscheinlichkeit assoziieren wir ⋃︀ψ(r, t)⋃︀2 jetzt mit der
Teilchenzahldichte am Ort r zur Zeit t. Ansonsten können wir alle aus der Quantenmechanik
bekannten Aussagen übernehmen. Die einzelnen Ladungsträger verlieren bei diesem Ansatz
ihre Individualität und gehorchen im Kollektiv den Gesetzen der Quantenmechanik.
Für die weitere Diskussion benötigen wir noch einige grundlegende Beziehungen aus der
Elektrodynamik und der Quantenmechanik. Wir werden das elektrostatische skalare Poten-
zial ϕ(r, t) und das magnetische Vektorpotenzial A(r, t) benutzen, um die elektrischen und
magnetischen Felder zu beschreiben. Es gilt

∂A
E=− − ∇ϕ (13.3.14)
∂t
b=∇×A. (13.3.15)

Wir weisen darauf hin, dass die Potenziale nicht eindeutig sind, alle im Folgenden abgelei-
teten Gleichungen aber eichinvariant sind. Wir rufen ferner in Erinnerung, dass elektrische
Ströme in Metallen durch Gradienten des elektrochemischen Potenzials ϕ(r, t) + µ(r, t)⇑q
und nicht durch Gradienten von ϕ alleine getrieben werden. Wir müssen also das chemische
Potenzial in unsere Betrachtung einschließen, indem wir ϕ(r, t) durch ϕ(r, t) + µ(r, t)⇑q er-
setzen:85

ϕ(r, t) → ϕ(r, t) + µ(r, t)⇑q . (13.3.16)

Die treibende Kraft für die Ladungsträger mit Ladung q ist deshalb das effektive elektrische
Feld
∂A µ
E=− − ∇ (ϕ + ) . (13.3.17)
∂t q

Für die quantenmechanische Beschreibung der Bewegung von geladenen Teilchen in einem
Magnetfeld müssen wir den kanonischen Impuls p = mv + qA (siehe hierzu Anhang D) ver-
wenden. Die Schrödinger-Gleichung für ein geladenes Teilchen mit Ladung q und Masse m,
in die nur der kinematische Impuls mv = ħı ∇ − qA eingeht, lautet dann

2
1 ħ ∂Ψ(r, t)
( ∇ − qA(r, t)) Ψ(r, t) + (︀qϕ(r, t) + µ(r, t)⌋︀Ψ(r, t) = ıħ .
2m ı ∂t
(13.3.18)

Wir ersetzen nun die Wellenfunktion Ψ(r, t) des geladenen Teilchens durch die makrosko-
pische Wellenfunktion ψ(r, t) = ψ 0 (r, t)e ı θ(r,t) des Supraleiters sowie q und m durch die
Ladung q s und Masse m s der „supraleitenden“ Elektronen. Wir setzen dann ψ(r, t) in die

85
Das chemische Potenzial ist, wenn auch nur schwach, temperaturabhängig. Dies wird wichtig,
wenn wir Situationen mit Temperaturgradienten betrachten wollen.
804 13 Supraleitung

Schrödinger-Gleichung ein (Madelung-Transformation) und spalten nach Real- und Imagi-


närteil auf. Für den Imaginärteil erhalten wir (siehe Anhang H.1)

∂ψ 02 (r, t) ψ2
= −∇ ⋅ ( 0 (ħ∇θ(r, t) − q s A(r, t))) . (13.3.19)
∂t ms
)︁⌊︂⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ]︂⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ )︂ )︁⌊︂⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂]︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ )︂
=∂n s ⇑∂t =n s v s =J ρ

Da ⋃︀ψ 02 ⋃︀ = n s , erkennen wir sofort, dass (13.3.19) die Form einer Kontinuitätsgleichung
∂n s ⇑∂t + ∇ ⋅ J ρ = 0 für die Teilchenstromdichte J ρ hat. Multiplizieren wir J ρ mit der Ladung
q s der „supraleitenden“ Elektronen, so erhalten wir die supraleitende Stromdichte

ħ qs
Js (r, t) = q s n s (r, t) { ∇θ(r, t) − A(r, t) . (13.3.20)
ms ms

Da wir die Suprastromdichte immer als Js = q s n s vs schreiben können, entspricht der Aus-
druck in der geschweiften Klammer der Geschwindigkeit der supraleitenden Elektronen:

ħ qs
vs (r, t) ≡ ∇θ(r, t) − A(r, t) . (13.3.21)
ms ms

Für den Realteil erhalten wir


∂θ(r, t) 1 ħ 2 ∇2 ψ 0 (r, t)
ħ + ΛJ s2 (r, t) + q s ϕ(r, t) = . (13.3.22)
∂t 2n s 2m s ψ 0 (r, t)

Wenn wir Terme der Ordnung ∇2 vernachlässigen, was immer dann zulässig ist, wenn die
betrachteten elektromagnetischen Potenziale langsam variieren, erhalten wir

∂θ(r, t) 1
ħ = −( ΛJ2 (r, t) + q s ϕ(r, t) + µ(r, t)) . (13.3.23)
∂t 2n s s

Der Ausdruck (13.3.23) stellt eine Energie-Phasen-Beziehung dar, da der 1. Term auf der
rechten Seite die kinetische Energie ( 12 m s v s2 ) und die Summe aus 2. und 3. Term die poten-
zielle Energie ist. Da ħθ einer Wirkung S entspricht, ist (13.3.23) äquivalent zur Hamilton-
Jacobi-Gleichung ∂S⇑∂t = −H der klassischen Physik. Wir werden sehen, dass die beiden
Gleichungen (13.3.20) und (13.3.23) die wesentliche Physik einer geladenen Supraflüssig-
keit beinhalten.
Wir wollen diesen Abschnitt mit zwei Anmerkungen abschließen. Würden wir in (13.3.20)
den 1. Term in der Klammer weglassen, so ergäbe sich ΛJs + A = 0. Den gleichen Ausdruck
erhalten wir sofort aus der oben abgeleiteten 2. London-Gleichung, wenn wir dort b = ∇ × A
verwenden. Diese Gleichung ist allerdings im Gegensatz zu (13.3.20), wie wir weiter unten
zeigen werden, nicht eichinvariant. Sie gilt nur in der so genannten London-Eichung ∇ ⋅ A =
0. Diese garantiert, dass bei Abwesenheit von freien Ladungen div Js = 0 erfüllt ist.
Wir wollen ferner darauf hinweisen, dass sich das makroskopische Quantenmodell sowohl
für die Beschreibung von geladenen als auch von ungeladenen Quantenflüssigkeiten verwen-
13.3 Phänomenologische Modelle 805

den lässt, die mit einer makroskopischen Wellenfunktion beschrieben werden können.86 , 87
Benutzen wir

q s = k ⋅ q, m s = k ⋅ m, n s = n⇑k (13.3.24)

in den obigen Ausdrücken, so entspricht der Fall (q = −e, k = 2) einem Supraleiter mit
Cooper-Paaren der Ladung q s = −2e und der Dichte n s = n⇑2. Die Fälle (q = 0, k = 1)
und (q = 0, k = 2) repräsentieren eine neutrale Bose-Supraflüssigkeit, wie z. B. suprafluides
4
He, und eine neutrale Fermi-Supraflüssigkeit, wie z. B. suprafluides 3 He-A oder -B. Die
einzelnen oder zusammengesetzten Teilchen bilden in jedem Fall eine Supraflüssigkeit, die
wir bei Supraleitern auch als Kondensat bezeichnen.

13.3.2.1 Herleitung der London-Gleichungen


Wir können nun den zentralen Ausdruck (13.3.20) für die Suprastromdichte dazu benutzen,
für n s = const die London-Gleichungen abzuleiten. Wir weisen darauf hin, dass (13.3.20)
auch die Fälle einschließt, in denen n s zeitlich und räumlich variiert. Mit dem London-Ko-
effizienten Λ = nms qs 2 können wir (13.3.20) ausdrücken als
s

ħ
ΛJs (r, t) = − {A(r, t) − ∇θ(r, t)(︀ . (13.3.25)
qs

Bilden wir auf beiden Seiten die Rotation, so erhalten wir die 2. London-Gleichung:

∇ × (ΛJs ) + ∇ × A = ∇ × (ΛJs ) + b = 0 . (13.3.26)

Um die 1. London-Gleichung zu erhalten, müssen wir die partielle Zeitableitung von (13.3.20)
bilden. Wir erhalten
∂ ∂A(r, t) ħ ∂θ(r, t)
(ΛJs ) = − { − ∇( )(︀ . (13.3.27)
∂t ∂t qs ∂t

Substituieren wir (13.3.23) in (13.3.27) und benutzen E = −∂A⇑∂t − ∇(ϕ + µ⇑q s ), erhalten
wir die 1. London-Gleichung:

∂ 1 1
(ΛJs ) = E − ∇ ( ΛJ2s ) . (13.3.28)
∂t ns qs 2

Hierbei kann der 2. Term auf der rechten Seite meist vernachlässigt werden (linearisierte
1. London-Gleichung), worauf wir aber hier nicht eingehen wollen. Die 1. London-Glei-
chung lautet dann ∂t∂ (ΛJs ) = E.

86
D. Einzel, Supraleitung und Suprafluidität, in Lexikon der Physik, Spektrum Akademischer Verlag,
Heidelberg, Berlin (2000).
87
D. Einzel, Superfluids, Encyclopedia of Mathematical Physics (2005).
806 13 Supraleitung

Wir können insgesamt folgenden wichtigen Sachverhalt zusammenfassen:

∎ Die London-Gleichungen können direkt aus dem allgemeinen Ausdruck für die Supra-
stromdichte Js abgeleitet werden, der wiederum direkt aus der Tatsache folgt, dass der
supraleitende Zustand durch eine makroskopische Wellenfunktion beschrieben wer-
den kann.
∎ Die London-Gleichungen beschreiben zusammen mit den Maxwell-Gleichungen das
Verhalten von Supraleitern in elektrischen und magnetischen Feldern.

Dauerströme: Die Tatsache, dass ein Suprastrom in einem Supraleiter zeitlich nicht ab-
klingt, ist äußerst interessant und auf den ersten Blick nicht einsichtig. Wir wollen deshalb
Prozesse diskutieren, die zu einem Abklingen des Suprastroms führen könnten. Dazu be-
trachten wir den in Abb. 13.17 gezeigten Fermi-Kreis in der k x k y -Ebene. Die Betrachtung
kann leicht auf dreidimensionale Systeme erweitert werden. Die erlaubten k-Zustände sind
durch Punkte charakterisiert. Bei T = 0 sind alle Zustände innerhalb des Kreises besetzt. Oh-
ne jeglichen Strom liegt das Zentrum des Fermi-Kreises im Ursprung. Erzeugen wir dagegen
einen endlichen Strom in x-Richtung, indem wir die Ladungsträger in diese Richtung be-
schleunigen, so wird der Fermi-Kreis um δk x in k x -Richtung verschoben. Im normalleiten-
den Zustand können nun die Ladungsträger in Zustände mit niedrigerer Energie relaxieren,
wobei wir natürlich das Pauli-Prinzip berücksichtigen müssen (siehe Abb. 13.17a). Da es
eine große Anzahl möglicher Streuprozesse gibt, wird das System sehr schnell in den Aus-
gangszustand mit einem um den Ursprung zentrierten Fermi-Kreis relaxieren. Das heißt,
der aufgeprägte Strom wird schnell relaxieren. Im Gegensatz dazu müssen im supraleiten-
den Zustand alle Cooper-Paare den gleichen Schwerpunktimpuls haben. Deshalb können sie
nur, wie in Abb. 13.17b gezeigt ist, um den Fermi-Kreis herumgestreut werden. Diese Streu-
prozesse führen aber nicht zu einer Verschiebung des Schwerpunktes des Fermi-Kreises und
damit auch nicht zu einem Abklingen des Stroms. Wir haben also einen nichtabklingenden
Suprastrom. Prozesse, die zu einer Impulsrelaxation führen, sind nur dann möglich, wenn

𝒌𝒚 𝒌𝒚 𝒌𝒚

𝜹𝒌𝒙 𝜹𝒌𝒙 𝜹𝒌𝒙


𝒌𝒙 𝒌𝒙 𝒌𝒙
𝒌𝐅 𝒌𝐅 𝒌𝐅

(a) (b) (c)

Abb. 13.17: Intuitives Bild des Zerfalls eines Stroms in einem normalleitenden Metall (a) und einem
Supraleiter (b) bei T = 0. In (b) sind die Elektronen zu Cooper-Paaren korreliert, die alle den gleichen
Schwerpunktsimpuls besitzen. (c) Für T > 0 liegt im thermischen Mittel eine endliche Dichte von Ein-
teilchenanregungen durch thermisches Aufbrechen von Cooper-Paaren vor. Diese relaxiert von rechts
nach links, da dort die Energie der Einteilchenanregungen niedriger ist.

124
13.3 Phänomenologische Modelle 807

wir die Cooper-Paare zerstören. Dazu müssen wir aber, wie wir später noch sehen werden,
ihre endliche Bindungsenergie aufbringen.
In Abb. 13.17c ist die Situation für T > 0 gezeigt, bei der Cooper-Paare ständig thermisch
aufgebrochen werden und wieder rekombinieren, wobei im Mittel eine endliche Dichte von
Einteilchenanregungen übrig bleibt. Die Verschiebung der Fermi-Kugel um δk x und der dar-
aus resultierende Suprastrom in x-Richtung bleiben davon unberührt. Allerdings relaxieren
die Einteilchenanregungen durch Streuung an Verunreinigungen und Phononen von rechts
nach links, da dort ihre Energie niedriger ist. Dies führt zu einem effektiven Zurückfließen
der Einteilchenanregungen, wodurch der nach rechts fließende Suprastrom zwar reduziert
wird, aber nicht abklingt.

13.3.2.2 Vertiefungsthema: Eichinvarianz


Das Vektorpotenzial A, das skalare Potenzial ϕ oder die Phase θ beschreiben physikalische
Variablen, die nicht beobachtbar sind. Wir können außerdem formale Transformationen
für diese Größen finden, welche keinen Einfluss auf die tatsächlich beobachtbaren Größen
wie B, E, oder Js haben. Solche Transformationen nennen wir Eichtransformationen. Nicht
beobachtbare Größen wie A, ϕ oder θ, die sich unter einer Eichtransformation wohldefiniert
ändern können, nennen wir eich-kovariant.
Betrachten wir Gleichung (13.3.20), so sehen wir, dass die Suprastromdichte Js nur von der
Phase θ und dem Vektorpotenzial A abhängt. Die beobachtbare Größe Js ist also durch zwei
Größen bestimmt, die selbst im Experiment nicht beobachtet werden können. Ferner wissen
wir, da ja jedes skalare Feld f die Bedingung ∇ × (∇ f ) = 0 erfüllt, dass für eine beliebige
differenzierbare skalare Funktion χ(r, t)
b = ∇ × A = ∇ × (A + ∇χ) (13.3.29)
gelten muss. Es existiert also eine unendliche Zahl von möglichen Vektorpotenzialen, welche
die richtige Flussdichte beschreiben. Dies suggeriert, dass wir nur dann einen wohldefinier-
ten Wert für die Observable Js erhalten, wenn wir sowohl θ als auch A messen können, die
ja keine physikalischen Observablen sind und nur aus mathematischen Gründen eingeführt
wurden.
Der Ausweg aus diesem Dilemma liegt in der Tatsache, dass die Beziehung zwischen θ und A
nicht beliebig, sondern fest ist. In diesem Fall können wir Js messen, können aber nicht θ
und A bestimmen. Das heißt, wir fordern, dass der Ausdruck (13.3.20) unabhängig von der
speziellen Wahl von A ist, d. h. wir müssen den Ausdruck für Js eichinvariant machen. Eine
spezifische Wahl von A nennen wir dann eine Eichung. Mathematisch ist die Vorgehensweise
klar. Wir definieren ein neues Vektorpotenzial A′ durch
A′ ≡ A + ∇χ . (13.3.30)
Nach (13.3.29) ergibt dieses Vektorpotenzial die richtige Flussdichte. Zusätzlich muss das
neue Vektorpotenzial auch das elektrische Feld richtig beschreiben. Wir definieren deshalb
ein neues skalares Potenzial ϕ′ so, dass das elektrische Feld gegeben ist als
∂A′
E=− − ∇ϕ′ . (13.3.31)
∂t
808 13 Supraleitung

Vergleichen wir diesen Ausdruck mit dem ursprünglichen, E = − ∂A


∂t
− ∇ϕ, so sehen wir, dass
die beiden skalaren Potenziale folgender Beziehung gehorchen müssen:
∂χ
ϕ′ ≡ ϕ − . (13.3.32)
∂t
Nach (13.3.30) und (13.3.32) können wir also getrennt die zeitliche und räumliche Abhän-
gigkeit der skalaren Funktion χ spezifizieren, um neue Sätze von skalaren und Vektorpo-
tenzialen zu erzeugen, die die ursprünglichen elektrischen und magnetischen Felder richtig
beschreiben.
Schreiben wir die Schrödinger-artige Gleichung
2
∂ψ(r, t) 1 ħ
ıħ = ( ∇ − q s A(r, t)) ψ(r, t) + q s ϕ(r, t) ψ(r, t) . (13.3.33)
∂t 2m s ı
mit dem neuen⌈︂Vektorpotenzial A′ und skalarem Potenzial ϕ′ sowie der neuen Wellenfunk-

tion ψ ′ (r, t) = n s (r, t)e ı θ (r,t) , so können wir den folgenden Ausdruck für die Suprastrom-
dichte ableiten:
ħ qs ′
Js (r, t) = q s n s (r, t) { ∇θ ′ (r, t) − A (r, t) . (13.3.34)
ms ms
Da die Observable Js in den Ausdrücken (13.3.34) und (13.3.20) gleich sein muss, erhalten
wir die Bedingung
qs
θ′ ≡ θ + χ. (13.3.35)
ħ
Daraus folgt wiederum

ψ ′ (r, t) = ψ(r, t)e ı(q s ⇑ħ) χ . (13.3.36)


Wir sehen, dass dieselbe skalare Funktion χ sowohl die Phase als auch das Vektorpotenzial
ändert. Auf diese Weise bleibt der Wert des Suprastromes gleich, egal welche spezifische Ei-
chung wir wählen. Die wichtige Folgerung daraus ist, dass der Ausdruck für den Suprastrom
eichinvariant ist.
Aus den Gleichungen (13.3.34) und (13.3.20) für den Suprastrom erhalten wir die Bedingung
qs ′ qs
∇θ ′ − A = ∇θ − A . (13.3.37)
ħ ħ
Wir können deshalb einen eichinvarianten Phasengradienten
qs 2e 2π
γ = ∇θ − A = ∇θ + 2π A = ∇θ + A (13.3.38)
ħ h Φ0
einführen, wobei wir q s = −2e benutzt haben und Φ 0 = h
2e
das magnetische Flussquant ist.
Der Suprastrom ist dann gegeben durch

qs ns ħ ħ
Js (r, t) = γ(r, t) = γ(r, t) . (13.3.39)
ms qs Λ
13.3 Phänomenologische Modelle 809

Wir sehen also, dass der Suprastrom proportional zu einem eichinvarianten Phasengradi-
enten ist.88 Falls wir die Transformationen (13.3.30), (13.3.32), und (13.3.35) gleichzeitig
durchführen, ist die Transformation nur ein rein formaler Vorgang, der überhaupt keine
Auswirkung auf die beobachtbaren Größen hat.

13.3.2.3 Flussquantisierung
Wir wollen in diesem Abschnitt zeigen, dass eine direkte Konsequenz des makroskopischen
Quantenmodells der Supraleitung die Quantisierung des magnetischen Flusses in mehrfach
zusammenhängenden Supraleitern ist (siehe Abb. 13.18).
Wir wollen unsere Diskussion mit einem einfachen Gedankenexperiment beginnen. Wir
nehmen einen supraleitenden Hohlzylinder und erzeugen über magnetische Induktion
einen supraleitenden Ringstrom. Da dieser Suprastrom zeitlich nicht abklingt, muss es
sich um einen stationären Zustand handeln. Selbstverständlich können wir aber den Wert
des stationären Suprastroms ändern, indem wir den Induktionsprozess, mit dem wir den
Strom erzeugen, ändern. Klassisch würden wir deshalb erwarten, dass wir jeden beliebigen
Suprastrom in dem Ring erzeugen können. Nachdem wir aber gelernt haben, dass wir
den Supraleiter als makroskopisches Quantensystem betrachten können, müssen wir un-
sere Überlegung verfeinern. Von der quantenmechanischen Behandlung mikroskopischer
Systeme wissen wir, dass stationäre Zustände an bestimmte Quantisierungsbedingungen
geknüpft sind, die wir mit Quantenzahlen charakterisieren. Innerhalb des Bohrschen Atom-
modells sind zum Beispiel die stationären Elektronenzustände durch die Quantisierung
des Drehimpulses festgelegt. Wie in Abb. 13.18a gezeigt ist, ist diese Bedingung dazu äqui-
valent, dass die Elektronenwellenfunktionen nicht destruktiv interferieren. Analog dazu
erwarten wir für den supraleitenden Ringstrom nur dann einen stationären Zustand, falls
die makroskopische Wellenfunktion, die die Gesamtheit der supraleitenden Elektronen be-
schreibt, längs des Umfangs des Zylinders konstruktiv interferiert (siehe Abb. 13.18b). Wir

(a) 90 (b)
120 60
30
150 30
20

10
r / aB

0 180 0 𝒏 ⋅ 𝚽𝟎
10

20
210 330
30
240 300
270

Abb. 13.18: Stationäre Quantenzustände: (a) Stehende Elektronenwellen um den Kern eines Atoms am
Ort r = 0 sind gleichbedeutend mit der Bohr-Sommerfeld Quantisierung des Drehimpulses. (b) Die
stehende Welle der makroskopischen Wellenfunktion eines Supraleiters ist gleichbedeutend mit der
Flussquantisierung in einem supraleitenden Hohlzylinder.
132

88 qs
Man beachte, dass ∇θ − A nicht als ∇γ geschrieben werden kann, das heißt, nicht als Gradient
ħ
einer eichinvarianten Phase. In diesem Fall wäre A ∝ ∇θ − ∇γ und damit ∇ × A = b = 0.
810 13 Supraleitung

Abb. 13.19: Verschiedene Mög- geschlossener


lichkeiten für geschlossene Pfa- (a) Pfad C
(b)
de C innerhalb eines supraleiten-
den Materials: (a) Der Pfad liegt F F
in einem einfach zusammenhän-
genden supraleitenden Bereich. geschlossener
(b) Der Pfad liegt in einem mehr- Pfad C
fach zusammenhängenden Bereich.

erwarten deshalb eine Quantisierungsbedingung. Dies wurde erstmals von Fritz London
vorgeschlagen.89 Er kam zu der Schlussfolgerung, dass der magnetische Fluss, der in einem
supraleitenden Hohlzylinder eingefangen ist, nur diskrete Werte haben kann, die durch ein
Vielfaches des Flussquants ΦLondon
0 gegeben sind. London schlug den Wert
h
ΦLondon
0 = ≃ 4 × 10−15 Vs (13.3.40)
e
vor, da er annahm, dass einzelne Elektronen den Suprastrom tragen. Die Tatsache, dass
Cooper-Paare den Suprastrom tragen, wurde erst später mit der Entwicklung der BCS-
Theorie klar.90
Wir wollen im Folgenden die Flussquantisierung ableiten, wobei wir aus Gründen der
Einfachheit von einem homogenen Supraleiter ausgehen wollen. Wir benutzen den Aus-
druck (13.3.25) für die Suprastromdichte
ħ
ΛJs (r, t) = − {A(r, t) − ∇θ(r, t)(︀ (13.3.41)
qs
und integrieren diesen Ausdruck entlang eines geschlossenen Weges C. Wir benutzen dabei
den Stokesschen Satz

∮ A ⋅ dℓ = ∫ (∇ × A) ⋅ ⧹︂
n dF = ∫ b ⋅ ⧹︂
n dF , (13.3.42)
C F F

wobei F die Fläche, die vom Weg C umschlossen wird (siehe Abb. 13.19), ⧹︂
n der Einheitsvek-
tor senkrecht auf F und b die magnetische Flussdichte ist, die mit dem Vektorpotenzial A
verbunden ist. Mit dem Stokesschen Satz können wir (13.3.41) in
ħ
∮ (ΛJs ) ⋅ dℓ + ∫ b ⋅ ⧹︂
n dF = ∮ ∇θ ⋅ dℓ (13.3.43)
qs
C F C

umschreiben.
Wir werten zuerst das Integral auf der rechten Seite von (13.3.43) aus. Das Integral des Gra-
dienten einer skalaren Funktion zwischen zwei Punkten r1 and r2 ist gegeben durch
r2

∫ ∇θ ⋅ dℓ = θ(r2 , t) − θ(r1 , t) . (13.3.44)


r1

89
F. London, Superfluids, Wiley, New York (1950).
90
J. Bardeen, L. N. Cooper, J. R. Schrieffer, Theory of Superconductivity, Phys. Rev. 108, 1175 (1957).
13.3 Phänomenologische Modelle 811

Wir sehen, dass für r1 → r2 , also im Grenzfall eines geschlossenen Pfades, das Integral gegen
null geht. Im Allgemeinen ist das aber nicht ganz richtig, da ja die Phase der Wellenfunkti-
on ψ nicht genau festgelegt ist. Es gibt vielmehr unendlich viele Werte θ n = θ 0 + 2πn für die
Phase (n ist eine ganze Zahl), die alle denselben Wert der Wellenfunktion ergeben:
⌋︂
ψ(r, t) = n s e ı(θ 0 +2πn) . (13.3.45)

Die Wellenfunktion ψ(r, t) muss in jedem Punkt (r, t) eindeutig sein. Dies ist für n ∈ Z
erfüllt, wenn

θ(r, t) = θ 0 (r, t) + 2πn . (13.3.46)

Damit erhalten wir für das Integral des Phasengradienten entlang des geschlossenen
Weges C

∮ ∇θ ⋅ dℓ = rlim
2 →r 1
(︀θ(r2 , t) − θ(r1 , t)⌋︀ = n ⋅ 2π . (13.3.47)
C

Mit diesem Ergebnis ergibt sich aus (13.3.43)

h
∮ (ΛJs ) ⋅ dℓ + ∫ b ⋅ ⧹︂
n dF = n = nΦ 0 (13.3.48)
qs
C F
)︁⌊︂⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ]︂⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ )︂
Fluxoid

mit dem Flussquant Φ 0 ≡ 2eh = 2.067 833 831(13) × 10−15 Vs, wobei wir ⋃︀q s ⋃︀ = 2e verwendet
haben. Das Flussquant Φ 0 ist der kleinstmögliche magnetische Fluss, der in einer von einem
zusammenhängenden supraleitenden Bereich umschlossenen Fläche enthalten sein kann.
Wir wollen im Folgenden einige Konsequenzen von (13.3.48) anhand von Abb. 13.19 disku-
tieren:

1. Wir betrachten zuerst den Fall (a), bei dem die Fläche F, die durch den geschlossenen
Pfad C definiert wird, ein einfach zusammenhängendes supraleitendes Gebiet ist (siehe
Abb. 13.19a). Wir müssen uns in Erinnerung rufen, dass wir eine Integration entlang
eines geschlossenen Weges ausführen, welche wir uns als Linienintegral zwischen zwei
Punkten r1 und r2 für den Grenzfall r2 → r1 vorstellen können. Da (13.3.48) für alle ge-
schlossenen Wege gilt, müssen wir auch den Fall einschließen, bei dem F = 0. In diesem
Fall verschwinden beide Integrale in (13.3.48) und wir erhalten deshalb für einen ein-
fach zusammenhängenden Supraleiter n = 0.91 Dieses Ergebnis haben wir erwartet, da
die Bedingung n = 0 gerade die integrale Form der 2. London-Gleichung darstellt.
2. Wir betrachten als Nächstes den Fall eines mehrfach zusammenhängenden Supraleiters,
der in Abb. 13.19b gezeigt ist. Wichtig ist hierbei, dass der geschlossene Weg C jetzt so-
wohl einen supraleitenden als auch einen nicht-supraleitenden Bereich einschließt. In
unserem Fall ist der nicht-supraleitende Bereich einfach ein Loch. Wenn wir jetzt einen
91
Dies gilt natürlich nur dann, wenn die Suprastromdichte Js oder die magnetische Flussdichte B
keine Singularitäten besitzt.
812 13 Supraleitung

geschlossenen Pfad bilden, indem wir den Grenzfall r2 → r1 betrachten, bauen wir ein
„Gedächtnis“ in unseren Pfad ein. Wir wissen nämlich, dass wir einen nicht-supralei-
tenden Bereich umschlossen haben. Die Phasen in den Punkten r2 und r1 sind deshalb
unterschiedlich. Obwohl der Hauptwert θ 0 der beiden Phasen der gleiche ist, beträgt ihre
Differenz jetzt n ⋅ 2π.

Fluss- und Fluxoid-Quantisierung: Die linke Seite der Gleichung (13.3.48) wird als Flux-
oid bezeichnet. Deshalb beschreibt diese Gleichung allgemein die Fluxoid-Quantisierung.
Wichtig dabei ist, dass nur das Fluxoid, aber nicht notwendigerweise auch der durch das
äußere Magnetfeld erzeugte magnetische Fluss quantisiert ist, da in das Fluxoid sowohl der
durch das angelegte Magnetfeld erzeugte Fluss Φ′ = ∫ b ⋅ ⧹︂
n dF als auch der von dem supra-
leitenden Ringstrom erzeugte Fluss Φ′′ = ∮ (ΛJs ) ⋅ dℓ eingehen.
Wir betrachten nun den in Abb. 13.20 gezeigten supraleitenden Hohlzylinder. Wir nehmen
an, dass die Wandstärke des Zylinders wesentlich größer als die Londonsche Eindringtie-
fe λ L ist. Wenn wir jetzt ein kleines Magnetfeld (wesentlich kleiner als das kritische Feld
des Supraleiters) anlegen, nachdem wir den Supraleiter unter seine Sprungtemperatur ab-
gekühlt haben, wird kein Fluss in den Hohlzylinder eindringen. Es fließt ein supraleitender
Abschirmstrom auf der äußeren Oberfläche des Hohlzylinders, der das angelegte Feld ab-
schirmt. Den interessanteren Fall erhalten wir, wenn wir erst das Feld anlegen und dann den
supraleitenden Hohlzylinder unter seine Sprungtemperatur abkühlen. In diesem Fall fließen
gegensinnige Abschirmströme (Ringströme) sowohl auf der inneren als auch der äußeren
Oberfläche des Hohlzylinders, die verhindern, dass Feld in die supraleitende Zylinderwand
eindringt.
Wir benutzen nun (13.3.48), um den im Zylinder eingeschlossenen magnetischen Fluss
zu bestimmen. Im klassischen Fall wären die fließenden Abschirmströme nur durch das
Ampèresche Gesetz bestimmt und wir könnten jeden beliebigen Flusswert im Zylinder
einfangen, indem wir das Abkühlfeld variieren. In einer exakten quantenmechanischen
Betrachtung müssen wir zusätzlich die Bedingung (13.3.48) für die Fluxoid-Quantisierung
erfüllen. Da die Dicke des supraleitenden Materials groß gegen λ L ist, können wir aber
einen geschlossenen Pfad wählen, der tief im Inneren des supraleitenden Materials liegt, wo

Abb. 13.20: Schematische Darstellung eines


𝑯𝐞𝐱𝐭 magnetische
in einem konstanten äußeren Magnetfeld Hext
Flussdichte
unter seine Sprungtemperatur abgekühlten
supraleitenden Hohlzylinders. Gezeigt ist ne-
ben dem Verlauf der magnetischen Feldlini-
en auch die erwartete Dichte des supraleiten- 𝑱𝒔 𝑱𝒔
den Abschirmstroms, die als Ringstrom auf
der Oberfläche der Zylinderwand fließt. Das innerer
umgekehrte Vorzeichen von J s auf der inne- Wandstrom
ren und äußeren Oberfläche der Zylinder- 𝒓
wand soll den gegensinnigen Drehsinn der 𝒓
äußerer
Ringströme symbolisieren. Falls die Wanddi- Wandstrom
cke groß gegen λ L ist, wird die Suprastromdich-
te in der Wandmitte vernachlässigbar klein.
134
13.3 Phänomenologische Modelle 813

in guter Näherung Js = 0 gilt. Die Fluxoid-Quantisierung vereinfacht sich dann zu

∫ b ⋅ ⧹︂
n dF = nΦ 0 . (13.3.49)
F

Wir sehen also, dass der im Hohlzylinder eingefangene magnetische Fluss in diesem Fall
exakt dem ganzzahligen Vielfachen eines Flussquants Φ 0 entspricht. Wir können in die-
sem Fall von Flussquantisierung sprechen. Die experimentelle Beobachtung der Flussquan-
tisierung durch Doll und Näbauer sowie Deaver und Fairbanks im Jahr 1961 (siehe Ab-
schnitt 13.3.2.3) belegte damit eindrucksvoll die Existenz einer makroskopischen Wellen-
funktion, mit der die Gesamtheit aller phasenstarr gekoppelten Cooper-Paare beschrieben
werden kann.

Einfangen von magnetischem Fluss: Wir diskutieren abschließend noch kurz die Frage,
wieso der supraleitende Hohlzylinder den magnetischen Fluss nach Abschalten des Magnet-
feldes in seinem Inneren gefangen hält und ihn nicht einfach ausstößt. Die Antwort darauf
gibt die 1. London-Gleichung, die besagt, dass das elektrische Feld im Inneren eines Supra-
leiters null sein muss, da dort ∂Js ⇑∂t = 0. Dies gilt auch für Situationen, in denen sich der
zirkulierende Suprastrom zeitlich ändert, da dieser nur in einer dünnen Oberflächenschicht
der Dicke λ L fließt (siehe Abb. 13.20). Mit E = −∂A⇑∂t − ∇ϕ und ∇ϕ = 0 erhalten wir
∂ ∂ ∂Φ
∮ E ⋅ dℓ = − ∮ A ⋅ dℓ = − ∫ b ⋅ ⧹︂
n dF = − , (13.3.50)
∂t ∂t ∂t
C C F

wobei Φ der Fluss durch die Fläche ist, die vom geschlossenen Integrationsweg C umschlos-
sen wird. Wählen wir den Integrationsweg weit im Inneren des Supraleiters, so gilt dort E = 0
und damit ∂Φ
∂t
= 0. Das heißt, dass der in dem Hohlzylinder eingefangene Fluss konstant sein
muss. Die supraleitenden Abschirmströme, die auf der Zylinderoberfläche fließen, passen
sich gerade so an, dass sich der im Zylinder eingeschlossene Fluss nicht ändert. Der einmal
beim Abkühlen unter die Sprungtemperatur eingefangene Fluss bleibt dort gefangen.92

13.3.3 Die Ginzburg-Landau-Theorie


Das makroskopische Quantenmodell der Supraleitung erlaubt in natürlicher Weise, die
elektrodynamischen Eigenschaften von Supraleitern mit Hilfe von allgemeinen quanten-
mechanischen Konzepten abzuleiten. Die Beschreibung des supraleitenden Zustands mit
einer makroskopischen Wellenfunktion führte uns zu einem allgemeinen Ausdruck für die
Suprastromdichte, aus dem wir sofort die London-Gleichungen und die Flussquantisie-
rung ableiten konnten. Wir werden später in Abschnitt 13.6 sehen, dass daraus auch die
Josephson-Gleichungen abgeleitet werden können.
92
Wir können leicht die Energiebarriere abschätzen, die überwunden werden muss, um den Flussin-
halt um ein Flussquant zu ändern. Sie ist gegeben durch ∫ IUdt. Setzen wir I = I c und ∫ Udt = Φ 0 ,
so erhalten wir für einen typischen maximalen Suprastrom I c in der Größenordnung von 1 A ei-
ne Energiebarriere von etwa 10−15 J, was etwa 108 K entspricht. Flussänderungen durch thermisch
aktivierte Prozesse sind also sehr unwahrscheinlich.
814 13 Supraleitung

In der London-Theorie sind wir aber immer von einem System ausgegangen, in dem die
Dichte der supraleitenden Elektronen räumlich konstant ist. Deshalb können Situationen, in
denen ganz offensichtlich eine solche Variation vorliegen muss, wie zum Beispiel an Ober-
flächen oder Grenzflächen zwischen Supraleitern und Normalleitern, nicht beschrieben
werden. Da mit dem räumlichen Gradienten einer Wellenfunktion immer eine kinetische
Energie verknüpft ist, wäre eine sprunghafte Änderung der Wellenfunktion an Grenz- und
Oberflächen mit einer sehr hohen Energie verbunden. Wir erwarten deshalb, dass sich die
Wellenfunktion in solchen Situationen kontinuierlich ändert und innerhalb einer charakte-
ristischen Längenskala von null auf den Gleichgewichtswert ansteigt. Im Jahr 1950 wurde
von Vitaly Lasarevich Ginzburg und Lev Davidovich Landau eine Theorie93 vorgeschla-
gen, mit der Situationen mit räumlich variierender Dichte der supraleitenden Elektronen
richtig beschrieben werden können. Anfangs erschien die Ginzburg-Landau (GL) Theorie
sehr phänomenologisch und ihre allgemeine Gültigkeit wurde kontrovers diskutiert. Dies
änderte sich, nachdem Lev Petrovich Gor’kov 1959 zeigte, dass die GL-Theorie für Tem-
peraturen nahe Tc einen rigoros ableitbaren Grenzfall der mikroskopischen BCS-Theorie
darstellt.94 , 95 Mit der GL-Theorie gelang es im Jahr 1957 Alexei Alexeyevich Abrikosov,
das Flussliniengitter in Typ-II Supraleitern vorherzusagen, was einen großen Erfolg der
GL-Theorie bedeutete.96 Da die vier russischen Wissenschaftler Ginzburg, Landau, Gor’kov
und Abrikosov die wesentlichen Beiträge zur Entwicklung dieser Theorie leisteten, be-
zeichnen wir sie heute meist als GLAG-Theorie.97 Die Vorhersagen der GLAG-Theorie
entsprechen für eine räumlich konstante Dichte der supraleitenden Elektronen denjenigen
des makroskopischen Quantenmodells der Supraleitung. Die GLAG-Theorie beinhaltet
aber kein skalares Potenzial und keinerlei Zeitabhängigkeiten. Sie kann deshalb z. B. nicht
zur Beschreibung des Josephson-Effekts herangezogen werden.
Die GLAG-Theorie stellt eine Weiterentwicklung der Landau-Theorie der Phasenübergänge
2. Ordnung dar,98 , 99 die wir bereits für die Beschreibung von Ferroelektrika und Ferroma-
gnetika verwendet haben (vergleiche hierzu Abschnitt 11.8.1). In der Landau-Theorie der
Phasenübergänge wird die räumlich homogene, geordnete Phase, die hier der supraleitenden
Phase entspricht, mit einem reellen Ordnungsparameter beschrieben, der im normalleiten-
den Bereich verschwindet und unterhalb Tc kontinuierlich auf einen Sättigungswert ansteigt.
Um auch Situationen behandeln zu können, in denen n s räumlich variiert, haben Ginzburg
und Landau einen komplexen, räumlich variierenden Ordnungsparameter eingeführt, der

93
V. L. Ginzburg, L. D. Landau, Toward the superconductivity theory, Zh. Eksperim. Teor. Fiz. 20, 1064
(1950).
94
L. P. Gor’kov, Microscopic Derivation of the Ginzburg-Landau Equations in Superconductivity, Zh.
Eksperim. Teor. Fiz. 36, 1918 (1959) [Sov. Phys. JETP 9, 1364 (1959)].
95
A. A. Abrikosov, L. P. Gor’kov, I. E. Dzyaloshinskii, in Quantum Field Theoretical Models in Statis-
tical Physics, Pergamon Press, London (1965).
96
A. A. Abrikosov, On the Magnetic Properties of Superconductors of the Second Group , Zh. Eksperim.
Teor. Fiz. 32, 1442-1452 (1957) [Sov. Phys. JETP 5, 1174-1182 (1957)].
97
Vitaly Lasarevich Ginzburg und Alexei Alexeyevich Abrikosov erhielten zusammen mit Anthony
James Leggett den Nobelpreis für Physik 2003 „für ihre bahnbrechenden Arbeiten zur Theorie der
Supraleitung und Supraflüssigkeiten“.
98
L. D. Landau, Phys. Z. Sowjet. 11, 545 (1937).
99
L. D. Landau, E. M. Lifshitz, Lehrbuch der theoretischen Physik, Band V, Akademieverlag, Berlin
(1987).
13.3 Phänomenologische Modelle 815

durch eine komplexe makroskopische bosonische Wellenfunktion Ψ(r) beschrieben wurde.


Dabei wurde das Absolutquadrat ⋃︀Ψ(r)⋃︀2 = n s (r) als Dichte der supraleitenden Elektronen
aufgefasst. Diese Vorgehensweise wurde sicherlich durch den Erfolg der London-Theorie
motiviert, die ja zeigte, dass sich Supraleiter gerade so verhalten, als ob sie mit einer makro-
skopischen Wellenfunktion beschrieben werden können. Es stellte sich später sogar heraus,
dass der in der GLAG-Theorie verwendete Ordnungsparameter Ψ(r) proportional zu der
in der BCS-Theorie verwendeten Energielückenfunktion ∆(r) ist.100 Mit dem Ordnungspa-
rameter Ψ(r) kann nun, genauso wie wir das in Abschnitt 11.8.1 bei der Diskussion der
Ferroelektrizität getan haben, die Dichte der freien Enthalpie gs = 𝒢s ⇑V nach Potenzen des
Ordnungsparameters entwickelt werden. Dabei nahmen Ginzburg und Landau an, dass für
räumlich inhomogene Systeme die Dichte der freien Enthalpie gs sowohl vom Gradienten
von Ψ als auch von Ψ selbst abhängt. Die Minimierung von gs führt dann zu den Ginzburg-
Landau-Gleichungen.101
Die GLAG-Theorie stellt eine sehr erfolgreiche Beschreibung des Phänomens Supraleitung
dar, die das elektrodynamische, quantenmechanische und thermodynamische Verhalten von
Supraleitern zusammenfasst. Trotzdem liefert die GLAG-Theorie nur eine phänomenologi-
sche Beschreibung und keine Erklärung des Mechanismus der Supraleitung. Diese wird erst
durch die in Abschnitt 13.5 diskutierte BCS-Theorie zur Verfügung gestellt.

13.3.3.1 Räumlich homogener Supraleiter im Nullfeld


Wir wollen zunächst den einfachen Fall eines räumlich homogenen Supraleiters, ⋃︀Ψ(r)⋃︀2 =
⋃︀Ψ0 (r)⋃︀2 = const, ohne äußeres Magnetfeld betrachten. Analog zur Vorgehensweise in Ab-
schnitt 11.8.1 entwickeln wir die freie Enthalpiedichte gs des Supraleiters nach Potenzen des
Ordnungsparameters:

gs = gn + α⋃︀Ψ⋃︀2 + 12 β⋃︀Ψ⋃︀4 + . . . . (13.3.51)

Hierbei ist gn die als konstant angenommene Enthalpiedichte im Normalzustand. Ferner


können wir in der Nähe von Tc , wo der Ordnungsparameter klein ist, Entwicklungsglieder
höherer Ordnung weggelassen. Analog zu unserer Diskussion in Abschnitt 11.8.1 müssen
wir für die Koeffizienten fordern, dass β positiv ist, da sonst ein großer Wert von ⋃︀Ψ⋃︀ im-
mer zu gs < gn führen würde und deshalb das Minimum von gs immer bei ⋃︀Ψ⋃︀ → ∞ liegen
würde. Wir müssen ferner fordern, dass α bei der Phasenübergangstemperatur Tc sein Vor-
zeichen ändert. Für T > Tc muss α positiv sein, da hier gs > gn gelten muss, für T < Tc muss
100
Anfangs wurde tatsächlich geglaubt, dass Ψ(r) einfach einer BCS Energielücke entspricht, die als
Funktion des Ortes oder des angelegten Magnetfeldes variiert, was zu Fehlinterpretationen von
experimentellen Ergebnissen führte. Heute ist dagegen klar, dass der aus der GLAG-Theorie er-
haltene Ordnungsparameter nur als erster grober Schritt beim Verständnis der Spektraldichte von
Anregungen aus dem supraleitenden Grundzustand verwendet werden kann. Vereinfacht können
wir sagen, dass Felder, Ströme oder Dichtegradienten „paarbrechend“ wirken und damit nicht nur
die Größe der Energielücke reduzieren, sondern auch die scharfe Kante der BCS-Energielücke aus-
schmieren. Eine genaue Diskussion dieser Details würde hier aber zu weit führen.
101
Da sich der Gleichgewichtswert des Ordnungsparameters Ψ(r) erst durch Minimierung der Dichte
der freien Enthalpie mittels Variationsrechnung ergibt, wäre es genauer, gs als Energiedichtefunk-
tional zu bezeichnen. Wir werden im Folgenden trotzdem immer vereinfachend von der Dichte
der freien Enthalpie oder der Gibbs-Funktion sprechen.
816 13 Supraleitung

dagegen α negativ sein, da hier gs < gn sein muss (siehe Abb. 13.21). Wir setzen deshalb an:

T
α(T) = α ( − 1) ; α >0; β(T) = const . (13.3.52)
Tc

Aus der Gleichgewichtsbedingung ∂gs ⇑∂⋃︀Ψ⋃︀ = 0 erhalten wir β = −α⇑⋃︀Ψ0 ⋃︀2 und somit

α(T) α T
n s (T) = ⋃︀Ψ0 (T)⋃︀2 = − = (1 − ) . (13.3.53)
β β Tc

Hierbei ist Ψ0 (T) der Ordnungsparameter, der den räumlich homogenen Gleichgewichts-
zustand bei der Temperatur T beschreibt. Wir können nun noch den abstrakten Entwick-
lungskoeffizienten eine physikalische Bedeutung zuordnen, indem wir das thermodynami-
sche kritische Feld B cth über die Beziehung

1 B2
gs − gn = α⋃︀Ψ0 ⋃︀2 + β⋃︀Ψ0 ⋃︀4 = − cth (13.3.54)
2 2µ 0

einführen. Diese Beziehung besagt, dass der Supraleiter die Kondensationsenergie gs − gn ,


die er beim Übergang in den supraleitenden Zustand gewinnt, zur Verdrängung des kriti-
schen Magnetfeldes B cth aufwenden kann [vergleiche hierzu (13.1.9) und die Diskussion der
Thermodynamik von Supraleitern in Abschnitt 13.2]. Setzen wir (13.3.53) in (13.3.54) ein,
so erhalten wir

α 2 (T) α2 T 2 T 2
B 2cth (T) = µ 0 = µ 0 (1 − ) = B 2c,GL (0) (1 − ) (13.3.55)
β β Tc Tc

bzw.

B 2cth (T) α2 T 2
gs − g n = − = − (1 − ) . (13.3.56)
2µ 0 2β Tc

Lösen wir nach α und β auf, so erhalten wir die Temperaturabhängigkeiten

B 2cth (T) 2β B 2 (0) 2β T


α(T) = − = c,GL ( − 1) (13.3.57)
2µ 0 α(T) 2µ 0 α Tc

B 2cth (T) 2β 2 B 2 (0) 2β


β(T) = = c,GL = const , (13.3.58)
2µ 0 α (T)
2 2µ 0 α 2

die allerdings nur nahe bei Tc gelten. Wir haben bereits in Abschnitt 13.1.4.2 darauf
hingewiesen, dass die experimentell gemessene Temperaturabhängigkeit des thermody-
namisch kritischen Feldes gut durch B cth (T) = B cth (0) )︀1 − (T⇑Tc )2 ⌈︀ beschrieben wird
[vergleiche hierzu (13.1.10)]. Schreiben wir 1 − (T⇑Tc )2 als (︀1 − (T⇑Tc )⌋︀ ⋅ (︀1 + (T⇑Tc )⌋︀ ≃
2(︀1 − (T⇑Tc )⌋︀ für T ≃ Tc , so erhalten wir aber eine gute Übereinstimmung mit der obigen
Vorhersage der GLAG-Theorie, die ja nur nahe bei Tc gültig ist. Für B c,GL (0) müssen wir
dann aber B c,GL (0) = 2B cth (0) benutzen.
Ginzburg-Landau Theorie
13.3 Phänomenologische Modelle 817

4 4
(a) 𝜶>𝟎 (b) 𝜶<𝟎
gs - gn (bel. Einheiten)

gs - gn (bel. Einheiten)
3 3
𝑻 > 𝑻𝒄 𝑻 < 𝑻𝒄
2 2

1 1
𝑩𝟐𝐜𝐭𝐡 /𝟐𝝁𝟎
𝚿𝟎
0 0

-1 -1
-0.8 -0.4 0.0 0.4 0.8 -0.8 -0.4 0.0 0.4 0.8
|| (bel. Einheiten) || (bel. Einheiten)

Abb. 13.21: Differenz gs − gn der Dichten der freien Enthalpie eines räumlich homogenen Supraleiters
im supraleitenden und normalleitenden Zustand als Funktion der Amplitude des Ordnungsparame-
ters ⋃︀Ψ⋃︀ für (a) α > 0 und (b) α < 0. Für α > 0 ist im Gleichgewichtszustand ⋃︀Ψ⋃︀ = 0, für α < 0 liegt ein
Gleichgewichtszustand mit ⋃︀Ψ⋃︀ = ⋃︀Ψ0 ⋃︀ vor, bei dem gs − gn = −B 2cth ⇑2µ 0 . 136

Aus Gleichung (13.3.57) erkennen wir sofort die physikalische Bedeutung von α. Falls wir
⋃︀α⋃︀⇑β = ⋃︀Ψ0 ⋃︀2 mit der Dichte n s der supraleitenden Elektronen assoziieren, so ist α = (gs −
gn )⇑(n s ⇑2). Da gs − gn die Kondensationsenergiedichte ist, die der Supraleiter beim Über-
gang in den supraleitenden Zustand gewinnt, ist α⇑2 gerade etwa die pro Cooper-Paar ge-
wonnene Kondensationsenergie.
In Abb. 13.21 ist der Verlauf der freien Enthalpiedichte als Funktion des Ordnungsparame-
ters für α > 0 und α < 0 gezeigt. Es ist evident, dass die Bedingung α < 0 wesentlich ist, um
ein Minimum der freien Enthalpiedichte bei einem endlichen Wert des Ordnungsparame-
ters zu erhalten. Wir weisen ferner darauf hin, dass in Abb. 13.21 das Minimum der freien
Enthalpiedichte nur die Amplitude des Ordnungsparameters festlegt, die Phase aber nach
wie vor frei gewählt werden kann. Würden wir gs − gn über die komplexe Ebene auftragen,
würden wir ein rotationssymmetrisches Gebilde in Form eines mexikanischen Huts erhal-
ten.

13.3.3.2 Supraleiter mit ortsabhängigem Ordnungsparameter im äußeren Magnetfeld


Eine wesentliche Erweiterung der obigen Diskussion kann nun dadurch erzielt werden, dass
wir räumliche Variationen des Ordnungsparameters zulassen. Für einen Supraleiter in einem
äußeren Feld Bext = µ 0 Hext erhalten wir dann zusätzlich Terme zur freien Enthalpiedichte:

(µ 0 M)2
(︁⌊︂⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ [︂⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ (︂
1 1
gs = gn + α⋃︀Ψ⋃︀2 + β⋃︀Ψ⋃︀4 + (Bext − b)
2
2 2µ 0
2
1 ħ
+ ⋀︀( ∇ − q s A) Ψ⋀︀ + . . . . (13.3.59)
2m s ı
Hierbei sind m s und q s die Masse und Ladung der supraleitenden Elektronen, d. h. m s = 2m
und q s = −2e für Cooper-Paare. Der erste Zusatzterm 2µ1 0 ⋃︀Bext − b⋃︀2 berücksichtigt die vom
Supraleiter zu leistende Feldverdrängungsarbeit, die proportional zur Differenz zwischen
818 13 Supraleitung

der vom äußerem Feld erzeugten Flussdichte Bext = µ 0 Hext und der inneren Flussdichte b =
µ 0 (Hext + M) ist.102 Bei perfekter Feldverdrängung ist b = 0 und die Enthalpiedichte gs des
Supraleiters erhöht sich um die Feldverdrängungsarbeit B2ext ⇑2µ 0 . Für eine räumlich inho-
mogene Situation bei der das Feld teilweise eindringt, kann dieser Beitrag von Ort zu Ort
verschieden sein und muss, um den Beitrag zur gesamten freien Enthalpie 𝒢s = ∫ gs dV des
betrachteten Supraleiters zu erhalten, über das Volumen integriert werden.
Der zweite Zusatzterm 2m1 s ⋃︀( ħı ∇ − q s A)Ψ⋃︀2 ist der Term niedrigster Ordnung in ∇Ψ, der
sowohl reell und eichinvariant ist. Er trägt möglichen räumlichen Variationen im Supraleiter
Rechnung. Diese können sowohl mit einem Gradienten der Amplitude als auch der Phase
des Ordnungsparameters verbunden sein. Benutzen wir Ψ = ⋃︀Ψ⋃︀e ı θ , so können wir den Term
in die anschaulichere Form
1
[︀ħ 2 (∇⋃︀Ψ⋃︀) + (ħ∇θ − q s A) ⋃︀Ψ⋃︀2 ⌉︀
2 2
(13.3.60)
2m s
umschreiben. Die beiden Terme ergeben Zusatzenergien, die mit einem Gradienten der Am-
plitude des Ordnungsparameters und mit dem eichinvarianten Phasengradienten verbun-
den sind. Der Ausdruck in den runden Klammern des zweiten Terms entspricht gerade m s vs ,
so dass dieser Term 12 m s v s2 ⋅ n s , also der kinetischen Energiedichte des aus einem eichinva-
rianten Phasengradienten resultierenden Suprastroms entspricht. Insgesamt verhindert der
Zusatzterm 2m1 s ⋃︀( ħı ∇ − q s A)Ψ⋃︀2 , dass starke räumliche Variationen des Ordnungsparame-
ters auf beliebig kleinen Längenskalen erfolgen können, da diese zu viel Energie kosten wür-
den. Der Term führt also zu einer gewissen Steifigkeit des Ordnungsparameters Ψ.
Um den Ordnungsparameter Ψ0 (r) im Gleichgewichtszustand zu erhalten, müssen wir die
freie Enthalpiedichte über das gesamte Volumen des Supraleiters aufintegrieren und durch
Variation von Ψ und A minimieren. Hierzu betrachten wir zuerst das Integral über den letz-
ten Term in (13.3.59):
2
1 ∗ ħ ıħ ∗ ħ
∫ Ψ ( ∇ − q s A) ΨdV + ∫ ]︀Ψ ( ∇ − q s A) Ψ{︀ ⋅ dS . (13.3.61)
2m s ı 2m s ı
V S

Hierbei ist das zweite Integral das Oberflächenintegral, das einen eventuellen Energiefluss
durch die Oberfläche berücksichtigt. Beim Durchführen der Variationsrechnung müssen
geeignete Randbedingungen angenommen werden. Diese müssen zum Beispiel beinhalten,
dass kein Strom aus dem Supraleiter heraus oder in ihn hineinfließen darf, d. h. dass die
Stromdichte senkrecht zur Probenoberfläche verschwinden muss. Dies wird z. B. durch die
Randbedingung

ħ
( ∇ − q s A) Ψ⨄︀ = 0 (13.3.62)
ı n

gewährleistet. Mit dieser Randbedingung verschwindet auch der Energiefluss durch die
Oberfläche, so dass das Oberflächenintegral in (13.3.61) null wird. Die Randbedingung
besagt auch, dass mit der Oberfläche des Supraleiters keine Energie verbunden ist. Dies hat
102
Wir verwenden hier wiederum b für die Flussdichte auf mikroskopischer Skala und B für ihren
makroskopischen Mittelwert.
13.3 Phänomenologische Modelle 819

z. B. zur Folge, dass ohne Magnetfeld die Dichte n s (r) ihren vollen Wert bis zur Oberfläche
des Supraleiters behält. Deshalb sollte ein sehr dünner Film die gleiche Sprungtemperatur
haben wie Massivmaterial, was sehr gut mit den experimentellen Befunden übereinstimmt.
Bei Supraleiter/Normalleiter-Grenzflächen muss diese Randbedingung modifiziert werden,
indem die rechte Seite durch ıbħ Ψ ersetzt wird, da jetzt ja Strom über die Grenzfläche fließen
kann. Die charakteristische Längenskala b wird als Extrapolationslänge bezeichnet.103
Wir können nun formal
∂𝒢s ∂𝒢s
δ𝒢s = ( ) δΨ + ( ∗ ) δΨ∗ (13.3.63)
∂Ψ Ψ∗ ∂Ψ Ψ
schreiben, wobei wir Ψ und Ψ∗ so behandeln, als ob sie unabhängige Variablen sind. Be-
schränken wir uns nun auf den interessierenden Fall, dass Ψ∗ und δΨ∗ die komplex konju-
gierten Größen von Ψ und δΨ sind, so finden wir, dass auch (∂𝒢s ⇑∂Ψ)Ψ∗ und (∂𝒢s ⇑∂Ψ∗ )Ψ
ein komplex konjugiertes Paar sind, da ja δ𝒢s reell sein muss. Minimieren wir nun 𝒢s in
Bezug auf Variationen δΨ, δΨ∗ beliebiger Phase, so erhalten wir, dass der Real- und Ima-
ginärteil von ∂𝒢s ⇑∂Ψ∗ (oder von ∂𝒢s ⇑∂Ψ) verschwinden müssen. Mit dieser Bedingung
und (13.3.61) erhalten wir unter Benutzung der Randbedingung (13.3.62) die Beziehung

2
1 ħ
δ𝒢s = ∫ dV {⌊︀(αΨ + βΨ∗ Ψ 2 + ( ∇ − q s A) ) Ψ}︀ δΨ∗ + c.c.(︀ = 0 .
2m s ı
V
(13.3.64)
Da dies für alle δΨ∗ , δΨ erfüllt sein muss, muss der Ausdruck in rechteckigen Klammern
verschwinden. Aus dieser Forderung ergibt sich die 1. Ginzburg-Landau Gleichung:
2
1 ħ
0= ( ∇ − q s A) Ψ + αΨ + β⋃︀Ψ⋃︀2 Ψ . (13.3.65)
2m s ı
Wir müssen die freie Enthalpie 𝒢s auch in Bezug auf Änderungen des Vektorpotenzials mi-
nimieren. Hierzu betrachten wir
δgs = gs (r, t, A + δA) − gs (r, t, A)
1
= ((︀∇ × (A + δA)⌋︀2 − (︀∇ × A⌋︀2 )
2µ 0
1 ħ ħ
+ (]︀ ∇ − q s (A + δA){︀ Ψ) (]︀− ∇ − q s (A + δA){︀ Ψ∗ )
2m s ı ı
1 ħ ħ
− (]︀ ∇ − q s A{︀ Ψ) (]︀− ∇ − q s A{︀ Ψ∗ )
2m s ı ı

qs ħ ∗ ħ
=− ( Ψ ∇Ψ − Ψ∇Ψ∗ + 2q s ⋃︀Ψ⋃︀2 A) δA
ms ı ı
1
+ (∇ × δA)(∇ × A) . (13.3.66)
µ0
103
P. G. de Gennes, Superconductivity of Metals and Alloys, Benjamin, New York (1966).
820 13 Supraleitung

Wir müssen nun δgs über das Volumen des Supraleiters integrieren. Das Integral des letzten
Terms in (13.3.66) ergibt hierbei
1 1
∫ dV (∇ × δA)(∇ × A) = ∫ dV ∇ A ⋅ δA .
2
(13.3.67)
µ0 µ0
V V

Wir erhalten damit


qs ħ q2 1
δ𝒢s = ∫ dV { (Ψ∇Ψ∗ − Ψ∗ ∇Ψ) + s ⋃︀Ψ⋃︀2 A + ∇2 A(︀ δA = 0 . (13.3.68)
ım s ms µ0
V

Da dies für alle δA erfüllt sein muss, muss der Ausdruck in den geschweiften Klammern
verschwinden. Mit Hilfe der London-Eichung ∇ ⋅ A = 0 erhalten wir aus der Maxwell-Glei-
chung ∇ × b = µ 0 Js folgenden Ausdruck für die Suprastromdichte:
1 1 1 1
Js = ∇×b= ∇×∇×A= )︀∇(∇ ⋅ A) − ∇2 A⌈︀ = − ∇2 A . (13.3.69)
µ0 µ0 µ0 µ0
1
Mit diesen Ausdruck können wir µ0
∇2 A in (13.3.68) durch Js ersetzen und erhalten so die
2. Ginzburg-Landau Gleichung:

qs ħ qs 2 2
Js = (Ψ∗ ∇Ψ − Ψ∇Ψ∗ ) − ⋃︀Ψ⋃︀ A . (13.3.70)
2m s ı ms

Es lässt sich leicht zeigen, dass die GL-Gleichungen invariant unter der Eichtransformation
(vergleiche hierzu Abschnitt 13.3.2.2)

∂χ qs
A′ → A + ∇χ , ϕ′ → ϕ − , θ′ → θ + χ (13.3.71)
∂t ħ

sind. Offensichtlich liegt eine kontinuierliche Eichsymmetrie ψ ′ (r, t) → ψ(r, t)e ı(q s ⇑ħ) χ vor,
die durch eine spezielle Wahl der beliebigen Phase spontan gebrochen wird. Eine konti-
nuierliche Eichsymmetrie impliziert üblicherweise das Vorliegen einer Goldstone-Mode,
deren Frequenz für große Wellenlängen gegen null geht. In dem hier betrachteten Fall ist
dies sofort einsichtig, da ja für große Wellenlängen Phasengradienten verschwindend klein
werden. Dadurch gehen die Rückstellkräfte für Oszillationen der suprafluiden Dichte und
somit deren Frequenz gegen null. Für eine geladene Supraflüssigkeit müssen wir allerdings
berücksichtigen, dass Fluktuationen der Ladungsdichte der langreichweitigen Coulomb-
Wechselwirkung unterliegen. Deshalb wird die Goldstone-Mode zur Plasma-Frequenz des
Elektronengases, also zu sehr hohen Frequenzen verschoben.

13.3.3.3 Charakteristische Längenskalen


Die GLAG-Theorie enthält zwei charakteristische Längenskalen. Bei der Behandlung von
räumlich homogenen Supraleitern haben wir bereits gesehen, dass sich die magnetische
Flussdichte nur innerhalb der Londonschen Eindringtiefe λ L ändern kann. Wir werden jetzt
13.3 Phänomenologische Modelle 821

zeigen, dass diese Tatsache auch in den GL-Gleichungen enthalten ist. Wir werden ferner se-
hen, dass mit den GL-Gleichungen eine weitere charakteristische Längenskala verknüpft ist,
die Ginzburg-Landau Kohärenzlänge ξ GL . Diese gibt an, auf welcher Längenskala räumliche
Variationen von Ψ erfolgen können.
Wir diskutieren zunächst die 2. GL-Gleichung (13.3.70). Diese entspricht offensichtlich dem
Ausdruck (13.3.20), den wir bereits oben mit dem makroskopischen Quantenmodell der Su-
praleitung für die Suprastromdichte abgeleitet haben. Machen wir für den GL-Ordnungpa-
rameter denselben Ansatz Ψ(r) = Ψ0 (r) exp(︀ıθ(r)⌋︀, so erhalten wir in vollkommener Ana-
logie zu (13.3.20) für ⋃︀Ψ0 (r)⋃︀2 = const für die Suprastromdichte den Ausdruck
α ħ qs
Js = q s { ∇θ(r) − A(r) , (13.3.72)
β ms ms
aus dem wir wiederum, wie wir in Abschnitt 13.3.2 gezeigt haben, die 1. und 2. Londonsche
Gleichung ableiten können. Das heißt, für eine räumlich konstante Dichte der supraleiten-
den Elektronen können wir aus der GLAG-Theorie die Londonsche Theorie ableiten. Die
charakteristische Längenskala für Änderungen der magnetischen Flussdichte ist die Ginz-
burg-Landau-Eindringtiefe λ GL

λ GL (0) ⧸︂ m s β
λ GL (T) = ⌉︂ λ GL (0) = ⧸︂
⟩ . (13.3.73)
1 − TTc µ 0 αq 2s

Der Ausdruck für λ GL (0) entspricht dem aus der London-Theorie abgeleiteten Ergebnis
(13.3.6), wenn wir formal ⋃︀Ψ0 (0)⋃︀2 = β⇑α = n s (0) setzen würden. Allerdings erhalten wir
dann Übereinstimmung für T = 0, was nicht sinnvoll ist, da die GLAG-Theorie ja nur nahe
bei Tc gültig ist. Für Temperaturen weit weg von Tc müssten wir Terme höherer Ordnung
in der Reihenentwicklung (13.3.59) berücksichtigen, da der Ordnungsparameter dann nicht
mehr als klein angenommen werden kann. Die experimentell gemessene Temperaturabhän-
gigkeit der Londonschen Eindringtiefe kann gut mit der empirischen Abhängigkeit (Gorter-
Casimir-Modell104 ).
λ L (0)
λ L (T) = {︂ (13.3.74)
4
1 − ( TTc )

beschrieben werden. Schreiben wir 1 − (T⇑Tc )4 als (︀1 − (T⇑Tc )2 ⌋︀ ⋅ (︀1 + (T⇑Tc )2 ⌋︀ ≃ 2(︀1 −
(T⇑Tc )2 ⌋︀ für T ≃ Tc und wenden diese Näherung nochmals für (︀1 − (T⇑Tc )2 ⌋︀ an, so erhal-
ten wir in der Nähe von Tc die von der GLAG-Theorie vorhergesagte Temperaturabhängig-
keit, müssen dann aber λ GL (0) = λ L (0)⇑2 verwenden.
Wir betrachten jetzt die 1. GL-Gleichung und normieren diese zunächst auf Ψ0 . Mit ψ =
Ψ⇑⋃︀Ψ0 ⋃︀ und ⋃︀Ψ0 ⋃︀2 = −α⇑β erhalten wir
2
1 ħ
( ∇ − q s A) ψ + αψ − α⋃︀ψ⋃︀2 ψ = 0 . (13.3.75)
2m s ı
104
C. J. Gorter, H. B. G. Casimir, On Superconductivity I, Physica 1, 306 (1934); Physik. Z. 35, 963
(1934); Z. Physik 15, 539 (1934).
822 13 Supraleitung

Dividieren wir diese Gleichung durch α, so ergibt sich

ħ2 1 qs 2
( ∇ − A) ψ + ψ − ⋃︀ψ⋃︀2 ψ = 0 . (13.3.76)
2m s α ı ħ
Die Größe
}︂
ξ GL (0) ħ2
ξ GL (T) = ⌉︂ ξ GL (0) = . (13.3.77)
1 − TTc 2m s α

2
hat dabei die Dimension einer Länge, da 2mħ s α ∇2 ψ dimensionslos sein muss, und stellt offen-
sichtlich die zweite charakteristische Längenskala in der GLAG-Theorie dar. Wir bezeichnen
sie als Ginzburg-Landau Kohärenzlänge ξ GL . Die 1. GL-Gleichung lässt sich mit dieser Län-
genskala wie folgt ausdrücken:

∇ qs 2
−ξ GL
2
( − A) ψ + ψ − ⋃︀ψ⋃︀2 ψ = 0 (13.3.78)
ı ħ
Die Bedeutung von ξ GL wird sofort deutlich, wenn wir eine feldfreie Situation betrachten,
bei der ψ klein ist (z. B. nahe bei Tc ), so dass wir den ⋃︀ψ⋃︀2 ψ Term vernachlässigen können.
Gleichung (13.3.78) vereinfacht sich dann zu ∇2 ψ = ψ⇑ξ GL 2
. Diese Differentialgleichung be-
sagt, dass jede lokal induzierte Störung von ψ exponentiell mit der charakteristischen Län-
genskala ξ GL abklingt, wenn wir uns vom Ort der Störung wegbewegen. Wir können auch
kleine Abweichungen δψ von einem ortsunabhängigen Gleichgewichtswert ψ 0 betrachten.
Wir sehen dann, dass diese Abweichungen exponentiell auf der Längenskala ξ GL abklingen.
Mit der Temperaturabhängigkeit (13.3.57) von α erhalten wir folgende Ausdrücke für die
Temperaturabhängigkeiten der beiden charakteristischen Längenskalen der GLAG-Theorie:
λ GL (0)
λ GL (T) = ⌉︂ (13.3.79)
1 − TTc

ξ GL (0)
ξ GL (T) = ⌉︂ . (13.3.80)
1 − TTc

Tabelle 13.1: Kohärenzlänge, Supraleiter ξ G L (0) (nm) λ L (0) (nm) κ


Londonsche Eindringtiefe und
Ginzburg-Landau Parameter von Al 1600 50 0.03
einigen Supraleitern bei T = 0. Cd 760 110 0.14
In 1100 65 0.06
Nb 106 85 0.8
NbTi 4 300 75
Nb3 Sn 2.6 65 25
NbN 5 200 40
Pb 100 40 0.4
Sn 500 50 0.1
13.3 Phänomenologische Modelle 823

Beide Längenskalen divergieren für T → Tc . Die Werte für einige Supraleiter bei T = 0 sind
in Tabelle 13.1 aufgelistet.
Das Verhältnis der beiden charakteristischen Längenskalen λ L (T) und ξ GL bezeichnet man
als Ginzburg-Landau Parameter κ. Mit (13.3.74) und (13.3.77) erhalten wir
⟨ ⟨
λ GL ⧸︂ ⧸︂ β 1
= ⧸︂ ⧸︂

κ≡ ⟩ 2m s
= ⟩ . (13.3.81)
ξ GL µ 0 ħ 2 q 2s 2µ 0 µ B

Hierbei ist µ B = eħ⇑2m das Bohrsche Magneton. Der GL-Parameter ist nahe bei Tc in erster
Näherung unabhängig von der Temperatur, da β üblicherweise nur eine geringe Tempe-
raturabhängigkeit aufweist. Wir können in (13.3.81) β mit Hilfe von (13.3.56) durch B cth
ausdrücken. Einsetzen und Auflösen nach B cth ergibt

Φ0
B cth (T) = ⌋︂ , (13.3.82)
2π 2ξ GL (T)λ L (T)

wobei wir Φ 0 = h⇑q s verwendet haben.


Die beiden Längenskalen λ L und ξ GL sowie der GinzburgLandauParameter κ sind im Rah-
men der GLAG-Theorie Materialparameter, die nur von der Cooper-Paardichte n s und dem
thermodynamischen kritischen Feld B cth abhängen. Nach der Entwicklung der BCS-Theorie
zeigte sich, dass die charakteristischen Längenskalen auch von der mittleren freien Weglän-
ge ℓ der Leitungselektronen abhängen. Für konventionelle Supraleiter erhält man nahe bei Tc
den durch die Ausdrücke (13.3.79) und (13.3.80) gegebenen Temperaturverlauf, allerdings
mit105 , 106
ξ∞
GL (0)
1⇑2
λ GL (0) ≃ λ∞
GL (0) (1 + ) (13.3.83)

und
−1⇑2
ξ∞
GL (0)
ξ GL (0) ≃ ξ∞
GL (0) (1 + ) . (13.3.84)

Hierbei sind λ∞ ∞
L und ξ GL die charakteristischen Längen für den Fall ℓ → ∞, in denen Ef-
fekte einer endlichen mittleren freien Weglänge noch nicht enthalten sind. Wir sehen, dass
die charakteristischen Längenskalen von der mittleren freien Weglänge abhängen und da-
durch über die Reinheit der Probe gesteuert werden können. Die angegebenen Abhängig-
keiten sind Interpolationsformeln und gelten sowohl im so genannten schmutzigen Grenz-
fall ℓ ≪ ξ∞ ∞
GL (0) als auch im sauberen Grenzfall ℓ ≫ ξ GL (0).

Wir wollen zum Abschluss noch diskutieren, welcher Zusammenhang zwischen der GL-
Kohärenzlänge ξ GL und der später in Abschnitt 13.5 diskutierten BCS-Kohärenzlänge ξ 0 be-
steht. Wir werden sehen, dass wir durch die BCS-Paarwechselwirkung eine mittlere Energie-
absenkung pro Elektronenpaar von 14 D(E F )∆2 (0)⇑(N⇑2) = 3∆2 (0)⇑4E F erhalten [verglei-
che hierzu (13.5.83)]. Hierbei haben wir das freie Elektronengasergebnis E F = 3N⇑2D(E F )
105
P. G. de Gennes, Superconductivity in Metals and Alloys, Benjamin, New York (1966).
106
B. Mühlschlegel, Die thermodynamischen Funktionen des Supraleiters, Z. Phys. 155, 313 (1959).
824 13 Supraleitung

verwendet. Das heißt, wir erhalten eine mittlere Kondensationsenergie pro Elektronenpaar
von 3∆2 (0)⇑4E F . Falls wir α⇑β = ⋃︀Ψ0 ⋃︀2 mit der Paardichte n s ⇑2 assoziieren, entspricht in der
GLAG-Theorie gerade der Parameter −α der mittleren Kondensationsenergie pro Elektro-
nenpaar. Entsprechend (13.3.77) erhalten wir dann
⟨ ⟨
⧸︂ 4ħ 2 E F ⧸︂ ħ 2 v 2
⧸︂
⟩ = ⧸︂
⟩ ħv F
ξ0 = F
= ⌋︂ . (13.3.85)
6m s ∆ (0)
2 3∆2 (0) 3∆(0)

Diese einfache Abschätzung stimmt mit dem exakten BCS-Ergebnis ξ 0 = ħv F ⇑π∆(0) bis auf
einen Faktor der Größenordnung eins überein.

13.3.3.4 Supraleiter-Normalleiter-Grenzfläche
Um die Bedeutung der GL-Kohärenzlänge zu diskutieren, betrachten wir einen Supraleiter,
der sich im gesamten Halbraum x > 0 erstreckt. Wir nehmen ferner an, dass ψ(x = 0) = 0
und kein Magnetfeld angelegt ist, d. h. A = 0. Gleichung (13.3.78) vereinfacht sich dann zu

d 2ψ
2
ξ GL + ψ − ψ3 = 0 . (13.3.86)
dx 2
Mit den Randbedingungen ψ(x = 0) = 0, ψ(x → ∞) = 1 und limx→∞ dψ⇑dx = 0 erhalten
wir die Lösung

x
ψ(x) = tanh ( ⌋︂ )
2ξ GL
(13.3.87)
n s (x) x
∝ ⋃︀ψ(x)⋃︀2 = tanh2 ( ⌋︂ ),
n s (∞) 2ξ GL

die in Abb. 13.22 grafisch dargestellt ist. Wir sehen, dass ⋃︀ψ(x)⋃︀2 zunächst kontinuierlich an-
steigt und dann gegen den Sättigungswert ⋃︀ψ⋃︀2 = 1 läuft. Die Breite der Anstiegszone wird

1.0
𝟐
𝝍 𝒙
0.8 𝝃𝐆𝐋
|, Bz(x)/Bext

0.6
Abb. 13.22: Verlauf des Absolut-
quadrats des normierten Ordnungs- 0.4
N 𝝀𝐋
S
parameters ψ(x) = Ψ(x)⇑Ψ0 an einer
Normalleiter-Supraleiter-Grenzfläche. 0.2
Der Supraleiter erstreckt sich im Halb- 𝑩𝒛 𝒙
raum x ≥ 0. Es wurde ξ GL = 2λ L ange-
nommen. Zum Vergleich ist das Ab- 0.0
klingen eines in z-Richtung angelegten 0 2 4 6
äußeren Magnetfeldes B ext gezeigt. x / L
142
13.4 Typ-I und Typ-II Supraleiter 825

durch die GL-Kohärenzlänge ξ GL bestimmt. Zum Vergleich ist das Abklingen eines in z-
Richtung angelegten äußeren Magnetfeldes B ext im Inneren des Supraleiters gezeigt. Insge-
samt ist das Verhalten des Supraleiters durch die beiden charakteristischen Längenskalen ξ GL
und λ L gegeben.
Wir weisen darauf hin, dass die oben gemachte Annahme ψ(x = 0) = 0 nur eine grobe Ver-
einfachung ist. Wie wir im Zusammenhang mit (13.3.62) diskutiert haben, verschwindet der
Ordnungsparameter des Supraleiters an einer Normallleiter/Supraleiter-Grenzfläche nicht,
sondern extrapoliert im Normalleiter linear auf der charakteristischen Längenskala b ge-
gen null. Der Ordnungsparameter an der Grenzfläche ist also endlich. Ursache dafür ist der
so genannte Proximity-Effekt,107 auf den wir hier nicht eingehen werden. Die physikalische
Ursache für den Proximity-Effekt ist, dass durch den Kontakt mit dem Supraleiter im Nor-
malleiter ein endlicher Ordnungsparameter induziert wird, da die supraleitenden Elektro-
nen in den Normalleiter diffundieren können. Unsere Annahme ψ(x = 0) = 0 bzw. b = 0 ist
gleichbedeutend damit, dass wir den Proximity-Effekt vernachlässigen.108

13.4 Typ-I und Typ-II Supraleiter


Bezüglich ihres Verhaltens in äußeren Magnetfeldern müssen wir zwischen zwei Arten von
Supraleitern unterscheiden, die wir als Typ-I und Typ-II Supraleiter bezeichnen. Wir werden
in diesem Abschnitt die GLAG-Theorie benutzen, um die charakteristischen Eigenschaften
von Typ-I und Typ-II Supraleitern zu beschreiben.
In unserer einführenden Diskussion in Abschnitt 13.1.4.2 sind wir davon ausgegangen, dass
sich Supraleiter bis zur kritischen Feldstärke B cth wie ideale Diamagnete verhalten und das
Magnetfeld vollkommen aus ihrem Inneren verdrängen. Für B ext > B cth dringt dann das äu-
ßere Feld vollständig ein (vergleiche hierzu Abb. 13.7). Dieses Verhalten finden wir allerdings
nur für so genannte Typ-I Supraleiter. Es gibt aber auch Typ-II Supraleiter, die sich davon
deutlich unterscheiden. Ihre Reaktion auf das externe Magnetfeld ist in Abb. 13.23 schema-
tisch dargestellt. Bis zu einem unteren kritischen Feld B c1 verhalten sich Typ-I und Typ-II
Supraleiter völlig analog. Sie verdrängen das Magnetfeld vollständig und es gilt M = −Hext
bzw. χ = −1. Diesen Bereich vollständiger Feldverdrängung bezeichnen wir als Meißner-
Phase. Für B > B c1 dringt dann aber das Magnetfeld in den Typ-II-Supraleiter ein, so dass
das äußere Feld nur noch teilweise abgeschirmt werden muss. Dieser Zustand wird Mischzu-
stand oder Shubnikov-Phase genannt. Erst ab einem oberen kritischen Feld B c2 , das wesent-
lich größer als das thermodynamische kritische Feld B cth sein kann, wird die Probe dann
völlig normalleitend. Wir werden weiter unten sehen, dass sich im Mischzustand eine re-
gelmäßige Anordnung aus normalleitenden Bereichen bildet, deren Flussinhalt gerade ein
Flussquant Φ 0 ist. Wir bezeichnen diese Anordnung als Flussliniengitter.

107
P. G. de Gennes, Superconductivity of Metals and Alloys, Benjamin, New York (1966).
108
Eine genaue Diskussion erfordert ferner, dass wir bei der Berechnung von ψ(x) die räumliche Va-
riation der Flussdichte B z (x), und umgekehrt bei der Berechnung von B z (x) die räumliche Varia-
tion des Ordnungsparameters ψ(x) berücksichtigen. Die Diskussion wird dann etwas schwieriger,
das Verhalten von B z (x) und ψ(x) bleibt aber qualitativ gleich.
826 13 Supraleitung

13.4.1 Mischzustand und kritische Felder


Wir betrachten zuerst die in Abb. 13.23 gezeigte Abhängigkeit des Innenfeldes B i und der
Magnetisierung M von Typ-I und Typ-II Supraleitern. Entmagnetisierungseffekte wollen wir
nicht berücksichtigen, wir betrachten deshalb z. B. einen unendlich langen Zylinder mit dem
äußeren Magnetfeld parallel zur Zylinderachse. Wir rufen uns zunächst in Erinnerung, dass
das thermodynamische kritische Feld von Supraleitern über den Unterschied der Dichten
der freien Enthalpie im supraleitenden und normalleitenden Zustand definiert ist [verglei-
che (13.1.9)]:

B 2cth (T)
= gn (T) − gs (T) . (13.4.1)
2µ 0

Für Typ-I Supraleiter ist das obere kritische Feld B c2 , bei dem die Supraleitung zusammen-
bricht gerade B cth . Da andererseits die beim Übergang in den supraleitenden Zustand ge-
wonnene Kondensationsenergie gn − gs gleich der maximalen Magnetfeldverdrängungsar-
B
beit ∫0 c2 MdB ext ist, erhalten wir

B cth B c2
B 2cth (T)
= gn (T) − gs (T) = ∫ M ⋅ dBext = ∫ M ⋅ dBext . (13.4.2)
2µ 0
0 0
)︁⌊︂⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ]︂⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂)︂ )︁⌊︂⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ]︂⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂)︂
Typ-I Typ-II

Wir sehen also, dass das thermodynamische kritische Feld sowohl für Typ-I als auch Typ-II
Supraleiter durch die Fläche unter der in Abb. 13.23b gezeigten Magnetisierungskurve
Typ-I
bestimmt wird, und Typ-II
deren Größe Supraleiter
wiederum durch die Kondensationsenergie bestimmt ist.
Aus (13.4.2) folgt dann sofort, dass für Typ-I und Typ-II Supraleiter mit der gleichen Kon-
densationsenergie die Fläche unter der Magnetisierungskurve gleich sein muss, das heißt,
dass die in Abb. 13.23b grau hinterlegten Flächen gleich sein müssen.

(a) (b)
−𝝁𝟎 𝑴
𝑩𝒊

Typ I Supraleiter Typ I Supraleiter

Typ II Supraleiter
Typ II Supraleiter

𝟎 𝑩𝒄𝟏 𝑩𝐜𝐭𝐡 𝑩𝒄𝟐 𝝁𝟎 𝑯𝐞𝐱𝐭 𝟎 𝑩𝒄𝟏 𝑩𝐜𝐭𝐡 𝑩𝒄𝟐 𝝁𝟎 𝑯𝐞𝐱𝐭

Abb. 13.23: Schematische Darstellung (a) der magnetischen Flussdichte im Inneren eines Typ-II Su-
praleiters und (b) der Magnetisierung als Funktion des von außen angelegten Magnetfeldes. Zum Ver-
gleich ist das Verhalten eines Typ-I Supraleiters gezeigt. Die Meißner-Phase tritt nur für µ 0 H ext < B c1
auf, für B c1 ≤ µ 0 H ext ≤ B c2 liegt der Mischzustand vor. Die beiden grau hinterlegten Flächen sind gleich
groß.
13.4 Typ-I und Typ-II Supraleiter 827

13.4.2 Supraleiter-Normalleiter Grenzflächenenergie


Wir müssen nun die Frage beantworten, wieso manche Supraleiter das in Abb. 13.7 gezeig-
te Verhalten von Typ-I Supraleitern und andere das in Abb. 13.23 gezeigte Verhalten von
Typ-II Supraleitern zeigen. Die Erklärung dazu liefert die Betrachtung der Grenzfläche zwi-
schen einem Normalleiter (N) und einem Supraleiter (S) im Rahmen der GLAG-Theorie.
Diese Betrachtung werden wir zunächst qualitativ durchführen. Abb. 13.22 zeigt, dass an
einer NS-Grenzfläche das Magnetfeld nicht vollständig abgeschirmt wird, sondern bis auf
eine Tiefe λ L in den Supraleiter eindringt. Die vom Supraleiter zu leistende Magnetfeldver-
drängungsarbeit pro Flächeneinheit ist deshalb um den Betrag

B 2 (T)
2
B 2ext V B2 B ext
∆E B ≃ − = − ext λ L = − cth ( ) λL (13.4.3)
2µ 0 F 2µ 0 2µ 0 B cth (T)

reduziert, was zu einer Absenkung der Gesamtenergie führt. Hierbei haben wir V ≈ F ⋅ λ L
verwendet. Andererseits zeigt Abb. 13.22, dass die Dichte der supraleitenden Elektronen in
einer Grenzflächenschicht der Dicke ξ GL reduziert ist. Der damit verbundene Verlust an
Kondensationsenergie pro Flächeneinheit, der zu einer Erhöhung der Gesamtenergie führt,
ist gegeben durch

V B 2cth (T)
∆E C ≃ (︀gn (T) − gs (T)⌋︀ = ξ GL , (13.4.4)
F 2µ 0

wobei wir V ≈ F ⋅ ξ GL verwendet haben. Bei dieser einfachen Abschätzung haben wir der
Einfachheit halber angenommen, dass B ext bis zu λ L voll eindringt und dann sprungartig
auf null abnimmt. Gleichfalls haben wir angenommen, dass n s bis zur Tiefe ξ GL null ist und
dann sprungartig auf den Gleichgewichtswert ansteigt. Wir können damit die Grenzflächen-
energie zu
)︀ [︀
B 2cth (T) ⌉︀ ⌉︀
2
⌉︀ B ext ⌉︀
∆E grenz = ∆E C + ∆E B ≃ ⌋︀ ξ GL − ( ) λ L ⌈︀ (13.4.5)
2µ 0 ⌉︀⌉︀ B cth (T) ⌉︀
⌉︀
]︀ ⌊︀
abschätzen. Der genaue Verlauf der Grenzflächenenergiebeiträge pro Längeneinheit, was
Energiedichten entspricht, ist gegeben durch

−x⇑λ L 2
b 2 (x)⇑2µ 0 )︀B ext (0)e ⌈︀
є B (x) = − 2 =− (13.4.6)
B cth ⇑2µ 0 B 2cth

(B 2cth ⇑2µ 0 )(︀n s (∞) − n s (x)⌋︀ n s (x) x


є C (x) = =1− = 1 − tanh2 ( ⌋︂ ).
(B 2cth ⇑2µ 0 )n s (∞) n s (∞) 2ξ GL
(13.4.7)

Hierbei haben wir die durch (13.3.7) und (13.3.87) gegebenen Verläufe von B ext (x)
und n s (x) benutzt und jeweils auf B 2cth ⇑2µ 0 normiert. In Abb. 13.24 sind є B (x) und є C (x)
für B ext = B cth zusammen mit der resultierenden Grenzflächenenergiedichte є grenz = є B + є C
gezeigt.
828 13 Supraleitung

1.0
𝝐𝐂
N S
0.5 𝝐𝐠𝐫𝐞𝐧𝐳 𝝃𝐆𝐋

B, C, grenz


0.0 𝝀𝐋

-0.5
𝝐𝐁
-1.0
-1 0 1 2 3 4 5
x / L
146

Abb. 13.24: Normierte Grenzflächenenergie pro Längeneinheit є grenz = є B + є C (entspricht Ener-


giedichte) an einer Supraleiter-Normalleiter-Grenzfläche für B ext = B cth . Für die Rechnung wurde
ξ GL = 3λ L angenommen. Ebenfalls gezeigt sind die Variation des Gewinns an Dichte der Magnetfeld-
verdrängungsarbeit, є B (x), und des Verlusts an Kondensationsenergiedichte, є C (x). Für die gezeigte
Situation (ξ GL = 3λ L ) überwiegt der Verlust an Kondensationsenergie, so dass eine positive Grenzflä-
chenenergie resultiert. Gestrichelt ist zum Vergleich der Fall ξ GL = λ L ⇑5 gezeigt, für den die Grenzflä-
chenenergie negativ ist.

Aus (13.4.5) folgt, dass für ξ GL > λ L die Grenzflächenenergie immer positiv ist und deshalb
die Ausbildung einer Grenzfläche die Gesamtenergie erhöhen würde. Dies ist bei Typ-I Su-
praleitern der Fall. Ist dagegen ξ GL < λ L , so wird die Grenzflächenenergie bereits für B ext <
B cth negativ und es ist energetisch günstiger, NS-Grenzflächen auszubilden. Genau dies pas-
siert im Mischzustand von Typ-II Supraleitern. Hier dringt das Magnetfeld teilweise in den
Supraleiter ein, wodurch normalleitende und supraleitende Bereiche entstehen. Die damit
verbundenen Grenzflächen führen zu einer Energieabsenkung. Wir sehen, dass ein Kriteri-
um für die Unterscheidung von Typ-I und Typ-II Supraleitern das Verhältnis λ L ⇑ξ GL , also
der Ginzburg-Landau-Parameter κ ist.
Die exakte Berechnung der Grenzflächenenergie erfordert eine numerische Lösung der GL-
Gleichungen. Die genaue Grenze zwischen Typ-I und Typ-II Supraleiter liegt bei (vergleiche
Abschnitt 13.4.4)
1
κ ≤ ⌋︂ Typ-I Supraleiter
2
(13.4.8)
1
κ ≥ ⌋︂ Typ-II Supraleiter
2
⌋︂
Die Vorhersage des Übergangs von positiver zu negativer Grenzflächenenergie bei κ = 1⇑ 2
wurde bereits in der ursprünglichen Arbeit von Ginzburg und ⌋︂ Landau gemacht. Sie wiesen
darauf hin, dass der Mischzustand von Supraleitern bei κ = 1⇑ 2 wohl seine Struktur ändern
würde. Allerdings erkannte erst Abrikosov109 in seiner bahnbrechenden Arbeit das radikal
109
A. A. Abrikosov, Zh. Eksperim. Teor. Fiz. 32, 1442 (1957) [Sov. Phys. JETP 5, 1174 (1957)].
13.4 Typ-I und Typ-II Supraleiter 829

⌋︂
andere Verhalten von Supraleitern mit κ > 1⇑ 2, denen er den Namen Typ-II Supraleiter
gab. Aufgrund der negativen Grenzflächenenergie kann der Typ-II Supraleiter seine Energie
absenken, indem er viele kleine, flussdurchsetzte „normalleitende“ Bereiche bildet. Je fei-
ner die Aufteilung, desto größer die Grenzfläche und der damit verbundene Energiegewinn.
Eine untere Grenze wird nur durch die Flussquantisierung gesetzt. Wir bezeichnen die li-
nienhaften, flussdurchsetzten Bereiche parallel zum angelegten Magnetfeld als Flusslinien
oder Flusswirbel. Sie stellen Knotenlinien des Ordnungsparameters Ψ dar, die von supra-
leitenden Abschirmströmen umflossen werden. Die räumliche Anordnung der Flusslinien
sowie den radialen Verlauf des Ordnungsparameters und der Flussdichte in diesen Gebilden
werden wir erst später in Abschnitt 13.4.6 und 13.4.7 diskutieren.

13.4.3 Vertiefungsthema: Zwischenzustand und


Entmagnetisierungseffekte
Die in Abb. 13.23 gezeigte Abhängigkeit des Innenfeldes und der Magnetisierung von Typ-I
und Typ-II Supraleitern vom angelegten äußeren Feld gilt nur für bestimmte Probenformen,
z. B. für einen unendlich langen Zylinder mit Hext parallel zur Zylinderachse, für die wir
Entmagnetisierungseffekte vernachlässigen können. Für andere Probenformen ist das lokale
Feld nicht mehr identisch mit dem von außen angelegten Feld, sondern gegeben durch

Hlok = Hext − N ⋅ M . (13.4.9)

Hierbei ist N der Entmagnetisierungsfaktor (vergleiche hierzu Abschnitt 12.1.4).110 Mit M =


χHlok = −Hlok erhalten wir

Hext
Hlok = . (13.4.10)
1−N
Wir sehen also, dass bei einem nicht verschwindenden Entmagnetisierungsfaktor das lokale
Feld wesentlich größer als das äußere Feld werden kann.
𝚽 durch Äquatorialebene

Abb. 13.25: Schematische Darstellung der magnetischen


Flussdichte im Inneren eines kugelförmigen Typ-I Supra-
leiters als Funktion des von außen angelegten Magnetfel-
des. Für die Kugel mit Entmagnetisierungsfaktor N = 1⇑3
bildet sich für 23 B cth < µ 0 Hext < B cth ein Zwischenzustand
𝟎 𝟐Τ 𝑩 𝑩𝐜𝐭𝐡 𝝁𝟎 𝑯𝐞𝐱𝐭
𝟑 𝐜𝐭𝐡 mit normalleitenden und supraleitenden Bereichen aus.

110
Bei der Diskussion des Diamagnetismus in Kapitel 12 haben wir Entmagnetisierungseffekte immer
vernachlässigt. Dies war gerechtfertigt, da ⋃︀χ⋃︀ ≪ 1 und damit die Korrektur χHext zum externen
Feld vernachlässigt werden konnte. Bei Supraleitern können wir dies wegen χ = −1 nicht mehr
tun.

148
830 13 Supraleitung

Um uns Entmagnetisierungseffekte zu veranschaulichen, betrachten wir einen kugelförmi-


gen Typ-I Supraleiter. Für eine Kugel gilt N = 1⇑3 und damit Hlok = 1.5 ⋅ Hext . Als Folge da-
von wird am Äquator der Kugel bereits bei µ 0 H ext = B cth ⇑1.5 = 23 B cth das kritische Feld er-
reicht. Durch das in der Äquatorialebene überhöhte Feld wird hier bei Erhöhen des externen
Feldes zuerst das kritische Feld erreicht. Erhöhen wir Hext weiter, so wird die Supraleitung
am Äquator zerstört. Die Kugel kann aber nicht vollständig normalleitend werden, weil dann
das gesamte Innenfeld gleich dem Außenfeld wäre, dieses aber ja immer noch unterkritisch
ist. Der Supraleiter bildet als Ausweg einen Zwischenzustand, bei dem er teils normalleitend
und teils supraleitend ist. Die Existenz eines Zwischenzustands in Typ-I Supraleitern wur-
de bereits 1936 von Rudolf Peierls und Fritz London vorgeschlagen.111 , 112 In Abb. 13.25 ist
der Fluss durch die Äquatorialebene einer Kugel gezeigt. Er steigt bereits bei µ 0 H ext = 23 B cth
an und erst bei µ 0 H ext = B cth ist die Kugel vollständig normalleitend. Im ganzen Feldbe-
reich 23 B cth < µ 0 H ext < B cth ist das lokale Feld am Äquator genau B cth . Die normalleitenden
Bereiche in der Kugel nehmen mit zunehmendem äußeren Feld gerade so zu, dass das loka-
le Feld am Äquator B cth beträgt. Entmagnetisierungseffekte und der Zwischenzustand sind
rein geometrische Effekte, die wir nicht näher diskutieren wollen. Im Folgenden werden wir
fast immer von unendlich langen Zylindern ausgehen, für die Entmagnetisierungseffekte
vernachlässigbar klein sind.
Für Typ-II Supraleiter führen Entmagnetisierungseffekte dazu, dass es für 23 B c1 < µ 0 H ext <
B c1 zu einer Koexistenz makroskopischer Bereiche aus feldfreier Meißner-Phase mit der
Shubnikov-Phase kommt. Im Allgemeinen kann der Zwischenzustand aus normalleitenden
und supraleitenden Domänen eine sehr komplexe Struktur haben.

13.4.4 Kritische Felder


13.4.4.1 Oberes kritisches Feld
Wir wollen in diesem Abschnitt mit Hilfe der GL-Gleichungen Ausdrücke für das obere und
untere kritische Feld von Typ-II Supraleitern ableiten. Wir diskutieren zunächst den Fall
großer Magnetfelder nahe B c2 . Wir erwarten, dass für hohe Felder der Ordnungsparameter
klein wird. In diesem Fall können wir den Term β⋃︀Ψ⋃︀2 Ψ in der 1. GL-Gleichung (13.3.65)
vernachlässigen und erhalten dadurch eine linearisierte Form dieser Gleichung:
2
1 ħ
( ∇ − q s A) Ψ = −αΨ (13.4.11)
2m s ı
Eine weitere Vereinfachung erhalten wir dadurch, dass wir in guter Näherung A = Aext an-
nehmen können, da für B ext ≃ B c2 und λ ≫ ξ die mittlere Flussdichte im Supraleiter in et-
wa derjenigen im Normalzustand entspricht. Das heißt, wir können in guter Näherung B ≃
µ 0 Hext annehmen. Für Hext = H z ẑ erhalten wir z. B. A = µ 0 H z x ŷ und somit
2
∂2 Ψ ∂ ıq s B z ∂ 2 Ψ 2mα 1
+ ( − x) Ψ + = 2 Ψ=− 2 Ψ. (13.4.12)
∂x 2 ∂y ħ ∂z 2 ħ ξ GL
111
R. Peierls, Magnetic Transition Curves of Supraconductors, Proc. Roy. Soc. A 155, 613 (1936).
112
F. London, Zur Theorie magnetischer Felder im Supraleiter, Physica 3, 450 (1936).
13.4 Typ-I und Typ-II Supraleiter 831

Diese Gleichung ist identisch mit der Schrödinger-Gleichung eines freien geladenen Teil-
chens im Magnetfeld (vergleiche hierzu (9.10.3) in Abschnitt 9.10). Die Lösung des Problems
ist deshalb formal identisch mit der Bestimmung der quantisierten Niveaus eines geladenen
Teilchens in einem Magnetfeld, die auf die Landau-Niveaus führt. Da das effektive Potenzial
nur von x abhängt, besitzt (13.4.12) Lösungen der Form

Ψ(x, y, z) = e(︀ı(β y+k z z)⌋︀ u(x) . (13.4.13)

Einsetzen dieses Ansatzes ergibt für u(x) die Gleichung

ħ2 ∂2 u 1 ̃
− + m s ω 2c (x − x 0 ) u(x) = Eu(x)
2
(13.4.14)
2m s ∂x 2 2

mit ω c = q s B z ⇑m s , x 0 = ħβ⇑q s B z und

ħ2 2 ħ2
Ẽ = −α −
1
kz = ( 2 − k z2 ) . (13.4.15)
2m s 2m s ξ GL

Die Lösung von (13.4.14) können wir sofort angeben, da es sich bei dieser Gleichung um
nichts anderes als die Schrödinger-Gleichung eines Teilchens der Masse m s handelt, das in
einem harmonischen Potenzial mit der Federkonstante

m s q 2s B 2z 1 2πħB z 2
K = m s ω 2c = = ( ) (13.4.16)
m 2s ms Φ0

am Ort x = x 0 gebunden ist. Die entsprechenden Energieeigenwerte des Oszillators sind

1 ħq s B z 1
є n = ħω c (n + ) = (n + ) . (13.4.17)
2 ms 2
̃ Gleichsetzen und Auflösen
Nach (13.4.14) entsprechen diese Energieeigenwerte gerade E.
nach B z liefert

ħ 1 1 −1
Bz = ( 2 − k z2 ) (n + ) . (13.4.18)
2q s ξ GL 2

Den höchstmöglichen Wert erhalten wir für k z = 0 und n = 0. Er entspricht dem oberen
kritischen Feld B c2 und ist gegeben durch

ħ Φ0
B c2 = 2
= 2
. (13.4.19)
q s ξ GL 2πξ GL

Mit Hilfe von (13.3.81) und (13.3.82) können wir B c2 als Funktion des GL-Parameters κ und
des thermodynamischen kritischen Feldes B cth ausdrücken und erhalten
⌋︂
B c2 = 2 κB cth . (13.4.20)
832 13 Supraleitung

Wir können ferner durch Einsetzen leicht zeigen, dass die zugehörige Eigenfunktion u(x)
gegeben ist durch

(x − x 0 )2
u(x) = exp ⌊︀− 2
}︀ . (13.4.21)
2ξ GL
⌋︂ ⌋︂
Wir sehen, dass B c2 > B cth für κ > 1⇑ 2. Für κ < 1⇑ 2 ist dagegen B c2 < B cth , das heißt, hier
ist das größtmögliche Feld bereits durch B cth gegeben, wie wir es von Typ-I Supraleitern
kennen. Wir können deshalb Typ-I (κ ≤ ⌋︂12 ) und Typ-II Supraleiter (κ ≥ ⌋︂12 ) hinsichtlich
der Größe des GL-Parameter κ unterscheiden [vergleiche (13.4.8)].

13.4.4.2 Unteres kritisches Feld


Die Herleitung des unteren kritischen Feldes B c1 ist wesentlich schwieriger.113 Eine intui-
tive Abschätzung können wir durch Ausnutzen der Tatsache machen, dass beim unteren
kritischen Feld erstmals magnetischer Fluss in den Supraleiter eindringt. Wir nehmen an,
dass die eingedrungene Flussmenge auf einen kreisförmigen Bereich konzentriert ist, des-
sen Durchmesser wir der Einfachheit halber gleich null setzen, und dass der radiale Verlauf
der Flussdichte durch B c1 e−r⇑λ L gegeben ist. Wegen der Flussquantisierung müssen wir nun
fordern, dass der gesamte Flussinhalt mindestens ein Flussquant beträgt. Das heißt, es muss

−r⇑λ L
∫ B c1 e 2πrdr = Φ 0 (13.4.22)
0

gelten.114 Führen wir die Integration durch und lösen nach B c1 auf, so erhalten wir

Φ0
B c1 = . (13.4.23)
2πλ 2L

Da in dieser Abschätzung ⋃︀ψ(r)⋃︀2 = n s (r) = const angenommen wurde, wird das erhaltene
Ergebnis auch London-Näherung genannt. Wir sehen, dass das untere kritische Feld dadurch
festgelegt wird, dass der Flussinhalt eines flussdurchsetzten Bereichs nicht beliebig klein sein
darf, sondern mindestens ein Flussquant betragen muss.
Bei einer genauen Berechnung von B c1 in Rahmen der GL-Theorie wird die räumliche Varia-
tion des Ordnungsparameters berücksichtigt, was auf das exakte Ergebnis [vergleiche hier-
zu (13.4.52)]

Φ0 1
B c1 = 2
(ln κ + 0.08) = ⌋︂ (ln κ + 0.08)B cth (13.4.24)
4πλ L 2κ

113
Eine ausführliche Herleitung wird z. B. in Fundamentals of the Theory of Metals, A. A. Abrikosov,
North-Holland, Amsterdam (1988) gegeben.
114
Die Integration müsste eigentlich über das Probenvolumen erfolgen. Da aber λ L üblicherweise sehr
viel kleiner als die Probenabmessung ist und die Exponentialfunktion für große r schnell abfällt,
können wir von 0 bis ∞ integrieren.
13.4 Typ-I und Typ-II Supraleiter 833

120
In (4 at% Bi)
90
𝑩𝒄𝟐
Bc (mT)

Shubnikov-Phase
60 Abb. 13.26: Temperaturverlauf des unteren
und des oberen kritischen Feldes sowie des
𝑩𝐜𝐭𝐡 daraus berechneten thermodynamischen
30 kritischen Feldes einer InBi-Legierung
(In mit 4 at % Bi). Die durchgezogenen
Meißner-Phase 𝑩𝒄𝟏 Linien geben den empirischen 1 − (T⇑Tc )2
0 Temperaturverlauf wieder (nach T. Kinsel,
0 1 2 3 4 E. A. Lynton, B. Serin, Rev. Mod. Phys. 36,
T (K) 105 (1964)).
154

führt. Die Beziehungen (13.4.24) und (13.4.19) zeigen, dass wir durch Messung des unteren
und oberen kritischen Feldes die GL-Kohärenzlänge und die Londonschen Eindringtiefe be-
stimmen können. Der Ausdruck (13.4.19) für das obere kritische Feld ist leicht einsichtig.
Da sich der Ordnungsparameter nicht schneller als auf der Längenskala ξ GL ändern kann,
2
können wir die kleinste Fläche eines normalleitenden Bereiches zu πξ GL abschätzen. Der
Flussinhalt dieser Fläche beträgt wegen der Flussquantisierung gerade ein Flussquant, wor-
aus sich sofort (13.4.19) ergibt. Mit B c2 ∼ κB cth und B c1 ∼ B cth ⇑κ folgt B c1 ∼ B c2 ⇑κ 2 ∼ Φ 0 ⇑λ 2L .
Abb. 13.26 zeigt den gemessenen Temperaturverlauf des unteren und oberen, sowie des dar-
aus berechneten thermodynamischen kritischen Feldes einer InBi-Legierung. Alle drei kriti-
schen Felder weisen in der Nähe der kritischen Temperatur einen ähnlichen Temperaturver-
lauf auf, der gut mit einer 1 − (T⇑Tc )2 Abhängigkeit beschrieben werden kann. In Abb. 13.27
sind die oberen kritischen Felder einiger Hochfeldsupraleiter gezeigt.
Wir haben oben erwähnt, dass sowohl die Londonsche Eindringtiefe als auch die GL-Kohä-
renzlänge von der mittleren freien Weglänge ℓ abhängen [vergleiche (13.3.83) und (13.3.84)],
wobei λ L mit abnehmendem ℓ zu- und ξ GL abnimmt. Wir können deshalb einen Typ-I Su-
praleiter leicht in einen Typ-II Supraleiter umwandeln, indem wir ihn gezielt verunreinigen.

50
PbMo5.1S6
40
Bc2 (T)

30
Nb3(Al0.7Ge0.3)
20
Nb3Sn

10 NbTi Abb. 13.27: Temperaturverlauf der oberen


Nb3Ge
kritischen Felder einiger Hochfeldsupralei-
0 ter. Nicht gezeigt sind die Hochtemperatur-
0 5 10 15 20 Supraleiter, die obere kritische Felder weit
T (K) 155
oberhalb von 100 T haben können.
834 13 Supraleitung

Tabelle 13.2: Ginzburg-Landau Parameter κ∞ , Londonsche Eindringtiefe λ L und kritische Felder B cth
bzw. B c2 einiger supraleitender Elemente und Verbindungen (aus Springer Handbook of Condensed
Matter and Materials Data, W. Martienssen und H. Warlimont (Eds.), Springer, Berlin (2005)).

Element Al In Nb Pb Sn Ta Tl V
Tc [K] 1.19 3.408 9.25 7.196 3.722 4.47 2.38 5.46
B cth [mT] 10.49 28.15 206 80.34 30.55 82.9 17.65 140
λ L (0) [nm] 50 40–65 32–45 40 50 35 40
κ∞ 0.03 0.06 ∼ 0.8 0.4 0.1 0.35 0.3 0.85
Verbindung NbTi Nb3 Sn NbN PbIn PbIn Nb3 Ge V3 Si YBa2 Cu3 O7
(2–30%) (2–50%) (ab-Ebene)
Tc [K] ≃ 10 ≃ 18 ≃ 16 ≃7 ≃ 8.3 23 16 92
B c2 [T] ≃ 10–13 ≃ 23–29 ≃ 15 ≃ 0.1–0.4 ≃ 0.1–0.2 38 20–23 160±25
λ L (0) [nm] ≃ 300 ≃ 80 ≃ 200 ≃ 150 ≃ 200 90 60 ≃ 140 ± 10
κ∞ ≃ 75 ≃ 20–25 ≃ 40 ≃ 5–15 ≃ 8–16 30 20 ≃ 100 ± 20

Verunreinigen wir z. B. den Typ-I Supraleiter In mit Bi, so erfolgt bei etwa 1.5 Atom-% Bi
ein Übergang zu einem Typ-II Supraleiter. Ähnliches gilt für die Verunreinigung des Typ-I
Supraleiters Pb mit In. Von Gor’kov und Goodman wurde ein empirischer Zusammenhang
zwischen dem GL-Parameter κ und der mittleren freien Weglänge ℓ angegeben, der die ex-
perimentellen Ergebnisse gut beschreibt:
0.72λ L (0) ⌈︂
κ(ℓ) ≃ κ∞ + ≃ κ∞ + 7.5 × 104 ρ(︀Ωm⌋︀ γ(︀J⇑m3 K2 ⌋︀ . (13.4.25)

Hierbei ist γ der Sommerfeld-Koeffizient und κ∞ = κ(ℓ → ∞). Für die Berechnung von κ(ℓ)
müssen wir κ∞ kennen. Diese Größe erhalten wir durch Extrapolation der gemessenen κ(ℓ)
von Legierungen auf die Fremdatomkonzentration null. Die κ∞ -Werte einiger Supraleiter
sind in Tabelle 13.2 angegeben.

13.4.5 Vertiefungsthema: Nukleation an Oberflächen


Im vorherigen Abschnitt haben wir die linearisierte GL-Gleichung für einen unendlich aus-
gedehnten Supraleiter gelöst. Falls wir nun einen Supraleiter betrachten, der nur den Halb-
raum x ≥ 0 ausfüllt, so müssen wir an seiner Oberfläche bei der Lösung noch die Randbe-
dingung (13.3.62) berücksichtigen, die sicherstellt, dass kein Strom senkrecht zur Oberfläche
fließt. Führen wir die Rechnung durch, so stellen wir fest, dass das obere kritische Feld für
diese Situation höher ist. Die Rechnung liefert115
B c3 = 1.695B c2 (13.4.26)
Man bezeichnet B c3 als Nukleationsfeld.
Qualitativ können wir das höhere Nukleationsfeld an Oberflächen wie folgt verstehen. Wir
können eine Eigenfunktion, die die Randbedingung (13.3.62) erfüllt und zu einem niedri-
geren Eigenwert und damit höherem kritischen Feld führt, konstruieren, indem wir β so
115
siehe zum Beispiel Introduction to Superconductivity, M. Tinkham, McGraw-Hill, New York (1975).
13.4 Typ-I und Typ-II Supraleiter 835

wählen, dass x 0 , die Position des Minimums der potenziellen Energie, gerade um etwa ξ GL
von der Oberfläche entfernt im Innern des Supraleiters zu liegen kommt. Damit die Randbe-
dingung ∂Ψ⇑∂x = 0 an der Oberfläche x = 0 erfüllt wird, muss Ψ(x) offensichtlich eine sym-
metrische Funktion sein. Das dazugehörige symmetrische Potenzial erhalten wir dadurch,
dass wir dem Potenzial bei x = x 0 im Supraleiter ein Spiegelpotenzial bei x = −x 0 außerhalb
des Supraleiters hinzufügen. Die neue Oberflächeneigenfunktion hat dann einen niedrige-
ren Eigenwert als solche weit im Inneren des Supraleiter, da sie zu einem Potenzial gehört,
dass niedriger ist und flacher verläuft als die einfachen Parabeln.

13.4.6 Vertiefungsthema: Shubnikov-Phase und Flussliniengitter


Wir haben bereits darauf hingewiesen, dass die linearisierte GL-Gleichung (13.4.11), die für
hohe Magnetfelder in der Nähe von B c2 eine gute Näherung ist, identisch mit der Schrödin-
ger-Gleichung eines freien geladenen Teilchens im Magnetfeld ist. In Abschnitt 9.10 haben
wir bereits gezeigt, dass für die Bewegung in der x y-Ebene senkrecht zu dem in z-Richtung
angelegten Magnetfeld (wir setzen k z = 0) diese Gleichung eine unendliche Zahl von Lösun-
gen der Form
(x − x 0 )2
ψ β = exp(ıβ y)u(x) = exp(ıβ y) exp (− 2
) (13.4.27)
2ξ GL
besitzt, wobei die Funktion u(x) die Differentialgleichung (13.4.14) erfüllen muss [ver-
gleiche hierzu auch (9.10.7)], welche nichts anderes als die Schrödinger-Gleichung für
die Wellenfunktion eines einfachen harmonischen Oszillators mit der Zyklotronfre-
quenz ω c = q s B z ⇑m s ist, dessen Zentrum sich an der Stelle
ħβ βΦ 0
x0 = = (13.4.28)
q s B z 2πB z
befindet und der die Eigenenergien E n = (n + 1⇑2)ħω c besitzt.
Periodische Lösungen in y-Richtung lassen sich finden mit Wellenvektoren β m = m ∆2πy , wo-
bei ∆y die Periode in y-Richtung angibt. Für diese Wellenvektoren erhalten wir aus (13.4.28)
dann x m = mΦ 0 ⇑∆yB z bzw. die Periode ∆x = x m ⇑m = Φ 0 ⇑∆yB z . Hieraus ergibt sich sofort
∆x∆yB z = Φ 0 . (13.4.29)
Jede Flächeneinheit ∆x∆y der periodischen Lösung enthält also genau ein Flussquant, wie
es gemäß der Flussquantisierung zu erwarten war. Multiplizieren wir (13.4.29) mit der ge-
samten Probenfläche S senkrecht zum Magnetfeld, so erhalten wir mit dem Fluss Φ = B z ⋅ S
Φ S
= = p. (13.4.30)
Φ 0 ∆x∆y
Diese Gleichung entspricht dem Ausdruck (9.10.17) für die Entartung p eines Landau-
Niveaus.116 In unserem Fall gibt p an, wie viele Lösungen wir in der Probe unterbringen
116
Für einzelne Elektronen gilt p = Φ⇑Φ∗0 mit Φ∗0 = 2Φ 0 = h⇑e. Deshalb taucht im Nenner
von (9.10.17) ein zusätzlicher Faktor 2 auf.
836 13 Supraleitung

können. Die Lösungen (13.4.27) beschreiben die quantisierte Kreisbewegung der supralei-
tenden Elektronen in der Ebene senkrecht zum Magnetfeld. Die Quantisierung gewährleis-
tet, dass die von der Kreisbewegung umschlossene Fläche immer ein ganzzahliges Vielfaches
eines Flussquants enthält. Nur so sind stationäre Lösungen möglich.
Gleichung (13.4.27) stellt eine spezielle Lösung des Problems dar. Die allgemeine Lösung
besitzt die Form
(x − x m )2
ψ L = ∑ C m ψ m = ∑ C m exp(ıβ m y) exp (− 2
). (13.4.31)
m m 2ξ GL

Diese Lösung ist periodisch in y. Die Periodizität in x-Richtung setzt voraus, dass C m−N =
C m für festes N. Die Lösung für N = 1, die von Abrikosov117 anfangs berechnet wurde, ent-
spricht einem Quadratgitter. Diese Lösung hat aber für freie Elektronen nicht die niedrigste
Energie, sondern die Lösung für N = 2, die einem Dreiecksgitter entspricht. Der Energie-
unterschied zwischen einem Quadrat- und einem Dreiecksgitter liegt nur bei etwa 1.7%,
so dass der Einfluss der speziellen Kristallsymmetrie von manchen Supraleitern dazu führt,
dass diese nicht ein Dreiecksgitter, sondern ein quadratisches Flussliniengitter bevorzugen.
Dieser kleine Unterschied (und das Fehlen numerischer Rechenverfahren) erklärt auch, dass
Abrikosov anfangs vorhersagte, dass ein quadratisches Gitter den stabilsten Zustand bil-
det. Die Tatsache, dass ein Dreiecksgitter den stabilsten Zustand bildet, können wir an-
hand der bei der Diskussion von Kristallgittern verwendeten Argumente verstehen. Das
in Abb. 13.28b gezeigte Dreiecksgitter ist eine dicht gepackte Struktur, bei der jede Fluss-
linie von einem Hexagon von weiteren Flusslinien umgeben ist. Die Fläche der primitiven
Gitterzelle beträgt F▲ = 1.5a▲2
tan 30○ = 0.866a▲2
. Setzen wir diese Fläche gleich Φ 0 ⇑B, also
⌈︂
gleich der Fläche, die ein Flussquant bei der angelegten Flussdichte B einnimmt, ⌈︂so erhalten
wir a▲ = 1.075 Φ 0 ⇑B. Beim in Abb. 13.28a gezeigten Quadratgitter ist a∎ = Φ 0 ⇑B. Das
heißt, der Abstand benachbarter Flusslinien im Dreicksgitter ist a▲ = 1.075a∎ . Aufgrund
der abstoßenden Wechselwirkung der einzelnen Flusslinien, die wir als kleine Stabmagnete
betrachten können, ist das Gitter mit dem größtmöglichen Abstand, also das Dreiecksgitter,
energetisch am günstigsten.
(a) (b)

Abb. 13.28: Schematische Darstellung ei- 𝒅


nes quadratischen (a) und hexagonalen (b) 30°
Flussliniengitters. Die farbig hinterleg-
te Fläche zeigt die primitive Gitterzelle 𝒂■
(Wigner-Seitz-Zelle) des jeweiligen Gitters. 𝒂▲

Wir erhalten in einem Typ-II Supraleiter im Mischzustand also eine periodische Anordnung 159

von normalleitenden Bereichen, deren Durchmesser in etwa durch die GL-Kohärenzlän-


ge ξ GL gegeben ist und deren Flussinhalt einem Flussquant Φ 0 entspricht. Diese periodische
117
A. A. Abrikosov, Zh. Eksperim. Teor. Fiz. 32, 1141 (1957); Sov. Phys. JETP 5, 1174 (1957). Alexei
Alexeyevich Abrikosov erhielt für diese Vorhersage zusammen mit Vitaly Lasarevich Ginzburg und
Anthony James Leggett den Nobelpreis für Physik 2003.
13.4 Typ-I und Typ-II Supraleiter 837

(a) (b)

𝝁𝟎 𝑯𝐞𝐱𝐭

(c) (d) 2.0


𝜿 = 𝟐, 𝟓, 𝟐𝟎
1.6 𝑩(𝒓)/𝑩𝒄𝟏

ns , B / Bc1
1.2 𝒏𝒔 𝒓

0.8

0.4

0.0
200 nm -4 -2 0 2 4
r / L
160

Abb. 13.29: (a) Schematische Darstellung des Flussliniengitters in einem Typ-II Supraleiter. Für ei-
ne einzelne Flusslinie sind exemplarisch der Flusslinienverlauf und die ringförmigen Abschirmströme
skizziert. (b) Konturlinien von n s = ⋃︀ψ⋃︀2 in einem Abrikosov-Dreiecksgitter. (c) Mit einem Rastertun-
nelmikroskop gewonnene Abbildung eines für B ext = 1 T erhaltenen Flussliniengitters in einem NbSe2 -
Einkristall (nach H. F. Hess et al., Phys. Rev. Lett. 62, 214 (1989), © (2012) American Physical Society).
(d) Radialer Verlauf von n s (r) und B(r)⇑B c1 in einer isolierten Flusslinie (nach E. H. Brandt, Phys.
Rev. Lett. 78, 2208 (1997)).

Anordung, die in Abb. 13.29a und b schematisch gezeigt ist, nennt man Abrikosov-Gitter.
Das Magnetfeld durchdringt die Probe in normalleitenden Kanälen, die wir als Flusslinien
oder Flusswirbel bezeichnen. Letztere Bezeichnung rührt daher, dass um den Kern der
Flusslinie ein wirbelartiger Abschirmstrom fließt. Das Flussliniengitter kann durch Deko-
ration mit feinen Eisenkolloidteilchen und anschließender Abbildung dieser Teilchen mit
einem Elektronenmikroskop sichtbar gemacht werden.118 , 119 Heute werden auch Neutro-
nenstreuung, magnetooptische Verfahren oder Rastertunnelmikroskie verwendet (siehe
Abb. 13.29c). Der Kontrast beim Rastertunnelmikroskop basiert auf der unterschiedlichen
Zustandsdichte am Fermi-Niveau zwischen dem normalleitenden Kern der Flusslinie und
der supraleitenden Umgebung. In Abb. 13.29d ist ein Schnitt durch eine isolierte Flusslinie
gezeigt. Die magnetische Flussdichte ist im Zentrum der Flussline maximal und fällt mit
der Londonschen Eindringtiefe in radialer Richtung in etwa exponentiell ab. Die Dichte n s
der supraleitenden Elektronen ist im Zentrum der Flusslinie null und steigt dann innerhalb
der GL-Kohärenzlänge in radialer Richtung auf ihren Gleichgewichtswert an.

118
U. Essmann, H. Träuble, The direct observation of individual flux lines in type II superconductors,
Phys. Lett. 24 A, 526 (1967).
119
U. Essmann, Intermediate state of superconducting niobium, Phys. Lett. 41 A, 477 (1972).
838 13 Supraleitung

13.4.7 Vertiefungsthema: Flusslinien in Typ-II Supraleitern


Wir haben in den vorangegangenen Abschnitten gesehen, dass sich in Typ-II Supraleitern
für B c1 < B ext < B c2 ein Zustand ausbildet, in dem sowohl die Dichte n s = ⋃︀Ψ⋃︀2 der gepaarten
Elektronen als auch die magnetische Flussdichte räumlich variieren. Insbesondere entspricht
die Abrikosov-Lösung (13.4.31) einem regelmäßigen Gitter von Flusslinien. Wir wollen in
diesem Abschnitt den radialen Verlauf n s (r) = ⋃︀Ψ(r)⋃︀2 des Ordnungsparameters und der
Flussdichte b(r) analysieren.120 Dies wird uns erlauben, den oben angegebenen Ausdruck
für das untere kritische Feld B c1 abzuleiten. Wir werden dabei einen räumlich isotropen Su-
praleiter voraussetzen. Im Allgemeinen erfordert die Berechnung von n s (r) und b(r) die
numerische Lösung der nichtlinearen GL-Gleichungen. Wir werden uns deshalb auf den
Fall extremer Typ-II Supraleiter (κ ≫ 1) beschränken, für den wir nützliche analytische Lö-
sungen angeben können.

13.4.7.1 Radialer Verlauf des Ordnungsparameters


Um einen Ausdruck für ψ(r) = Ψ(r)⇑Ψ0 abzuleiten, wobei Ψ0 der Ordnungsparameter für
den homogenen Fall darstellt, verwenden wir den Ansatz

ψ(r) = ψ∞ f (r)e ı θ . (13.4.32)

Dieser Ansatz berücksichtigt die axiale Symmetrie und die Tatsache, dass die Phase von ψ
um 2π variiert, wenn wir uns einmal um den Kern der Flusslinie herumbewegen. Setzen
wir diesen Ansatz in die nichtlineare 1. GL-Gleichung (13.3.65) ein, so erhalten wir eine
Bestimmungsgleichung für den radialen Verlauf f (r) des Ordnungsparameters. Es zeigt sich
[vergleiche hierzu (13.3.87)], dass f (r) in sehr guter Näherung durch121
r
f (r) = tanh (c ) (13.4.33)
ξ GL
beschrieben werden kann, wobei c ≃ 1 eine Konstante ist. Das heißt, dass der Ordnungspa-
rameter innerhalb der Länge ξ GL fast auf seinen vollen Wert ansteigt.

13.4.7.2 Radialer Verlauf der Flussdichte


Wir werden den Verlauf der Flussdichte b(r) für κ ≫ 1 diskutieren. Da in diesem Fall λ L ≫
ξ GL und wir ferner bereits wissen, dass der Ordnungsparameter in etwa innerhalb von ξ GL
auf seinen vollen Wert ansteigt, können wir in guter Näherung ⋃︀ψ(r)⋃︀ ≃ 1 annehmen. Diese
Annahme ist gleichbedeutend damit, dass wir ξ GL → 0 gehen lassen und damit den Wir-
belkern mit reduziertem Ordnungsparameter vernachlässigen. Die Annahme ⋃︀ψ(r)⋃︀ = const
erlaubt uns, die 2. London-Gleichung ∇ × (ΛJs ) + b = 0 zu verwenden. Dies würde aber im-
plizieren, dass das Fluxoid für jeden beliebigen Pfad in einem einfach verbundenen Supra-
leiter verschwinden müsste. Wir können dieses Problem dadurch beseitigen, dass wir einen

120
Wir benutzen b für die lokale Flussdichte und B für den makroskopischen mittleren Wert der
Flussdichte.
121
Introduction to Superconductivity, M. Tinkham, McGraw-Hill, New York (1975).
13.4 Typ-I und Typ-II Supraleiter 839

(a) 2.0 (b)


1.0
1.6

| , bz / Bext
| , bz / Bc1

1.2

0.5
0.8
2

2
0.4

0.0 0.0
-4 -3 -2 -1 0 1 2 3 4 -0.4 -0.3 -0.2 -0.1 0.0 0.1 0.2 0.3 0.4
r / L r / L

Abb. 13.30: (a) Verlauf der normierten Flussdichte b(r)⇑B c1 und des Absolutquadrats des Ordnungs-
parameters ⋃︀ψ(r)⋃︀2 = ⋃︀Ψ⇑Ψ0 ⋃︀2 = n s (r) entlang eines Schnitts durch das Zentrum einer einzelnen Fluss-
linie. (b) Verlauf der normierten Flussdichte b(r)⇑B ext und des Absolutquadrats des Ordnungsparame-
ters ⋃︀ψ(r)⋃︀2 entlang einer periodischen Anordnung von Flusslinien für B ext ≃ 0.6B c2 . Für die Rechnung
wurde jeweils λ L = 10ξ GL angenommen.

Term Φ 0 δ 2 (r) ergänzen, welcher der Präsenz des Vortexkerns Rechnung trägt:122 , 123 , 124

∇ × (ΛJs ) + b = ⧹︂
zΦ 0 δ 2 (r) . (13.4.34)

Hierbei ist δ 2 (r) eine zweidimensionale Delta-Funktion und ⧹︂ z der Einheitsvektor parallel
zur Flusslinie. Aus der Maxwell-Gleichung ∇ × b = −µ 0 Js folgt b = −(Λ⇑µ 0 ) ∇ × ∇ × b. Ver-
wenden wir ferner rot rot = grad div − ∇2 und div b = 0, erhalten wir
b Φ0
∇2 b − = − 2 ⧹︂
zδ 2 (r) . (13.4.35)
λ 2L λL

Die exakte Lösung dieser Differentialgleichung lautet


Φ0 r
b(r) = 2
𝒦0 ( ) . (13.4.36)
2πλ L λL

Hierbei ist 𝒦0 die modifizierte Bessel-Funktion nullter Ordnung. Für r⇑λ L ≫ 1 kann
die Bessel-Funktion durch r −1⇑2 exp(−r⇑λ L ) angenähert werden. Für r⇑λ L → 0 erhalten
wir mit ln(λ L ⇑r) eine logarithmische Divergenz, die allerdings in Wirklichkeit bei r ≃ ξ
abgeschnitten wird, da hier der Ordnungsparameter abnimmt.
Der radiale Verlauf von b(r) und ⋃︀ψ(r)⋃︀2 ist in Abb. 13.30a für eine einzelne, isolierte Fluss-
linie gezeigt. Er stellt einen Schnitt durch das Zentrum einer Flusslinie dar. Da λ L ≫ ξ GL ,
ist der Vortexkern im Vergleich zur Flussdichteverteilung sehr schmal und kann, wie oben
gemacht, in erster Näherung durch eine δ-Funktion angenähert werden. Wir weisen aber
122
A. A. Abrikosov, Zh. Eksperim. Teor. Fiz. 32, 1141 (1957).
123
A. A. Abrikosov, Sov. Phys. JETP 5, 1174 (1957).
124
Dieser Ansatz wurde zuerst von Abrikosov gemacht und war anfänglich umstritten. So ist bekannt,
dass Landau den Ansatz zunächst abgelehnt hat, als Abrikosov diesen ihm vorstellte. Dies führte
zu einer mehrjährigen Verzögerung der Publikation von Abrikosov’s Theorie.
840 13 Supraleitung

darauf hin, dass der in Abb. 13.30a gezeigte Verlauf von b(r) nur für κ ≫ 1 eine gute Nä-
herung ist, da wir nur in diesem Fall den Einbruch des Ordnungsparameters bei r = 0 gut
durch eine δ-Funktion annähern können. Für kleinere κ-Werte wird die b(r)-Kurve breiter,
wie es in Abb. 13.29 gezeigt ist. In Abb. 13.30b ist der Verlauf von b(r) und ⋃︀ψ(r)⋃︀2 entlang ei-
ner periodischen Anordnung von Vortices für ein externes Feld nahe dem oberen kritischen
Feld gezeigt. Da der Abstand der Vortices klein gegen λ L ist, überlappen sich die Flussdichte-
verteilungen der einzelnen Vortices stark, so dass die räumliche Variation der resultierenden
Flussdichteverteilung nur noch gering ist. Die Modulation von ⋃︀ψ(r)⋃︀2 ist dagegen noch be-
trächtlich, da der Abstand der Vortices bei dem gewählten externen Feld immer noch 2ξ GL
beträgt.

13.4.7.3 Energie einer Flusslinie


Nachdem wir den radialen Verlauf des Ordnungsparameters und der magnetischen Fluss-
dichte im Mischzustand analysiert haben, wollen wir jetzt noch die mit einer Flusslinie in
Typ-II Supraleitern verbundene freie Energie diskutieren. Da es sich bei Flusslinien um li-
nienhafte Gebilde handelt, werden wir die Energie pro Längeneinheit berechnen, die als Li-
nienenergie oder auch Linienspannung bezeichnet wird. Letztere Bezeichnung resultiert aus
der Tatsache, dass wir Energie aufbringen müssen, um die Länge einer Flusslinie zu ver-
größern. Bei der Berechnung der Linienenergie werden wir wiederum den Vortexkern mit
Radius ξ GL ≪ λ L vernachlässigen. In diesem Fall setzt sich die Linienenergie nur aus der
Feldenergie und der kinetischen Energie der Ströme zusammen:
b2 1
єL = ∫ dF + ∫ µ 0 λ 2L J2s dF . (13.4.37)
2µ 0 2

Hierbei haben wir J s = n s q s v s benutzt, woraus 12 m s n s v s2 = 12 µ 0 λ 2L J s2 resultiert. Das Flächen-


integral verläuft dabei über die gesamte Fläche senkrecht zur Flusslinie mit Ausnahme des
Vortexkerns, da wir mit der Vernachlässigung des Vortexkerns aus dem Kern der Flussli-
nie einen kleinen Bereich mit Radius ξ GL herausgeschnitten haben. Mit der Maxwell-Glei-
chung ∇ × b = µ 0 Js erhalten wir
b2 1 2
єL = ∫ dF + ∫ λ ⋃︀∇ × b⋃︀2 dF . (13.4.38)
2µ 0 2µ 0 L
Unter Benutzung einer Vektoridentität können wir dies in
1 λ 2L
єL = ∫ (b + λ L ∇ × ∇ × b) ⋅ b dF +
2
∮ (b × ∇ × b) ⋅ ds (13.4.39)
2µ 0 2µ 0
umschreiben. Hierbei verläuft das Linienintegral sowohl um den inneren als auch den äuße-
ren Umfang der Integrationsfläche. Unter Benutzung von (13.4.35) können wir dies weiter
umformen in
1 λ 2L
єL = ∫ ⋃︀b⋃︀Φ 0 δ 2 (r) dF + ∮ (b × ∇ × b) ⋅ ds . (13.4.40)
2µ 0 2µ 0
Da das Flächenintegral den Vortexkern ausschließt, trägt der erste Term auf der rechten Seite
nichts bei. Der zweite Term liefert keinen Beitrag für den äußeren Umfang der Flusslinie, da
13.4 Typ-I und Typ-II Supraleiter 841

wir diesen in einen Bereich R ≫ λ L legen können, wo die mit der Flusslinie verbundene
Stromdichte verschwindend klein ist. Es bleibt also nur der Beitrag für den inneren Umfang
mit Radius R ≃ ξ GL . Da b parallel zur Flusslinie ist, gilt ⋃︀∇ × b⋃︀ = −db⇑dr und wir erhalten
λ 2L −db
єL = ]︀b 2πr{︀ . (13.4.41)
2µ 0 dr ξ GL

Da b(r) für r ≪ λ L gut durch


Φ0 λL
b(r) = ]︀ln ( ) + 0.12{︀ (13.4.42)
2πλ 2L r
angenähert werden kann, erhalten wir db⇑dr ≃ −Φ 0 ⇑2πλ 2L r und damit
Φ0
єL = b(ξ GL ) . (13.4.43)
2µ 0
Benutzen wir nochmals (13.4.42) und vernachlässigen den Beitrag 0.12, was bei den bereits
gemachten Vereinfachungen gerechtfertigt ist, so erhalten wir

Φ20 B2
єL = 2
ln κ = cth 4πξ GL
2
ln κ . (13.4.44)
4πµ 0 λ L 2µ 0
⌋︂
Hierbei haben wir B cth = Φ 0 ⇑2π 2ξ GL λ L benutzt. Wir sehen, dass die Linienenergie um den
Faktor 4 ln κ größer ist als die Kondensationsenergie (B 2cth ⇑2µ 0 )πξ GL
2
, die im Vortexkern mit
Fläche πξ GL verloren geht. Falls also κ ≫ 1, ist es nicht relevant, ob wir die verlorene Kon-
2

densationsenergie des Vortexkern berücksichtigen oder nicht. Detailliertere Rechnungen,


die den Verlust an Kondensationsenergie in die Berechnung der Linienenergie mit einbezie-
hen, liefern das Ergebnis
Φ20
єL = (ln κ + 0.08) . (13.4.45)
4πµ 0 λ 2L
Dieser Ausdruck stellt aber auch nur für κ ≳ 5 eine vernünftige Näherung dar.

13.4.7.4 Wechselwirkung von zwei Flusslinien


Wir können die Ausdrücke (13.4.36) und (13.4.38) für den radialen Verlauf der Flussdichte
und die Linienenergie einer Flusslinie dazu benutzen, die Wechselwirkung zweier Flusslini-
en zu berechnen. Nehmen wir an, dass die beiden Flusslinien an den Positionen r1 und r2
in z-Richtung zeigen, so können wir die Flussdichte schreiben als
b(r) = b1 (r) + b2 (r) = (︀b(⋃︀r − r1 ⋃︀) + b(⋃︀r − r2 ⋃︀)⌋︀⧹︂
z. (13.4.46)
Substituieren wir diesen Ausdruck in (13.4.38) und benutzen dieselben Umformungen, die
wir zur Ableitung von (13.4.43) benutzt haben, so erhalten wir aus Symmetriegründen die
gesamte Energieerhöhung durch die beiden Flusslinien zu
Φ0
∆E = (︀b 1 (r1 ) + b 1 (r2 ) + b 2 (r1 ) + b 2 (r2 )⌋︀
2µ 0
Φ0 Φ0
= 2 ⌊︀ b 1 (r1 )}︀ + 2 ⌊︀ b 1 (r2 )}︀ . (13.4.47)
2µ 0 2µ 0
842 13 Supraleitung

Der erste Term auf der rechten Seite stellt gerade die Linienenergie von zwei nicht wechsel-
wirkenden Flusslinien und der zweite ihre Wechselwirkungsenergie
Φ0 Φ20 r 12
W12 = b 1 (r2 ) = 𝒦0 ( ) (13.4.48)
µ0 2πµ 0 λ 2L λL
dar. Diese ist positiv (abstoßend) für den Fall, dass der Fluss der beiden Flusslinien in die
gleiche Richtung zeigt.

13.4.7.5 Eindringen von magnetischem Fluss


Unteres kritisches Feld: Für B ext < B c1 befindet sich ein Typ-II Supraleiter in der Meißner-
Phase. Oberhalb des unteren kritischen Feldes ist es für einen Typ-II Supraleiter dagegen
energetisch günstiger, magnetischen Fluss in Form von Flusslinien eindringen zu lassen. Da
der energetisch günstigste Zustand durch ein Minimum der freien Enthalpie charakterisiert
wird, muss für B ext = B c1 die freie Enthalpie 𝒢s für den Meißner-Zustand und den Zustand
mit einer eingedrungenen Flusslinie gleich sein. Es muss also
𝒢s ⋃︀Meißner = 𝒢s ⋃︀Vortex (13.4.49)
gelten. Aus dieser Bedingung können wir mit der oben abgeleiteten Linienenergie in einfa-
cher Weise das untere kritische Feld B c1 eines Typ-II Supraleiters herleiten.
Im Zustand mit einer eingedrungenen Flusslinie müssen wir als zusätzliche Energiebeiträge
die Linienenergie є L und die Wechselwirkungsenergie − ∫ µ10 Bext ⋅ b dV berücksichtigen.125
Es gilt also
L
𝒢s ⋃︀Vortex = 𝒢s ⋃︀Meißner + є L L − B ext ∫ b(r) ⋅ dF . (13.4.50)
µ0
Hierbei ist L die Länge der Flusslinie und das Flächenintegral wird über eine Fläche senk-
recht zur Flusslinie ausgeführt. Da wir angenommen haben, dass genau eine Flusslinie mit
Flussinhalt Φ 0 eingedrungen ist, gilt ∫ b(r) ⋅ dF = Φ 0 ,126 so dass
B c1 Φ 0 L
𝒢s ⋃︀Vortex = 𝒢s ⋃︀Meißner + є L L − . (13.4.51)
µ0
)︁⌊︂⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ]︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂)︂
=0

Da die freien Enthalpien für den Meißner-Zustand und den Zustand mit einer eingedrun-
genen Flusslinie für B ext = B c1 gleich sein müssen, folgt mit (13.4.45)
µ0є L Φ0
B c1 = = (ln κ + 0.08) , (13.4.52)
Φ0 4πλ 2L
was dem bereits oben ohne Herleitung angegebenen Ausdruck (13.4.24) entspricht.
125
Es gilt 𝒢 = 𝒰 − T S + pV − mB ext [vergleiche hierzu (G.4.1) in Anhang G]. Im Meißner-Zustand
ist m = −B ext V ⇑µ 0 und damit −mB ext = µV0 B 2ext . Durch das Eindringen einer Flusslinie bei B ext =
B c1 wird dieser Beitrag um µ10 B c1 ∫ bdV reduziert.
126
Diese Annahme ist nicht unbedingt notwendig. Wir hätten auch n Flusslinien eindringen lassen
können, wodurch wir nє L für die Linienenergie und ∫ b(r) ⋅ dF = nΦ 0 für den eingedrungenen
Fluss erhalten hätten.
13.4 Typ-I und Typ-II Supraleiter 843

Bean-Livingston Barriere: Wenn eine Flusslinie nahe an der Oberfläche eines Supralei-
ter erzeugt wird, wirken auf sie zwei entgegengesetzt gerichtete Kräfte. Die Abschirmströme
erzeugen eine Lorentz-Kraft senkrecht zur Oberfläche. Gehen wir von der in Abb. 13.15 ge-
zeigten Geometrie aus, so erhalten wir mit (13.3.8) für die Lorentz-Kraft pro Längeneinheit
H ext −x⇑λ L
f x,L = Φ 0 J s, y = Φ 0 e . (13.4.53)
λL
Die zweite Kraft ist die Bildkraft, welche die Flusslinie zur Oberfläche zieht. Sie resultiert aus
der anziehenden Wechselwirkungsenergie pro Längeneinheit [vergleiche hierzu (13.4.48)]
Φ 0 b(r) Φ20 2x
WB = − =− 2
𝒦0 ( ) (13.4.54)
µ0 2πµ 0 λ L λL
einer Flusslinie mit Abstand x von der Oberfläche und ihres Bildes im Abstand −x vor der
Oberfläche. Für die modifizierte Besselfunktion 2. Art gilt d𝒦0 (x)⇑dx = −𝒦1 (x), so dass
wir für die Bildkraft pro Längeneinheit
Φ20 2x
f x,B = − 𝒦 ( )
3 1
(13.4.55)
2πµ 0 λ L λL
erhalten. Wir vergleichen nun die beiden Kräfte für x = ξ GL , da dies der geringste Abstand
von der Oberfläche ist, den wir im Rahmen des Vortex-Modells realisieren können. Das
nach C. P. Bean und J. D. Livingston benannte Bean-Livingston Feld127 erhalten wir gerade
aus der Bedingung, dass die Summe der beiden Kräfte verschwindet:
Φ0 2ξ GL −ξ GL ⇑λ L
B BL = 𝒦1 ( )e . (13.4.56)
2πλ 2L λL
Für ξ GL ⇑λ L ≪ 1 können wir 𝒦1 (x) ≃ 1⇑x und ex ≃ 1 verwenden, wodurch wir die für
große κ gültige Näherung
Φ0 B cth
B BL = = ⌋︂ (13.4.57)
4πξ GL λ L 2
erhalten. Für Typ-II Supraleiter mit κ ≫ 1 ist das Bean-Livingston Feld wesentlich größer
als B c1 . Es stellt eine Oberflächenbarriere dar, die verhindert, dass Flusslinien in den Supra-
leiter bereits bei B c1 eindringen und hat dadurch eine wichtige praktische Bedeutung. Um
die Oberflächenbarriere aber voll ausnutzen zu können, müssen die betroffenen Oberflächen
auf der Längenskala λ L glatt sein.

13.4.8 Kritische Stromdichte


13.4.8.1 Kritische Stromdichte im Meißner-Zustand
Gemäß der 2. London-Gleichung besteht überall in einem Supraleiter ein Zusammenhang
zwischen der Suprastromdichte Js und dem lokalen Magnetfeld b(r). Aufgrund der Feld-
verdrängung in der Meißner-Phase ist das Magnetfeld und damit die Suprastromdichte auf
127
C. P. Bean, J. D. Livingston, Surface Barrier in Type-II Superconductors, Phys. Rev. Lett. 12, 14
(1964).
844 13 Supraleitung

eine dünne Oberflächenschicht der Dicke λ L begrenzt. Um die kritische Stromdichte J c in


der Meißner-Phase abzuschätzen, betrachten wir einen supraleitenden Zylinder mit Radi-
us R ≫ λ L . Schicken wir einen Transportstrom entlang dieses Zylinders, so erzeugt dieser
ein zirkulares Magnetfeld b φ in der Ebene senkrecht zur Zylinderachse. Aufgrund der Max-
∂b φ (r)
well-Gleichung ∇ × b = µ 0 Js gilt ∂r = µ 0 J s .128 Da in der Meißner-Phase das Eigenfeld des
Stromes abgeschirmt wird, gilt b φ (r) = b φ (R)e−r⇑λ L und damit J s = b φ (R)⇑µ 0 λ L . Die kriti-
sche Stromdichte erreichen wir, wenn das Feld auf der Zylinderoberfläche das kritische Feld
erreicht. Es gilt also
Bc
J cLondon = . (13.4.58)
µ0 λL
Diese Beziehung gilt sowohl für Typ-I als auch Typ-II Supraleiter in der Meißner-Phase,
wobei B c = B cth für Typ-I und B c = B c1 für Typ-II Supraleiter. Für Aluminium mit B cth ≃
10 mT und λ L ≃ 50 nm erhalten wir J cLondon ≃ 2 × 1011 A/m2 .
Wir wollen kurz überprüfen, ob (13.4.58) in Einklang mit dem Ampèreschen Durchflu-
tungsgesetz ist. Für einen Zylinder mit Gesamtstrom I ist das Feld auf der Zylinderober-
fläche b φ (R) = µ 0 I⇑2πR. Setzen wir dies gleich dem kritischen Feld, so erhalten wir den
kritischen Strom

I c = B c 2πR⇑µ 0 . (13.4.59)

Diese Gleichung sieht zunächst anders aus als (13.4.58). Allerdings müssen wir für einen
richtigen Vergleich die Stromdichte J c = I c ⇑A eff bestimmen. Da der Strom nur in einer Ober-
flächenschicht der Breite λ L fließt, ist A eff = 2πRλ L und wir erhalten wiederum das Er-
gebnis (13.4.59) für die kritische Stromdichte. Unsere Überlegung zeigt, dass der kritische
Strom I c in einem Typ-I Supraleiter wegen der kleinen effektiven Fläche sehr gering sein
kann. Ein Al-Zylinder mit R = 0.5 mm hätte nur einen kritischen Strom von etwa 30 A. Ei-
ne wesentliche Verbesserung könnten wir erzielen, indem wir den einen Zylinder in viele
dünne Filamente mit Radius R ≃ λ L aufteilen würden. Dies entspricht der Verwendung von
dünnen Filamenten in Hochfrequenzkabeln, da hier der Strom aufgrund des Skin-Effekts
auch in Normalleitern nur an der Oberfläche fließt.
128
Die Maxwell-Gleichung lautet in Zylinderkoordinaten
1 ∂ ∂b r
⌊︀ (rb φ ) − }︀ = µ 0 J s,z .
r ∂r ∂φ
Da für die betrachtete Konfiguration ∂b r ⇑∂φ = 0 gilt, erhalten wir
b φ (r) ∂b φ (r)
⌊︀ + }︀ = µ 0 J s,z .
r ∂r
Für R ≫ λ L beträgt der erste Term in der eckigen Klammer b φ ⇑R auf der Zylinderoberfläche und
ist deshalb viel kleiner als der zweite Term, der etwa b φ ⇑λ L beträgt. Vernachlässigen wir den ersten
Term vollkommen, erhalten wir die Differentialgleichung
∂b φ (r)
= µ 0 J s,z
∂r
mit der Lösung b φ (R − r) = b surface
φ e−(R−r)⇑λ L für die Randbedingung b φ (0) = b surface
φ .
13.4 Typ-I und Typ-II Supraleiter 845

13.4.8.2 Paarbrechende kritische Stromdichte


Die aus der London-Theorie abgeleitete kritische Stromdichte J cLondon ist höher als die tat-
sächlich experimentell gemessene Stromdichte. Dies liegt daran, dass die London-Theorie
nicht die Abnahme der Amplitude des Ordnungsparameters mit zunehmender Stromdichte
berücksichtigt. In der London-Theorie wird vielmehr der Ordnungsparameter als konstant
angenommen. Eine Verbesserung kann sowohl mit der Ginzburg-Landau-Theorie als auch
der BCS-Theorie erreicht werden.

GL kritische Stromdichte: Ein schönes Anwendungsbeispiel der GL-Gleichungen


ist die Abschätzung der kritischen Stromdichte eines dünnen Drahtes mit Durchmes-
ser d ≪ ξ GL (T). Da Variationen der Amplitude des Ordnungsparameters nur auf einer
Längenskala ξ GL (T) erfolgen können, können wir annehmen, dass quer zum Draht kei-
ne Gradienten auftreten. Da ferner das Drahtmaterial homogen sein soll und an jeder
Stelle des Drahtes die gleiche Stromdichte vorherrscht, können wir auch annehmen, dass
längs des Drahtes keine Gradienten vorliegen. Wir können dann den Ordnungsparameter
durch ⋃︀Ψ⋃︀e ı θ(r) ausdrücken, womit wir aus der zweiten GL-Gleichung dann
qs
Js = ⋃︀Ψ⋃︀2 (ħ∇θ − q s A) = q s ⋃︀Ψ⋃︀2 vs (13.4.60)
ms
erhalten. Andererseits erhalten wir aus der normierten ersten GL-Gleichung (13.3.78)
2 2
ξ GL m 2s ħ qs
− ( ∇θ − A) ⋃︀ψ⋃︀ + ⋃︀ψ⋃︀ − ⋃︀ψ⋃︀3 = 0 (13.4.61)
ħ2 ms ms
sofort
1
Ψ 2 m 2 ξ 2 v s2 m v2
⋃︀ψ⋃︀2 = ⋀︀ ⋀︀ = (1 − s GL ) = (1 − 2 s s
). (13.4.62)
Ψ0 ħ2 ⋃︀α⋃︀

Der Verlauf von ⋃︀ψ⋃︀2 (v s ) ist in Abb. 13.31 dargestellt. Da α ja die pro Cooper-Paar gewonnene
Kondensationsenergie ist, sehen wir, dass die Abnahme von ⋃︀ψ⋃︀2 mit v s gerade proportional
zum Verhältnis der kinetischen Energie und der Kondensationsenergie der supraleitenden
Elektronen ist. Durch die zusätzliche kinetische Energie der sich bewegenden Elektronen
nimmt der Ordnungsparameter ab.
Aus (13.4.62) ergibt sich für die Stromdichte Js die Beziehung (siehe Abb. 13.31)

m 2s ξ GL
2
v s2
Js = q s ⋃︀Ψ⋃︀2 vs = q s ⋃︀Ψ0 ⋃︀2 (1 − 2
) vs . (13.4.63)
ħ

Den Maximalwert der Stromdichte, die kritische Stromdichte J cGL des Drahtes, erhalten wir
aus ∂J s ⇑∂v s = 0 zu

2 ħq s Φ0
J cGL = ⌋︂ ⋃︀Ψ0 ⋃︀2 = ⌋︂ . (13.4.64)
m ξ
3 3 s GL 3 3πµ 0 λ 2L (T)ξ GL (T)
846 13 Supraleitung

1.0

0.8

| , Js / Jc
0.6

2
0.4

Abb. 13.31: Variation des Ord- 0.2


nungsparameters ⋃︀ψ⋃︀2 = ⋃︀Ψ⇑Ψ0 ⋃︀2
und der Suprastromdichte J s 0.0
mit der Geschwindigkeit v s 0.0 0.4 0.8 1.2 1.6
der supraleitenden Elektronen. vs / vc

Hierbei haben wir Φ 0 = h⇑q s und λ 2L (T) = m s ⇑µ 0 ⋃︀Ψ0 ⋃︀2 q 2s verwendet. Nahe Tc erwarten wir
mit den Temperaturabhängigkeiten (13.3.79) und (13.3.80) dann J cGL ∝ (1 − T⇑Tc )3⇑2 , was
gut mit den experimentellen Befunden übereinstimmt. Mit Hilfe von Gleichung (13.3.82)
können wir J cGL auch durch das thermodynamische kritische Feld ausdrücken:
⌋︂
2 2 B cth B cth
J cGL = ⌋︂ = 0.544 . (13.4.65)
3 3 µ0 λL µ0 λL

Wir sehen, dass J cGL nur etwa halb so groß wie die nach der London-Theorie erwartete kriti-
sche Stromdichte B cth ⇑µ 0 λ L ist. Dies liegt daran, dass die London-Theorie die Abnahme der
Amplitude des Ordnungsparameters mit zunehmender Stromdichte nicht berücksichtigt.

BCS kritische Stromdichte: Schätzen wir die kritische Stromdichte eines dünnen Drahtes
mit Hilfe der BCS-Theorie ab, so müssen wir die kinetische Energie aufgrund des Trans-
portstromes mit der Energie vergleichen, die durch Bildung der Cooper-Paare gewonnen
wird. Beim Erreichen der kritischen Stromdichte wird die kinetische Energie so groß,
dass Cooper-Paare aufgebrochen werden können und damit die Supraleitung zerstört
wird. Wir nennen die damit verbundene Stromdichte deshalb die paarbrechende kritische
Stromdichte.
Wie wir später sehen werden [vergleiche Abschnitt 13.5.2 und (13.5.83)], erhalten wir durch
die Bildung der Cooper-Paare eine mittlere Energieabsenkung um 14 D(E F )∆2 , wobei D(E F )
die Zustandsdichte für beide Spinrichtungen und ∆ die BCS-Energielücke ist. Da diese mitt-
lere Energieabsenkung der Kondensationsenergie B 2cth ⇑2µ 0 in der GL-Theorie
⌈︂ entspricht,
können wir das thermodynamische kritische Feld formal als B cth = µ 0 D(E F )∆2 ⇑2V
schreiben. Benutzen wir den GL-Ausdruck J c = 0.544B cth ⇑µ 0 λ L , können wir die BCS
kritische Stromdichte zu
∆ ⌈︂
J cBCS = 0.544 D(E F )⇑2µ 0 V (13.4.66)
λL
angeben.
13.5 Mikroskopische Theorie 847

Wir wollen noch darauf hinweisen, dass in der Praxis die mit obigen Formeln abgeschätz-
ten kritischen Stromdichtewerte meist nicht erreicht werden. Dafür gibt es mehrere Gründe.
Neben Materialdefekten wie Korngrenzen (diese spielen vor allem bei den Kuprat-Supralei-
tern eine wichtige Rolle)129 , 130 , 131 reduziert vor allem das Eindringen und die Bewegung von
Flusslinien die kritische Stromdichte beträchtlich (vergleiche hierzu Abschnitt 13.7).

13.5 Mikroskopische Theorie


Wir haben in den vorangegangenen Abschnitten gesehen, dass wir das Phänomen Supralei-
tung gut beschreiben können, wenn wir annehmen, dass wir im supraleitenden Zustand die
Leitungselektronen durch eine makroskopische Wellenfunktion beschreiben können. Wir
konnten aber nicht erklären, wie es zur Ausbildung einer makroskopischen, kohärenten Ma-
teriewelle in Supraleitern kommt. Hierzu müssen wir die mikroskopischen Prozesse klären,
die zum supraleitenden Zustand führen.
Die Entwicklung einer mikroskopischen Theorie der Supraleitung erwies sich als enorm
schwierig. Dies liegt daran, dass die Supraleitung durch Wechselwirkungen im Elektronen-
system zustande kommt. Deshalb mussten für die theoretische Beschreibung der Supralei-
tung Konzepte entwickelt werden, die über die Einelektronen-Näherung hinausgehen. Es
sei nochmals in Erinnerung gerufen, dass wir bei der Diskussion der Bandstruktur und der
Dynamik von Elektronen in Festkörpern von wechselwirkungsfreien Teilchen ausgegangen
sind. Die Wechselwirkung der Elektronen mit dem Gitter oder auch ihre gegenseitige Wech-
selwirkung konnten wir durch eine effektive Masse berücksichtigen und wir hatten es dann
wieder mit quasifreien Teilchen, die nicht miteinander wechselwirken, zu tun. Dies ist bei
der Behandlung der Supraleitung nicht mehr möglich.
Nach der Entwicklung der sehr erfolgreichen phänomenologischen Theorien durch Fritz
und Heinz London in den 1930er Jahren sowie durch V. L. Ginzburg und L. D. Landau
in den frühen 1950er Jahren, gelang es J. Bardeen, L. N. Cooper und J. R. Schrieffer erst
1957, mit der nach ihnen benannten BCS-Theorie eine erste mikroskopische Beschreibung
der Supraleitung zu erreichen. Das Kernelement der BCS-Theorie ist eine attraktive Wech-
selwirkung zwischen den Leitungselektronen. Cooper konnte 1956 zeigen, dass selbst eine
schwache anziehende Wechselwirkung zur Paarbildung von Leitungselektronen führen
kann und damit zu einer Instabilität des Fermi-Gases der Leitungselektronen führt.132 Bar-
deen, Cooper und Schrieffer entwickelten daraus eine selbstkonsistente Formulierung des
supraleitenden Zustands, der durch die Kondensation von gepaarten Elektronen in einen

129
P. Chaudhari, J. Mannhart, D. Dimos, C. C. Tsuei, J. Chi, M. M. Oprysko, and M. Scheuermann,
Direct measurement of the superconducting properties of single grain boundaries in YBa2 Cu3 O7−δ ,
Phys. Rev. Lett. 60, 1653 (1988).
130
R. Gross, P. Chaudhari, A. Gupta, G. Koren, Thermally Activated Phase Slippage in High-Tc Grain
Boundary Josephson Junctions, Phys. Rev. Lett. 64, 228 (1990).
131
R. Gross, B. Mayer, Transport Processes and Noise in YBa2 Cu3 O7−δ Grain Boundary Junctions, Phy-
sica C 180, 235 (1991).
132
L. N. Cooper, Bound Electron Pairs in a Degenerate Fermi Gas, Phys. Rev 104, 1189–1190 (1956).
848 13 Supraleitung

𝒌𝟏 + 𝒒, 𝝈𝟏
𝒌𝟐 − 𝒒, 𝝈𝟐

𝒌𝟏 , 𝝈𝟏
Abb. 13.32: Feynman-Diagramm des Beitrags zur Elek- 𝒌𝟐 , 𝝈𝟐
tron-Elektron-Wechselwirkung durch Austausch ei-
nes virtuellen Phonons oder anderen Austauschbosons.

Bosonen-artigen Grundzustand zustandekommt.133 , 134 Die gepaarten Elektronen nennen


wir Cooper-Paare.
Wechselwirkungen beschreiben wir heute allgemein mit Hilfe von Austauschbosonen, wie
es in Abb. 13.32 gezeigt ist. Bardeen, Cooper und Schrieffer gingen damals von quantisierten
Gitterschwingungen (Phononen) als Austauschbosonen aus. Hinweise darauf kamen aus der
Beobachtung, dass die Sprungtemperatur eines supraleitenden Elements von der Isotopen-
masse der Atome und somit von der Frequenz der Gitterschwingungen abhängt.135 , 136 Dieser
Zusammenhang wird als Isotopen-Effekt bezeichnet. Ein Beispiel dafür ist in Abb. 13.33 ge-
zeigt. Wir erkennen, dass die Sprungtemperatur Tc von Zinn proportional zur reziproken ⌋︂
Atommasse M und damit proportional zur Frequenz der Gitterschwingungen ω q ∝ 1⇑ M
der untersuchten Proben ist [vergleiche hierzu (5.2.12) und (5.2.33)]. Die genaue Art des

Sn
0.580

0.575
log (Tc / K)

Abb. 13.33: Sprungtempe- 𝑻𝒄 ∝ 𝟏/ 𝑴


Maxwell
ratur von Zinn als Funktion 0.570
Lock et al.
der Isotopenmasse im loga-
rithmischen Maßstab (nach Serin et al.
E. Maxwell, Phys. Rev. 86, 235 0.565
(1952); B. Serin, C. A. Reynolds,
C. Lohman, Phys. Rev. 86, 162
(1952); J. M. Lock, A. B. Pip- 0.560
pard, D. Shoenberg, Proc. Cam- 2.06 2.07 2.08 2.09
bridge Phil. Soc. 47, 811 (1951)). log (M / bel. Einh.) 174

133
J. Bardeen, L. N. Cooper, J. R. Schrieffer, Microscopic Theory of Superconductivity, Phys. Rev. 106,
162–164 (1957).
134
J. Bardeen, L. N. Cooper, J. R. Schrieffer, Theory of Superconductivity, Phys. Rev. 108, 1175 (1957).
135
C. A. Reynolds, B. Serin, W. H. Wright, L. B. Nesbitt, Superconductivity of Isotopes of Mercury, Phys.
Rev. 78, 487 (1950).
136
E. Maxwell, Isotope Effect in the Superconductivity of Mercury, Phys. Rev. 78, 477 (1950).
13.5 Mikroskopische Theorie 849

Austauschbosons spielt aber in der BCS-Theorie keine Rolle. Neben Phononen kommen an-
dere bosonische Anregungen in Festkörpern wie z. B. Magnonen, Polaronen, Plasmonen etc.
in Frage. Während wir heute wissen, dass in den klassischen metallischen Supraleitern Pho-
nonen für die attraktive Wechselwirkung verantwortlich sind, vermitteln diese Wechselwir-
kung in suprafluidem 3 He und vermutlich auch in den supraleitenden Kupraten Spinfluk-
tuationen.

13.5.1 Attraktive Elektron-Elektron-Wechselwirkung und


Cooper-Paare
Die experimentellen Befunde (perfekte elektrische Leitfähigkeit, Meißner-Effekt) ließen be-
reits früh vermuten, dass es sich bei dem Phänomen Supraleitung um ein Ordnungsphä-
nomen der Leitungselektronen handelt. Welche mikroskopische Wechselwirkung aber zu
diesem Ordnungsphänomen führt und wie die Ordnung der Leitungselektronen genau aus-
sieht, blieb lange Zeit unklar. Das Problem besteht darin, dass die Leitungselektronen auf-
grund des Pauli-Verbots sehr hohe Geschwindigkeiten (die Fermi-Geschwindigkeit liegt bei
einigen 106 m/s, was etwa 1% der Lichtgeschwindigkeit entspricht) und damit hohe kine-
tische Energie besitzen (die Fermi-Energie liegt bei einigen eV und somit die zugehörige
Fermi-Temperatur im Bereich von mehr als 10 000 K). Der Übergang in den supraleitenden
Zustand erfolgt dagegen bei nur wenigen Kelvin, woraus wir eine Wechselwirkungsstärke
im Bereich von meV ableiten können. Das heißt, um das Phänomen Supraleitung zu er-
klären, müssen wir eine Wechselwirkung finden, die trotz der hohen kinetischen Energie
der Leitungselektronen zu einer Ordnung im Elektronensystem führt. Anfangs hatte man
gedacht, dass ein Ordnungsprozess der Leitungselektronen über die Coulomb-Wechselwir-
kung (Heisenberg,137 1947) oder magnetische Wechselwirkungen (Welker,138 1929) erklärt
werden kann. Diese und andere Versuche139 führten aber alle zu keiner zufriedenstellenden
Erklärung der Supraleitung.

13.5.1.1 Attraktive Wechselwirkung durch Austausch virtueller Phononen


Seit 1950 war aus der Beobachtung des Isotopeneffekts bekannt, dass die Sprungtemperatur
von supraleitenden Elementen von der Isotopenmasse der Atome abhängt. Dadurch wurde
klar, dass das Kristallgitter eine wichtige Rolle für das Phänomen Supraleitung spielt. Von
H. Fröhlich140 , 141 und unabhängig davon auch von J. Bardeen142 , 143 wurde deshalb Anfang
der 1950er Jahre eine attraktive Wechselwirkung zwischen Leitungselektronen angegeben,
137
W. Heisenberg, Zur Theorie der Supraleitung, Z. Naturforschung 2a, 185 (1947).
138
H. Welker, Supraleitung und magnetische Austauschwechselwirkung, Z. Phys. 114, 525 (1929).
139
M. Born, K. C. Cheng, Theory of Superconductivity, Nature 161, 968 und 1017 (1948).
140
H. Fröhlich, Theory of the Superconducting State: I. The Ground State at the Absolute Zero of Tem-
perature, Phys. Rev. 79, 845 (1950).
141
H. Fröhlich, Interaction of Electrons with Lattice Vibrations, Proc. Roy. Soc. London A 215, 291
(1952).
142
J. Bardeen, Wave Functions for Superconducting Electrons, Phys. Rev. 80, 567 (1950).
143
J. Bardeen, D. Pines, Electron-Phonon Interaction in Metals, Phys. Rev. 99, 1140 (1955).
850 13 Supraleitung

die über das Kristallgitter vermittelt wird. Ausgehend von dieser Wechselwirkung schlugen
dann im Jahr 1957 Bardeen, Cooper und Schrieffer die BCS-Theorie vor, die eine Vielzahl
von experimentellen Befunden quantitativ auf einer mikroskopischen Basis erklären konnte.
Es stellt sich natürlich sofort die Frage, wie das Matrixelement V (k1 , k2 , q) für die Streu-
ung eines Elektrons mit Wellenvektor k1 nach k1′ = k1 + q unter simultaner Streuung eines
zweiten Elektrons von k2 nach k2′ = k2 − q aussieht. Das Ergebnis ist für die reine Coulomb-
Wechselwirkung gut bekannt:

e2
V (q) = . (13.5.1)
є0 q2

Das Matrixelement ist positiv, was wir für die abstoßende Wechselwirkung von gleich-
namigen Ladungen erwarten. In einem Medium müssen wir zusätzlich die dielektri-
sche Funktion є(q, ω) berücksichtigen, die sowohl vom Streuvektor q als auch der Fre-
quenz ω = (︀E(k′ ) − E(k)⌋︀⇑ħ abhängt. Das Matrixelement lässt sich damit schreiben als

e2
V (ω, q) = . (13.5.2)
є(q, ω)є 0 q 2

Eine frequenz- und impulsabhängige dielektrische Funktion є(q, ω) ist notwendig, da sich
das erste Elektron, während es von k1 nach k1′ gestreut wird, in einem Mischzustand befin-
det.144 Dieser enthält eine oszillierende Ladungsverteilung, die durch ω und q charakterisiert
wird. Wir sehen, dass das Medium die reine Coulomb-Wechselwirkung reduziert, indem die
nackten Ladungen abgeschirmt werden. Es ist jedoch schwierig zu sehen, wie das Medium
das Vorzeichen der Wechselwirkung ändern kann, um eine attraktive Wechselwirkung zu
erzeugen. Offenbar können wir einen solchen Vorzeichenwechsel dadurch erhalten, indem
wir є(q, ω) negativ machen. Dies ist in der Tat möglich, wie wir bereits in Abschnitt 11.7.3 bei
der Diskussion der Abschirmung von Gitterschwingungen in Metallen detailliert diskutiert
haben. Aus der dort abgeleiteten Gleichung (11.7.70) können wir z. B. die Wechselwirkungs-
energie zu

e2 e2 ⎛ ̃ 2 (q) ⎞

V (ω, q) = = +
p
1 (13.5.3)
є(q, ω)є 0 q 2 є 0 (k s + q ) ⎝
2 2
ω −Ω
2 ̃ 2p (q) ⎠

ableiten. Hierbei ist k s die Thomas-Fermi Wellenzahl [vergleiche (11.7.20)] und Ω ̃2 =


p
Ω p ⇑(︀1 + (k s ⇑q )⌋︀ kann als eine q-abhängige Plasmafrequenz der abgeschirmten Ionen in
2 2 2

einem Metall aufgefasst werden. Falls die Energiedifferenz der wechselwirkenden Elek-
̃ p (q), wird der Nenner in (13.5.3)
tronen klein genug ist, d. h. falls (E k − E k′ )⇑ħ = ω < Ω
negativ.
Um eine erste Idee für die gittervermittelte attraktive Elektron-Elektron-Wechselwirkung
zu geben, wird häufig ein statisches Modell verwendet. In diesem Modell führt ein Elektron
zu einer elastischen Verzerrung des Gitters, indem es die es umgebenden positiv geladenen
144
Wir weisen darauf hin, dass є(q, ω) komplex ist und das effektive Matrixelement für die Wech-
selwirkung durch Austausch virtueller Phononen durch den Realteil von (13.5.2) gegeben ist. Der
Imaginärteil ist mit der Streuung an realen Phononen verknüpft.
13.5 Mikroskopische Theorie

(a) + (b) (c)


+
851

+ +
+ + + + + +
- Elektron 1
+ +
Elektron 2
+
- +
+ + + +
+
Abb. 13.34: Reaktion der positiven Ionenrümpfe in einem Metall auf die negative Ladung eines Elek-
trons. (a) Zum Zeitpunkt t = 0 zieht das Elektron die positiven Ionen Richtung Zentrum. (b) Für 0 <
t < τ hat sich das Elektron bereits weiterbewegt, die positive Raumladung bleibt allerdings zurück, da
die Ionen nur langsam reagieren können. (c) Für t ≤ τ ist ein zweites Elektron im Zentrum angekom-
men und erfährt eine Energieabsenkung aufgrund der vorhandenen positiven Raumladung. Insgesamt
erhalten wir eine attraktive Elektron-Elektron Wechselwirkung.

Atomrümpfe anzieht. Für ein zweites Elektron stellt diese positive Ladungsanhäufung eine
Potenzialmulde dar. Es wird deshalb angezogen.145 Dieses sehr einfache Bild ist allerdings mit
Vorsicht zu genießen, da es suggeriert, dass eine Paarung im Ortsraum stattfindet und dass
die Paare, wenn sie einmal gebildet sind, zeitlich stabil bleiben (wie z. B. ein Wasserstoffmo-
lekül). Dies entspricht aber nicht der Realität. Vielmehr findet eine Paarung im Impulsraum
statt und die mittlere Lebensdauer eines Cooper-Paares ist sehr kurz.
Eine bessere Vorstellung können wir gewinnen, wenn wir zu einem dynamischen Modell
übergehen. Dabei gehen wir davon aus, dass die Elektronen bei ihrer Bewegung durch das
Kristallgitter dieses verzerren, da sie die positiven Ionenrümpfe beim Vorbeiflug anziehen
(siehe Abb. 13.34a). Dadurch bildet sich in ihrer Spur eine positive Ladungswolke, die ihrer-
seits wiederum Elektronen anziehen kann. Das Entscheidende ist nun, dass diese positive
Ladungswolke nicht instantan, sondern nur innerhalb einer Zeitskala τ = 1⇑ω q relaxieren
kann, wobei ω q die Frequenz der Gitterschwingung ist. Das Elektron gibt einem positiven
Ion beim Vorbeiflug nämlich einen Kraftstoß in Richtung der Elektronenbahn, wodurch das
Ion aus seiner Gleichgewichtslage ausgelenkt wird. Es dauert dann aber eine Zeit der Grö-
ßenordnung τ, bis das Ion wieder in seiner Ruhelage angekommen ist.146 Wir sehen also, dass
für ein bestimmtes Zeitintervall τ die langsamen Ionen die negative Ladung des Elektrons
abschirmen, obwohl sich dieses längst weiterbewegt hat (siehe Abb. 13.34b). Diesen Effekt
nennt man Überabschirmung. Innerhalb dieses Zeitintervalls kann nun ein zweites Elektron
an die gleiche Stelle gelangen und sieht dann die positive Raumladung (siehe Abb. 13.34c).
Dieses zweite Elektron erfährt dadurch eine Energieabsenkung, was einer effektiven attrak-
tiven Wechselwirkung entspricht. Wir können diese intuitive Bild auch verwenden, um die
Reichweite der attraktiven Wechselwirkung abzuschätzen. Ein Elektron kann in der Zeit τ
maximal die Strecke v F τ zurücklegen. Da die Fermi-Geschwindigkeit v F für Metalle eini-
145
Zur Veranschaulichung wird oft eine elastische Membran verwendet, auf die man eine Kugel legt.
Die durch das Gewicht der Kugel erzeugte Mulde in der Membran führt dazu, dass eine zweite
Kugel in diese Mulde rollt, also von der anderen Kugel angezogen wird.
146
Wir können dies einfach ausprobieren, indem wir an einem ruhenden Pendel vorbeilaufen und
dieses im Vorbeilaufen durch einen Kraftstoß auslenken. Wir können dann noch eine beträchtliche
Strecke weiterlaufen, bevor das Pendel wieder in seine Ruhelage zurückgeschwungen ist.
852 13 Supraleitung

ge 106 m/s beträgt und die untere Schranke von τ durch 1⇑ω D gegeben ist und somit im
Bereich von 10−14 bis 10−13 s liegt, erhalten wir eine untere Grenze für die Laufstrecke von
etwa 10–100 nm. Wir sehen, dass durch die verzögerte Reaktion der Ionen zwei wechsel-
wirkende Elektronen weit voneinander entfernt sein können. Dies ist essentiell wichtig, da
sonst die abstoßende Coulomb-Wechselwirkung dominieren würde. Aufgrund der verzö-
gerten Reaktion der langsamen Ionen sprechen wir von einer retardierten Wechselwirkung.

13.5.1.2 Cooper-Paare
Nachdem wir eine anschauliche Vorstellung dafür entwickelt haben, wie eine attraktive
Wechselwirkung zwischen Leitungselektronen über das Kristallgitter zustande kommen
kann, müssen wir uns überlegen, wie wir das Wechselwirkungspotenzial beschreiben kön-
nen und zwischen welchen Elektronen die attraktive Wechselwirkung maximal wird. Wir
gehen dazu von einem Gas freier Elektronen bei T = 0 aus, bei dem alle Zustände bis zur
Fermi-Energie E F = ħ 2 k F2 ⇑2m besetzt sind. In einem Gedankenexperiment addieren wir
nun zwei weitere Elektronen hinzu, die über das Gitter miteinander wechselwirken können.
Den Wechselwirkungsprozess beschreiben wir durch den Austausch von virtuellen Phono-
nen mit dem Wellenvektor q. Wir sprechen von einem virtuellen Phonon, da dieses von
dem einen Elektron erzeugt und innerhalb der Zeitunschärfe ∆t = 1⇑ω q von dem anderen
sofort wieder absorbiert werden muss, um die Energieerhaltung zu gewährleisten. Nach
dem Austausch des virtuellen Phonons besitzen die beiden Elektronen mit ursprünglichen
Wellenvektoren k1 und k2 die Impulse

k1′ = k1 + q k2′ = k2 − q . (13.5.4)

Der Gesamtimpuls

K = k1 + k2 = k1′ + k2′ = K′ (13.5.5)

bleibt erhalten. Da für T = 0 alle Zustände unterhalb von E F besetzt sind, sind für die bei-
den zusätzlichen Elektronen nur Zustände oberhalb von E F zugänglich. Da ferner die ma-
ximale Energie für Phononen durch ħω D gegeben ist [hierbei ist ω D die Debye-Frequenz,
vergleiche (6.1.49)], spielt sich die Wechselwirkung in einem Energiebereich zwischen E F
und E F + ħω D ab. Der zugehörige Bereich im k-Raum entspricht einer Kugelschale mit Ra-
dius k F und Dicke ∆k ≃ mω D ⇑ħk F , wobei wir ħω D ≪ E F angenommen haben.147 Da wir
die Impulserhaltung (13.5.4) erfüllen müssen, sind für einen vorgegebenen Gesamtwellen-
vektor K Wechselwirkungsprozesse nur für Wellenvektoren aus einem bestimmten Phasen-
raumvolumen möglich. Wie in Abb. 13.35 gezeigt ist, müssen die Wellenvektoren innerhalb
der Schnittmenge der um K gegeneinander verschobenen Kugelschalen mit Breite ∆k liegt.
Wir sehen sofort, dass das Phasenraumvolumen für die attraktive Wechselwirkung für K = 0
maximal wird. Die Wechselwirkung kann dann über die gesamte Fermi-Oberfläche wirksam
werden. Wir können daraus folgern, dass die attraktive Elektron-Elektron-Wechselwirkung
durch Austausch virtueller Phononen für Elektronenpaare mit Wellenvektoren k1 = −k2 op-
timal wird. Wir nennen solche Elektronen Cooper-Paare und kennzeichnen sie im Folgen-
den mit (k, −k).
147
Es gilt ħ 2 k F2 ⇑2m + ħω D = ħ 2 (k F + ∆k)2 ⇑2m ≃ ħ 2 (k F2 + 2k F ∆k)⇑2m, woraus wir ∆k ≃ mω D ⇑ħk F
erhalten.
13.5 Mikroskopische Theorie 853

(a) (b)
𝚫𝒌
𝒒
𝒌𝟏 𝒌
𝒌𝟐
−𝒌′ 𝒌′
𝑲
−𝒌
−𝒒

Abb. 13.35: (a) Zur Veranschaulichung der Impulserhaltung bei der Paarwechselwirkung. Die mögli-

𝑲 = 𝒌der
chen Endzustände müssen wegen 𝟏 +𝒌 𝟐 >𝟎
Erhaltung 𝑲 = 𝒌𝟏 K
des Gesamtimpulses, +𝒌=𝟐K=, 𝟎innerhalb der Schnitt-
fläche der beiden farbig hinterlegten Kugelschalen der Breite ∆k liegen. In drei Dimensionen ist das
Schnittvolumen ein Torus. (b) Typischer Streuprozess für ein Cooper-Paar (k, −k). Für K = K′ = 0
ℏ2 𝑘𝐹2 Kugelschalen
wird die Schnittfläche der beiden ℏ2 𝑘𝐹2 + 2𝑘𝐹 Δ𝑘
ℏ2 𝑘 + Δ𝑘maximal.
2 ℏ2 𝑘𝐹2 ℏ2 𝑘𝐹 Δ𝑘
+ ℏ𝜔𝐷 = ≃ = +
2𝑚 2𝑚 2𝑚 2𝑚 𝑚
𝒎𝝎𝑫
𝚫𝒌 =
Wir diskutieren als nächstes die Wellenfunktion ℏ𝒌 𝑭
eines
Cooper-Paares und ihre Energieei-
genwerte. Dazu setzen wir für ein Elektronenpaar aus Elektronen mit Wellenvektoren 179
k1 =
−k2 = k die Zweiteilchenwellenfunktion als Produkt von zwei ebenen Wellen an, das heißt,
Ψ(r1 , r2 ) = a exp(ık1 ⋅ r1 ) exp(ık2 ⋅ r2 ) = a exp(ık ⋅ r), wobei wir die Relativkoordinate r =
r1 − r2 benutzt haben. Wie Abb. 13.35b zeigt, werden die zu einem Paar korrelierten Elek-
tronen ständig in neue Zustände mit anderen Wellenvektoren gestreut, die aber immer anti-
parallel stehen müssen. Wir setzen deshalb für die Paarwellenfunktion eine Überlagerung
aus Produktwellenfunktionen an:
k F +∆k
Ψ(r1 , r2 ) = ∑ a k e ık⋅r . (13.5.6)
k=k F

Hierbei gibt ⋃︀a k ⋃︀2 die Wahrscheinlichkeit an, ein spezielles Elektronenpaar mit Wellenvekto-
ren (k, −k) anzutreffen. Da für T = 0 der Wechselwirkungsbereich auf Energien zwischen E F
und E F + ħω D beschränkt ist, muss der Wellenvektor der wechselwirkenden Elektronen im
Bereich zwischen k F und k F + ∆k liegen. Elektronen mit k < k F können nicht an der Wech-
selwirkung teilnehmen, da hier nach unserer obigen Annahme alle Zustände besetzt sind
und deshalb keine Streuzustände frei sind. Wir werden später sehen, dass im Gegensatz zu
dem hier gemachten Gedankenexperiment in Supraleitern selbst bei T = 0 die Fermi-Vertei-
lung aufgeweicht ist, um die attraktive Wechselwirkung einer großen Zahl von Elektronen
zu ermöglichen. Dazu muss zunächst die kinetische Energie des Elektronensystems erhöht
werden, was aber durch den Gewinn an potenzieller Wechselwirkungsenergie überkompen-
siert wird.
Wir nehmen nun an, dass das Wechselwirkungspotenzial V nur von der Relativkoordinate r
abhängt. Die Schrödinger-Gleichung für das Elektronenpaar lautet dann

ħ2
− (∇2 + ∇22 )Ψ(r1 , r2 ) + V (r)Ψ(r1 , r2 ) = EΨ(r1 , r2 ) . (13.5.7)
2m 1
In das Wechselwirkungspotenzial geht sowohl die abstoßende Coulomb-Wechselwirkung
als auch die oben beschriebene attraktive Wechselwirkung ein. Der genaue Potenzialverlauf
ist nicht bekannt, ist aber für die nun folgende Diskussion unwichtig. Um die Schrödinger-
Gleichung zu lösen, setzen wir den Lösungsansatz (13.5.6) in (13.5.7) ein und multiplizieren
mit exp(−ık′ ⋅ r). Integrieren wir dann über das gesamte Probenvolumen Ω, so verschwindet
854 13 Supraleitung

das Integral über exp(︀ı(k − k′ ) ⋅ r⌋︀ für k ≠ k′ und ist gleich dem Probenvolumen für k = k′ .
Wir erhalten somit
k F +∆k
ħ2 k2 ′
a k Ω + ∑ a k ′ ∫ V (r)e ı(k−k )⋅r dV = Ea k Ω . (13.5.8)
m k ′ =k F Ω

Benutzen wir für das Streuintegral, das die Wahrscheinlichkeit für einen Streuprozess von k
nach k′ angibt, die Abkürzung148

Vk,k ′ = V (k − k′ ) = V (q)
1 ′ 1
= ∫ V (r)e ı(k−k )⋅r dV = ∫ V (r)e ıq⋅r dV , (13.5.9)
Ω Ω
Ω Ω

so erhalten wir
k F +∆k
ħ2 k2
(E − ) a k = ∑ a k ′ Vk,k ′ . (13.5.10)
m k ′ =k F

Um das Problem zu lösen, müssen wir die Matrixelemente Vk,k ′ kennen. Ein mögliches
Wechselwirkungspotenzial V (q), das wir in Abschnitt 11.7.3 im Zusammenhang mit der
Abschirmung von Phononen in Metallen abgeleitet haben, ist z. B. durch (13.5.3) gegeben.
Cooper nahm nun vereinfachend eine vollkommen isotrope Wechselwirkung an, so dass die
Matrixelemente für das gesamte Intervall k F < k ′ , k < k F + ∆k den konstanten Wert Vk,k ′ =
−V0 annehmen und sonst verschwinden:
)︀
⌉︀
⌉︀−V0 für k F < k ′ , k < k F + mω D
V k,k ′ = ⌋︀ ħk F . (13.5.11)
⌉︀
⌉︀
]︀0 sonst

Damit vereinfacht sich Gleichung (13.5.10) zu


k F +∆k
1
a k = V0 ∑ a k′ . (13.5.12)
− E k ′ =k F
ħ 2 k2
m

Diesen Ausdruck können wir weiter vereinfachen, indem wir auf beiden Seiten über al-
le k aufsummieren. Da das Ergebnis nicht von der Benennung der Wellenvektoren abhängt,
gilt ∑ k a k = ∑ k ′ a k ′ und wir erhalten
k F +∆k
1
1 = V0 ∑ . (13.5.13)
k=k F
ħ 2 k2
m
−E

̃
Wir führen nun eine Paarzustandsdichte D(E) ≃ D(E)⇑2 ein und ersetzen die Summation
durch eine Integration. Dabei nehmen wir an, dass die elektronische Zustandsdichte D(E)
(für beide Spinrichtungen) in dem schmalen Energiebereich ħω D ≪ E F gut durch die Zu-
standsdichte bei der Fermi-Energie D(E F ) beschrieben wird. Der Faktor 1⇑2 resultiert aus
148
Vk,k′ steht für Vk1 ,k2 ,q mit k1 = k, k2 = −k und q = k − k′ .
13.5 Mikroskopische Theorie 855

der Tatsache, dass wir es mit Elektronenpaaren zu tun haben.149 Benutzen wir noch die Ab-
kürzung є = ħ 2 k 2 ⇑2m, so können wir (13.5.13) wie folgt umschreiben:
E F +ħω D
D(E F ) dє
1 = V0 ∫ . (13.5.14)
2 2є − E
EF

Führen wir die Integration aus und lösen nach E auf, so erhalten wir

2ħω D e−4⇑D(E F )V0


E = 2E F − . (13.5.15)
1 − e−4⇑D(E F )V0
Für den Fall einer schwachen Wechselwirkung D(E F )V0 ≪ 1 (wir werden später sehen, dass
typischerweise D(E F )V0 ∼ 0.1) können wir diesen Ausdruck vereinfachen zu:150

E ≃ 2E F − 2ħω D e−4⇑D(E F )V0 . (13.5.16)

Wir sehen, dass die Energie der wechselwirkenden Elektronen kleiner als 2E F ist. Das bedeu-
tet, dass wir einen gebundenen Zweielektronenzustand (Cooper-Paar) erhalten haben. Wir
haben in unserem Gedankenexperiment nur zwei Elektronen betrachtet, die wir dem System
bei T = 0 zugeführt haben. Wir werden später sehen, dass in Wirklichkeit alle Elektronen
in einem bestimmten Energieintervall um E F miteinander in Wechselwirkung stehen. Dies
führt zur Ausbildung von Paarzuständen, deren Energie gegenüber der Energie der freien
Elektronen abgesenkt ist. Dadurch wird das Gas der wechselwirkungsfreien Elektronen in-
stabil gegenüber Paarbildung. Diese Instabilität verursacht einen Übergang in einen neuen
Grundzustand des Elektronensystems, den so genannten BCS-Grundzustand, dessen Eigen-
schaften wir im nächsten Abschnitt diskutieren werden.
Die Bindungsenergie der Cooper-Paare wird außer durch die Wechselwirkungsstärke V0
durch die maximale Energie ħω D der Phononen bestimmt. Da ħω D ≪ E F und außer-
dem 1⇑D(E F )V0 ebenfalls meist wesentlich kleiner als eins ist, wird sofort klar, dass die
Übergangstemperaturen von klassischen Supraleitern niedrig sind. Die Wellenfunkti-
on (13.5.6) eines Cooper-Paares enthält eine Überlagerung von Wellenvektoren aus dem
Bereich k F < k < k F + ∆k, so dass wir ihm keinen definierten Wellenvektor mehr zuordnen
können. Der Ausdruck (13.5.12) für die Wichtungsamplituden a k zeigt allerdings, dass
diejenigen Zustände das größte Gewicht besitzen, deren kinetische Energie vergleichbar
149
Wir möchten darauf hinweisen, dass D(E F ) die Zustandsdichte pro Energieintervall für beide
Spinrichtungen ist. In manchen Lehrbüchern wird auch die Zustandsdichte N(E F ) = D(E F )⇑2 für
eine Spin-Richtung benutzt. In diesem Fall ist die Paarzustandsdichte gerade durch N(E F ) gege-
ben.
150
Wir haben in unserem Gedankenexperiment angenommen, dass alle Zustände unterhalb von E F
besetzt und deshalb nicht für Streuprozesse zugänglich sind. In manchen Lehrbüchern wird da-
gegen angenommen, dass für die Streuprozesse alle Zustände im Energieintervall ±ħω D um die
Fermi-Energie zugänglich sind. Dann muss die Integration in (13.5.14) von E F − ħω D bis E F + ħω D
erfolgen und wir erhalten in dem Exponentialterm 2⇑D(E F )V0 statt 4⇑D(E F )V0 . Wir werden spä-
ter in der Tat sehen, dass im Supraleiter selbst bei T = 0 die Fermi-Verteilung aufgeweicht ist und
somit auch bei T = 0 Zustände unterhalb von E F für die Paarwechselwirkung zur Verfügung ste-
hen.
856 13 Supraleitung

Abb. 13.36: Zur räumlichen Überlappung der Cooper-


Paare. Aufgrund des großen Volumens eines einzel-
nen Cooper-Paares, dargestellt durch einen Kreis,
der eine bläuliche Elektronenwolke enthält, befin-
den sich innerhalb des Volumens, das ein Cooper-
Paar einnimmt, eine sehr große Zahl von weite-
ren Cooper-Paaren. Für klassische metallische Su-
praleiter liegt diese Zahl weit oberhalb von 106 .

mit E F ist, also Elektronen bei der Fermi-Energie. Wir wollen noch darauf hinweisen, dass
die oben geführte Diskussion auch für andere Austauschbosonen gilt. Wir müssen nur
die für Phononen geltende Energieskala ħω D durch die charakteristische Energieskala des
neuen Austauschbosons ersetzen und die Wechselwirkung Vk,k ′ entsprechend wählen.
Wir haben oben bereits erwähnt, dass wir die untere Grenze für die Reichweite der
attraktiven Wechselwirkung in Metallen zu v F τ = v F ⇑ω D ≃ 10–100 nm abschätzen kön-
nen. Das gleiche Ergebnis erhalten wir aus der Unschärferelation. Aus ∆x∆k > 1 folgt
mit ∆k < mω D ⇑ħk F = ω D ⇑v F sofort ∆x ≃ 1⇑∆k < v F ⇑ω D . Wir können daraus folgern, dass
die Cooper-Paare in klassischen metallischen Supraleitern eine charakteristische „Grö-
ße“ besitzen, deren obere Schranke zwischen 10 und 100 nm liegt. Dies gilt auch für die
Ginzburg-Landau Kohärenzlänge ξ GL , da sich die Dichte der Cooper-Paare ja nicht auf
einer Längenskala ändern kann, die wesentlich kleiner als die Ausdehnung der Paare selbst
ist. Die Tatsache, dass die „Größe“ eines Cooper-Paares mindestens im Bereich zwischen 10
und 100 nm liegt, macht sofort deutlich, dass sich bei einer Elektronendichte von typi-
scherweise 1022 bis 1023 cm−3 in Metallen innerhalb des Volumens eines Cooper-Paares
eine enorm hohe Zahl von typischerweise weit mehr als 1 Million weiterer Cooper-Paare
befindet. Dies ist in Abb. 13.36 schematisch veranschaulicht. Wir können uns leicht vorstel-
len, dass sich aufgrund dieses starken Überlapps ein kohärenter Vielteilchenzustand aller
Cooper-Paare ausbildet.

13.5.1.3 Symmetrie der Paarwellenfunktion


Für Fermionen muss die Gesamtwellenfunktion Ψ(r1 , r2 )χ(σ1 , σ2 ), die neben dem Ortsan-
teil Ψ(r1 , r2 ) auch den Spin-Anteil χ(σ1 , σ2 ) enthält, antisymmetrisch sein:

1
Ψ(r1 , σ1 , r2 , σ2 ) = ⌋︂ e ıKS ⋅R f (r1 − r2 )χ(σ1 , σ2 ) = −Ψ(r2 , σ2 , r1 , σ1 ). (13.5.17)
V
Hierbei haben wir den Ortsanteil in eine Schwerpunkts- und Relativ- oder Orbitalbewegung
aufgespalten. Es gilt R = (r1 + r2 )⇑2, r = r1 − r2 und KS = (k1 + k2 )⇑2 und wir nehmen KS =
0 an. Zu einer symmetrischen Orbitalfunktion gehört eine antisymmetrische Spin-Funktion
und umgekehrt. Wenn wir die Elektronenspins s1 = s2 = 12 und ihre Projektionen σ1 , σ2 zu
13.5 Mikroskopische Theorie 857

(a) (b) (c)

Abb. 13.37: Schematische Darstellung der Symmetrie des Orbitalanteils verschiedener Paarwellen-
funktionen: (a) s-Wellensymmetrie (L = 0), (b) p-Wellensymmetrie (L = 1) und (c) d-Wellensymme-
trie (L = 2). Die Farben entsprechen unterschiedlichen Vorzeichen bzw. einer Phasenänderung von π.

einem Gesamtspin S mit magnetischer Quantenzahl m s koppeln, erhalten wir


182

)︀
⌉︀ = χ =
a ⌋︂1 (↑↓ − ↓↑)
⌉︀
⌉︀
⌉︀
0, m s 0 2
(Singulett-Paarung)
⌉︀
⌉︀
⌉︀ )︀−1 =↓↓
⌉︀
⌉︀
⌉︀
S = ⌋︀ ⌉︀ . (13.5.18)
⌉︀
⌉︀
⌉︀1, m s = ⌋︀ 0 χ s = ⌋︂12 (↑↓ + ↓↑) (Triplett-Paarung)
⌉︀
⌉︀
⌉︀ ⌉︀
⌉︀
⌉︀ ⌉︀
⌉︀
]︀ ]︀+1 =↑↑

Der Spin-Anteil ist antisymmetrisch für Singulett-Paarung und symmetrisch für Triplett-
Paarung. Dies erfordert, dass die zugehörige Orbitalfunktion gerade symmetrisch bzw. anti-
symmetrisch ist. Deshalb können wir die Orbitalwellenfunktion durch die orbitalen Quan-
tenzahlen L = 0, 2, . . . für Singulett-Paarung bzw. L = 1, 3, . . . für Triplett-Paarung klassifi-
zieren. Die zugehörige Paarung können wir dann als s-, d-, . . . wellenartig bzw. p-, f -, . . .
wellenartig bezeichnen. Insgesamt erhalten wir

Singulett-Paarung: S=0 L = 0, L = 2 L = 4 . . . (13.5.19)


Triplett-Paarung: S=1 L = 1, L = 3 L = 5 . . . . (13.5.20)

In Abb. 13.37 sind die räumlichen Strukturen einer s-, p- und d-Ortswellenfunktion gezeigt.
Mit der oben gemachten Annahme Vk,k ′ = −V0 hängt die Wechselwirkung nur vom Betrag
von k ab, weshalb der Bahnanteil der Wellenfunktion isotrop, also symmetrisch sein muss.
Der Spin-Anteil der Wellenfunktion muss somit antisymmetrisch sein. Dies wird durch
einen Spin-Singulett-Zustand (S = 0) erfüllt, bei dem die Spins der beiden Elektronen
anti-parallel stehen. Dadurch können wir das Cooper-Paar im einfachsten Fall durch die
Quantenzahlen

(k ↑, −k ↓) Spin-Singulett Cooper-Paar (L = 0, S = 0) (13.5.21)

vollständig charakterisieren.
Wir wollen an dieser Stelle darauf hinweisen, dass die Wechselwirkung Vk,k ′ in vielen Su-
praleitern mehr oder weniger stark von der Richtung von k abhängt und daher andere Sym-
metrien des Ordnungsparameters bevorzugt werden. So besitzt zum Beispiel für die Ku-
prat-Supraleiter der Bahnanteil eine symmetrische d-Wellenfunktion (L = 2) und der Spin-
Anteil deshalb einen antisymmetrischen Spin-Singulett (S = 0) Zustand. Für 3 He sowie für
858 13 Supraleitung

einige der so genannten Schwere-Fermionen Supraleiter und oxidische Supraleiter besitzt


der Ortsanteil eine antisymmetrische p-Wellenfunktion (L = 1), weshalb der Spin-Anteil
symmetrisch sein muss. Es liegen dann Triplett-Paare (S = 1) mit parallelem Spin vor. Für
Ortswellenfunktionen mit L > 0 verschwindet im Gegensatz zu L = 0 die Aufenthaltswahr-
scheinlichkeit für die Relativkoordinate r = 0. Das heißt, die Elektronen eines Paares gehen
sich im Ortsraum aus dem Weg. Dies ist dann energetisch günstig, wenn eine starke kurz-
reichweitige Abstoßung existiert.

13.5.2 Der BCS-Grundzustand


Wir haben im vorangegangenen Abschnitt gezeigt, dass die attraktive Wechselwirkung zwi-
schen den Leitungselektronen zu Cooper-Paaren führt, deren Energie unterhalb von E F liegt.
Wir müssen jetzt noch den Gesamtzustand des Systems analysieren. Dies ist wesentlich auf-
wändiger, da wir jetzt nicht mehr nur ein einzelnes Cooper-Paar, sondern die Gesamtheit al-
ler Elektronen betrachten müssen. Wir erwarten anschaulich, dass die Paarbildung im Elek-
tronensystem so lange weitergeht, bis sich der Fermi-See so stark geändert hat, dass die Bin-
dungsenergie von weiteren Cooper-Paaren gegen null geht. Die theoretische Beschreibung
des Gesamtsystems ist relativ schwierig und wir wollen deshalb hier nicht alle mathemati-
schen Details, sondern nur die wesentlichen Grundzüge präsentieren. Die Vorgehensweise
ist anschaulich klar. Wir müssen zuerst einen geeigneten Ansatz für die Vielteilchenwellen-
funktion finden und dann die darin auftretenden Koeffizienten durch Minimieren (z. B. mit
Hilfe einer Variationsrechnung) des mit Hilfe dieses Ansatzes bestimmten Erwartungswerts
der Grundzustandsenergie ermitteln.

13.5.2.1 Schreibweise der 2. Quantisierung


Bevor wir den BCS-Grundzustand beschreiben, führen wir kurz die dabei verwendete

Schreibweise der zweiten Quantisierung ein. Der Erzeugungsoperator c k,σ erzeugt ein
Elektron im Zustand k mit Spin σ, der Vernichtungsoperator c k,σ vernichtet ein Elektron
im Zustand k mit Spin σ.151 Der Operator (vergleiche hierzu Anhang H.2)



Vk,k′ c k,σ c†
1 −k,σ 2
c−k′ ,σ2 c k′ ,σ1 (13.5.26)
k,k′ ,σ 1 ,σ 2 )︁⌊︂⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂]︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ )︂ )︁⌊︂⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ]︂⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂)︂
Pk† Pk′

151
Es gilt
† †
c k,σ ⋃︀0̃︀ = ⋃︀1̃︀, c k,σ ⋃︀0̃︀ = 0, c k,σ ⋃︀1̃︀ = 0, c k,σ ⋃︀1̃︀ = ⋃︀0̃︀ (13.5.22)
und es gelten folgende Vertauschungsrelationen:

{c k,σ , c k†′ ,σ ′ } = c k,σ c k†′ ,σ ′ + c k†′ ,σ ′ c k,σ = δ kk′ δ σ σ ′



{c k,σ , c k′ ,σ ′ } = {c k,σ c k†′ ,σ ′ } = 0
(13.5.23)
(︀Pk , Pk′ ⌋︀ = 0 )︀Pk† , Pk†′ ⌈︀ = 0
)︀Pk , Pk†′ ⌈︀ = δ kk′ (1 − n k,σ1 − n−k,σ2 ) .
13.5 Mikroskopische Theorie 859

beschreibt in dieser Notation die Streuung eines Elektrons aus dem Zustand (k′ σ1 , −k′ σ2 )
in den Zustand (kσ1 , −kσ2 ), wobei das attraktive Zweiteilchen-Streumatrixelement Vk,k′ nur
für Wellenvektoren k und k′ innerhalb einer dünnen Schale um die Fermi-Fläche endlich
sein soll. Die Operatoren Pk† und Pk sind der Paarerzeugungs- und Paarvernichtungsope-
rator. Aufgrund der attraktiven Elektron-Elektron-Wechselwirkung gibt es eine spontane
Paarbildung unterhalb der Sprungtemperatur Tc , die wir mit dem statistischen Mittelwert

g kσ1 σ2 ≡ ∐︀c−kσ2 c kσ1 ̃︀ ≠ 0 ; †


g kσ 1 σ2
≡ ∐︀c kσ

c † ̃︀ ≠ 0
1 −kσ 2
(13.5.27)

beschreiben können. Die Mittelwerte g kσ1 σ2 und g kσ 1 σ2
sind im thermischen Gleichgewicht
nur dann ungleich null, wenn gleichzeitig die Zustände kσ1 und −kσ2 besetzt bzw. nicht be-
setzt sind, wenn also Paarkorrelationen existieren. Die Größe wird deshalb als Paaramplitu-
de bezeichnet. Da die Paare aus Fermionen aufgebaut sind, erfordert das Pauli-Prinzip, dass
die Paaramplitude antisymmetrisch gegen Vertauschung der Spins σ1 , σ2 und Wellenvekto-
ren k1 , k2 ist:

g−kσ2 σ1 = −g kσ1 σ2 . (13.5.28)

Der Spin-Anteil von g kσ1 σ2 erlaubt uns die Unterscheidung zwischen Singulett- und Triplett-
Paarung. Dies erfordert, dass g kσ1 σ2 gerade bzw. ungerade Parität hinsichtlich der Operati-
on k → −k besitzt. Da die Größe g kσ1 σ2 im Normalzustand null ist und unterhalb von Tc
kontinuierlich ansteigt, können wir sie als Ordnungsparameter betrachten. Alternativ wird
häufig die Größe

∆ kσ1 σ2 ≡ − ∑ Vk,k′ g k′ σ1 σ2 ; ∆†k′ σ1 σ2 ≡ − ∑ Vk,k′ g kσ



1 σ2
(13.5.29)
k′ k

verwendet, die wir als Paarpotenzial bezeichnen. Sie gibt den statistischen Mittelwert der
Paarwechselwirkung (13.5.26) an.

13.5.2.2 BCS-Vielteilchenwellenfunktion
Nachdem wir gesehen haben, dass wir den supraleitenden Zustand phänomenologisch
sehr gut mit einer makroskopischen Wellenfunktion ψ(r, t) = ψ 0 (r, t)e ı θ(r,t) [vergleiche
(13.3.11)], also mit einem kohärenten Vielteilchenzustand beschreiben können, ist es na-
heliegend, einen kohärenten Zustand zur Beschreibung der supraleitenden Elektronen zu
konstruieren. Für Bosonen wäre dies einfach. Es ist bekannt, dass wir für Bosonen einen
idealen kohärenten Zustand als Überlagerung von Zuständen verschiedener Teilchenzahl
konstruieren können. In der so genannten Fock-Raum-Schreibweise (nach Wladimir Alex-
androwitsch Fock) ergibt sich der kohärente Zustand ⋃︀α̃︀ als unendliche Linearkombination

Für den Teilchenzahloperator n k,σ gilt


† †
c k,σ c k,σ = n k,σ c k,σ c k,σ = 1 − n k,σ (13.5.24)
und das Pauli-Prinzip erfordert
† †
c k,σ c k,σ =0 c k,σ c k,σ = 0 . (13.5.25)
860 13 Supraleitung

von Zuständen ⋃︀ϕ n ̃︀ = ⌋︂1 (a † ) n ⋃︀0̃︀


n!
fester Teilchenzahl (Fock-Zustände) zu152

∞ ∞
⋃︀α 2 ⋃︀ αn ⋃︀α 2 ⋃︀ (αa† )n ⋃︀α 2 ⋃︀
⋃︀α̃︀ = e− −
⋃︀0̃︀ = e− 2 e(α a ) ⋃︀0̃︀ ,

2
∑ ⌋︂ ⋃︀ϕ n ̃︀ = e 2 ∑ (13.5.30)
n=0 n! n=0 n!

wobei a† der Erzeugungsoperator, ⋃︀0̃︀ der Vakuumzustand und α = ⋃︀α⋃︀e ı φ eine komplexe
Zahl ist. Der durch (13.5.30) beschriebene kohärente Zustand wurde von Erwin Schrödin-
ger bereits 1926 entdeckt,153 als er nach einem Zustand des quantenmechanischen harmoni-
schen Oszillators suchte, der dem des klassischen harmonischen Oszillators entspricht, und
wurde später von Roy J. Glauber auf den Fock-Raum übertragen.154 Die Wahrscheinlichkeit
für eine Besetzung von genau n Teilchen ist gegeben durch

⋃︀α⋃︀2n −⋃︀α⋃︀2
P(n) = ⋃︀∐︀ϕ n ⋃︀α̃︀⋃︀2 = e , (13.5.31)
n!
entspricht also einer Poisson-Verteilung. Demnach ist N = ⋃︀α⋃︀2 der Erwartungswert
⌋︂ der Be-
setzungszahl des kohärenten Zustandes und es gilt ferner ∆N⇑N = 1⇑ N und ∆N ⋅ ∆φ ≥ 12 .
Der durch (13.5.30) gegebene kohärente Zustand kann für die Beschreibung von kohären-
ten bosonischen Vielteilchenzuständen wie Laserlicht oder Bose-Einstein-Kondensaten ver-
wendet werden. Wollen wir einen ähnlichen Zustand für die Beschreibung der supraleiten-
den Elektronen verwenden, so stellt sich die Frage, wie wir einen kohärenten Zustand aus
den fermionischen Wellenfunktionen der Elektronen aufbauen können. Es war ein wesent-
liches Verdienst von Schrieffer, einen solchen Zustand zu konstruieren.
Um einen Zustand ähnlich zu (13.5.30) zu erzeugen, brauchen wir noch die Eigenschaften
von Potenzen der Paarerzeuger. Es gilt
2
Pk† Pk† = (Pk† ) = c k,σ

c† c† c†
1 −k,σ 2 k,σ 1 −k,σ 2
= −c k,σ

c† c† c†
1 k,σ 1 −k,σ 2 −k,σ 2
=0, (13.5.32)

Wir sehen, dass eine Vertauschung von c−k,σ c † ein Minuszeichen erzeugt und deshalb ei-
2 k,σ 1
ne Serie von zwei gleichen Erzeugern, die auf den Grundzustand wirken, null ergibt. Wenden
wir dies zusammen mit den Vertauschungsrelationen für die Paarerzeuger an, so können wir
einen zu (13.5.30) analogen kohärenten Zustand wie folgt schreiben:

⋃︀ΨBCS ̃︀ = c 1 exp (∑ α k Pk† ) ⋃︀0̃︀ = c 1 ∏ exp (α k Pk† ) ⋃︀0̃︀ = c 1 ∏ (1 + α k Pk† ) ⋃︀0̃︀ .


k k k
(13.5.33)

Hierbei ist c 1 eine Normierungskonstante und wir haben für die letzte Umformung ausge-
nutzt, dass alle Potenzen von Pk† höher als eins verschwinden. Die Normierungsbedingung
152
C. Cohen-Tannoudji, B. Diu, F. Laloë, Quantenmechanik, Band 1 und 2, Walter de Gruyter, Berlin
(2007).
153
E. Schrödinger, Der stetige Übergang von der Mikro- zur Makromechanik, Die Naturwissenschaften
14, 664-666 (1926).
154
R. J. Glauber, Coherent and Incoherent States of the Radiation Field, Phys. Rev. 131, 2766-2788
(1963).
13.5 Mikroskopische Theorie 861


∐︀ΨBCS ⋃︀ ΨBCS ̃︀ = 1 = c 12 ∐︀0⋃︀ ∏ (1 + α k∗ Pk ) (1 + α k Pk† ) ⋃︀0̃︀ (13.5.34)
k

können wir erfüllen, wenn alle einzelnen Faktoren eins ergeben:

1 = c 12 ∐︀0⋃︀ (1 + α k∗ Pk ) (1 + α k Pk† ) ⋃︀0̃︀ = c 12 (1 + ⋃︀α k ⋃︀2 ) . (13.5.35)

Damit erhalten wir den BCS-Grundzustand zu

⋃︀ΨBCS ̃︀ = ∏ (u k + v k c k↑
† †
c−k↓ ) ⋃︀0̃︀ (13.5.36)
k

mit
1 αk
u k = ⌈︂ , v k = ⌈︂ . (13.5.37)
1 + ⋃︀α k ⋃︀2 1 + ⋃︀α k ⋃︀2

Die Größen ⋃︀u k ⋃︀2 bzw. ⋃︀v k ⋃︀2 , die üblicherweise als Kohärenzfaktoren bezeichnet werden, ge-
ben die Wahrscheinlichkeiten dafür an, dass ein Paarzustand mit Wellenvektor k unbesetzt
bzw. besetzt ist. Die Größen u k und v k sind komplexe Wahrscheinlichkeitsamplituden mit
Amplitude und Phase und es gilt

⋃︀u k ⋃︀2 + ⋃︀v k ⋃︀2 = 1 . (13.5.38)

Die Wellenfunktion (13.5.36) stellt eine kohärente Superposition von Zuständen mit
0, 1, 2, 3, . . . Elektronenpaaren dar. Das heißt, wir haben einen Zustand konstruiert, für den
nur die mittlere Teilchenzahl festgelegt ist.
Da wir es mit einem System mit fester Teilchenzahl zu tun haben, ist es zunächst verwun-
derlich, dass ein Zustand, für den nur die mittlere Teilchenzahl festgelegt ist, eine gute Be-
schreibung ist. Die allgemeinste Form, wie wir eine N-Elektronen-Wellenfunktion unter Be-
rücksichtigung der Paarkorrelationen aus Eigenfunktionen des Impulsoperators aufbauen
können, lautet

⋃︀ΨN ̃︀ = ∑ g(k i , . . . , kl )c k† i ↑ c−k



i↓
⋯c k† l ↑ c−k

l↓
⋃︀0̃︀ . (13.5.39)

Hierbei kennzeichnen k i und k l den ersten und letzten der M Wellenvektoren, die für einen
bestimmten Term in der Summe besetzt sind. Die Größe g gibt das Gewicht an, mit der das
Produkt dieses Satzes von N⇑2 Paarerzeugungsoperatoren eingeht. Die Summe läuft über
alle k-Werte. Das Problem besteht nun darin, dass die Zahl der Realisierungsmöglichkeiten
der N⇑2 Paarzustände (wir verteilen N⇑2 Teilchen auf M verfügbare Zustände)
M! 20
≈ 1010 (13.5.40)
(︀M − (N⇑2)⌋︀!(N⇑2)!

so hoch ist, dass es hoffnungslos ist, alle Gewichtungsfaktoren g zu bestimmen.


Bardeen, Cooper und Schrieffer argumentierten deshalb, dass es bei der vorliegenden großen
Teilchenzahl N eine gute Näherung wäre, eine Molekularfeld-Beschreibung zu verwenden.
862 13 Supraleitung

Dabei wird angenommen, dass die Besetzungswahrscheinlichkeit eines Zustandes k nur von
der mittleren Besetzungswahrscheinlichkeit der anderen Zustände abhängt. Da dadurch die
Besetzungswahrscheinlichkeiten nur statistisch behandelt werden, gibt man die Forderung
auf, dass die Teilchenzahl genau N sein muss. Nur die mittlere Teilchenzahl N ist festge-
⌈︂ allerdings kein Problem dar, da die relative Schwankung der Teilchenzahl,
legt. Dies stellt
∆N⇑N ≃ 1⇑ N, aufgrund der Größe von N sehr klein ist. Für N ≃ 1022 ist ∆N⇑N ≃ 10−11 .
Es wurde später von P. W. Anderson155 , 156 gezeigt, dass der N-Teilchenanteil des BCS-
Grundzustands leicht herausprojeziert werden kann, indem man den Paarerzeugern einen
beliebigen Phasenfaktor e ı φ zuordnet:

⋃︀Ψφ ̃︀ = ∏(⋃︀u k ⋃︀ + ⋃︀v k ⋃︀e ı φ c k,↑


† †
c−k,↓ )⋃︀0̃︀ . (13.5.41)
k

Führen wir die Multiplikation über k aus, so erzeugen wir viele Terme, die wir in eine Summe
der Form ∑ N α N ⋃︀ΨN ̃︀ gruppieren können. Alle Terme, die zu einer Gruppe ⋃︀ΨN ̃︀ gehören,
zeichnen sich durch denselben Phasenfaktor e ı N φ⇑2 aus, wobei N⇑2 die Anzahl der Paare im
N-Teilchenzustand ist. Wir können jetzt ⋃︀ΨN ̃︀ einfach dadurch herausprojezieren, indem wir
mit e−ı N φ⇑2 multiplizieren und über die Phase φ von 0 bis 2π integrieren. Es verschwinden
dadurch alle Beiträge außer denjenigen, die exakt den Phasenfaktor e ı N φ⇑2 enthalten, also
zur Paarzahl N⇑2 gehören. Es gilt
2π 2π
⋃︀ΨN ̃︀ = ∫ dφe−ı N φ⇑2 ∏(⋃︀u k ⋃︀ + ⋃︀v k ⋃︀e ı φ c k↑
† †
c−k↓ )⋃︀0̃︀ = ∫ dφe−ı N φ⇑2 ⋃︀Ψφ ̃︀ . (13.5.42)
0 k 0

Durch die Integration über φ machen wir die Phase völlig unscharf und erzwingen dadurch
eine scharfe Teilchenzahl N. Zwischen Teilchenzahl N und Phase φ besteht die Unschärfe-
beziehung

∆N ∆φ ≥ 1 . (13.5.43)

Dies ist völlig analog zur Unschärfebeziehung zwischen Phase und Photonenzahl von elek-
tromagnetischer Strahlung. Ein semi-klassisches E-Feld mit wohldefinierter Phase erfordert
eine genügend hohe Photonenzahl, so dass wir eine Superposition von Zuständen mit un-
terschiedlicher Photonenzahl tolerieren können. Für einen Zustand mit fester Photonenzahl
(Fock-Zustand) ist die Phase beliebig unscharf.

Erwartungswerte Wir können nun die BCS-Vielteilchenwellenfunktion (13.5.36) dazu


verwenden, einige Erwartungswerte zu berechnen. Für den Teilchenzahloperator erhalten

155
Philip Warren Anderson, amerikanischer Theoretischer Physiker, geboren am 13. Dezember 1923
in Indianapolis, Indiana, USA. Er erhielt 1977 zusammen mit Nevill F. Mott und John H. van Vleck
den Nobelpreis für Physik „für seine grundlegenden theoretischen Leistungen zur Elektronenstruktur
in magnetischen und ungeordneten Systemen“.
156
P. W. Anderson, The Josephson Effect and Quantum Coherence Measurements in Superconductors
and Superfluids, in C. J. Gorter (ed.), Prog. Low Temp. Phys. 5, 5 (1967).
13.5 Mikroskopische Theorie 863

wir157

∐︀n k↑ ̃︀ = ∐︀ΨBCS ⋃︀ c k↑

c k↑ ⋃︀ ΨBCS ̃︀
= ∐︀0⋃︀(u∗k + v k∗ c−k↓ c k↑ )c k↑

c k↑ (u k + v k c k↑
† †
c−k↓ )
× ∏(u∗l + v l∗ c−l↓ c l↑ )(u l + v l c l↑
† †
c−l↓ )⋃︀0̃︀ . (13.5.44)
l≠k

Die Faktoren für l ≠ k ergeben ⋃︀u k ⋃︀2 + ⋃︀v k ⋃︀2 = 1 und wir erhalten

∐︀n k↑ ̃︀ = ⋃︀u k ⋃︀2 ∐︀0 ⋃︀ c k↑ †


c k↑ ⋃︀ 0̃︀ +u∗k v k ∐︀0 ⋃︀ c k↑ †
c k↑ c k↑ † †
c−k↓ ⋃︀ 0̃︀
)︁⌊︂⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ]︂⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ )︂ )︁⌊︂⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂]︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ )︂
=0 =0

+ v k∗ u k ∐︀0 ⋃︀ †
c−k↓ c k↑ c k↑ c k↑ ⋃︀ 0̃︀ +⋃︀v k ⋃︀ ∐︀0 ⋃︀ c−k↓ c k↑ c k↑ 2 †
c k↑ c k↑ † †
c−k↓ ⋃︀ 0̃︀
)︁⌊︂⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂]︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ )︂ )︁⌊︂⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ]︂⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ )︂
=0 =1
= ⋃︀v k ⋃︀2 . (13.5.45)

Für die mittlere Teilchenzahl erhalten wir damit

N = ̂︀∑ n kσ ̃︂ = ∑⋃︀v k ⋃︀2 = 2 ∑⋃︀v k ⋃︀2 = ∑ (1 − ⋃︀u k ⋃︀2 + ⋃︀v k ⋃︀2 ) , (13.5.46)
kσ kσ k k

was wir aufgrund der Einführung von v k als Wahrscheinlichkeitsamplitude für die Beset-
zung des Zustandes k so erwartet hätten. Wir können ferner zeigen, dass

∐︀ΨBCS ⋃︀ c k↑
† †
c−k↓ c−k′ ↓ c k′ ↑ ⋃︀ ΨBCS ̃︀ = v k v k∗′ u k′ u∗k . (13.5.47)

Für die Paaramplitude (13.5.27) erhalten wir

g k ≡ ∐︀c−k↓ c k↑ ̃︀ = u∗k v k (13.5.48)

g k† ≡ ∐︀c k↑
† †
c−k↓ ̃︀ = u k v k∗ . (13.5.49)

Abschließend betrachten wir noch die Fluktuationen der Teilchenzahl


⌈︂ }︂ }︂
∆N = ∐︀N 2 ̃︀ − ∐︀Ñ︀2 = 2 ∑ (∐︀n k2 ̃︀ − ∐︀n k ̃︀2 ) = 2 ∑⋃︀v k ⋃︀2 − 2 ∑⋃︀v k ⋃︀4
k k k
}︂ }︂ ⌈︂
= 2 ∑⋃︀v k ⋃︀2 − 2 ∑ (1 − ⋃︀u k ⋃︀2 ) ⋃︀v k ⋃︀2 = 2 ∑⋃︀u k ⋃︀2 ⋃︀v k ⋃︀2 ∝ N . (13.5.50)
k k k

⌈︂
Wir sehen also, dass ∆N⇑N = 1⇑ N und somit die relative Fluktuation der Teilchenzahl
für N → ∞ verschwindend klein wird. Die Teilchenzahl hat die statistischen Eigenschaften
eines kohärenten Zustandes.

157
Wir benutzen hier, dass ∐︀𝒪ϕ⋃︀ψ̃︀ = ∐︀ϕ⋃︀𝒪† ⋃︀ψ̃︀ und dass das Adjungierte eines Produkts von Opera-
toren gleich dem Produkt der adjungierten Operatoren in umgekehrter Reihenfolge ist.
864 13 Supraleitung

13.5.2.3 Bestimmung der Wahrscheinlichkeitsamplituden durch Variationsrechnung


Wir müssen jetzt noch die im BCS-Ansatz enthaltenen Koeffizienten u k und v k bestimmen.
Hierzu berechnen wir die freie Energie des Supraleiters unter Benutzung der Molekularfeld-
näherung und minimieren die freie Energie bezüglich des Paarpotenzials. Wir werden im
Folgenden von einem Spin-Singulett-Supraleiter ausgehen und σ meist durch ↑, ↓ ersetzen.
Für den Hamilton-Operator benutzen wir (vergleiche hierzu Anhang H.2)

ℋBCS = ∑ ξ k n k,σ + ∑ Vk,k′ c k↑


† †
c−k↓ c−k′ ↓ c k′ ↑ . (13.5.51)
k,σ k,k′

Hierbei ist n kσ = c kσ

c kσ der Teilchenzahloperator und ξ k die kinetische Einteilchenenergie
bezogen auf das chemische Potenzial µ. Es gilt also

ħ2 k 2
ξk = єk − µ = −µ. (13.5.52)
2m
Der zweite Term auf der rechten Seite von (13.5.51) enthält das für die Supraleitung relevante
Wechselwirkungspotenzial Vk,k′ . Wir nehmen an, dass der Hamilton-Operator alle für die
Supraleitung wichtigen Beiträge enthält, obwohl wir Terme, die zu Elektronen gehören, die
nicht zu (k ↑, −k ↓) gepaart sind, unberücksichtigt lassen. Diese Beiträge haben für die BCS-
Grundzustandswellenfunktion den Erwartungswert null.
Für die Paarerzeuger und -vernichter können wir formal schreiben

c−k↓ c k↑ = ∐︀c−k↓ c k↑ ̃︀ + c−k↓ c k↑ − ∐︀c−k↓ c k↑ ̃︀


)︁⌊︂⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ]︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ )︂ )︁⌊︂⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ]︂⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ )︂
gk =δ g k
(13.5.53)

c−k↓ †
c k↑ = ∐︀c−k↓
† †
c k↑ ̃︀ + c−k↓
† †
c k↑ − ∐︀c−k↓ †
c k↑ †
̃︀ .
)︁⌊︂⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ]︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ )︂ )︁⌊︂⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ]︂⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ )︂
g k† =δ g k†

Setzen wir dies in (13.5.51) ein und berücksichtigen nur Terme, die linear in der Abwei-
chung δg k vom statistischen Mittelwert der Paaramplitude sind, so erhalten wir

ℋBCS = ∑ ξ k n k,σ + ∑ Vk,k′ )︀g k† c−k′ ↓ c k′ ↑ + g k′ c k↑


† †
c−k↓ − g k† g k′ ⌈︀ , (13.5.54)
k,σ k,k′

was wir unter Benutzung des Paarpotenzials (13.5.29) zu

ℋBCS = ∑ ξ k n k,σ − ∑ )︀∆†k c−k↓ c k↑ + ∆ k c k↑


† †
c−k↓ − g k† ∆ k ⌈︀ (13.5.55)
k,σ k

vereinfachen können. Unsere Näherung, nur Terme linear in δg k zu berücksichtigen, ist


gleichbedeutend damit, dass wir die Erhaltung der Teilchenzahl aufgeben. In (13.5.55) tau-
chen nämlich bilineare Terme in den Erzeugungs- und Vernichtungsoperatoren auf, die Paa-
re erzeugen und vernichten. Diesen Sachverhalt haben wir bereits im Zusammenhang mit
der BCS-Vielteilchenwellenfunktion (13.5.36) diskutiert, die eine feste Phase besitzt aber Zu-
stände mit unterschiedlicher Teilchenzahl enthält. Nur durch eine Integration über die Phase
konnten wir einen Zustand mit fester Teilchenzahl herausprojizieren.
13.5 Mikroskopische Theorie 865

Wir benutzen nun

∑ ξ k n k,σ = ∑ ξ k (c k↑ c k↑ + c−k↓ c−k↓ )


† †

k,σ k )︁⌊︂⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ]︂⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂)︂


=1−c −k↓ c −k↓

= ∑ (ξ k c k↑

c k↑ − ξ k c−k↓ c−k↓

+ ξk ) (13.5.56)
k

und können damit (13.5.55) umschreiben in

ξ k −∆ k c k↑
ℋBCS = ∑ {ξ k + g k† ∆ k + (c k↑

, c−k↓ ) ( ) ( † )(︀ . (13.5.57)
k
−∆†k −ξ k c−k↓

Der Hamilton-Operator (13.5.57) beschreibt aufgrund des endlichen Paarpotenzials ein


wechselwirkendes Elektronengas. Um das Anregungsspektrum der neuen Quasiteilchen-
zustände, die Überlagerungen aus Elektronen und Löchern darstellen, zu bestimmen,
müssen wir den Hamilton-Operator diagonalisieren. Nach einem Vorschlag von N. N. Bo-
goliubov158 , 159 und J. G. Valatin160 können wir das durch eine unitäre Transformation
erreichen, mit der wir neue fermionische Operatoren α k und β k definieren. Eine geeignete
Transformation ist gegeben durch

u∗k v k α†
(c k↑

, c−k↓ ) = ( ∗ )( k ) (13.5.58)
−v k u k βk

u k v k∗ α
(c k↑ , c−k↓

)=( ) ( †k ) (13.5.59)
−v k u∗k βk

Da ⋃︀u k ⋃︀2 + ⋃︀v k ⋃︀2 = 1 gilt, entspricht die Transformation einer Drehung. Bei geeigneter Wahl
des Drehwinkels rotieren wir in die Eigenbasis der neuen Quasiteilchenzustände und dia-
gonalisieren dadurch den Hamilton-Operator. Offensichtlich trägt α k dazu bei, ein Elektron
mit k ↑ mit der Wahrscheinlichkeitsamplitude u ∗k zu zerstören und eines mit −k ↓ mit der
Wahrscheinlichkeitsamplitude −v k∗ zu erzeugen. Beides zusammen resultiert in einer Ab-
nahme des Gesamtimpulses um k und des Gesamtspins um ħ⇑2. Der Operator β†k hat ähn-
liche Eigenschaften: β†k erzeugt ein Elektron mit k ↑ mit der Wahrscheinlichkeitsamplitude
v k und vernichtet eines mit −k ↓ mit der Wahrscheinlichkeitsamplitude u k , er erhöht damit
insgesamt den Gesamtimpuls um k und den Gesamtspin um ħ⇑2. Setzen wir (13.5.59) in den

158
N. N. Bogoliubov, On a New Method in the Theory of Superconductivity, Zh. Experim. i Teor. Fiz. 34,
58 (1958), [Sov. Phys. JETP 7, 41 (1958)].
159
N. N. Bogoliubov, On a New Method in the Theory of Superconductivity, Nuovo Cimento 7, 794
(1958).
160
J. G. Valatin, Comments on the Theory of Superconductivity, Nuovo Cimento 7, 843 (1958).
866 13 Supraleitung

Hamilton-Operator (13.5.57) ein, erhalten wir161

ℋBCS = ∑ )︀2ξ k v k2 − ∆ k u k v k∗ − ∆†k u∗k v k + g k† ∆ k ⌈︀


k

+ ∑ )︀ξ k (u k2 − v k2 ) + ∆ k u k v k∗ + ∆†k u ∗k v k ⌈︀ α k† α k
k

+ ∑ )︀ξ k (u k2 − v k2 ) + ∆ k u k v k∗ + ∆†k u ∗k v k ⌈︀ β†k β k


k

+ ∑ [︀2ξ k u∗k v k∗ + ∆ k v k∗ − ∆†k u ∗k ⌉︀ β k α k


2 2

+ ∑ )︀2ξ k u k v k + ∆†k v k 2 − ∆ k u k 2 ⌈︀ α k† β†k . (13.5.60)


k

Wir wählen nun u k und v k so, dass nur noch diagonale Terme α k† α k und β†k β k auftauchen.
Dies erreichen wir für

2ξ k u k v k + ∆†k v k2 − ∆ k u k2 = 0 . (13.5.61)

Multiplizieren wir diese Gleichung mit ∆†k ⇑u k2 und lösen dann die daraus für ∆†k v k ⇑u k resul-
tierende quadratische Gleichung, so erhalten wir

∆†k v k ⌉︂
( ) = −ξ k ± ξ k2 + ⋃︀∆ k ⋃︀2 = −ξ k ± E k (13.5.62)
u k 1,2

mit
⌉︂
Ek = ξ k2 + ⋃︀∆ k ⋃︀2 . (13.5.63)

In (13.5.62) ist die Lösung mit dem negativen Vorzeichen vor der Wurzel physikalisch nicht
relevant, da sie maximaler statt minimaler Energie entspricht. Wir sehen ferner, dass die
Phasen von u k , v k und ∆ k miteinander verknüpft sein müssen, da die Größe auf der rechten
Seite von (13.5.62) reell ist. Die relative Phase der Koeffizienten u k und v k muss also fest
sein und der Phase von Ơk entsprechen. In vielen Darstellungen wird deshalb u k als reelle
Größe angenommen. In diesem Fall können wir v k = ⋃︀v k ⋃︀e ı φ schreiben und die Phase von v k
entspricht derjenigen von Ơk .
Mit dem aus (13.5.62) folgenden Ergebnis ⋃︀v k ⇑u k ⋃︀ = (E k − ξ k )⇑⋃︀∆ k ⋃︀ und der Normierungs-
bedingung ⋃︀u k ⋃︀2 + ⋃︀v k ⋃︀2 = 1 erhalten wir

1 ξk ∆†k
⋃︀v k ⋃︀2 = ⌊︀1 − }︀ u k v k∗ =
2 Ek 2E k
(13.5.64)
1 ξk ∆k
⋃︀u k ⋃︀ = ⌊︀1 + }︀
2
u∗k v k = .
2 Ek 2E k

161
Introduction to Superconductivity, M. Tinkham, McGraw-Hill, New York (1975).
13.5 Mikroskopische Theorie 867

𝒇 𝑻 = 𝑻𝒄
1.0
𝟐𝚫𝒌
ukvk , |vk| , |uk| , f(T=Tc)

𝟐 𝟐
𝒗𝒌 𝒖𝒌
0.8
2

0.6 Abb. 13.38: Besetzungswahrschein-


lichkeit ⋃︀v k ⋃︀2 eines Zustandes k
2

0.4 bei T = 0 als Funktion der Einteil-


𝒖𝒌 𝒗⋆𝒌 chenenergie ξ k . Zum Vergleich ist
gestrichelt die Fermi-Funktion für T =
*

0.2 Tc gezeigt, wobei ∆ k (0)⇑k B Tc = 1.764


benutzt wurde. Ebenso gezeigt ist die
0.0 Wahrscheinlichkeit ⋃︀u k ⋃︀2 = 1 − ⋃︀v k ⋃︀2
-3 -2 -1 0 1 2 3 und die Paaramplitude g k = u k v k∗ (ge-
k / k strichelt).
188

Die beiden Wahrscheinlichkeiten ⋃︀u k ⋃︀ und ⋃︀v k ⋃︀ sind in Abb. 13.38 für T = 0 zusammen mit
2 2

der Paaramplitude g k = u k v k∗ gezeigt. Die Vorhersage dieser als Kohärenzfaktoren bezeich-


neten Größen war ein wesentliches Ergebnis der BCS-Theorie. Sie haben entscheidenden
Einfluss auf verschiedene Eigenschaften von Supraleitern wie die Ultraschalldämpfung, die
Absorption elektromagnetischer Strahlung oder die Kernspinrelaxation und konnten somit
experimentell direkt überprüft werden.
Die Größe ⋃︀v k ⋃︀2 , welche die Wahrscheinlichkeit dafür angibt, dass der Zustand k besetzt ist,
hat einen ähnlichen Verlauf wie die Fermi-Funktion für T = Tc . Wir erkennen, dass beim Su-
praleiter selbst bei T = 0 die Besetzung der Zustände im Energiebereich ±∆ k um die Fermi-
Energie E F = µ(0) aufgeweicht ist. Dies ist notwendig, da ohne diese Aufweichung die at-
traktive Wechselwirkung nicht möglich wäre. Wären alle Zustände unterhalb von E F be-
setzt und oberhalb leer, so könnten wegen der Erhaltung des Gesamtimpulses, K = K′ , keine
Streuprozesse stattfinden, da mindestens ein Endzustand innerhalb der Fermi-Kugel liegen
müsste, hier aber bei T = 0 keine freien Streuzustände vorhanden sind. Der Supraleiter muss
also zunächst zusätzlich kinetische Energie aufbringen, um Zustände zu höheren Energien
zu verlagern. Dadurch wird aber die attraktive Wechselwirkung ermöglicht, die den zusätzli-
chen Energieaufwand durch Absenkung der potenziellen Energie mehr als wettmacht. Es ist
wichtig, sich klar zu machen, dass aufgrund des sehr ähnlichen Verlaufs von v k2 und der Fer-
mi-Verteilungsfunktion die beim Übergang in den supraleitenden Zustand auftretenden Än-
derungen der physikalischen Eigenschaften nicht mit einer Umverteilung der Besetzungs-
zahlen erklärt werden können. Allerdings wird die Unordnung bezüglich der willkürlichen
Phasen im Normalzustand, die aus einer teilweisen Besetzung der Zustände resultiert, im
supraleitenden Zustand aufgehoben. Es liegt hier ein einziger Quantenzustand vor, in dem
die gleichen Einteilchenzustände mit einer jetzt festen Phasenbeziehung überlagert sind.
Die Paaramplitude ist nur in einem schmalen Energieintervall der Breite ⋃︀∆ k ⋃︀ um die Fermi-
Energie endlich und besitzt ein Maximum bei E F . Mit der Unschärferelation können wir ⋃︀∆ k ⋃︀
die charakteristische Zeit τ k = ħ⇑⋃︀∆ k ⋃︀ zuordnen. Multiplizieren wir diese mit der Fermi-Ge-
schwindigkeit, so erhalten wir die charakteristische Längenskala ħv F ⇑∆ k , die bis auf einen
Faktor der Größenordnung eins der BCS-Kohärenzlänge entspricht.
868 13 Supraleitung

Energielückengleichung Wir können nun das Ergebnis (13.5.64) in (13.5.60) einsetzen,


wodurch wir den einfachen fermionischen Hamilton-Operator

ℋBCS = ∑ )︀ξ k − E k + g k† ∆ k ⌈︀ + ∑ E k )︀α k† α k − β †k β k ⌈︀ (13.5.65)


k k

erhalten. Wir können diesen Ausdruck umschreiben in

ℋBCS = ∑ )︀ξ k + g k† ∆ k ⌈︀ + ∑ E k α k† α k − E k (1 − β †k β k ) . (13.5.66)


k k

Hierbei ist ℋ0 = ∑k )︀ξ k + g k† ∆ k ⌈︀ ein konstanter Molekularfeldterm eines Systems ohne


fermionische Freiheitsgrade. Der zweite Term auf der rechten Seite von (13.5.66) entspricht
dem Beitrag für ein spinloses Fermionensystem mit zwei Arten von Quasiteilchen, die
durch die Operatoren (α k† , α k ) und (β†k , β k ) beschrieben werden und die Quasiteilchen-
Anregungsenergien (E k , −E k ) besitzen. Die neuen Quasiteilchen sind spinlos, da sie Li-
nearkombinationen von Elektronen und Löchern mit entgegengesetztem Spin darstellen.
Während wir also im metallischen Zustand die beiden Spin-Richtungen der Elektronen als
Freiheitsgrad haben, stellen im supraleitenden Zustand die beiden Linearkombinationen
von Elektron-Loch-Spin-Singuletts die relevanten Freiheitsgrade dar. Insgesamt bleibt die
Zahl der Freiheitsgrade also erhalten. Wir sehen ferner, dass die Größe ⋃︀∆ k ⋃︀ eine einfa-
che physikalische Bedeutung hat. Sie stellt eine Energielücke im Anregungsspektrum der
Quasiteilchen auf der Fermi-Fläche (ξ k = 0) dar. Wir werden deshalb ⋃︀∆ k ⋃︀ als supraleitende
Energielücke bezeichnen. Wichtig ist, dass die Energielücke ⋃︀∆ k ⋃︀ nicht exakt identisch mit
dem durch (13.5.29) definierten Paarpotenzial ist, da beide unterschiedliche k-Abhängigkeit
besitzen können. Da sie allerdings gleichzeitig verschwinden oder einen endlichen Wert
annehmen, verwendet man häufig lax auch die Energielücke als Ordnungsparameter.
Da sich (13.5.66) aus dem Beitrag eines freien Fermionengases und einem zusätzlichen kon-
stanten Term ℋ0 , der keine fermionischen Freiheitsgrade enthält, zusammensetzt, können
wir die großkanonische Zustandssumme wie folgt ausdrücken:162

Z = e−H 0 ⇑k B T ∏ (1 + e−E k ⇑k B T ) (1 + eE k ⇑k B T ) = e−ℱ ⇑k B T . (13.5.67)


k

Lösen wir nach der freien Energie ℱ auf, so erhalten wir

ℱ = H 0 − k B T ∑ )︀ln (1 + e−E k ⇑k B T ) + ln (1 + eE k ⇑k B T )⌈︀ . (13.5.68)


k

Dies stellt eine Summe aus dem mittleren Molekularfeldterm H 0 und dem Beitrag des zwei-
komponentigen, effektiv nicht wechselwirkenden Fermionengases dar.

162
Die Zustandssumme eines idealen Fermi-Gases ist gegeben durch
Z = ∏ ∑ exp (−n k (є k − µ)⇑k B T) = ∏ (︀1 + exp (−(є k − µ)⇑k B T)⌋︀ .
k n k =0,1 k
13.5 Mikroskopische Theorie 869

Wir können nun die Energielücke ∆ k bestimmen, indem wir die freie Energie hinsichtlich
von Variationen von ∆ k minimieren. Wir fordern also163
∂ℱ ∂ℱ
=0 =0. (13.5.69)
∂∆ k ∂∆†k

Wenden wir dies auf (13.5.68) an, so ergibt sich

∂E k e−E k ⇑k B T eE k ⇑k B T
g k† + ⌊︀ − }︀ = 0 (13.5.70)
∂∆ k 1 + e−E k ⇑k B T 1 + eE k ⇑k B T

und damit
tanh(E k ⇑2k B T)
g k† = ∆†k . (13.5.71)
2E k

Der Faktor tanh(E k ⇑2k B T)⇑2E k wird meist als Paarsuszeptibilität bezeichnet, da sie die
Empfindlichkeit des Elektronensystems bezüglich Paarbildung beschreibt. Verwenden wir
die Definition (13.5.29), so erhalten wir die BCS-Energielückengleichung

tanh(E k′ ⇑2k B T)
∆ k = − ∑ Vk,k′ ∆ k′ (13.5.72)
k′ 2E k′

Dies stellt einen Satz von Bestimmungsgleichungen für alle Variablen ∆ k dar. Da E k′ von ∆ k′
abhängt, sind die Gleichungen nichtlinear. Sie können numerisch oder, wie weiter unten für
den Fall schwacher Kopplung gezeigt wird, näherungsweise gelöst werden.

13.5.2.4 Energielücke und Sprungtemperatur


Um die freie Energie zu minimieren, müssen wir die Energielückengleichung (13.5.72)
selbstkonsistent lösen. Die triviale Lösung ∆ k = 0 erfordert nach (13.5.64) v k = 1 für ξ k < 0
und v k = 0 für ξ k > 0, was der intuitiven Erwartung für den Normalzustand bei T = 0
entspricht. Die Gesamtenergie entspricht in diesem Fall der Gesamtenergie eines normallei-
tenden Metalls bei T = 0. Wir erwarten aber auch eine nichttriviale Lösung mit geringerer
Energie im Falle einer attraktiven Wechselwirkung. Nehmen wir vereinfachend Vk,k′ = −V0
[vergleiche (13.5.11)] und ∆ k = ∆ an, so ergibt sich aus (13.5.72) die Selbstkonsistenzbedin-
gung zu

tanh(E k′ ⇑2k B T)
1 = V0 ∑ . (13.5.73)
k′ 2E k′

Für die Grenzfälle T → Tc und T → 0 können wir diese Gleichung einfach lösen.
Wir betrachten zuerst den Fall T → 0, für den tanh(E k′ ⇑2k B T) ≃ 1. Wir können ferner wie-
̃
derum die Paarzustandsdichte D(E) ≃ D(E F )⇑2 verwenden und damit die Summation in

163
Es handelt sich hierbei um eine Funktionalableitung. Es wird nur ein Term in der k-Raumsumme
herausgegriffen, wenn die Ableitung durchgeführt wird.
870 13 Supraleitung

eine Integration überführen. Wir erhalten


ħω D
V0 D(E F ) dξ V0 D(E F ) ħω D
1= ∫ ⌈︂ = arcsinh ( ) (13.5.74)
4
−ħω D
ξ k2 + ∆2 (0) 4 ∆(0)

und damit durch Auflösen nach ∆


ħω D
∆(0) = ≃ 2ħω D e−2⇑V0 D(E F ) . (13.5.75)
sinh ( V0 D(E
2
F)
)

Hierbei gilt die Näherung nur für den Fall schwacher Kopplung V0 D(E F ) ≪ 1. Wir erken-
nen sofort, dass Gleichung (13.5.75) große Ähnlichkeit mit dem Ausdruck (13.5.16) hat, der
die Energieänderung zweier Elektronen aufgrund ihrer Paarwechselwirkung angibt.
Für T → Tc geht E k → ⋃︀ξ k ⋃︀, das heißt, das Anregungsspektrum geht in das eines Normallei-
ters über. Ersetzen wir E k in (13.5.73) durch ⋃︀ξ k ⋃︀ und gehen von der Summation wiederum
zu einer Integration über, so erhalten wir mit x = ξ k ⇑2k B T
ħω D ⇑2k B Tc
D(E F )V0 tanh x
1= ∫ dx . (13.5.76)
4 x
−ħω D ⇑2k B Tc

Das Integral ergibt den Wert 2 ln(pħω D ⇑2k B Tc ), wobei p = 2eγ ⇑π ≃ 1.13 und γ = 0.5772 . . .
die Euler-Konstante ist. Damit erhalten wir für die kritische Temperatur den Ausdruck

k B Tc = 1.13 ħω D e−2⇑D(E F )V0 . (13.5.77)

Die kritische Temperatur eines Supraleiters ist⌋︂also proportional zur Debye-Frequenz ω D . Da


die Phononenfrequenzen proportional zu 1⇑ M sind, ⌋︂ erklärt dieser Ausdruck den für vie-
le Supraleiter beobachten Isotopen-Effekt Tc ∝ 1⇑ M (vergleiche hierzu Abb. 13.33). Dies
war ein großer Erfolg der BCS-Theorie. Wir wollen allerdings darauf hinweisen, dass die
Isotopenmasse in manchen Fällen nicht nur die Phononenfrequenz, sondern das gesam-
te Phononenspektrum und damit auch die Kopplungsstärke V0 ändert. Deshalb beobachtet
man häufig Abweichungen von der Tc ∝ 1⇑M a Abhängigkeit mit a = 1⇑2. Für Ru findet man
sogar a = 0, also überhaupt keine Abhängigkeit der kritischen Temperatur von der Isotopen-
masse. Ferner müssen wir uns darüber im Klaren sein, dass die effektive Wechselwirkungs-
stärke V0 sich aus der Differenz der attraktiven Elektron-Phonon- und der abstoßenden Cou-
lomb-Wechselwirkung ergibt. In einer verfeinerten Theorie können beide Wechselwirkungs-
stärken separat berücksichtigt werden und damit eine wesentlich bessere Beschreibung der
experimentellen Befunde erhalten werden.164 , 165 Wichtig ist, dass man aus der Beobachtung
von a = 0 nicht den Schluss ziehen kann, dass Phononen für die attraktive Wechselwirkung
ohne Belang sind.
164
G. M. Eliashberg, Interactions Between Electrons and Lattice Vibrations in a Superconductor, Zh.
Éksp. Teor. Fiz. 38, 966 (1960) [Sov. Phys. JETP 11, 696-702 (1960)].
165
W. L. McMillan, Transition Temperature of Strong-Coupled Superconductors, Phys. Rev. 167, 331
(1968).
13.5 Mikroskopische Theorie 871

Tabelle 13.3: Energielücke 2∆(T = 0) und kritische Temperatur Tc für einige Element-Supraleiter und
Verbindungen (Daten aus E. L. Wolf, Principles of Elektron Tunneling Spectroscopy, Oxford University
Press, Oxford (1985); R. D. Parks, Superconductivity, Marcel Dekker, New York (1969); Physik-Daten,
Superconductivity Data, Nr.19-1 (1982)).

Tc (K) 2∆(0) (meV) 2∆(0)⇑k B Tc Tc (K) 2∆(0) (meV) 2∆(0)⇑k B Tc


Al 1.19 0.36 3.5 ± 0.1 In 3.4 1.05 3.5 ± 0.1
Nb 9.25 2.90 3.6 Hg 4.15 1.65 4.6 ± 0.1
Pb 7.2 2.70 4.3 ± 0.05 Sn 3.72 1.15 3.5 ± 0.1
Ta 4.29 1.30 3.5 ± 0.1 Tl 2.38 0.75 3.6 ± 0.1
NbN 16 4.65 3.6 Nb3 Sn 18 6.55 4.2
NbSe2 7 2.2 3.7 MgB2 40 3.6-15 1.1–4.5

Vergleichen wir das Ergebnis (13.5.77) mit dem Ausdruck (13.5.75) für die Energielücke
bei T = 0, so erhalten wir für das Verhältnis von ∆(0) und Tc

∆(0) π
= = 1.764 . (13.5.78)
k B Tc eγ

Diese Beziehung stellt eine Kernaussage der BCS-Theorie dar. Experimentell werden Wer-
te zwischen 1.5 und 2.5 gefunden (siehe Tabelle 13.3). Vor allem für klassische Supraleiter
wie z. B. Pb mit niedriger Debye-Frequenz werden meist Werte oberhalb von 1.764 gemes-
sen. Für diese Materialien ist die Wechselwirkungsstärke relativ groß, so dass die Annah-
me D(E F )V0 ≪ 1 keine gute Näherung mehr ist. Wir bezeichnen diese Supraleiter als stark
koppelnde Supraleiter.
Im Temperaturbereich 0 < T < Tc muss die Temperaturabhängigkeit durch numerische Lö-
sung des Integrals
ħω D
D(E F )V0 tanh(E k ⇑2k B T)
1= ∫ d ξk (13.5.79)
2 2E k
−ħω D

bestimmt werden.166 Das Ergebnis ist in Abb. 13.39 gezeigt. Wir erkennen, dass die Vorher-
sage der BCS-Theorie die experimentellen Daten gut beschreiben kann. Die Abweichungen
resultieren nicht aus Messfehlern, sondern aus der Tatsache, dass die bei der theoretischen
Beschreibung gemachte Näherung Vk,k′ = −V0 zu einfach ist. In der Nähe von Tc erhält man

∆(T) T 1⇑2
≃ 1.74 (1 − ) für T ≃ Tc . (13.5.80)
∆(0) Tc
⌋︂
Die Tc − T Abhängigkeit ist ein charakteristisches Ergebnis der Molekularfeld-Theorie.
Zum Beispiel erhält man für die Temperaturabhängigkeit der Magnetisierung eines Ferro-
magneten das gleiche Ergebnis.
166
B. Mühlschlegel, Die thermodynamischen Funktionen des Supraleiters, Z. Phys. 115, 313–327
(1959).
872 13 Supraleitung

1.0

0.8
BCS Theorie
Pb

 / (0)
0.6
Sn
In
0.4
Abb. 13.39: Temperaturabhängig-
keit der supraleitenden Energielücke 0.2
in Pb, Sn und In zusammen mit dem
nach der BCS-Theorie erwarteten Ver- 0.0
lauf (Daten aus I. Giaever, K. Meger- 0.0 0.2 0.4 0.6 0.8 1.0
le, Phys. Rev. 122, 1101–1111 (1961)). T / Tc
189

13.5.2.5 Grundzustandsenergie
Wir wollen jetzt noch die Absenkung der Energie beim Übergang in den supraleitenen Zu-
stand berechnen. Wir gehen dabei von (13.5.65) aus und berücksichtigen, dass der Beitrag
∑k E k )︀α k† α k − β†k β k ⌈︀ der Bogoliubov-Quasiteilchen keinen Beitrag sowohl bei T = 0 (keine
Quasiteilchen angeregt) als auch im Normalzustand liefert. Für den supraleitenden Zustand
bei T = 0 erhalten wir

∐︀ℋBCS ̃︀ = ∑ (ξ k − E k + g k† ∆ k ) . (13.5.81)
k

Die Energie des Normalzustandes ⌈︂ bei T = 0 können wir durch die Betrachtung des Grenz-
falls ∆ k → 0 erhalten. Mit E k = ξ k2 + ∆2k ≃ ⋃︀ξ k ⋃︀ ergibt sich

∐︀ℋn ̃︀ = lim ∐︀ℋBCS ̃︀ = ∑ ξ k − ⋃︀ξ k ⋃︀ = 2 ∑ ξ k . (13.5.82)


∆→0
k ⋃︀k⋃︀<k F

Hierbei haben wir ausgenutzt, dass ⋃︀ξ k ⋃︀ = −ξ k für ⋃︀k⋃︀ ≤ k F (Teilchen-Loch-Symmetrie). Die
Absenkung der Grundzustandsenergie für T = 0 erhalten wir nach einigen Rechenschritten
zu (siehe Anhang H.3 und R. Gross, A. Marx, D. Einzel, Festkörperphysik. Aufgaben und
Lösungen, Oldenbourg Verlag, München (2013))

1
E Kond (0) = ∐︀ℋBCS ̃︀ − ∐︀ℋn ̃︀ = − D(E F )∆2 (0) . (13.5.83)
4
Hierbei haben wir ⋃︀∆ k ⋃︀ = ∆ benutzt, um die Diskussion einfach zu halten. Die Energiedichte
erhalten wir, indem wir noch durch das Volumen teilen:
E Kond 1 D(E F ) 2
=− ∆ (0) . (13.5.84)
V 4 V
Verwenden wir noch D(E F )⇑V = 3n⇑2E F und die BCS-Beziehung ∆(0)⇑k B Tc = π⇑eγ =
1.76387699 (mit der Euler-Konstante γ = 0.5772 . . .), so ergibt sich

E Kond 3 ∆2 (0) 3π 2 (k B Tc )2 (k B Tc )2
=− n = − 2γ n = −1.167n . (13.5.85)
V 8 EF 8e EF EF
13.5 Mikroskopische Theorie 873

Hierbei ist n die Elektronendichte. Die Kondensationsenergie ist also von der Größenord-
nung (k B Tc )2 ⇑E F . Das Ergebnis (13.5.83) können wir intuitiv verstehen. Da die Verschmie-
rung der Besetzungswahrscheinlichkeit eines Zustandes bei T = 0 etwa ∆(0) beträgt, kann
am Paarwechselwirkungsprozess nur ein kleiner Anteil ∆(0)⇑E F aller Elektronen teilneh-
men. Da dieser Anteil der Elektronen im Mittel eine Energieabsenkung von etwa ∆(0) er-
fährt, ergibt sich eine Kondensationsenergiedichte ∼ ∆2 (0)⇑E F . Die Kondensationsenergie
bei T = 0 entspricht der Differenz der freien Enthalpien 𝒢n − 𝒢s = V B 2cth (0)⇑2µ 0 zwischen
dem normal- und supraleitenden Zustand, woraus wir
}︂
µ 0 D(E F )∆2 (0)
B cth (0) = (13.5.86)
2V
erhalten.

13.5.3 Energielücke und Anregungsspektrum


Betrachten wir den Hamilton-Operator (13.5.65), so sehen wir, dass die zweite Summe auf
der rechten Seite zu einer Erhöhung der Gesamtenergie über die durch die erste Summe ge-
gebene Grundzustandsenergie durch Anregung von Quasiteilchen führt. Ihre Teilchenzahl
wird durch die Operatoren α k† α k bzw. β†k β k und ihre Anregungsenergie durch
⌉︂
E k = E−k = ξ k2 + ∆2k (13.5.87)

gegeben. Da ξ k beliebig sein kann, ergibt sich die minimale Anregungsenergie zu ∆ k . Wir
erkennen daraus sofort, dass die für den supraleitenden Zustand wichtige Größe ∆ k die
Energielücke für Anregungen aus dem Grundzustand beschreibt. Die zum Aufbrechen eines
Cooper-Paares notwendige Energie ist 2E k . Entfernen wir zum Beispiel ein Elektron mit k ↑
aus einem Paarzustand (k ↑, −k ↓), so bleibt ein ungepaartes Elektron mit −k ↓ zurück. Die
beiden ungepaarten Elektronen haben die gleiche Energie.

𝑻=𝟎
3
Ek / k

1
Abb. 13.40: Quasiteilchen-Anregungsener-
gie in der Nähe der Fermi-Energie. Die
0 gestrichelte Kurve zeigt die Anregungsener-
-4 -2 0 2 4 gie von Elektronen und Löchern in einem
k / k Normalleiter.
190
874 13 Supraleitung

Das Ergebnis (13.5.87) stellt die Dispersionsrelation der Anregungen aus dem supraleiten-
den Grundzustand dar. Sie ist in Abb. 13.40 zusammen mit der Dispersionsrelation freier
Elektronen in einem normalleitenden Metall, E k = ξ k , dargestellt. Die Natur der Anregungen
aus dem supraleitenden Grundzustand ist nicht sofort einsehbar. Sie stellen im Allgemeinen
gemischte Zustände aus elektronen- und lochartigen Einteilchenanregungen dar und wer-
den als Quasiteilchen bezeichnet. Quasiteilchen mit ξ k > 0 haben elektronenartigen, solche
mit ξ k < 0 lochartigen Charakter. Für ξ k ≫ 0 und ξ k ≪ 0 liegen jeweils reine Elektronen und
reine Löcher vor. Für ξ k = 0 haben wir es mit einer gleichgewichtigen Überlagerung eines
Elektrons mit Wellenvektor k und eines Lochs mit Wellenvektor −k zu tun. Dies wird sofort
klar, wenn wir uns vor Augen führen, dass eine Einteilchenanregung in Zustand k nur dann
existieren kann, wenn der Zustand −k nicht besetzt ist, also ein Loch mit Wellenvektor −k
existiert. Wäre der Zustand −k nämlich besetzt, würde sich sofort ein Cooper-Paar bilden.
Die Zustandsdichte der Quasiteilchen in einem Supraleiter erhalten wir aus der Tatsache,
dass beim Übergang in den supraleitenden Zustand keine Zustände verloren gehen. Es muss
deshalb ∫ D s (E k )dE k = ∫ D n (ξ k )d ξ k = ∫ D n (ξ k )(d ξ k ⇑dE k )dE k gelten. In der unmittelba-
ren Nähe zur Fermi-Energie können wir in guter Näherung D n (ξ k ) ≃ D n (E F ) = const an-
nehmen und erhalten für T = 0 die Quasiteilchen-Zustandsdichte

)︀
d ξ k ⌉︀
⌉︀ D n (E F ) ⌉︂E 2 −∆ 2
⌉︀ Ek > ∆
Ek
für
D s (E k ) = D n (ξ k ) = ⌋︀ k . (13.5.88)
dE k ⌉︀⌉︀
⌉︀ Ek < ∆
]︀0 für

In Abb. 13.41a ist diese Zustandsdichte zusammen mit der Zustandsdichte eines Normallei-
ters gezeigt. Wir sehen, dass D s (E k ) bei E k = ∆ divergiert und für E k ≫ ∆ in die Zustands-

(a) 4 (b)4
Pb/MgO/Mg
𝚫 = 𝟏. 𝟑𝟒 meV
3 3 𝑻 = 𝟎. 𝟑𝟑 K
𝑫𝒔 𝑫𝒔
Ds / Dn(EF)
Ds / Dn(EF)

2 2

𝑫𝒏 𝑫𝒏
1 1

0 0
0 1 2 3 4 0 4 8 12
Ek / k E/

Abb. 13.41: (a) Zustandsdichte der Quasiteilchen als Funktion der Anregungsenergie E191k
in einem
Supraleiter bei T = 0. (b) Gemessene Zustandsdichte von Blei normiert auf die Zustandsdichte im
Normalzustand als Funktion der normierten Anregungsenergie. Die Messung wurde mit einem
Pb/MgO/Mg-Tunnelkontakt bei 0.33 K durchgeführt (nach I. Giaever, Phys. Rev. 126, 941 (1962)).
13.5 Mikroskopische Theorie 875

dichte des Normalleiters übergeht. Die Zustandsdichte wurde erstmals von Ivar Giaever167
mit Hilfe von Tunnelspektroskopie direkt gemessen.168 Das Ergebnis ist in Abb. 13.41b ge-
zeigt.

13.5.4 Quasiteilchentunneln
Da die Untersuchung der Zustandsdichte und die Bestimmung der Größe der Energielücke
häufig mit Hilfe von Tunnelexperimenten durchgeführt wird, diskutieren wir im Folgenden
das Tunneln von Quasiteilchen zwischen zwei Supraleitern, die durch eine dünne isolierende
Barriere getrennt sind. Die Tunnelprozesse führen zu einer endlichen Kopplung der beiden
Supraleiter, die wir mit dem Hamilton-Operator

ℋtun = ∑ Tkq c kσ

c qσ + c.c. (13.5.89)
kqσ

beschreiben können. Hierbei ist Tkq das Tunnelmatrixelement, das durch die Eigenschaften

der Tunnelbarriere bestimmt ist, und c kσ c qσ beschreibt die Erzeugung eines Elektrons mit
Wellenvektor k im einen und die Vernichtung eines Elektrons mit Wellenvektor q im anderen
Supraleiter (der Spin soll beim Tunnelprozess erhalten bleiben). Der konjugiert komplexe
Term beschreibt den umgekehrten Prozess.
Wir müssen jetzt allerdings beachten, dass die Elektronenzustände in einem Supraleiter
durch die Quasiteilchen-Erzeugungs- und Vernichtungsoperatoren ausgedrückt werden
müssen [vergleiche hierzu (13.5.58) und (13.5.59)]. Da das Tunneln in den Zustand k
nur dann möglich ist, wenn der Paarzustand (k ↑, −k ↓) nicht besetzt ist, ist die zuge-
hörige Tunnelwahrscheinlichkeit ∝ ⋃︀u k ⋃︀2 ⋃︀Tkq ⋃︀2 , da ja ⋃︀u k ⋃︀2 gerade die Wahrscheinlichkeit
dafür angibt, dass der Paarzustand unbesetzt ist. Zu dem Zustand k gibt es aber einen
weiteren Zustand k′ mit gleicher Quasiteilchenenergie E k = E k′ , aber mit ξ k′ = −ξ k .
Da ⋃︀u(−ξ)⋃︀ = ⋃︀v(ξ)⋃︀ (vergleiche Abb. 13.40), trägt das Tunneln in den Zustand k′ mit
der Wahrscheinlichkeit ∝ ⋃︀u k′ ⋃︀2 ⋃︀Tk′ q ⋃︀2 = ⋃︀v k ⋃︀2 ⋃︀Tk′ q ⋃︀2 bei. Machen wir die vernünftige
Annahme, dass ⋃︀Tkq ⋃︀2 = ⋃︀Tk′ q ⋃︀2 , da k und k′ beide nahe am gleichen Punkt der Fermi-
Oberfläche liegen, so ist die gesamte Tunnelwahrscheinlichkeit für diese beiden Kanä-
le ∝ (⋃︀u k ⋃︀2 + ⋃︀v k ⋃︀2 )⋃︀Tkq ⋃︀2 = ⋃︀Tkq ⋃︀2 . Das heißt, die Tunnelwahrscheinlichkeit hängt im Ge-
gensatz zu anderen Prozessen wie der Absorption von Ultraschall oder elektromagnetischer
Strahlung nicht von den Kohärenzfaktoren u k und v k ab. Diese wichtige Tatsache erlaubt
es uns, das Tunneln zwischen zwei Supraleitern durch ein einfaches Halbleiter-Modell zu
beschreiben (siehe Abb. 13.42). In diesem beschreiben wir ein normales Metall durch eine
kontinuierliche Verteilung von Zuständen mit Zustandsdichte D n (E). Den Supraleiter
stellen wir wie einen Halbleiter mit Energielücke 2∆ dar, indem wir die Quasiteilchenzu-
standsdichte (13.5.88) am chemischen Potenzial µ spiegeln. In diesem Fall geht für ∆ → 0
die Quasiteilchenzustandsdichte gerade in die Zustandsdichte eines normalen Metalls

167
Ivar Giaever, geboren am 5. April 1929 in Bergen, Norwegen. Er erhielt 1973 zusammen mit Leo
Esaki und Brian David Josephson den Nobelpreis für Physik für seine theoretischen Vorhersagen zu
den Eigenschaften eines Suprastromes durch eine Tunnelbarriere, insbesondere zu den Phänomenen,
die allgemein als Josephson-Effekte bekannt sind.
168
I. Giaever, Tunneling into Superconductors at Temperatures below 1 K, Phys. Rev. 126, 941 (1962).
876 13 Supraleitung

(a) 𝑬 (b) 𝑬

𝝁𝟏 𝟐𝚫 𝝁𝟐 𝝁𝟏 𝟐𝚫 𝟐𝚫 𝝁𝟐
𝒆𝑼
𝒆𝑼
N S S S
𝑫𝟏𝒏 𝑫𝟐𝒔 𝑫𝟏𝒔 𝑫𝟐𝒔
𝑬
𝑬

𝝁𝟏 𝟐𝚫
𝝁𝟏
𝟐𝚫 𝝁𝟐 𝟐𝚫 𝝁𝟐
𝒆𝑼 𝒆𝑼 S
N
𝑫𝟏𝒔
𝑫𝟏𝒏 S S

𝑫𝟐𝒔 𝑫𝟐𝒔
194

Abb. 13.42: Zum Quasiteilchentunneln zwischen (a) einem Normalleiter (N) und einem Supraleiter (S)
sowie (b) zwischen zwei Supraleitern für zwei unterschiedliche angelegte Spannungen U. Es sind die
Zustandsdichten nach links und rechts als Funktion der Energie aufgetragen. Die besetzten Zustände
sind farbig markiert. In (a) setzt ein starker Stromanstieg bei eU ≥ ∆ und in (b) bei eU ≥ 2∆ ein, da
hier eine große Dichte von besetzten Zuständen auf der einen einer großen Dichte von unbesetzten
Zuständen auf der anderen Seite gegenübersteht.

über. Bei T = 0 sind alle Zustände bis µ(0) = E F gefüllt, für T > 0 ist die Besetzungswahr-
scheinlichkeit durch die Fermi-Funktion gegeben. Wir weisen darauf hin, dass das einfache
Halbleiter-Modell nicht angewendet werden darf, wenn Paarzustände eine Rolle bei den
Tunnelprozessen spielen. Außerdem können mit ihm keine Interferenzeffekte zwischen den
beiden entarteten Transportkanälen beschrieben werden, die als Funktion der Spannung
oder der Probendicke169 auftreten können.
Im Rahmen des Halbleiter-Modells können wir den elastischen Tunnelstrom170 von einem
Metall 1 in ein Metall 2 schreiben als

I 1→2 = C ∫ ⋃︀T⋃︀2 D 1 (E) f (E)D 2 (E + eU)(︀1 − f (E + eU)⌋︀ dE . (13.5.90)
−∞

Hierbei ist U die angelegte Spannung, C eine Proportionalitätskonstante und D 1,2 (E) sind
die jeweiligen Zustandsdichten der normal oder supraleitenden Metalle. Der Tunnelstrom
169
W. J. Tomasch, Geometrical Resonance in the Tunneling Characteristics of Superconducting Pb, Phys.
Rev. Lett. 15, 672–675 (1965).
170
Die Energie der tunnelnden Elektronen bzw. Quasiteilchen bleibt unverändert. Inelastische Tun-
nelprozesse, bei denen z. B. ein Energieaustausch mit der Tunnelbarriere stattfindet, werden hier
nicht behandelt.
13.5 Mikroskopische Theorie 877

ist also proportional zum Tunnelmatrixelement ⋃︀T⋃︀2 , das wir als spannungsunabhängig an-
genommen haben, und dem Produkt aus besetzten Zuständen D 1 (E) f (E) auf der einen und
unbesetzten Zuständen D 2 (E + eU)(︀1 − f (E + eU)⌋︀ auf der anderen Seite. Einen entspre-
chenden Ausdruck erhalten wir für den Tunnelstrom I 2→1 in die entgegengesetzte Richtung.
Der Nettotunnelstrom ergibt sich aus der Differenz zu

I(U) = C ∫ ⋃︀T⋃︀2 D 1 (E)D 2 (E + eU)(︀ f (E) − f (E + eU)⌋︀ dE . (13.5.91)
−∞

13.5.4.1 Tunneln zwischen Normalleitern


Wir betrachten zuerst einen Normalleiter/Isolator/Normalleiter (NIN) Tunnelkontakt. Da
üblicherweise die anliegende Spannung eU ≪ µ und bei Metallen bei nicht allzu hohen
Temperaturen µ ≃ E F , können wir vereinfachend D n (E + eU) ≃ D n (E F ) = const annehmen
und erhalten

I(U) = C⋃︀T⋃︀ D n1 (E F )D n2 (E F ) ∫ f (E) − f (E + eU) dE
2

−∞
= C⋃︀T⋃︀2 D n1 (E F )D n2 (E F )eU = G nn U . (13.5.92)

Wir sehen, dass der Tunnelstrom proportional zur anliegenden Spannung und unabhängig
von der Temperatur ist. Wir erhalten also eine Ohmsche Kennlinie, deren Steigung durch
den Leitwert G nn bestimmt ist.

13.5.4.2 Tunneln zwischen Normalleiter und Supraleiter


Mit der gleichen Annahme wie oben, D n (E + eU) ≃ D n (E F ) = const, erhalten wir für einen
NIS-Tunnelkontakt

D s2 (E)
I ns (U) = C⋃︀T⋃︀2 D n1 (E F )D n2 (E F ) ∫ (︀ f (E) − f (E + eU)⌋︀ dE
D n2 (E F )
−∞

G nn D s2 (E)
= ∫ (︀ f (E) − f (E + eU)⌋︀ dE . (13.5.93)
e D n2 (E F )
−∞

Da die Zustandsdichte D s2 (E) bei T = 0 für e⋃︀U⋃︀ < ∆ verschwindet [vergleiche (13.5.88) und
Abb. 13.42a], verschwindet auch der Tunnelstrom in diesem Spannungsbereich. Für eU ≥ ∆
steigt der Tunnelstrom dann stark an, da hier eine große Dichte von besetzten Zuständen
im Normalleiter einer großen Dichte von unbesetzten Zuständen im Supraleiter gegenüber-
steht (siehe Abb. 13.43a). Für negative Spannungen wäre es genau umgekehrt, so dass eine
bezüglich U = 0 symmetrische Kennlinie resultiert.
Für den differentiellen Tunnelleitwert erhalten wir

dI ns D s2 (E) ∂ f (E + eU)
G ns (U) ≡ = G nn ∫ ⌊︀− }︀ dE . (13.5.94)
dU D n2 (E F ) ∂(eU)
−∞
878 13 Supraleitung

(a) 2.0 (b) 4

N/S S/S
1.5 3

𝑻 > 𝑻𝒄 𝑻 > 𝑻𝒄
Ins / (Gnn/e) (0)

Iss / (Gnn/e) (0)


1.0 2

𝟎 ≤ 𝑻 ≤ 𝑻𝒄 𝟎 ≤ 𝑻 ≤ 𝑻𝒄
0.5 1

𝑻=𝟎 𝑻=𝟎

0.0 0
0.0 0.5 1.0 1.5 2.0 0 1 2 3 4
eU / (0) eU / (0)

Abb. 13.43: Strom-Spannungs-Charakteristiken für einen (a) NIS- und (b) SIS-Tunnelkontakt für T =
0 (durchgezogen) und 0 < T < Tc (gestrichelt) und T ≥ Tc (gepunktet).

Da −∂ f (E + eU)⇑∂(eU) eine glockenförmige Gewichtsfunktion mit Schwerpunkt bei eU,


Breite ∼ 4k B T und Fläche eins ist, erhalten wir für T → 0 den Zusammenhang 195

D s2 (eU)
G ns (U) = G nn . (13.5.95)
D n2 (E F )

Wir können also durch Messung des Tunnelleitwerts bei tiefen Temperaturen direkt die Zu-
standsdichte des Supraleiters bestimmen. Bei endlichen Temperaturen beschreibt G ns (U)
die mit etwa ±2k B T verschmierte Zustandsdichte.

Phononenstruktur: Oft weist der experimentell gemessene Verlauf von D s2 (E)⇑D n2 (E F )


Abweichungen vom BCS-Ergebnis (13.5.88) auf. Bereits Giaever et al. stellten fest, dass die-
se Abweichungen mit der Phononenstruktur des untersuchten Supraleiters in Verbindung
gebracht werden können (vergleiche hierzu Abb. 13.41). Schrieffer et al.171 , 172 wiesen darauf
hin, dass die Zustandsdichte durch

D s2 (E) ⎛ E ⎞
= R ⌈︂ . (13.5.96)
D n2 (E F ) ⎝ E 2 − ∆2 (E) ⎠

gegeben sein sollte. Falls ∆ reell und energieunabhängig ist, resultiert daraus wiederum der
BCS-Ausdruck (13.5.88). Im Falle von stark koppelnden Supraleitern wird ∆ allerdings kom-
plex und energieabhängig. Der komplexe Anteil kommt durch eine endliche Lebensdauer
der Quasiteilchenanregungen durch Zerfall unter Erzeugung von Phononen zustande. Die-
ser ist immer dann groß, wenn eine große Phononenzustandsdichte F(ω) und eine starke
171
J. R. Schrieffer, D. J. Scalapino, J. W. Wilkins, Effective Tunneling Density of States in Superconductors,
Phys. Rev. Lett. 10, 336–339 (1963).
172
D. J. Scalapino, J. R. Schrieffer, J. W. Wilkins, Strong-Coupling Superconductivity I, Phys. Rev. 148,
263–279 (1966).
13.5 Mikroskopische Theorie 879

Elektron-Phonon-Kopplungsstärke α vorliegt. Es gibt eine dazu korrespondierende Reso-


nanz in R(∆). Eliashberg173 zeigte, dass die entscheidende Größe α 2 F(ω) ist. Diese kann
theoretisch174 berechnet und experimentell175 durch Invertieren der gemessenen Tunnelda-
ten bestimmt werden.

13.5.4.3 Tunneln zwischen zwei Supraleitern


Für einen SIS-Tunnelkontakt erhalten wir

G nn D s1 (E + eU) D s2 (E)
I ss (U) = ∫ (︀ f (E) − f (E + eU)⌋︀ dE . (13.5.97)
e D n1 (E F ) D n2 (E F )
−∞

Die resultierende Kennlinie ist in Abb. 13.43b gezeigt. Qualitativ können wir sagen, dass der
Tunnelstrom für 0 ≤ eU < 2∆ klein sein wird, da hier nur eine kleine Dichte von thermisch
angeregten Quasiteilchen in Supraleiter 1 bzw. eine kleine Dichte von freien Zuständen in
Supraleiter 2 vorhanden ist. Für T = 0 würde der Tunnelstrom in diesem Spannungsbereich
vollkommen verschwinden. Für negative Spannungen wäre es genau umgekehrt, so dass wir
eine bezüglich U = 0 symmetrische Kennlinie erhalten. Bei Spannungen eU ≥ 2∆ steigt der
Tunnelstrom dann stark an, da hier eine große Dichte von Quasiteilchenzuständen in Su-
praleiter 1 einer großen Dichte von freien Zuständen in Supraleiter 2 gegenübersteht (siehe
Abb. 13.42b).

13.5.5 Thermodynamische Größen


Wir wollen in diesem Abschnitt diskutieren, welche Vorhersagen die BCS-Theorie für
die relevanten thermodynamischen Größen eines Supraleiters macht. Da die BCS-
Theorie eine Aussage über die Temperaturabhängigkeit der Energielücke macht, wird
dadurch auch die Besetzungswahrscheinlichkeit der Quasiteilchenanregungen festgelegt.
die Fermi-Funktion f (E k ) = (︀exp(E k ⇑k B T) + 1⌋︀−1 gegeben, in die ∆ k (T)
Sie ist durch ⌈︂
über E k (T) = ξ k2 + ∆2k (T) eingeht. Damit ist auch die Entropie des Elektronensystems, in
die nur die Besetzungswahrscheinlichkeit für die Quasiteilchen eingeht, zu

S s = −2k B ∑ {(︀1 − f (E k )⌋︀ ln(︀1 − f (E k )⌋︀ + f (E k ) ln f (E k )} (13.5.98)


k

festgelegt. Aus diesem Ausdruck können wir die Wärmekapazität C s = T(∂S s ⇑∂T) p,B ext ab-
leiten. Wir erhalten
∂ f (E k ) f (E k )
C s = −2k B T ∑ ln ( ). (13.5.99)
k ∂T 1 − f (E k )
173
G. M. Eliashberg, Interactions Between Electrons and Lattice Vibrations in a Superconductor, Zh.
Eksperim. i Teor. Fiz 38, 966 (1960); Soviet Phys. JETP 11, 696 (1960).
174
J. Carbotte, Properties of boson-exchange superconductors, Rev. Mod. Phys. 62, 1027–1157 (1990).
175
W. L. McMillan, J. M. Rowell, Lead Phonon Spectrum Calculated from Superconducting Density of
States, Phys. Rev. Lett. 14, 108–112 (1965).
880 13 Supraleitung

Nach einigen Umformungsschritten ergibt sich daraus

2 ∂ f (E k ) 2 1 d∆2k (T)
Cs = ∑− (E k − T ). (13.5.100)
T k ∂E k 2 dT

Der erste Term in der Klammer resultiert dabei aus der üblichen Umverteilung der Qua-
siteilchen auf die verfügbaren Energieniveaus bei einer Temperaturänderung, während der
zweite Term die Auswirkung der temperaturabhängigen Energielücke beschreibt, die zu ei-
ner Veränderung der Energieniveaus selbst führt. Die Größe

1 ∂ f (E k ) 1 d ξk
Y(T) = ∑− = ∫ (13.5.101)
D(E F )V k ∂E k 4k B T cosh2 2kEBkT
−µ

ist dabei die so genannte Yosida-Funktion, welche die Temperaturabhängigkeit der normal-
fluiden Dichte n n (T) = nY(T) beschreibt.
Wir betrachten zuerst den Fall tiefer Temperaturen, T ≪ Tc , wo wir die Näherungen
d⋃︀∆ k ⋃︀2 (T)⇑dT ≃ 0 und f (E k ) ≃ exp(−E k ⇑k B T) verwenden können. Wir nehmen ferner
zur Vereinfachung wieder ⋃︀∆ k ⋃︀ = ∆ an. Führen wir die Summe in eine Integration über, so
ergibt sich176
⌈︂ ∞
D(E F ) 2 − ξ 2 −∆ 2 (0)⇑k B T
Cs ≃ ∆ (0) ∫ e dξ
kB T 2
0

D(E F ) 2
∆ (0)e−∆(0)⇑k B T ∫ e−ξ ⇑2k B T d ξ .
2
≃ (13.5.102)
kB T 2
0
)︁⌊︂⌊︂⌈︂
⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ]︂⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ )︂
πk B T ∆(0)⇑2

Für T ≪ Tc erhalten wir also eine exponentielle Abnahme der Wärmekapazität, da


hier ∆(T) ≃ ∆(0) ≫ k B T und deshalb nur sehr wenige Quasiteilchen thermisch an-
geregt sind. Wie Abb. 13.44 zeigt, kann aus der Messung der Temperaturabhängigkeit
der spezifischen Wärme die Energielücke bestimmt werden. Im Bereich 0.5 < T⇑Tc < 1
nimmt ∆(T) dann schnell ab, wodurch jetzt ∆(T) < k B T. Insgesamt können jetzt durch
das Zusammenwirken der kleineren Energielücke, der höheren thermischen Energie und
der hohen Zustandsdichte bei E k = ∆ k viele Quasiteilchen zusätzlich angeregt werden.
Dadurch wird in diesem Temperaturbereich C s größer als der Wert C n im normalleitenden
Zustand. Interessant ist das Verhalten bei T ≃ Tc . Hier geht ∆(T) gegen null, weshalb
wir E k durch ⋃︀ξ k ⋃︀ ersetzen können. Der erste Term in (13.5.100) ergibt dann gerade die
Wärmekapazität im Normalzustand [vergleiche (7.2.6)]

π2
C n = γV T = D(E F )k B2 T , (13.5.103)
3
wobei γ der Sommerfeld-Koeffizient ist.
176
⌈︂ ⌈︂
Wir nehmen hier ∆2 + ξ 2 = ∆2 (︀1 + (ξ 2 ⇑∆2 )⌋︀ ≃ ∆2 und ∆2 + ξ 2 = ∆ 1 + (ξ 2 ⇑∆2 ) ≃ ξ 2 ⇑2∆ an,
da ∂ f (E k )⇑∂E k nur für sehr kleine Werte von ξ⇑∆ großes Gewicht hat.
13.5 Mikroskopische Theorie 881

(a) (b) 24

1 𝑻𝒄
∝ 𝟗. 𝟏𝟕 𝐞𝐱𝐩 −𝟏. 𝟓

/ T (mJ/K mol)
𝑻
16

2
cs / Tc

0.1
8

mol
Vanadium Vanadium 𝑩𝐞𝐱𝐭 = 𝟎

c
Zinn Vanadium 𝑩𝐞𝐱𝐭 > 𝑩𝐜𝐭𝐡
0.01 0
1 2 3 4 0 10 20
2
Tc / T T (K )

Abb. 13.44: (a) Temperaturabhängigkeit der spezifischen Wärme von Zinn und Vanadium. (b) Sprung
der elektronischen spezifischen Wärme von Vanadium bei Tc . Die spezifische Wärme im normallei-
tenden Zustand wird durch Unterdrückung der Supraleitung mit einem externen Feld B ext > B cth ge-
messen (nach M. A. Biondi, A. T. Forrester, M. P. Garfunkel, C. B. Satterthwaite, Rev. Mod. Phys. 30,
1109–1136 (1958)). 201

Der zweite Term in (13.5.100) ist für T < Tc endlich, da d∆2 (T)⇑dT endlich ist, und ver-
schwindet oberhalb von Tc . Dies resultiert in einem Sprung der Wärmekapazität bei Tc , der
gegeben ist durch

D(E F ) d∆2 (T) −∂ f (E k )
∆C = (C s − C n )Tc = ( ) ∫ ( ) d ξk
2
2k B Tc dT ∂⋃︀ξ k ⋃︀
Tc −∞

D(E F ) −d∆ (T)


2
= ( ) . (13.5.104)
2 dT Tc

Benutzen wir ∆(0) = 1.76k B Tc und die Näherung (13.5.80), so erhalten wir ∆C =
4.7D(E F )k B2 Tc und damit

∆C 4.7
= = 1.43 . (13.5.105)
C n π 2 ⇑3

Diese Vorhersage der BCS-Theorie stimmt mit den experimentellen Daten vieler schwach
koppelnder Supraleiter sehr gut überein (siehe Abb. 13.44). Ein weiteres Beispiel haben wir
bereits in Abb. 13.13 gezeigt.
Nachdem wir die Wärmekapazität C s (T) mit (13.5.100) bestimmt haben (dies muss nu-
merisch erfolgen), können wir C s (T) aufintegrieren, um die Änderung 𝒰n − 𝒰s der inne-
ren Energie sowie 𝒢n − 𝒢s der freien Enthalpie zu erhalten, wenn wir unter Tc abkühlen.
Bei T = Tc muss die innere Energie im normal- und supraleitenden Zustand gleich sein. Es
gilt also
Tc

𝒰s (Tc ) = 𝒰n (Tc ) = 𝒰n (0) + ∫ C n dT = 𝒰n (0) + 12 γV Tc2 . (13.5.106)


0
882 13 Supraleitung

Da wir 𝒰s (T) durch 𝒰s (Tc ) − ∫T c C s dT ausdrücken können, erhalten wir


T

Tc

𝒰s (T) = 𝒰n (0) + 12 γV Tc2 − ∫ C s dT . (13.5.107)


T

Für die freie Enthalpie im supraleitenden Zustand ergibt sich damit

Tc

𝒢s (T) = 𝒰s (T) − T S s (T) + pV = 𝒰n (0) + 21 γV Tc2 − ∫ C s dT − T S s (T) +pV


T
)︁⌊︂⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ]︂⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ )︂
−γV Tc2
= 𝒰n (0) − 12 γV Tc2 + pV .
(13.5.108)

Für die freie Enthalpie im normalleitenden Zustand erhalten wir


T
𝒢n (T) = 𝒰n (T) − S n (T)T + pV = U n (0) + ∫ C n dT −S n (T)T +pV
T=0 )︁⌊︂⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ]︂⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ )︂
)︁⌊︂⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂]︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ )︂ −γV T
2

+ 12 γV T 2
= 𝒰n (0) − 12 γV T 2 + pV . (13.5.109)

Wenn wir annehmen, dass beim Übergang in den supraleitenden Zustand das Gitter unver-
ändert bleibt (pV = const), erhalten wir für die Differenz der freien Enthalpien

1 1 T 2
𝒢n (T) − 𝒢s (T) = γV (Tc2 − T 2 ) = γV Tc2 ⌊︀1 − ( ) }︀ . (13.5.110)
2 2 Tc
B2
Da 𝒢n (T) − 𝒢s (T) gerade der Kondensationsenergie V 2µcth0 entspricht, erhalten wir

B 2cth 1 T 2 1 T 2
V = γV Tc2 ⌊︀1 − ( ) }︀ ≃ ∆2 (0)D(E F ) ⌊︀1 − ( ) }︀ . (13.5.111)
2µ 0 2 Tc 4 Tc
2
Hierbei haben wir die Sommerfeld-Konstante γV = π3 k B2 D(E F ) und ∆(0)⇑k B Tc = 1.764 be-
nutzt [vergleiche (7.2.8)]. Wir sehen also, dass wir bei Kenntnis von ∆(T) alle relevanten
thermodynamischen Größen eines Supraleiters berechnen können. Die erhaltenen Abhän-
gigkeiten entsprechen den in Abb. 13.11 und 13.12 gezeigten qualitativen Abhängigkeiten.177
Der Vorfaktor 14 ∆2 (0)D(E F ) ist die bereits oben diskutierte Kondensationsenergie bei T = 0
[vergleiche (13.5.83)].
177
Für B cth erhalten wir nach (13.5.111) die Temperaturabhängigkeit B cth (T) = B cth (0)(︀1 − (T⇑Tc )⌋︀.
Da wir zur Herleitung den Ausdruck (13.5.80) benutzt haben, der nur in der Nähe von Tc
gilt, weicht diese Abhängigkeit natürlich von der empirisch gefundenen Abhängigkeit B cth (T) =
B cth (0)(︀1 − (T⇑Tc )2 ⌋︀ ab. Berechnen wir B cth (T) mit Hilfe von (13.5.79) für 0 < T < Tc numerisch,
so finden wir Abweichungen von bis zu etwa 5% zwischen dem BCS-Ergebnis und der empirisch
gefundenen Abhängigkeit.
13.6 Josephson-Effekt 883

13.6 Josephson-Effekt
In Abschnitt 13.5.4 haben wir das Quasiteilchentunneln in einem Supraleiter-Isolator-Su-
praleiter (SIS) Kontakt diskutiert. Wir haben dabei aber das Tunneln von Cooper-Paaren
nicht diskutiert. Lange Zeit hat man geglaubt, dass das Tunneln von Cooper-Paaren zwar
möglich, aber unmessbar klein ist. Da bereits die Tunnelwahrscheinlichkeit von einzelnen
Elektronen typischerweise kleiner als 10−4 ist, erwartete man für das Tunneln eines Cooper-
Paares die extrem kleine Wahrscheinlichkeit von weniger als (10−4 )2 . Im Jahr 1962 durch-
brach Brian Josephson178 diese Denkweise. Er postulierte, dass die Tunnelwahrscheinlich-
keit von Cooper-Paaren genauso groß wie diejenige von ungepaarten Elektronen ist, da das
Tunneln von Cooper-Paaren einen kohärenten Prozess darstellt. Das heißt, wir sollten das
Tunneln von Cooper-Paaren nicht als zwei inkohärente Tunnelprozesse von zwei einzelnen
Elektronen, sondern als einen kohärenten Tunnelprozess des Paares betrachten, für den die
Tunnelwahrscheinlichkeit genauso groß ist wie für das Tunneln eines einzelnen Elektrons.
Analog können wir argumentieren, dass die makroskopische Wellenfunktion, welche die
Gesamtheit der supraleitenden Elektronen beschreibt, durch die Barriere tunnelt. Nur ein
Jahr später bestätigten Philip W. Anderson und John M. Rowell179 die Vorhersage von Bri-
an Josephson. Wir werden sehen, dass sie eine direkte Konsequenz der makroskopischen
Quantennatur des supraleitenden Zustandes ist.

13.6.1 Die Josephson-Gleichungen


Bei der Herleitung der Josephson-Gleichungen werden wir uns auf Spin-Singulett-Supralei-
ter mit s-Wellensymmetrie (S = 0, L = 0) beschränken, die durch eine dünne Tunnelbarrie-
re gekoppelt sind. Die Diskussion kann auf andere Supraleiter und andere Kopplungsarten
(z. B. über einen Normalleiter, Halbleiter oder eine Einschnürung in einem Supraleiter) er-
weitert werden.180 Wir betrachten den in Abb. 13.45 gezeigten SIS-Kontakt und folgen bei
der Herleitung der Josephson-Gleichungen allgemeinen Argumenten, die ursprünglich von

𝒛 𝑾

I
1 2 𝒚
𝑳 Abb. 13.45: Schematische Darstellung der Geo-
S1 S2 metrie eines Josephson-Tunnelkontakts. Die
zwei Supraleiter mit Wellenfunktionen Ψ1 =
⌋︂ ⌋︂
Ψ1 = 𝑛𝑠,1 e𝑖𝜃1 𝟎 Ψ2 = 𝑛𝑠,2 e𝑖𝜃2 𝒙 n s,1 e ı θ 1 und Ψ2 = n s,2 e ı θ 2 werden über eine
𝒅 Tunnelbarriere der Dicke d gekoppelt.

178
Brian D. Josephson, Possible New Effects in Superconductive Tunnelling, Phys. Lett. 1, 251–253
(1962).
179
P. W. Anderson, J. M. Rowell, Probable Observation of the Josephson Superconducting Tunneling Ef-
fect, Phys. Rev. Lett. 10, 230–232 (1963).
180
Dynamics of Josephson Junctions and Circuits, K. K. Likharev, Gordon and Breach Science Publis-
hers, New York (1986).
884 13 Supraleitung

Brian David Josephson (geboren 1940)


Brian David Josephson wurde am 4. Januar 1940 in Cardiff,
Glamorgan, Wales geboren. Er postulierte als 22-jähriger
Student den nach ihm benannten Josephson-Effekt und er-
hielt dafür 1973 zusammen mit Leo Esaki und Ivar Giae-
ver den Nobelpreis für Physik. Brian Josephson besuchte die
Cardiff High School und anschließend das Trinity College,
Cambridge, wo er 1960 seinen Bachelor-Abschluss mach-
te. Anschließend studierte er in Cambridge weiter und er-
hielt dort 1964 seinen Doktortitel. Im Jahr 1962 wurde er
Mitglied des Trinity College. Nach Abschluss seiner Doktor-
arbeit arbeitete Josephson von 1965 bis 1966 als Forschungs-
Quelle Wikimedia Commons.
professor an der University of Illinois. 1967 kehrte er nach Brian David Josephson (born 1940)

Cambridge zurück und wurde dort stellvertretender For-


schungsleiter. 1972 wurde er zum Assistenzprofessor und 1974 zum Professor für Physik
ernannt. 1970 wurde er zum Mitglied der Royal Society gewählt.
Bereits in seiner Zeit als Bachelor-Student interessierte sich Josephson für das Phänomen
Supraleitung. Er begann die Eigenschaften eines Kontakts zwischen zwei Supraleitern zu
analysieren, der heute nach ihm Josephson-Kontakt genannt wird. Er erweiterte frühere
Arbeiten von Esaki und Giaever zum Tunneleffekt. Insbesondere zeigte er, dass das Tun-
neln zwischen zwei Supraleitern ganz spezielle Eigenschaften aufzeigen konnte: Erstens
fließt ein endlicher Tunnelstrom im spannungslosen Zustand und zweitens oszilliert die-
ser Strom zeitlich im Falle eines endlichen Spannungsabfalls über die Tunnelbarriere, wo-
bei die Oszillationsfrequenz proportional zur anliegenden Spannung ist. Dies bedeutete
die Entdeckung des nach ihm benannten Josephson-Effekts. Er bildet heute die Basis für
zahlreiche Anwendungen der Supraleitung, die von digitalen Schaltkreisen (Josephson-
Computer) über hochempfindliche Magnetfeldsensoren (supraleitende Quanteninterfero-
meter) und supraleitende Quantenbits bis zur Realisierung eines Eichstandards für das Volt
(Josephson-Voltstandard) reichen.
Einige Jahre nach Verleihung des Nobelpreises wuchs das Interesse Josephsons an der
möglichen Bedeutung des östlichen Mystizismus für das wissenschaftliche Verständnis.
Im Jahr 1980 gab er zusammen mit V. S. Ramachandran das Protokoll des Internationalen
Symposiums über Bewusstsein in Oxford unter dem Titel Consciousness and the Physical
World heraus.

L. D. Landau und E. M. Lifschitz181 eingeführt wurden. Mit diesen Argumenten lassen sich
die beiden Josephson-Gleichungen aus den allgemeinen Ausdrücken für die Suprastrom-
dichte (13.3.20) und die Energie-Phasen-Beziehung (13.3.23) ableiten. Dies zeigt uns, dass
die Josephson-Gleichungen eine direkte Konsequenz der makroskopischen Quantennatur
des supraleitenden Zustandes sind.

181
L. D. Landau, E. M. Lifschitz, Lehrbuch der Theoretischen Physik, Bd. IX, Akademie-Verlag, Berlin
(1980).
13.6 Josephson-Effekt 885

13.6.1.1 1. Josephson-Gleichung: Strom-Phasen-Beziehung


Wir erwarten, dass ein Suprastrom zwischen zwei schwach gekoppelten Supraleitern außer
von den Eigenschaften der Tunnelbarriere von den Dichten ⋃︀Ψ1 ⋃︀2 = n s,1 und ⋃︀Ψ2 ⋃︀2 = n s,2 des
supraleitenden Kondensats und den Phasen θ 1 und θ 2 der makroskopischen Wellenfunktio-
nen in den beiden Kontaktelektroden abhängt. Da aber die Kopplung zwischen den beiden
Supraleitern sehr klein ist, wird die Suprastromdichte zwischen ihnen so gering sein, dass
wir in guter Näherung annehmen können, dass ⋃︀Ψ1 ⋃︀2 und ⋃︀Ψ2 ⋃︀2 unverändert bleiben. Um zu
diskutieren, wie die Suprastromdichte von den Phasen θ 1 und θ 2 abhängt, verwenden wir
den in Abschnitt 13.3.2 abgeleiteten allgemeinen Ausdruck (13.3.20) für die Suprastrom-
dichte
ħ qs qs ns ħ
Js = q s n s (r, t) { ∇θ(r, t) − A(r, t) = γ(r, t) . (13.6.1)
ms ms ms
Wir halten unsere Diskussion einfach, indem wir annehmen, dass die Stromdichte in der
yz-Ebene homogen ist. Wir nehmen ferner an, dass der eichinvariante Phasengradient γ in
den Kontaktelektroden konstant ist (siehe Abb. 13.46). Diese Annahme ist gerechtfertigt,
solange die Cooper-Paardichte n s , wie in Abb. 13.46 gezeigt, in den Kontaktelektroden viel
größer als in der Barrierenregion ist. Da aufgrund der Stromerhaltung Js in den Elektroden
und der Barrierenregion gleich sein muss, ist gemäß (13.6.1) der eichinvariante Phasengra-
dient in den Elektroden tatsächlich im Vergleich zur Barrierenregion vernachlässigbar klein.
Wir können dann den Phasengradienten γ = ∇θ − Φ2π0 A durch eine eichinvariante Phasen-
differenz φ ersetzen, die durch
2 2

φ(r, t) = ∫ γ(r, t) = ∫ (∇θ − A) ⋅ dl
Φ0
1 1
2

= θ 2 (r, t) − θ 1 (r, t) − ∫ A(r, t) ⋅ dl (13.6.2)
Φ0
1

gegeben ist. Die Integration erfolgt dabei in Richtung des Suprastromes, d. h. senkrecht zur
Barriere. Für die Geometrie in Abb. 13.45 erstreckt sich der Integrationspfad von Punkt 1
bei x = −d⇑2 nach Punkt 2 bei x = d⇑2.

1.0
𝑛𝑠 𝑥
∫ 𝛾 𝑥 d𝑥, 𝛾 𝑥 (arb. units)

0.5
ns /n

0.0
𝛾 𝑥
Abb. 13.46: Schematische Darstellung der Va-
-0.5 riation der Cooper-Paardichte n s und des ei-
chinvarianten Phasengradienten γ über den
∫ 𝛾 𝑥 d𝑥 Barrierenbereich (farbig hinterlegt) eines Jo-
-1.0 sephson-Kontakts, der sich in x-Richtung er-
-6 -4 -2 0 2 4 6 streckt. Ebenfalls gezeigt ist das Integral ∫ γdx
x (arb. units) des eichinvarianten Phasengradienten.
886 13 Supraleitung

Nach (13.6.1) erwarten wir, dass die Suprastromdichte J s nur eine Funktion von φ ist, das
heißt, J s = J s (φ). Da allerdings eine Phasenänderung von n ⋅ 2π (n = ganze Zahl) die Wel-
lenfunktionen Ψ1 und Ψ2 der Kontaktelektroden unverändert lässt, muss J s (φ) eine 2π-pe-
riodische Funktion sein:

J s (φ) = J s (φ + n2π) . (13.6.3)

Schließlich muss für J s = 0 auch die Phasendifferenz φ verschwinden. Es muss deshalb

J s (φ = 0) = J s (φ = n ⋅ 2π) = 0 (13.6.4)

gelten. Daraus können wir schließen, dass der Zusammenhang zwischen J s und φ im allge-
meinsten Fall die Form182

J s (φ) = J c sin φ + ∑ J m sin(mφ) (13.6.5)
m=2

hat. Dabei ist J c die kritische oder maximale Josephson-Stromdichte, die durch die Stärke
der Kopplung zwischen den beiden Kontaktelektroden bestimmt wird. Gleichung (13.6.5)
stellt die allgemeine Formulierung der 1. Josephson-Gleichung dar. Sie wird auch als Strom-
Phasen-Beziehung bezeichnet, da sie die Suprastromdichte mit der Phasendifferenz ver-
knüpft. Eine weitergehende theoretische Behandlung zeigt, dass in den meisten Fällen –
insbesondere im Fall schwacher Kopplung der Kontaktelektroden – der zweite Term auf der
rechten Seite von (13.6.5) weggelassen werden kann, wodurch wir die Beziehung (vergleiche
hierzu Anhang H.4)

J s (φ) = J c sin φ (13.6.6)

erhalten, die von Josephson in seiner ursprünglichen Arbeit abgeleitet wurde. Sie besagt:

Die Suprastromdichte über einen Josephson-Kontakt variiert sinusförmig mit der Phasen-
differenz φ zwischen den Kontaktelektroden.

Bisher haben wir eine homogene Suprastromdichte angenommen. Die Beziehung (13.6.6)
gilt aber auch bei einer inhomogenen Stromdichte lokal für jeden Punkt (y, z) der Kon-
taktfläche (siehe Abb. 13.45). Einen inhomogenen Kontakt können wir durch die kritische
Stromdichte J c (y, z) charakterisieren, mit der wir die Strom-Phasen-Beziehung zu

J s (y, z, t) = J c (y, z) sin φ(y, z, t) (13.6.7)

verallgemeinern können. Eine detailliertere Betrachtung zeigt, dass diese Verallgemeinerung


nur dann gilt, wenn der Stromfluss an jeder Stelle der Kontaktfläche nur in x-Richtung er-
folgt und keine Querströme parallel zur Kontaktfläche auftreten.

182
Wir könnten natürlich J s als Fourier-Reihe von Sinus- und Kosinus-Termen schreiben. Allerdings
erfordert (13.6.4), dass alle Koeffizienten der Kosinus-Terme verschwinden müssen.
13.6 Josephson-Effekt 887

13.6.1.2 2. Josephson-Gleichung: Spannung-Phasen-Beziehung


Zur Ableitung der 2. Josephson-Gleichung benutzen wir die Zeitableitung der eichinvarian-
ten Phasendifferenz
2
∂φ ∂θ 2 ∂θ 1 2π ∂
= − − ∫ A(r, t) ⋅ dl . (13.6.8)
∂t ∂t ∂t Φ 0 ∂t
1

Substituieren wir die Energie-Phasen-Beziehung [vergleiche (13.3.23)]

∂θ 1
−ħ = ΛJ2 + q s ϕ + µ (13.6.9)
∂t 2n s s
in (13.6.8), erhalten wir
∂φ 1 Λ 2
=− ( )︀J (2) − J2s (1)⌈︀ + q s (︀ϕ(2) − ϕ(1)⌋︀ + (︀µ(2) − µ(1)⌋︀)
∂t ħ 2n s s
2
2π ∂
− ∫ A ⋅ dl . (13.6.10)
Φ 0 ∂t
1

Da J s über die Kontaktfläche kontinuierlich sein muss, gilt Js (2) = Js (1) und wir erhalten
mit q s = 2e und Φ 0 = h⇑2e
2

∫ (−∇ϕ̃ −
∂φ 2π ∂A
= ) ⋅ dl . (13.6.11)
∂t Φ 0 ∂t
1

Hierbei haben wir die Differenz des elektrochemischen Potenzials ϕ̃ = ϕ + µ⇑q s als Linien-
integral seines Gradienten ausgedrückt. Da der Term in Klammern gerade dem elektrischen
Feld E entspricht [vergleiche (13.3.17)], erhalten wir die 2. Josephson-Gleichung zu

2
∂φ 2π
= ∫ E(r, t) ⋅ dl . (13.6.12)
∂t Φ 0
1

Das Integral ∫1 E(r, t) ⋅ dl entspricht dem Spannungsabfall U über den Kontakt, weshalb die
2

2. Josephson-Gleichung auch häufig als Spannung-Phasen-Beziehung bezeichnet wird. Die


beiden Josephson-Gleichungen (13.6.6) und (13.6.12) beschreiben zusammen mit dem Aus-
druck (13.6.10) für die eichinvariante Phasendifferenz das Verhalten von Josephson-Kontak-
ten vollständig. Die Tatsache, dass ∂φ⇑∂t proportional zur Differenz des elektrochemischen
Potenzials auf beiden Kontaktseiten ist, kann als Quanteninterferenzeffekt der makroskopi-
schen Wellenfunktionen der beiden Kontaktelektroden aufgefasst werden.
Legen wir eine konstante Spannung U über einen Josephson-Kontakt an, so ist

∂φ 2π
= U (13.6.13)
∂t Φ 0
888 13 Supraleitung

12 𝑈 = 𝐼𝑅𝑛
8

I (mA)
0
2𝐼𝑐
-4

-8
Abb. 13.47: Strom-Spannungs-Kenn- 2Δ/𝑒
linie eines Nb/AlOx /Nb-Josephson- -12
Kontakts mit einer Kontaktfläche
von 380 µm2 bei T = 4.2 K (Quel- -4 -2 0 2 4
le: Walther-Meißner-Institut). U (mV)
207

und die Phasendifferenz wächst linear mit der Zeit an:



φ(t) = φ 0 + U⋅t. (13.6.14)
Φ0
Die Josephson-Stromdichte J s (t) = J c sin φ(t) oszilliert dann mit der Josephson-Frequenz

f ω 1 MHz
= = ≃ 483.597 8525(30) . (13.6.15)
U 2πU Φ 0 µV
Ein Josephson-Kontakt kann deshalb als ein spannungsgesteuerter Oszillator betrachtet wer-
den, der zur Erzeugung hoher Frequenzen (etwa 500 GHz bei 1 mV) verwendet werden
kann. Ein Vergleich der Proportionalitätskonstanten 2e⇑h zwischen Frequenz und Span-
nung, die mit Josephson-Kontakten gewonnen wurden, die aus verschiedenen Materialien
hergestellt wurden, ergab eine extrem gute Übereinstimmung innerhalb von 2 × 10−16 .183 In
jüngeren Experimenten wurde sogar eine Übereinstimmung im Bereich von 10−19 gefun-
den. Die Größe 2e⇑h wurde deshalb von 1990 bis 2007 dafür benutzt, die Spannung über die
Frequenz zu definieren.184
Abb. 13.47 zeigt die Strom-Spannungs-Kennlinie eines Nb/AlOx /Nb-Josephson-Kontakts.
Zu erkennen ist der Josephson-Strom bei U = 0 mit einem Maximalwert von I c . Bei endli-
chen Spannungen oszilliert der Josephson-Strom sinusförmig, so dass sein zeitlicher Mit-
telwert verschwindet. Der für U > 0 gemessene Strom entspricht dann dem Quasiteilchen-
Tunnelstrom, den wir bereits in Abschnitt 13.5.4 diskutiert haben.

13.6.2 Josephson-Kontakt mit Wechselspannung


Wir betrachten nun einen Josephson-Kontakt, an den zusätzlich zu einer Gleichspannung U 0
eine Wechselspannung U 1 cos(ω 1 t) angelegt wird. Die Zeitentwicklung der Phasendifferenz
183
J. S. Tsai, A. K. Jain, J. E. Lukens, High-Precision Test of the Universality of the Josephson Voltage-
Frequency Relation, Phys. Rev. Lett. 51, 316 (1983).
184
C. J. Burroughs, S. P. Benz, 1 Volt DC Programmable Josephson Voltage Standard, IEEE Trans. Appl.
Supercond. 9, 4145–4149 (1990).
13.6 Josephson-Effekt 889

lautet dann
2eU 0 2eU 1
φ(t) = φ 0 + t+ sin(ω 1 t) . (13.6.16)
ħ ħω 1
Setzen wir dies in die Strom-Phasen-Beziehung (13.6.6) ein, so erhalten wir
2eU 0 2eU 1
J s (t) = J c sin ]︀φ 0 + t+ sin(ω 1 t){︀ . (13.6.17)
ħ ħω 1
Mit Hilfe der Fourier-Bessel-Reihe können wir diesen Ausdruck umschreiben in

2eU 1 2eU 0
J s (t) = J c ∑ 𝒥n ( ) sin ]︀φ 0 + t ± n ω 1 t{︀ . (13.6.18)
n=0 ħω 1 ħ
Hierbei sind 𝒥n die Bessel-Funktionen erster Gattung und n ist eine ganze Zahl. In Experi-
menten misst man häufig nur den Gleichstromanteil von J s (t). Wir sehen, dass dieser immer
dann endlich wird, wenn das Argument der Sinus-Funktion zeitunabhängig wird, wenn also

ħω 1
U0 = n ⋅ (13.6.19)
2e
ist. Zwischen diesen Spannungswerten oszilliert J s (t) sinusförmig, so dass sein zeitlicher
Mittelwert verschwindet. Nehmen wir die Strom-Spannungs-Kennlinie eines Josephson-
Kontakts auf, so treten in ihr bei den durch (13.6.19) gegebenen Spannungswerten Strom-
stufen auf, deren Höhe durch die Besselfunktionen 𝒥n gegeben wird, in deren Argument die
Amplitude der Wechselspannung steht. Diese Stufen werden Shapiro-Stufen genannt.185

13.6.3 Josephson-Kontakt im Magnetfeld


Die Oszillation des Josephson-Stromes bei einer endlichen Potenzialdifferenz zwischen den
Kontaktelektroden kann als zeitliche Interferenz zwischen den beiden makroskopischen
Wellenfunktionen betrachtet werden. Wir werden jetzt zeigen, dass wir auch räumliche
Interferenz beobachten können, wenn wir in einem Josephson-Kontakt räumliche Varia-
tionen der eichinvarianten Phasendifferenz durch Anlegen eines externen Magnetfeldes
erzeugen. Wir werden sehen, dass der beobachtete Effekt analog zur Beugung am Spalt in
der Optik ist.
Wir betrachten die in Abb. 13.48 gezeigte Kontaktgeometrie. Die Kontaktelektroden sind
durch eine Tunnelbarriere der Dicke d getrennt, die Kontaktfläche L ⋅ W erstreckt sich in
der yz-Ebene und der Strom fließt in x-Richtung. Wir nehmen an, dass die Dicken t 1 und t 2
der Kontaktelektroden größer als die Londonschen Eindringtiefen λ L1 und λ L2 der Elektro-
denmaterialien sind. Das äußere Magnetfeld zeigt in y-Richtung, das heißt, Bext = (0, B y , 0).
Da das Magnetfeld in die supraleitenden Elektroden auf einer durch die Londonschen Ein-
dringtiefen gegebenen Längenskala eindringt, können wir eine magnetische Dicke der Kon-
taktregion von t B = d + λ L1 + λ L2 definieren.
185
S. Shapiro, Josephson Currents in Superconducting Tunneling: The Effect of Microwaves and Other
Observations, Phys. Rev. Lett. 11, 80 (1963).
890 13 Supraleitung

𝒙 𝒙 𝒕𝟏

𝒕𝟏
S1 𝒅
𝒅
Abb. 13.48: Josephson-Kontakt im
externen Magnetfeld: Der Strom fließt +𝝀𝐋 𝑩𝒚
Qa Pd
𝒛
𝒕𝟐
in x-Richtung und das äußere Ma- 𝟎 I
gnetfeld zeigt in y-Richtung. Die rote −𝝀𝐋 Qb Pc
𝒚
gestrichelte Linie markiert den ge- 𝑩𝒚
schlossenen Integrationspfad. Auf
der linken Seite ist der exponenti- S2
𝑰
elle Abfall der Magnetfeldstärke in 𝒕𝟐 𝑳
den Kontaktelektroden skizziert.
208

Um den Effekt des äußeren Magnetfeldes zu analysieren, bestimmen wir die Ände-
rung φ(Q) − φ(P) der eichinvarianten Phasendifferenz zwischen zwei Punkten P und Q
entlang der z-Achse, die durch einen infinitesimalen Abstand dz getrennt sein sollen. Wir
können diese berechnen, indem wir die Phasengradienten und Differenzen entlang der in
Abb. 13.48 markierten geschlossenen Schleife aufintegrieren. Dabei müssen wir fordern,
dass

(θ Q b − θ Q a ) + (θ Pc − θ Q b ) + (θ Pd − θ Pc ) + (θ Q a − θ Pd ) = 2π ⋅ n (13.6.20)

(n = ganze Zahl) ist. Zur Bestimmung der einzelnen Terme verwenden wir die Ausdrücke
für den eichinvarianten Phasengradienten [vergleiche (13.3.38)]

∇θ = (ΛJs + A) (13.6.21)
Φ0
und die eichinvariante Phasendifferenz [vergleiche (13.6.2)]
2

φ = θ2 − θ1 − ∫ A ⋅ dl . (13.6.22)
Φ0
1

Führen wir die Integrationen aus, so erhalten wir

Φ
φ(P) − φ(Q) = 2π . (13.6.23)
Φ0

Wir sehen, dass die normalisierte Änderung (︀φ(P) − φ(Q)⌋︀⇑2π der eichinvarianten Pha-
sendifferenz gerade durch den normalisierten magnetischen Fluss Φ⇑Φ 0 gegeben ist, der
den Kontakt zwischen den Punkten z und z + dz durchsetzt.
Da das Magnetfeld den Kontakt nur auf einer Dicke t B = d + λ L1 + λ L2 durchsetzt, beträgt
der vom Integrationspfad eingeschlossene Fluss

Φ = B y (d + λ L1 + λ L2 )dz = B y t B dz . (13.6.24)
13.6 Josephson-Effekt 891

Mit φ(P) − φ(Q) = (2π⇑Φ 0 )B y t B dz = (∂φ⇑∂z)dz erhalten wir

∂φ 2π
= B y tB (13.6.25)
∂z Φ 0
und in analoger Weise für die y-Richtung

∂φ 2π
= − Bz tB . (13.6.26)
∂y Φ0

Wir können dann (13.6.25) und (13.6.26) zu


∇φ(r, t) = t B (︀B(r, t) × ⧹︂
x⌋︀ (13.6.27)
Φ0

zusammenfassen, wobei ⧹︂
x der Einheitsvektor in x-Richtung, also senkrecht zur Kontaktflä-
che ist.
Die Integration von (13.6.25) ergibt

φ(z) = B y t B z + φ0 , (13.6.28)
Φ0
wobei die Integrationskonstante φ 0 die Phasendifferenz bei z = 0 ist. Mit der Strom-Phasen-
Beziehung erhalten wir die Suprastromdichte


J s (y, z, t) = J c (y, z) sin ( t B B y z + φ 0 ) = J c (y, z) sin (kz + φ 0 ) . (13.6.29)
Φ0

Wir sehen, dass J s in z-Richtung sinusförmig mit der Oszillationsperiode λ z = 2π⇑k =


Φ 0 ⇑t B B y oszilliert. Wir sehen ferner, dass λ z t B B y = Φ 0 . Der magnetische Fluss, der den
Kontakt innerhalb einer Oszillationsperiode durchsetzt, entspricht also genau einem Fluss-
quant. Die Variation der Suprastromdichte entlang der z-Richtung ist in Abb. 13.49 für
verschiedene Werte des Flusses, der die gesamte Kontaktfläche durchsetzt, gezeigt.

(a) 𝒙 𝚽=𝟎 (b) 𝒙 𝚽 = 𝚽𝟎 /𝟐

Abb. 13.49: Räumliche Variation der Josephson-


𝒚 𝒛 𝒚 𝒛 Stromdichte in einem Josephson-Kontakt bei
angelegtem äußerem Magnetfeld. Die Teilbil-
der zeigen die Situation für verschiedene Wer-
(c) 𝒙 𝚽 = 𝚽𝟎 (d) 𝒙 𝚽 = 𝟑𝚽𝟎 /𝟐 te des magnetischen Flusses, der den gesam-
ten Kontakt durchsetzt: (a) Φ = 0, φ 0 = −π⇑2
(b) Φ = 12 Φ 0 , φ 0 = −π⇑2, (c) Φ = Φ 0 , φ 0 = 0
𝒚 𝒛 𝒚 𝒛
und (d) Φ = 32 Φ 0 , φ 0 = +π⇑2. Das äußere Feld
zeigt in y-Richtung, der Strom fließt in negative
x-Richtung.

209
892 13 Supraleitung

13.6.3.1 Magnetfeldabhängigkeit des Josephson-Stromes


Wir wollen jetzt diskutieren, wie der gesamte über den Kontakt fließende Josephson-
Strom I s = ∬ J s (y, z)d ydz vom äußeren Magnetfeld abhängt. Dazu integrieren wir zuerst
die maximale Josephson-Stromdichte J c (y, z) in Richtung des äußeren Magnetfeldes auf.
Nehmen wir wiederum an, dass das externe Feld in y-Richtung zeigt (Bext = (0, B y , 0)),
erhalten wir
W⇑2

i c (z) = ∫ J c (y, z) d y . (13.6.30)


−W⇑2

Die Integration in z-Richtung ergibt unter Benutzung von (13.6.29)


L⇑2

I s (B y ) = ∫ i c (z) sin (kz + φ 0 ) dz . (13.6.31)


−L⇑2

Falls J c (y, z) räumlich homogen ist, ist i c (z) = const für −L⇑2 ≤ z ≤ +L⇑2 und i c (z) = 0
für ⋃︀z⋃︀ > L⇑2 (siehe Inset von Abb. 13.50). Die Funktion i c (z) entspricht also einer Spaltfunk-
tion und die in Abb. 13.50 gezeigte Magnetfeldabhängigkeit des maximalen Josephson-Stro-
mes I sm (B y ) entspricht dem Fraunhofer-Beugungsmuster für die Beugung an einem Spalt
der Breite L. Die Integration von (13.6.31) ergibt nämlich
∫︀∫︀∫︀ sin k L ∫︀∫︀∫︀ ∫︀∫︀∫︀ sin πΦ ∫︀∫︀∫︀
I sm (Φ) = I c ∫︀∫︀∫︀∫︀∫︀ k L 2 ∫︀∫︀∫︀∫︀∫︀ = I c ∫︀∫︀∫︀∫︀∫︀ πΦ 0 ∫︀∫︀∫︀∫︀∫︀ .
Φ
(13.6.32)
∫︀∫︀∫︀ 2 ∫︀∫︀∫︀ ∫︀∫︀∫︀ Φ 0 ∫︀∫︀∫︀

Hierbei ist Φ = B y t b L der magnetische Fluss, der den gesamten Kontakt durchsetzt und I c =
i c L. Die I sm (Φ) Abhängigkeit zeigt für Φ = n ⋅ Φ 0 Nullstellen. Wie Abb. 13.49c für n = 1
zeigt, fließt hier die Josephson-Stromdichte in den beiden Kontakthälften in entgegenge-
setzte Richtung und kompensiert sich gerade. Dies kann als destruktive Interferenz der Teil-
ströme in den beiden Kontakthälften aufgefasst werden.

1.0
𝒊𝒄
0.8

0.6
Is / Ic
m

Abb. 13.50: Magnetfeldabhängigkeit 0.4 −𝑳/𝟐 𝟎 𝑳/𝟐 𝒛


des maximalen Josephson-Stromes I sm
für einen Josephson-Kontakt mit räum-
lich homogener kritischer Stromdich- 0.2
te J c (y, z). Das Inset zeigt das Integral
von J c (y, z) parallel zum in y-Richtung an- 0.0
gelegten Magnetfeld. Die Funktion i c (z) = -5 -4 -3 -2 -1 0 1 2 3 4 5
∫ J c (y, z)d y entspricht einer Spaltfunktion. 
210
13.6 Josephson-Effekt 893

Wir wollen abschließend noch darauf hinweisen, dass wir in der obigen Diskussion Magnet-
felder, die durch die in den Kontaktelektroden fließenden Ströme entstehen, vernachlässigt
haben. Dies ist nur für Josephson-Kontakte zulässig, deren Länge und Breite kleiner als die
charakteristische Längenskala
}︂
Φ0
λJ ≡ , (13.6.33)
2πµ 0 t B J c

die so genannte Josephson-Eindringtiefe sind. Solche Kontakte werden als klein oder kurz
bezeichnet. Das Verhalten von großen oder langen Kontakten ist wesentlich komplizierter
und soll hier nicht behandelt werden. Die Josephson-Eindringtiefe stellt die Längenskala
dar, auf der ein Josephson-Kontakt Magnetfelder abschirmen kann. Da die Supraleitung in
der Kontaktregion wesentlich schwächer ist als in den Kontaktelektroden, ist die Josephson-
Eindringtiefe wesentlich größer als die Londonsche Eindringtiefe.

13.6.4 Supraleitende Quanteninterferometer


Die Abhängigkeit des maximalen Josephson-Stromes I sm eines Josephson-Kontakts von ei-
nem äußeren Magnetfeld Bext zeigt, dass Josephson-Kontakte prinzipiell als empfindliche
Magnetfeldsensoren verwendet werden können. Da die erste Nullstelle der I sm (Bext ) Ab-
hängigkeit bei dem Feldwert auftritt, der ein Flussquant durch die Fläche t B L erzeugt, kön-
nen wir die Flussempfindlichkeit des Sensors grob zu δI sm ⇑δB ext = (∂I sm ⇑∂Φ)(∂Φ⇑∂B ext ) ≃
(I c ⇑Φ 0 )t B L abschätzen. Wir sehen also, dass wir die Empfindlichkeit durch Vergrößern der
Fläche t B L, die vom Magnetfeld durchsetzt wird, steigern könnten.
Der einfachste Weg, die Fläche t B L zu vergrößern, ist die Verwendung von supraleitenden
Schleifen oder Hohlzylindern, die einen oder mehrere Josephson-Kontakte enthalten. Wir
werden sehen, dass in diesem Fall die Querschnittsfläche der Schleife oder des Hohlzylin-
ders und nicht die Fläche t B L maßgebend ist. Bauelemente, die aus supraleitenden Schleifen
bestehen, die durch einen oder mehrere Josephson-Kontakte unterbrochen werden, wer-
den als Supraleitende Quanteninterferenzdetektoren (SQUIDs) bezeichnet.186 Sie basieren
auf zwei für die Supraleitung charakteristischen physikalischen Phänomenen, nämlich der
Flussquantisierung und dem Josephson-Effekt. Die Bezeichnung Quanteninterferenzdetek-
tor resultiert aus der Tatsache, dass bei diesen Bauelementen die supraleitende Wellenfunk-
tion auf der einen Seite der supraleitenden Schleife in zwei Teilwellen aufgespalten wird, die
dann auf der gegenüberliegenden Seite wieder zur Interferenz gebracht werden. Durch den
die Schleife durchsetzenden Fluss erfahren die beiden Teilwellen unterschiedliche Phasen-
schiebungen. In der Optik würde das einer Zweistrahlinterferenz entsprechen. SQUIDs sind
heute die empfindlichsten Detektoren für magnetischen Fluss und finden vielfältige Anwen-
dungen. Ganz allgemein können SQUIDs als Fluss-Spannungs-Konverter betrachtet wer-
den, mit denen alle physikalischen Größen mit hoher Genauigkeit gemessen werden kön-
nen, die mit Hilfe von geeigneten Antennenstrukturen in magnetischen Fluss umgewandelt
werden können (z. B. Magnetfelder, Magnetfeldgradienten, Strom, Spannung, räumlich Ver-
schiebungen, magnetische Suszeptibilität). Bezüglich des Operationsmodus unterscheidet
186
The SQUID Handbook, J. Clarke und A. I. Braginski, Hrsg., Wiley-VCH Verlag, Weinheim (2006)
894 13 Supraleitung

man zwischen DC (direct current) und RF (radio frequency) SQUIDs. DC-SQUIDs187 , 188 , 189
bestehen aus zwei in einem supraleitenden Ring parallel geschalteten Josephson-Kontakten
und werden mit einem Gleichstrom betrieben. RF-SQUIDs190 , 191 bestehen aus einem supra-
leitenden Ring, in den nur ein Josephson-Kontakt eingebracht ist, und werden mit einem
zeitlich variierenden Fluss betrieben. Wir werden im Folgenden nur DC-SQUIDs diskutie-
ren.

13.6.4.1 DC-SQUIDs
Der prinzipielle Aufbau eines DC-SQUIDs ist in Abb. 13.51 gezeigt. Die beiden Joseph-
son-Kontakte sind parallel geschaltet und durch die supraleitende Schleife verbunden. Wir
nehmen an, dass beide Kontakte den gleichen kritischen Strom I c besitzen und durch die
Strom-Phasen-Beziehungen I s1 = I c sin φ 1 und I s2 = I c sin φ 2 beschrieben werden können.
Mit Hilfe des Kirchhoffschen Gesetzes erhalten wir192
φ1 − φ2 φ1 + φ2
I s = I s1 + I s2 = 2I c cos ( ) sin ( ). (13.6.34)
2 2
Die eichinvarianten Phasendifferenzen φ 1 und φ 2 sind nicht unabhängig voneinander, da
die gesamte Phasenänderung entlang der geschlossenen Schleife in Abb. 13.51 n ⋅ 2π sein
muss:

(θ Q b − θ Q a ) + (θ Pc − θ Q b ) + (θ Pd − θ Pc ) + (θ Q a − θ Pd ) = n ⋅ 2π . (13.6.35)

𝑰
𝑰𝟏 𝑰𝟐

𝑩
Qa 𝑰𝒔𝟏 = 𝑰𝒔𝟐 = Pd
Abb. 13.51: Prinzipieller Aufbau eines DC-SQUIDs: Qb 𝑰𝒄 𝐬𝐢𝐧 𝝋𝟏 𝑰𝒄 𝐬𝐢𝐧 𝝋𝟐 Pc
Supraleitende Schleife mit zwei Josephson-Kon-
takten in den beiden Armen der Schleife. Der
obere und untere Teil der Schleife kann mit den
Wellenfunktionen Ψ1 = Ψ1,0 exp(ıθ 1 ) und Ψ2 =
Ψ2,0 exp(ıθ 2 ) beschrieben werden. Die gestrichel-
te Linie zeigt den geschlossenen Integrationspfad.
187 211
R. C. Jaklevic, J. Lambe, A. H. Silver, J. E. Mercereau, Quantum Interference Effects in Josephson
Tunneling, Phys. Rev. Lett. 12, 159 (1964).
188
J. Clarke, A superconducting galvanometer employing Josephson tunnelling, Phil. Mag. 13, 115
(1966).
189
R. L. Forgacs, A. Warnick, Digital-Analog Magnetometer Utilizing Superconducting Sensor, Rev. Sci.
Instr. 18, 214 (1967).
190
J. E. Zimmermann, P. Thiene, J. T. Harding, Design and Operation of Stable rf-biased Superconduc-
ting Point-contact Quantum Devices, J. Appl. Phys. 41, 1572 (1970).
191
J. E. Mercereau, Superconducting Magnetometers, Rev. Phys. Appl. 5, 13 (1970).
192
Wir benutzen sin α + sin β = 2 sin ( α+β
2
) cos ( α−β
2
).
13.7 Kritische Ströme in Typ-II Supraleitern 895

Die einzelnen Beiträge können wir mit Hilfe von (13.6.21) und (13.6.22) bestimmen und
erhalten
Pc Qa
2π 2π 2π
φ1 − φ2 = − ∮ A ⋅ dℓ − ∫ ΛJs ⋅ dℓ − ∫ ΛJs ⋅ dℓ . (13.6.36)
Φ0 Φ0 Φ0
C Qb Pd

Das Ringintegral über A ergibt den in der Schleife eingeschlossenen Fluss Φ. Die Integra-
tion über Js erfolgt über dieselbe Integrationsschleife, enthält aber nicht die Teile über die
Barriere der Josephson-Kontakte. Nehmen wir an, dass die supraleitende Schleife wesentlich
dicker ist als die Londonsche Eindringtiefe λ L , so können wir immer einen Integrationspfad
weit im Inneren des Supraleiters finden, entlang dem Js = 0, so dass wir das Integral über Js
vernachlässigen können. Wir erhalten dann

2πΦ
φ2 − φ1 = . (13.6.37)
Φ0

Wir sehen, dass die Phasendifferenzen über die Josephson-Kontakte über den die Schleife
durchsetzenden Fluss aneinander gekoppelt sind. Mit (13.6.37) können wir (13.6.34) wie
folgt ausdrücken:193

Φ Φ
I s = 2I c cos (π ) sin (φ 1 + π ) . (13.6.38)
Φ0 Φ0
Nehmen wir vereinfachend an, dass Φ = Φ ext ,194 erhalten wir für den maximal möglichen
Suprastrom

Φ ext
I sm = 2I c ⋀︀cos (π )⋀︀ . (13.6.39)
Φ0

Wir erhalten also eine ⋃︀cos⋃︀-Abhängigkeit, die uns an das Beugungsmuster eines Doppel-
spalts in der Optik erinnert.

13.7 Kritische Ströme in Typ-II Supraleitern


Für viele technische Anwendungen der Supraleitung (z. B. Stromkabel, Magnetspulen)
werden Leiter mit hohen kritischen Strömen benötigt, die ferner in hohen Magnetfel-
dern und/oder bei hohen Temperaturen eingesetzt werden können. Dies ist schematisch
in Abb. 13.52 gezeigt. Für technische Anwendungen müssen Supraleiter also nicht nur

193
Wir benutzen (φ 1 + φ 2 )⇑2 = (︀2φ 1 + (φ 2 − φ 1 )⌋︀⇑2 = φ 1 + (φ 2 − φ 1 )⇑2.
194
In vielen Fällen müssen wir genauer Φ = Φ ext + Φ L benutzen, wobei Φ ext der Fluss aufgrund des
externen Feldes und Φ L derjenige aufgrund der in der Schleife fließenden Ströme ist. Der zweite
Beitrag kann nur dann vernachlässigt werden, wenn die geometrische Induktivität L der Schleife
klein gegen Φ 0 ⇑2I c ist.
896 13 Supraleitung

𝑱𝒄
𝑱𝒄 𝟎

Abb. 13.52: Schematische Darstellung des


Stromdichte-Magnetfeld-Temperatur-Pha-
sendiagramms eines Typ-II Supraleiters. Für
technische Anwendungen sollte der umschlos- 𝑻𝒄 𝟎
sene Bereich möglichst groß sein. Die farbi- 𝑩𝒄𝟐 𝟎
gen Rechtecke deuten die Stromdichte-, Ma-
gnetfeld- und Temperaturbereiche an, die
für NMR-Magnete oder zum Plasmaein-
𝑩 𝑻
schluss in Fusionsreaktoren benötigt werden.

hinsichtlich ihrer kritischen Temperatur und ihres kritischen Magnetfelds optimiert wer-
den, sondern auch hinsichtlich ihrer kritischen Stromdichte. Typ-I Supraleiter kommen
für technische Anwendungen, für die hohe kritische Ströme oder Magnetfelder benötigt
werden, nicht in Frage. Ihre thermodynamisch kritischen Felder B cth liegen weit unterhalb
von 1 T (vergleiche Tabelle 13.2) und mit Leitern aus Typ-I Supraleitern können ferner keine
hohen kritischen Ströme realisiert werden, da der Stromtransport nur an der Oberfläche
der Leiter innerhalb der Londonschen Eindringtiefe erfolgt (siehe hierzu Abschnitt 13.4.8).
Wesentlich besser geeignet sind Typ-II Supraleiter. Sie können obere kritische Felder B c2
oberhalb von 100 T besitzen und außerdem ist der Stromfluss im Mischzustand von Typ-II
Supraleitern nicht auf eine dünne Oberflächenschicht reduziert. Wir werden jetzt diskutie-
ren, welche physikalischen Prozesse die kritischen Stromdichten von Typ-II Supraleitern
bestimmen.

13.7.1 Stromtransport im Mischzustand


Wir betrachten einen Typ-II Supraleiter im Mischzustand, durch den ein Transportstrom J t
fließt (siehe Abb. 13.53). Offensichtlich liegt in dieser Situation eine Überlagerung einer
Transportstromdichte J t und einer Stromdichte J M aufgrund der um den Kern der Fluss-

Abb. 13.53: Stromtransport im Mischzustand von


Typ-II Supraleitern: Die gesamte Stromdichte resul-
tiert aus der Überlagerung der Transportstromdich-
te J t und der Stromdichte J M aufgrund der um den 𝑱𝒕
Kern der Flussschläuche zirkulierenden Ringströme.

213
13.7 Kritische Ströme in Typ-II Supraleitern 897

(a) 𝝁𝟎 𝑯 (b)
𝝁𝟎 𝑯
−𝝁𝟎 𝑴
𝑩 −𝝁𝟎 𝑴
𝑩 𝑱𝒕
𝑱𝑴 𝑱𝑴 Abb. 13.54: Verlauf der Größen H, B,
𝒓 𝒓
M, J M und J t entlang des Querschnitts
eines supraleitenden Zylinders für
(a) verschwindende und (b) endliche
Transportstromdichte J t .

schläuche zirkulierenden Ringströme vor, so dass J = J t + J M . Wir können nun J M über J M =


∇ × M mit der Magnetisierung M verknüpfen, die sich im Gleichgewicht bei einem ange-
liegenden Magnetfeld H einstellt. Da B = µ 0 (H + M) und J = J t + J M , folgt für die Trans-
portstromdichte J t = ∇ × H. Um uns diese Zusammenhänge klar zu machen, betrachten wir
einen langen Zylinder mit einem parallel zur Zylinderachse (keine Entmagnetisierungseffek-
te) angelegten Magnetfeld für B ext ≫ B c1 . In diesem Fall überlappen die Flusslinien stark, so
dass wir im Verlauf der Flussdichte B die räumliche Variation durch die einzelnen
214
Flusslinien
vernachlässigen können.
Wir betrachten zuerst den Fall ohne Transportstrom (siehe Abb. 13.54a). Da J t = 0, gilt hier
überall H = Hext = const. Die Flussdichte B nimmt allerdings von B = µ 0 H = µ 0 Hext außer-
halb des Supraleiters auf die Gleichgewichtsflussdichte B = µ 0 (H + M) ab. Diese Abnahme
erfolgt innerhalb einer dünnen Oberflächenschicht der Dicke λ L , in der eine mikroskopi-
sche Abschirmstromdichte fließt. Es fließen also nur Abschirmströme auf der Oberfläche
aber kein Nettostrom entlang dem Zylinder. Da in dem betrachteten Fall der supraleitende
Zylinder im Gleichgewicht mit dem externen Magnetfeld ist, kann es keine Nettokraft auf
irgendeinen Flussschlauch geben, selbst nicht auf diejenigen die den Oberflächenabschirm-
strömen ausgesetzt sind. Das zeigt, dass die Stromdichte J M , die mit der Gleichgewichtsma-
gnetisierung M verknüpft ist, nichts zu einer Nettokraft auf die Flussschläuche beiträgt.
In Abb. 13.54b betrachten wir den Fall, in dem durch den Zylinder ein Nettostrom J t fließt.
Das Magnetfeld H ist dann durch den Beitrag von J t an gegenüberliegenden Seiten des Zy-
linders unterschiedlich groß und der Zylinder ist nicht im Gleichgewicht. Es existiert eine
endliche Kraft, welche die Flusslinien von der Seite mit höherem zu der mit niedrigerem
Feld treibt. Falls sich die Flusslinien nicht bewegen, muss eine endliche Haftkraft existieren,
die sie an ihrer Position festhält. Der lokale Wert von H ist nun ortsabhängig, entsprechend
der endlichen Transportstromdichte J t = ∇ × H. Ganz allgemein sehen wir, dass Situationen
mit einem endlichen Transportstrom Nichtgleichgewichtssituationen entsprechen. Wir er-
warten, dass diese Nichtgleichgewichtszustände nach endlicher Zeit in den Gleichgewichts-
zustand relaxieren.195

195
Wir haben gesehen, dass wir durch Abkühlen eines Hohlzylinders im Magnetfeld unter Tc und
anschließendem Ausschalten des Feldes in dem Zylinder einen zirkulierenden Strom einfrieren
können. Auch hier handelt es sich um einen Nichtgleichgewichtszustand. Der Zustand kann rela-
xieren, indem eingefangener Fluss aus dem Zylinder entweicht. Die Energiebarriere für das Ent-
weichen eines einzelnen Flussquants entspricht aber I c Φ 0 und beträgt bei I c = 1 A etwa 10−15 J, was
898 13 Supraleitung

13.7.2 Lorentz-Kraft
Wir wollen nun die Kraft berechnen, die auf eine isolierte Flusslinie aufgrund des endlichen
Transportstroms wirkt. Wie oben diskutiert und in Abb. 13.55 gezeigt, können wir die ge-
samte Stromdichte in eine homogene Transportstromdichte J t und eine um den Kern der
Flusslinie zirkulierende Stromdichte J M aufteilen. Die Lorentz-Kraft auf J M wirkt in radia-
ler Richtung und führt zu keiner Nettokraft in eine bestimmte Richtung. Die Lorentz-Kraft
auf J t is gegeben durch

FL = L ∫ J t × B dA . (13.7.1)
A

Hierbei ist L die Länge der Flusslinie und die Flächenintegration erfolgt senkrecht zur Fluss-
linie. Da die Transportstromdichte J t homogen ist, können wir sie vor das Integral ziehen
und erhalten

FL = LJ t × ∫ B dA = LJ t × Φ̂ 0 . (13.7.2)
A
)︁⌊︂⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ]︂⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ )︂
Φ̂ 0

Hierbei ist Φ̂ 0 ein Vektor der Länge Φ 0 , der in Richtung der Flussdichte B zeigt. Im Misch-
zustand eines Typ-II Supraleiters haben wir es nicht nur mit einer Flusslinie zu tun, sondern
mit einem Flussliniengitter mit der mittleren Flussdichte B = Φ̂ 0 n Φ , wobei n Φ die Dichte
der Flusslinien pro Flächeneinheit ist. Wir erhalten für diesen Fall die mittlere Kraft pro
Volumen zu

FL
fL = nΦ = Jt × B . (13.7.3)
L

(a) 𝑩 (b) 𝑩
+ =

𝝃
𝑱𝑴
𝑱𝒕
𝑭𝐧𝐞𝐭𝐭𝐨
𝑱𝒕 Flusslinien- 𝑱𝑴
kern
+ =
𝑭𝐧𝐞𝐭𝐭𝐨

Abb. 13.55: Perspektivische Ansicht (a) und Draufsicht (b) der Transportstromdichte J t und der um
den Kern einer Flusslinie zirkulierenden Stromdichte J M . In (b) sind die aus diesen Stromdichten re-
sultierenden Lorentz-Kräfte gezeigt. Es resultiert insgesamt eine Nettokraft nach unten.

wesentlich größer als k B T ≃ 10−22 J bei T = 4 K ist. Die Relaxation des Nichtgleichgewichtszustands
dauert deshalb praktisch unendlich lange.
215
13.7 Kritische Ströme in Typ-II Supraleitern 899

ℓ 𝑏 𝑩
𝑬

Abb. 13.56: Zur Entstehung eines elektrischen Fel-


des bei der Flusslinienbewegung: Die magnetische
𝑱𝒕 𝒗𝐋 Flussdichte innerhalb der aus supraleitender Probe
und Messleitungen gebildeten Schleife bleibt zeitlich
konstant, so dass die induzierte EMF = 0.

Da die Ströme durch die Ränder der Probe eingeschlossen sind und sich deshalb nicht bewe-
gen können, resultiert gemäß actio gleich reactio eine Bewegung des Flussliniengitters senk-
recht zur Stromrichtung. Wir weisen darauf hin, dass das Entstehen der Nettokraft äquiva-
lent zum Entstehen der Magnus-Kraft in der Strömungslehre ist. In Analogie zur Entstehung
der Magnus-Kraft können wir argumentieren, dass die Suprastromdichte in Abb. 13.55b an
der Unterseite der Flusslinie größer ist und deshalb dort die kinetische Energie größer ist. Bei
konstanter Gesamtenergie muss dort dann die potenzielle Energie kleiner sein, was zu einem
Gradienten der potenziellen Energie in vertikaler Richtung und deshalb zu einer Nettokraft
in diese Richtung führt. 216

Die Bewegung der Flusslinien resultiert in einer elektromotorischen Kraft

d 1
EMF = − ∫ B ⋅ dA = ∮ (eE + evL × B) ⋅ dℓ , (13.7.4)
dt e
A ∂A

die durch die zeitliche Rate der Flussänderung in der in Abb. 13.56 gezeigten geschlossenen
Schleife gegeben ist. Aufgrund der Flusslinienbewegung mit Geschwindigkeit vL im Supra-
leiter tritt zwar ständig magnetischer Fluss in die geschlossenen Schleife ein, die Flussdichte
bleibt aber gleich, da dieselbe Flussmenge an anderer Stelle wieder austritt. Dadurch muss
die EMF verschwinden, wodurch wir

E = −vL × B = B × vL (13.7.5)

erhalten. Dieses elektrische Feld führt im Supraleiter zu einer endlichen Spannung paral-
lel zur Richtung des Transportstroms, was in einer ohmschen Verlustleistung resultiert. Wir
sehen also, dass ein Typ-II Supraleiter im Mischzustand einen endlichen Ohmschen Wider-
stand besitzt und deshalb keinen Dauerstrom tragen kann, es sei den wir verhindern die
Bewegung der Flusslinien. Wir werden weiter unten sehen, dass dies durch die Verankerung
von Flusslinien an Defekten erreicht werden kann.
Das Durchqueren einer einzelnen Flusslinie führt zu einer Phasendifferenz φ zwischen den
beiden Enden des Supraleiters von 2π. Haben wir N Flusslinien in der Probe der Länge ℓ und
Breite b, die sich mit der Geschwindigkeit v L bewegen, so können wir die zeitliche Änderung
der Phasendifferenz schreiben als
∂φ 2π Φ 2π
=N = , (13.7.6)
∂t δt Φ 0 b⇑v L
900 13 Supraleitung

wobei wir für die mittlere Durchquerungszeit δt = b⇑v L und N = Φ⇑Φ 0 verwendet haben.
Mit Φ = Bℓb erhalten wir daraus
∂φ 2π 2π 2eU
= Bv L ℓ = Eℓ = , (13.7.7)
∂t Φ0 Φ0 ħ

wobei wir (13.7.5) und Φ 0 = h⇑2e benutzt haben. Diese Beziehung entspricht der 2. Joseph-
son-Gleichung (13.6.12).

13.7.3 Reibungskraft
Wir nehmen zunächst an, dass keine Haftkräfte für die Flusslinien vorliegen. In diesem Fall
wird die durch die Lorentz-Kraft getriebene Bewegung der Flusslinien nur durch die viskose
Dämpfung verzögert. Wir können rein phänomenologisch eine Reibungskraft pro Längen-
einheit Fη ⇑L = −ηvL einführen, wobei η ein viskoser Reibungskoeffizient ist, dessen physi-
kalische Ursache wir noch klären müssen. Im stationären Zustand sind Reibungskraft und
Lorentz-Kraft (13.7.2) gleich, so dass

J t × Φ̂ 0 − ηvL = 0 (13.7.8)

gilt. Verwenden wir E = B × vL , so erhalten wir für den spezifischen Widerstand ρ f aufgrund
der Flussbewegung

⋃︀E⋃︀ BΦ 0
ρf = = . (13.7.9)
⋃︀J t ⋃︀ η

Wir sehen also, dass ρ f ∝ B, falls der Reibungskoeffizient unabhängig von B ist. Wir müssen
jetzt aber noch klären, welche physikalischen Prozesse den Reibungskoeffizienten bestim-
men. Hierfür gibt es zahlreiche Modellvorstellungen, von denen wir nur auf das einfache
Bardeen-Stephen Modell196 eingehen wollen. Weitergehende Modelle,197 , 198 , 199 die auf den
zeitabhängigen GL-Gleichungen basieren, wollen wir hier nicht diskutieren.

13.7.3.1 Das Bardeen-Stephen Modell


Das Bardeen-Stephen Modell geht von der vereinfachenden Annahme aus, dass der Ord-
nungsparameter in einem Flusslinienkern mit Radius ∼ ξ vollkommen verschwindet und
am Rand des Flusslinienkerns sprunghaft auf den vollen Gleichgewichtswert ansteigt. Inner-
halb des normalleitenden Kernbereichs erfolgt die Dissipation über resistive Prozesse wie

196
J. Bardeen, M. J. Stephen, Theory of the Motion of Vortices in Superconductors, Phys. Rev. 140, A1197
(1965).
197
A. Schmid, A time dependent Ginzburg-Landau equation and its application to the problem of resis-
tivity in the mixed state, Phys. Kond. Materie 5, 302–317 (1966).
198
C. Caroli, K. Maki, Fluctuations of the Order Parameter in Type-II Superconductors. I. Dirty Limit,
Phys. Rev. 159, 306 (1967).
199
C. Caroli, K. Maki, Fluctuations of the Order Parameter in Type-II Superconductors. II. Pure Limit,
Phys. Rev. 159, 316–326 (1967); siehe auch Phys. Rev. 164, 591 (1967); Phys. Rev. 169, 381 (1968).
13.7 Kritische Ströme in Typ-II Supraleitern 901

in einem Normalleiter. Dass der Radius des normalleitenden Kernbereichs durch die Ko-
härenzlänge ξ gegeben sein sollte, folgt aus der GL-Theorie. Mit der Zirkulationsgeschwin-
digkeit v s = ħ⇑m s r folgt aus (13.4.62) für den normalisierten Ordnungsparameter ⋃︀ψ⋃︀2 = 1 −
(m 2s ξ 2 v s2 ⇑ħ 2 ) = 1 − (ξ⇑r)2 . Wir sehen also, dass für r ≤ ξ die Zirkulationsgeschwindigkeit so
groß wird, dass ⋃︀ψ⋃︀2 = 0. Dasselbe folgt aus der Beziehung B c2 = Φ 0 ⇑2πξ 2 . Bei B c2 , wo der
Übergang in den normalleitenden Zustand stattfindet, füllen die normalleitenden Kernbe-
reiche mit Radius ∼ ξ gerade das ganze Probenvolumen aus. Diese Argumente zeigen, dass
die Annahme eines normalleitenden Flusslinienkerns mit Radius ∼ ξ vernünftig ist.
Aus Gleichung (13.7.9) folgt, dass ρ f ∝ B zunimmt. Aufgrund der eben gemachten Überle-
gungen erwarten wir, dass ρ f → ρ n für B → B c2 . Dies können wir mit dem Ansatz
B
ρf ≃ ρn (13.7.10)
B c2
beschreiben. Setzen wir dies in (13.7.9) ein, so ergibt sich für den Reibungskoeffizienten
Φ 0 B c2
η≃ . (13.7.11)
ρn
Dieses intuitiv abgeleitete Ergebnis kann durch die explizite Berechnung des lokalen elektri-
schen Feldes im supraleitenden Bereich mit Hilfe der 1. London-Gleichung und im normal-
leitenden Flusslinienkern mit Hilfe des Ohmschen Gesetzes abgeleitet werden.200

13.7.4 Haftkraft
Wir wollen nun diskutieren, wie die Flusslinien in einem Supraleiter verankert werden kön-
nen, um ihre Bewegung und die daraus resultierende Dissipation zu vermeiden. Die Fluss-
linienverankerung ist von großer technischer Bedeutung, da sie die erreichbaren kritischen
Stromdichten in Typ-II Supraleitern bestimmt. Ihre exakte Modellierung kann sehr kom-
plex sein, da im Allgemeinen ein elastisches Flussliniengitter mit einer statistisch verteilten
Anordnung von Haftzentren wechselwirkt. Wir werden im Folgenden nur klarmachen, wie
die Flusslinienverankerung prinzipiell funktioniert und wie effektive Haftzentren aussehen
müssen. Hierzu betrachten wir die Verankerung einer einzelnen Flusslinie.
Abb. 13.57 zeigt zwei Flusslinien, von denen eine durch drei grau markierte Bereiche mit re-
duzierter Kondensationsenergie läuft. Dies können zum Beispiel nichtsupraleitende Fremd-
phasen sein. Die Flusslinie modellieren wir als flexiblen Schlauch mit einem normalleiten-
den Kern mit Radius ξ. Durch das Einbringen einer Flusslinie in den Supraleiter erhöhen
wir die potenzielle Energie, da wir im gesamten Kernbereich der Flusslinie die Kondensa-
tionenergie verlieren. Für die Flusslinie, die durch die Bereiche mit reduzierter Kondensati-
onsenergie verläuft, ist die Erhöhung der potenziellen Energie allerdings wesentlich geringer.
Das bedeutet, dass die Flusslinie, die durch die Defekte verläuft, in einem Potenzialminimum
sitzt. Die resultierende Haftkraft ist durch den Gradienten des Potenzialverlaufs gegeben.
Der Potenzialverlauf senkrecht zur Flusslinienrichtung ist schematisch in Abb. 13.58 ge-
zeigt. An der Stelle des Materialdefekts besitzt die potenzielle Energie ein Minimum. Die
200
Introduction to Superconductivity, M. Tinkham, McGraw-Hill, New York (1975).
902 13 Supraleitung

Defekt

𝟐𝝃

Abb. 13.57: Zur Veranschaulichung der Verankerung einer Fluss-


linie durch Materialdefekte mit einer geringeren Kondensations- Flusslinie
energie. Bei der linken Flusslinie ist der Verlust an Kondensati-
onsenergie geringer als bei der rechten, weshalb die linke Fluss-
linie in einem lokalen Minimum der potenziellen Energie sitzt.

Potenzialtiefe ist durch ∆E pot = ẼKond πξ 2 L D p gegeben, wobei ẼKond die Kondensationsener-
gie pro Volumeneinheit, L D die Länge, auf der die Flusslinie durch die Defekte verläuft,
und 0 ≤ p ≤ 1 ein Faktor ist, der die Reduktion der Kondensationsenergie im Defektbereich
angibt. Die Breite und der genaue Verlauf des Potenzialminimums wird durch die Breite r p
und die genaue Form der Materialdefekte bestimmt. Bei gegebenem Potenzialverlauf E pot (r)
können wir die resultierende Haftkraft angeben zu
∂E pot (r) ∆E pot
Fp = − ≈− . (13.7.12)
∂r rp
Wir sehen daraus sofort, dass wir die Haftkraft optimieren können, indem wir ∆E pot maxi-
mieren und r p minimieren. Bei vorgegebenen Materialparametern ẼKond und ξ eines supra-
leitenden Materials erreichen wir Ersteres durch Maximieren von L D und p. Das heißt, die
Flusslinie sollte auf einer möglichst großen Länge durch Defekte verlaufen und diese sollten
nicht supraleitend sein (p = 1). Letzteres muss durch das Maßschneidern der Defektegröße
erreicht werden. Eine untere Schranke für die Verkleinerung der Defekte bildet allerdings die
Kohärenzlänge ξ, da für r p < ξ die Tiefe ∆E pot der Potenzialmulde um den Faktor (r p ⇑ξ)2
verkleinert würde. Das optimale Haftzentrum wäre demnach ein normalleitender Zylinder
mit Radius r p ≃ ξ, der parallel zur Flusslinie ausgerichtet ist. Die Haftkraft pro Längeneinheit
wäre in diesem Fall
opt
Fp
≃ −ẼKond πξ . (13.7.13)
L
Wir sehen, dass wir in Typ-II Supraleitern mit großer Kondensationsenergiedichte hohe
Haftkräfte und damit hohe kritische Stromdichten im Mischzustand erreichen können. Die
kritische Stromdichte ist durch die Transportstromdichte J t gegeben, bei der die Lorentz-
Kraft FL ⇑L = J t × Φ̂ 0 gerade gleich der Pinning-Kraft Fp ⇑L ist.

𝑬𝐩𝐨𝐭
𝒓𝒑

Abb. 13.58: Schematischer Verlauf der potenziellen 𝚫𝑬𝐩𝐨𝐭


Energie für eine Flusslinie in einem Supraleiter in der
Nähe eines Haftzentrums mit Radius ∼ r p . Durch die
reduzierte Kondensationsenergie ist beim Haftzen-
trum die potenzielle Energie um ∆E pot abgesenkt. 𝒓
13.8 Unkonventionelle Supraleitung 903

Wir weisen abschließend darauf hin, dass die Berechnung von kritischen Strömen in Typ-II
Supraleitern weit über die oben gemachten einfachen Überlegungen hinausgeht. Es muss
dabei beachtet werden, dass die Flusslinien elastische Objekte sind, die untereinander und
mit den statistisch verteilten Haftzentren wechselwirken.201 Ferner muss die thermisch akti-
vierte Bewegung von Flusslinien berücksichtigt werden. Für diese ist nicht der Potenzialgra-
dient ∂E pot (r)⇑∂r sondern die Tiefe der Potenzialmulde im Vergleich zur verfügbaren ther-
mischen Energie, ∆E pot ⇑k B T, entscheidend. Wegen der höheren Einsatztemperaturen der
Hochtemperatur-Supraleiter spielt die thermisch aktivierte Flusslinienbewegung für diese
Materialien eine wichtige Rolle.202

13.8 Unkonventionelle Supraleitung


Für lange Zeit wurde angenommen, dass die über Phononen vermittelte Wechselwirkung
zwischen Leitungselektronen der einzige Mechanismus der Supraleitung ist. Cooper-
Paare entstehen dabei als Folge einer durch Austausch virtueller Phononen vermittelten
anziehenden Wechselwirkung zwischen den Leitungselektronen. Eine wesentliche Voraus-
setzung für diesen Paarbildungsmechanismus ist die Retardierung der Elektron-Phonon-
Wechselwirkung. Diese existiert vornehmlich in Metallen, in denen sich die Leitungselektro-
nen mit Geschwindigkeiten durch den Kristall bewegen, die um mehrere Größenordnungen
höher als die für die Gitterdynamik maßgeblichen Schallgeschwindigkeiten sind. Wie wir
bereits diskutiert haben, wird auf diese Weise die Coulomb-Abstoßung zwischen den
Leitungselektronen umgangen. Anschaulich hinterlässt das erste Elektron eine Gitterpolari-
sation, die das zweite noch verspürt, lange nachdem das erste verschwunden ist. Wir haben
aber bereits bei der Diskussion der mikroskopischen Theorie darauf hingewiesen, dass prin-
zipiell auch andere Austauschbosonen als Phononen für die Vermittlung einer attraktiven
Wechselwirkung in Frage kommen. Wichtig dabei ist, dass wiederum die Wechselwirkung
retardiert ist, das heißt, dass die Zeitskala der Wechselwirkung länger als diejenige der
elektronischen Abschirmung ist. Ein möglicher Mechanismus wäre z.B. die Polarisation
der lokalen Spin-Struktur durch ein Leitungselektron, die so langsam abklingt, dass sie
eine attraktive Wechselwirkung zu einem weiteren Leitungselektron vermitteln kann. Das
virtuelle Austauschboson wäre in diesem Fall eine quantisierte Anregung des Spin-Systems.
Zum Beispiel besitzen paramagnetische Metalle in der Nähe einer magnetischen Instabilität
Spin-Fluktuationen, die nur sehr langsam abklingen und damit langreichweitig werden.
Es entstehen und zerfallen dann ständig mehr oder weniger große magnetisch geordnete
Bereiche. Diese kollektiven magnetischen Anregungen nennt man Paramagnonen.
Erste experimentelle Hinweise auf das Vorliegen von nicht-phononischen Paarungsme-
chanismen wurden 1979 mit der Entdeckung der Schwere-Fermionen-Supraleitung in
CeCu2 Si2 geliefert. In Schwere-Fermionen-Verbindungen liegen Ladungsträger vor, die aus

201
A. I. Larkin, Yu. V. Ovchinnikov, Pinning in Type II Superconductors, J. Low Temp. Phys. 34, 409
(1979).
202
G. Blatter, M. V. Feigel’man, V. B. Geshkenbein, A. I. Larkin, V. M. Vinokur, Vortices in high-tem-
perature superconductors, Rev. Mod. Phys. 66, 1125–1388 (1994).
904 13 Supraleitung

dominanten lokalen f -Elektronen- und delokalisierten Leitungselektronen-Anteilen zu-


sammengesetzt sind und eine hohe effektive Massen besitzen. In einer großen Zahl solcher
Materialien bilden diese „Schweren Fermionen“ anisotrope Cooper-Paare, die Träger von
unkonventioneller Supraleitung.203 Die Klasse der unkonventionellen Supraleiter schließt
heute die 1986 entdeckten Kuprat-Supraleiter und die 2008 entdeckten Eisen-Pniktide ein.
Es stellt sich natürlich sofort die Frage, was wir unter konventioneller und unkonventioneller
Supraleitung verstehen.204 Leider gibt es hierzu noch keinen allgemeinen Konsens. Häufig
werden alle Supraleiter, die auf Elektron-Phonon-Wechselwirkung basieren, als konventio-
nelle und alle anderen als unkonventionelle Supraleiter bezeichnet. Eine andere Möglichkeit
besteht darin, das Mittel des Paarpotenzials über die Fermi-Fläche als Unterscheidungs-
merkmal zu benutzen. Falls ∑k ∆ k = 0, sprechen wir von unkonventioneller, ansonsten von
konventioneller Supraleitung. Schließlich kann man von konventioneller oder unkonven-
tioneller Supraleitung sprechen, je nachdem ob die Symmetrie des Ordnungsparameters die
volle Symmetrie des zugrundeliegenden Kristallgitter besitzt oder nicht.
Ein wichtiger Aspekt bei der Klassifizierung von Supraleitern stellt auch das Vorliegen von
Ordnungsphänomenen dar, die mit der Supraleitung konkurrieren. Konkurrierende Ord-
nungsphänomene liegen sowohl in den Kupraten, als auch in den Eisen-Pniktiden und orga-
nischen Supraleitern vor. In vielen Fällen konkurrieren magnetische Ordnungsphänomene
mit der Supraleitung, aber auch Ladungsordnungsphänomene spielen eine Rolle. Anschau-
lich ist klar, dass ein effektiver Wechselwirkungsmechanismus eine hohe strukturelle, elek-
tronische oder magnetische Polarisierbarkeit erfordert. Dies ist aber auch gleichbedeutend
damit, dass sich das betreffende Materialsystem in der Nähe eines strukturellen, elektroni-
schen oder magnetischen Instabilität, also in der Nähe zu einem Phasenübergang in eine
neue Ordnungsstruktur befindet. Üblicherweise kann die Ordnungstemperatur in solchen
Systemen durch externe Parameter (z.B. Dotierung, Druck, Magnetfeld) variiert werden.
Falls die Ordnungstemperatur für einen bestimmten Wert des Kontrollparameters auf null
reduziert werden kann, ordnen wir das Materialsystem der Klasse der quantenkritischen
Systeme zu.205 Quantenfluktuationen spielen in solchen Systemen in einem weiten Bereich
um den quantenkritischen Punkt herum eine wichtige Rolle für das physikalische Verhalten.
Dies trifft sowohl für die Kuprate als auch die Eisen-Pniktide zu.
Da die physikalischen Mechanismen und die Nomenklatur zu unkonventionellen Supra-
leitern noch nicht voll entwickelt sind und in vielen Fällen noch kein befriedigendes Ver-
ständnis für den supraleitenden Zustand existiert, wollen wir hier von einer weitergehenden
Diskussion absehen. Wir werden im nächsten Abschnitt nur auf die wichtigsten Eigenschaf-
ten eines Materialsystems, nämlich der Kuprat-Supraleiter eingehen. Bezüglich der Schwere-
Fermionen-Supraleiter und der Eisen-Pniktide verweisen wir auf die Fachliteratur.

203
M. Sigrist, Introduction to Unconventional Superconductivity, AIP Conference Proceedings Vol.
789(1), 165 (2005).
204
M. R. Norman, The Challenge of Unconventional Superconductivity, Science 332, 196-200 (2011).
205
M. Vojta, Quantum Phase Transitions, Rep. Prog. Phys. 66, 2069 (2003).
13.9 Kuprat-Supraleiter 905

13.9 Kuprat-Supraleiter
Seit der Entdeckung der Supraleitung spielt die Suche nach Materialien mit einer höheren
Sprungtemperatur eine wichtige Rolle. Ein supraleitendes Material, das bei Raumtempe-
ratur funktionieren würde und gleichzeitig noch hohe kritische Felder besitzen sowie ho-
he kritische Stromdichten ermöglichen würde, hätte ein riesiges Anwendungspotenzial, da
die aufwändige Kühlung mit Kryoflüssigkeiten wegfallen würde. Die Suche nach Materiali-
en mit höheren Sprungtemperaturen machte allerdings anfangs nur langsame Fortschritte.
Seit der Entdeckung der Supraleitung im Jahr 1911 in Quecksilber (Tc = 4.2 K) konnte die
Sprungtemperatur bis 1973 nur bis auf 23.2 K in Nb3 Ge206 gesteigert werden. Supraleitung
bei Raumtemperatur schien ein unerfüllbarer Traum und selbst das Erreichen von 77 K, der
Siedetemperatur von flüssigem Stickstoff, schien in weiter Ferne. Es gab ferner keine kla-
ren Konzepte, wie die Sprungtemperaturen gezielt durch Maßschneidern von Materialien
erhöht werden können und wenig ermutigende theoretische Vorhersagen, dass die maxi-
malen Sprungtemperaturen auf Werte von unter etwa 40 K beschränkt sein sollten. Um so
erstaunlicher war es, als J. G. Bednorz und K. A. Müller 1986 Supraleitung in dem oxidi-
schen System La-Ba-Cu-O bei Temperaturen von mehr als 30 K entdeckten.207 Als kurze
Zeit später von C. W. Chu und Mitarbeitern in YBa2 Cu3 O7 (Tc = 93 K) erstmals Supralei-
tung bei einer Temperatur oberhalb der Siedetemperatur von flüssigem Stickstoff (77 K) ge-
funden wurde,208 begann eine intensive Forschungsaktivität mit dem Ziel, Supraleiter mit
noch höheren Sprungtemperaturen nahe oder sogar oberhalb von Raumtemperatur zu fin-
den. Kurze Zeit später wurden tatsächlich in den Systemen Bi-Sr-Ca-Cu-O209 (Tc ≃ 110 K),
Tl-Ba-Ca-Cu-O210 (Tc ≃ 125 K) und Hg-Ba-Ca-Cu-O211 (Tc ≃ 136 K bei Atmosphärendruck,
165 K bei hohem Druck) noch höhere Sprungtemperaturen gefunden. Da diese Supraleiter
alle Kupferoxidebenen als Grundbausteine enthalten, werden sie als supraleitende Kupra-
te bezeichnet. Sie sind nicht nur interessant für Anwendungen sondern auch von grundle-
gendem physikalischen Interesse. Bis heute besteht noch kein Konsens über den Mechanis-
mus, der für die hohen Sprungtemperaturen in den Kuprat-Supraleitern verantwortlich ist.
Trotzdem können viele Aspekte ihres Verhaltens mit den bekannten Konzepten der BCS-
und GLAG-Theorie gut beschrieben werden. Wir werden im Folgenden ihre wesentlichen
Eigenschaften kurz vorstellen.

206
J. R. Gavaler, Superconductivity in Nb3 Ge films above 22 K, Appl. Phys. Lett. 23, 480 (1973).
207
J. G. Bednorz, K. A. Müller, Possible High Tc Superconductivity in the Ba-La-Cu-O System,
Z. Phys. B 64, 189 (1986).
208
M. K. Wu, J. R. Ashburn, C. J. Torng, P. H. Hor, R. L. Meng, L. Gao, Z. J. Huang, Y. Q. Wang,
C. W. Chu, Superconductivity at 93 K in a New Mixed-Phase Y-Ba-Cu-O Compound System at Am-
bient Pressure, Phys. Rev. Lett. 58, 908–910 (1987).
209
H. Maeda, Y. Tanaka, M. Fukutomi, T. Asano, A New High-Tc Oxide Superconductor without a Rare
Earth Element, Jpn. J. Appl. Phys. 27, L209 (1988).
210
Z. Z. Sheng, A. M. Hermann, Superconductivity in the rare-earth-free Tl-Ba-Cu-O system above li-
quid nitrogen temperature, Nature 232, 55 (1988).
211
A. Schilling, M. Cautoni, J. D. Guo, H. R. Ott, Superconductivity above 130 K in the Hg-Ba-Ca-Cu-O
system, Nature 363, 56 (1993).
906 13 Supraleitung

13.9.1 Strukturelle Eigenschaften


Das gemeinsame strukturelle Merkmal der Kuprat-Supraleiter sind die CuO2 -Ebenen, die in
Richtung der kristallographischen c-Achse gestapelt sind. Diese strukturelle Einheit erinnert
an eine kubische Perowskit-Struktur der Zusammensetzung ABX 3 , wobei sich das A-Atom
im Zentrum einer kubischen Einheitszelle, die B-Atome auf ihren Ecken und die X-Atome
im Zentrum der Seitenflächen befinden. Dies ist in der Struktur von La2−x Srx CuO4 gut zu
erkennen (siehe Abb. 13.59a). Das A-Atom (Cu) ist von einem Oktaeder der X-Atome (O)
umgeben, die B-Atome (La/Sr) sitzen auf den Würfelecken. Die ganze Struktur ist eine Abfol-
ge von um eine halbe Gitterkonstante in der ab-Ebene gegeneinander verschobenen Perow-
skit-Schichten. In vielen Verbindungen sind die Sauerstoffoktaeder aufgrund von Bindungs-
längenfehlanpassungen in unterschiedlichen Schichten verkippt und/oder verdreht, was zu
Abweichungen von der kubischen Perowskit-Struktur führt (z. B. orthorhombische Verzer-
rung). Insbesondere erhalten dadurch die CuO2 -Ebenen eine leichte Welligkeit.
Abb. 13.59b zeigt die Struktur des wohl bekanntesten Kuprat-Supraleiters YBa2 Cu3 O7−δ , der
zwei CuO2 -Ebenen pro Einheitszelle besitzt. Wir erkennen, dass hier die oktaedrische Sauer-
stoffkoordination der Cu-Atome nicht mehr vollständig ist. Es treten vielmehr halbpyrami-
dale und planare Koordinationsstrukturen auf. Wir können diese als Ableger der kubischen
Perowskit-Struktur betrachten, die durch die Herausnahme von bestimmten Sauerstoffato-
men aus dem ursprünglichen Oktaeder entstehen. Ein Charakteristikum von YBa2 Cu3 O7−δ
sind die CuO-Ketten entlang der b-Achse. Für δ = 0 sind diese Ketten vollständig, die Sau-
erstoffatome können aber durch Präparation unter reduziertem Sauerstoffpartialdruck suk-
zessive herausgenommen werden. Für δ = 1 ist der Kettensauerstoff ganz entfernt und man
erhält die isolierende, nicht supraleitende Verbindung YBa2 Cu3 O6 .
In Abb. 13.60 ist der allgemeine Schichtaufbau von vier-komponentigen Kuprat-Supraleitern
anhand des Tl-basierten Systems gezeigt. Er besteht aus einer Stapelfolge von Perowskit-ar-
tigen CuO2 -Ebenen und kochsalzartigen TlO- und BaO-Lagen. In manchen Systemen tre-
ten auch Lagen mit Fluorit-Struktur auf. Die Strukturformel der in Abb. 13.60 gezeigten

(a) (b)
CuO2 Cu CuO2
Ebene Ketten

Ba BaO
LaO O Lage
Lagen
La, Sr

CuO2 CuO2
Ebene Y Ebenen
Cu
LaO
Lagen BaO
O Lage
Ba
Abb. 13.59: Kristallstruktur CuO2 CuO2
Ebene Ketten
von (a) La2−x Srx CuO4 und c
(b) YBa2 Cu3 O7−δ . Die grünen b
Linien zeigen die Einheitszelle. a
13.9 Kuprat-Supraleiter 907

CuO2
CuO2 BaO
BaO TlO
TlO TlO
Cu
BaO BaO
O
CuO2 Ca CuO2
Ca Ba Ca
CuO2 Tl CuO2
Ca Ca Abb. 13.60: Lagenstruktur der Tl-basierten
c
Kuprat-Supraleiter TlBa2 Ca2 Cu3 O9 (Tl-1223)
CuO2 CuO2 und Tl Ba Ca Cu O (Tl-2223). Die grünen
b 2 2 2 3 10
Tl-1223 a Tl-2223 Linien zeigen die Einheitszelle.

vier-komponentigen Systeme kann allgemein durch A m B 2 Can−1 Cun O2+m+2n ausgedrückt


werden, wobei A = Bi, Tl, Hg, B = Ba, Sr, n die Anzahl der CuO2 -Ebenen und m die Anzahl
der Kochsalz-artigen AO-Lagen angibt. In den in Abb. 13.60 gezeigten Beispielen ist n = 3
und m = 1 (links) bzw. n = 3 und m = 2 (rechts). Für die Bi-, Tl- und Hg-basierten Kuprate
werden maximale Sprungtemperaturen von 110, 125 und 136 K jeweils für n = 3 erhalten.
Insgesamt können wir uns die Kuprat-Supraleiter also als Stapelfolge von supraleitenden
CuO2 -Einzel- oder Mehrfachschichten vorstellen, die durch nichtsupraleitende Schichten
unterschiedlicher Dicke voneinander getrennt sind. Letztere spielen für die Dotierung eine
wichtige Rolle (siehe unten) und werden deshalb üblicherweise als Ladungsreservoirschich-
ten bezeichnet. Sie bestimmen ferner auch die Anisotropie der einzelnen Kuprat-Supraleiter.

13.9.2 Elektronische Eigenschaften


Betrachten wir den Kuprat-Supraleiter La2−x Srx CuO4 für x = 0, so erwarten wir, dass La als
La3+ und O als O2− -Ion vorliegt (jeweils abgeschlossene Schalen) und deshalb Cu als Cu2+ -
Ion. Da Kupfer die Elektronenkonfiguration [Ar]3d10 4s1 hat (siehe Abb. 3.4), besitzt Cu2+
neun Elektronen (bzw. ein Loch) in der 3d-Schale. Die oktaedrische Sauerstoffumgebung
des Kupferatoms ist mit einem beträchtlichen Kristallfeld verbunden, das in einer Aufspal-
tung der Cu-3d-Zustände resultiert. Das energetisch am höchsten liegende Orbital ist das
3d x 2 −y 2 -Orbital, das mit nur einem Elektron besetzt ist. Alle übrigen 3d-Orbitale sind voll-
ständig mit jeweils zwei Elektronen besetzt. Auf atomarer Ebene liegt die Energie є d der
Cu-3d Orbitale etwa 2 eV oberhalb der Energie є p der O-2p Orbitale. Die Kristallfeldauf-
spaltung und Hybridisierung der Orbitale resultiert in einem antibindenden (AB), nicht-
bindenden (NB) und bindenden Band (B). Das chemische Potenzial µ liegt in der Mitte des
halbgefüllten AB-Bandes, das NB- und B-Band liegen etwa 3 eV unterhalb von µ. Insgesamt
erwarten wir dann ein teilweise gefülltes AB-Leitungsband. Dies hätten wir auch sofort im
Rahmen eines Modells unabhängiger Elektronen erwartet: Eine ungerade Elektronenzahl
pro Einheitszelle (alle anderen Ionen besitzen volle Schalen und damit eine gerade Elektro-
nenzahl) resultiert in einem halb gefüllten Leitungsband und somit metallischem Verhalten.
Diese Erwartung widerspricht aber der experimentellen Beobachtung, dass La2−x Srx CuO4
908 13 Supraleitung

(a) O-𝟐𝒑𝒙 (b) 𝑬 𝑬 𝑬


UHB
𝝁 AB
𝜺𝒅 𝚫𝝁
𝜺𝒑 NB NB
O-𝟐𝒑𝒚 Cu-𝟑𝒅𝒙𝟐 −𝒚𝟐 O-𝟐𝒑𝒚 𝑼 ≈ 𝟖 eV
B B

LHB
O-𝟐𝒑𝒙 DOS DOS

Abb. 13.61: Zur elektronischen Struktur von Kuprat-Supraleitern: (a) Orbitaler Charakter der relevan-
ten Cu-3d x 2 −y 2 und O-2p x, y Zustände. (b) Die Kristallfeldaufspaltung und Hybridisierung der Cu-3d
Orbitale und O-2p Orbitale mit atomaren Energien є d und є p resultiert in einem antibindenden (AB),
nichtbindenden (NB) und bindenden Band (B). Das antibindende Cu-3d/O-2p-Hybridband spaltet
aufgrund von starken elektronischen Korrelationen in ein unteres (LHB) und oberes (UHB) Hubbard-
Band auf. Der Abstand U von LHB und UHB beträgt typischerweise 8 eV und ist wesentlich größer als
der Abstand ∆ zwischen dem NB-Band und dem UHB.

für x = 0 ein antiferromagnetischer Isolator ist. Die Ursache dafür liegt in starken Korrela-
222

tionen der Elektronen.


Die Ursache der starken elektronischen Korrelationen können wir uns leicht klar machen.
Bei halber Bandfüllung führt das Hüpfen eines Elektrons zu einem benachbarten Cu-Atom
zu einer starken Coulomb-Energie U. Falls diese Energie größer ist als die kinetische Ener-
gie t der Elektronen, wird das Hüpfen unterbunden und der resultierende Zustand ist ein
so genannter Mott-Isolator. Eine Beschreibung dieser Situation ist zum Beispiel mit dem
Hubbard-Modell möglich (vergleiche hierzu Abschnitt 8.7.3). Tatsächlich ist die Situation
(siehe Abb. 13.61b) noch etwas komplizierter, da wir insgesamt drei Orbitale – Cu-3d x 2 −y 2 ,
O-2p x und O-2p y – berücksichtigen müssen (3-Band-Hubbard-Modell). Ganz grob kön-
nen wir sagen, dass aufgrund der elektronischen Korrelationen das antibindende (AB) Band
mit überwiegend Cu-3d-Charakter in ein vollkommen leeres oberes (UHB: upper Hubbard
band) und vollkommen volles unteres Hubbard-Band (LHB: lower Hubbard band) aufspal-
tet. Dazwischen befinden sich das komplett gefüllte nichtbindende (NB) Band mit überwie-
gend O-2p-Charakter und das bindende (B) Band. Da der Abstand ∆ des NB-Bandes zum
UHB wesentlich geringer ist als der Abstand U ∼ 8 eV von UHB und LHB, sprechen wir
hier nicht von einem Mott- sondern von einem Ladungstransfer-Isolator. Das chemische
Potenzial µ liegt im undotierten Fall zwischen dem NB-Band und dem UHB.
Dotieren wir das Material mit Elektronen, indem wir z. B. in La2 CuO4 das dreiwertige La teil-
weise durch vierwertiges Ce ersetzen, so müssen wir diese zusätzlichen Elektronen im UHB
mit Cu-3d-Charakter unterbringen. Die dotierten Elektronen gehen also auf die Cu-Plätze.
Eine Lochdotierung erhalten wir, indem wir dreiwertiges La teilweise durch zweiwertiges
Sr ersetzen. Die erzeugten Löcher (fehlenden Elektronen) müssen wir im O-2p-Band un-
terbringen. Die dotierten Löcher gehen also auf die Sauerstoff-Plätze. Da jedes Cu-Atom
von vier gleichberechtigten O-Atomen umgeben ist, wird das erzeugte Loch als positive
Ladungswolke auf die vier benachbarten O-Plätze verteilt. Da ferner der Spin dieses Lo-
ches anti-parallel zu dem des Cu-Atoms ausgerichtet ist, bezeichnet man diesen Zustand als
13.9 Kuprat-Supraleiter 909

Zhang-Rice Singulett.212 Ganz allgemein gilt, dass wir Ladungsträger in die CuO2 -Ebenen
dotieren, indem wir Dotieratome in die benachbarten Lagen einbauen. Dies ist ähnlich zu
modulationsdotierten Halbleiter-Heterostrukturen (vergleiche Abschnitt 10.4.1). Wir kön-
nen deshalb die Kuprat-Supraleiter als intrinsisch modulationsdotierte Systeme betrachten.
Die Ladungsträger können sich hier ungestört in den CuO2 -Ebenen bewegen, da in diese
selbst keine streuenden Dotieratome eingebaut werden.
Bei YBa2 Cu3 O7−δ wird die Dotierung durch Einbau von O-Atomen in die CuO-Ketten be-
werkstelligt. Da Y, Ba und O als Y3+ -, Ba2+ - und O2− -Ionen vorliegen, erwarten wir, dass
für δ = 0.5 Cu als Cu2+ -Ion vorliegt. Dies entspricht einem Loch pro Cu und somit hal-
ber Bandfüllung. Durch Einbau von zusätzlichem Sauerstoff in die CuO-Ketten können wir
dann eine Lochdotierung erzielen. Dies entspricht grob der experimentellen Beobachtung.

13.9.2.1 Fermi-Fläche
Die niederenergetischen Anregungen in der Nähe der Fermi-Energie können gut mit Band-
strukturrechnungen in lokaler Dichtenäherung (LDA) beschrieben werden. Dies gilt ins-
besondere für die Form der Fermi-Fläche.213 Eine wesentliche Vereinfachung kann dabei
dadurch erhalten werden, dass man eine isolierte CuO2 -Ebene betrachtet und nur die drei
relevanten Orbitale Cu-3d x 2 −y 2 , O-2p x und O-2p y berücksichtigt (siehe Abb. 13.62). Dies
führt zu einem zweidimensionalen Tight-Binding Modell. Das AB-Band beim chemischen
Potenzial können wir im Rahmen dieses Modells in zufriedenstellender Weise mit
ξ(k) = −2t(cos k x a + cos k y a) + 4t ′ cos k x a cos k y a − µ (13.9.1)
beschreiben. Hierbei ist a die Gitterkonstante der CuO2 -Ebene, t charakterisiert das nächs-
te Nachbar- und t ′ das übernächste Nachbarhüpfen (siehe Abb. 13.62). Gemessene Daten
für Bi-2212 können gut mit t = 250 meV und t ′ ⇑t = 0.35 gefitted werden. Für andere Kupra-
te ergeben sich ähnliche Werte. Das chemische Potenzial µ wird der jeweiligen Dotierung
angepasst.
Die 1. Brillouin-Zone mit der Fermi-Fläche einer einzelnen CuO2 -Ebene ist in Abb. 13.62
gezeigt. Die Fermi-Fläche umschließt die leeren Zustände um den M-Punkt bei (π, π). Die
Zahl der Ladungsträger entspricht dem Umgleichgewicht der Flächen um den M- und Γ-
Punkt (Differenz der weißen und rötlichen Fläche in Abb. 13.62). Bei Lochdotierung ist die
weiße Fläche um den M-Punkt, bei Elektrondotierung die rötliche Fläche um den Γ-Punkt
größer. Bei halber Bandfüllung (ein Elektron pro CuO2 ) sind diese Flächen gleich. Wie oben
bereits diskutiert wurde, erhalten wir in diesem Fall aufgrund elektronischer Korrelationen
kein metallisches Verhalten sondern einen antiferromagnetischen Isolator. Die experimen-
tell gemessene Banddispersion ergibt eine Fermi-Geschwindigkeit v F ≃ 2 × 105 m/s.214 Diese
ist wesentlich geringer als der aus einfachen Bandstrukturrechnungen erhaltene Wert und
belegt erneut die Bedeutung der starken Korrelationen in den Kuprat-Supraleitern.
212
F. C. Zhang, T. M. Rice, Effective Hamiltonian for the superconducting Cu oxides, Phys. Rev. B 37,
3759–3761 (1988).
213
A. Damascelli, Z. Hussain, Z.-X. Shen, Angle-resolved photoemission studies of the cuprate super-
conductors, Rev. Mod. Phys. 75, 473–541 (2003).
214
X. J. Zhou et al., High-temperature superconductors: Universal nodal Fermi velocity, Nature 423, 398
(2003).
910 13 Supraleitung

+𝝅 𝑴

t
Cu 𝚪
𝑿
O
𝒕′
−𝝅
−𝝅 𝒌𝒙 𝒂 +𝝅

Abb. 13.62: Zweidimensionale Fermi-Fläche einer idealisierten, einzelnen CuO2 -Ebene. Links ist der
orbitale Charakter (ohne Phasen) der beteiligten Cu-3d x 2 −y 2 und O-2p x , y Zustände mit den Hüpfam-
plituden t und t ′ gezeigt. Das rechte Bild zeigt die Fermi-Fläche (rote Linie) in der2241. Brillouin-Zone.
Bei halber Füllung würde man für t ′ = 0 die gestrichelte Raute erhalten (vergleiche Abb. 8.14).

13.9.2.2 Spin-Struktur
Wir wollen nun noch kurz die Spin-Struktur von undotiertem La2 CuO4 diskutieren.
Da t⇑U ≪ 1, können Elektronen wegen der starken Coulomb-Abstoßung nicht auf be-
nachbarte Plätze wandern. Allerdings ist innerhalb der Unschärfe-Relation ∆t ≤ ħ⇑U ein
virtuelles Hüpfen auf Nachbarplätze möglich, falls die Spins auf benachbarten Plätzen anti-
parallel ausgerichtet sind. Ansonsten würde das Pauli-Prinzip dies verbieten. Da das virtuelle
Hüpfen gemäß Störungsrechnung 2. Ordnung zu einer Energieabsenkung J ≃ −t 2 ⇑U führt,
ist eine anti-parallele Spin-Ausrichtung bevorzugt (antiferromagnetische Superaustausch-
Wechselwirkung, vergleiche Abschnitt 12.5.2.3). Undotiertes La2 CuO4 ist also ein antifer-
romagnetischer Isolator. Bei Elektrondotierung bringen wir zusätzliche Elektronen auf die
Cu-Plätze. Dadurch entfernen wir Spins auf den Cu-Plätzen, da wir jetzt zwei Elektronen
mit entgegengesetztem Spin in die 3d x 2 −y 2 -Orbitale packen müssen. Die damit verbun-
dene Verdünnung des Spin-Gitters führt zu einer Schwächung des antiferromagnetischen
Zustands, der für eine Dotierung oberhalb von etwa 10% vollkommen verschwindet. Bei
Lochdotierung bringen wir zusätzliche Löcher auf die O-Plätze. Dadurch zerstören wir die
antiferromagnetische Superaustausch-Wechselwirkung zwischen benachbarten Cu-Plätzen.
Da die dotierten Löcher nicht lokalisiert sind, verursacht bereits eine kleine Lochdo-
tierungen von wenigen Prozent eine vollständige Zerstörung des antiferromagnetischen
Zustands.

13.9.2.3 Generisches Phasendiagramm


Die unterschiedliche Wirkung von Elektron- (n) und Lochdotierung (p) auf die antiferro-
magnetische Spin-Ordnung führt zu einer Asymmetrie des generischen Phasendiagramms
der Kuprat-Supraleiter, das in Abb. 13.63 gezeigt ist. Die maximale Néel-Temperatur TN liegt
zwischen etwa 250 und 450 K, es besteht aber keine direkte Beziehung zwischen TN und Tc .
An den antiferromagnetischen Bereich bei niedriger Dotierung schließt sich auf der loch-
dotierten Seite für 0.05 ≤ p ≤ 0.27 ein supraleitender Bereich an, wobei empirisch der Zu-
13.9 Kuprat-Supraleiter 911

300
Nd2-xCexCuO4 La2-xSrxCuO4

200
Temperatur (K)

T*

100 AFM
Abb. 13.63: Generisches Pha-
sendiagramm von Kuprat-Su-
SL SL praleitern ausgehend von undo-
0
-0.3 -0.2 -0.1 0.0 0.1 0.2 0.3 tiertem (x = 0) Nd2−x Cex CuO4
n (e/CuO2) Dotierung p (h/CuO2) bzw. La2−x Srx CuO4 .

sammenhang

Tc (p)
≃ 1 − 82.6(p − 0.16)2 (13.9.2)
Tcmax

gefunden wurde. Hierbei ist p die Zahl der Löcher pro CuO2 . Das Maximum von Tc liegt
immer bei einer Lochdotierung von p ≃ 0.16, die maximale Sprungtemperatur Tcmax variiert
aber zwischen etwa 30 und 135 K in den verschiedenen Systemen. Auf der elektrondotierten
Seite sind die Verhältnisse ähnlich bis auf die Tatsache, dass sich die antiferromagnetische
Phase über einen breiteren und die supraleitende Phase einen schmäleren Dotierbereich er-
streckt. Ferner werden nur kritische Temperaturen bis etwa 30 K beobachtet. Die genauen
Ursachen dieser experimentellen Befunde sind bis heute noch unklar. Für den empirischen
Zusammenhang zwischen Dotierung n und Tc findet man215

Tc (n)
≃ 1 − 1320(n − 0.1466)2 . (13.9.3)
Tcmax

Im Dotierbereich bis etwa p = 0.2 existiert noch eine weitere charakteristische Tempera-
tur T ∗ (p), die als Pseudolückentemperatur bezeichnet wird. Diese Nomenklatur resultiert
aus der experimentellen Beobachtung, dass unterhalb von T ∗ (p) in der Photoelektronen-
Spektroskopie ein reduziertes spektrales Gewicht auf Teilen der Fermi-Fläche gemessen
wird.216 Dieses fehlende spektrale Gewicht manifestiert sich auch in Anomalien vieler
anderer Eigenschaften. Die physikalische Ursache der Pseudolücke wird noch kontrovers
diskutiert. Eine Möglichkeit ist, dass sich bei der Temperatur T ∗ zwar bereits Paarkorrelatio-
nen zwischen Ladungsträgern bilden, sich aber aufgrund von starken Phasenfluktuationen
ein Zustand mit makroskopischer Phasenkohärenz erst bei der niedrigeren Temperatur Tc
ausbilden kann. Abschließend weisen wir noch darauf hin, dass im Zwischenbereich zwi-
schen antiferromagnetischer Ordnung und Supraleitung bei tiefen Temperaturen ein so
genanntes Spinglas auftreten kann.

215
M. Lambacher, Doktorarbeit, Walther-Meißner-Institut, Technische Universität München (2008).
216
M. R. Norman, D. Pines, C. Kallin, The pseudogap: friend or foe of high Tc ?, Adv. Phys. 54, 715
(2005).
912 13 Supraleitung

13.9.3 Supraleitende Eigenschaften


Bereits kurz nach der Entdeckung der Kuprat-Supraleiter konnte experimentell belegt
werden, dass die beobachtete Supraleitung auf Cooper-Paaren mit verschwindendem
Gesamtimpuls basiert, da die beobachtete Josephson-Frequenz durch ω J = 2eV ⇑ħ gegeben
ist217 und das Flussquant den üblichen Wert Φ 0 = h⇑2e besitzt.218 Außerdem wurde be-
obachtet, dass die Knight-Verschiebung – die Änderung der Kernspin-Resonanzfrequenz
durch die Hyperfein-Wechselwirkung mit ungepaarten Elektronen – für T → 0 gegen null
geht, was einen Spin-Singulett-Zustand impliziert.219 Unklar blieb allerdings für einige
Zeit die orbitale Form des Paarzustandes. Bereits früh wurden Mechanismen vorgeschla-
gen, die auf dem Austausch von antiferromagnetischen Spin-Fluktuationen basieren, die
zu einer d x 2 −y 2 -Paarung führen würden.220 , 221 Die Klärung der orbitalen Symmetrie des
Paarzustandes war deshalb von großem Interesse, da damit u. U. theoretische Modelle, die
inkompatibel mit der experimentell gefundenen Symmetrie sind, ausgeschlossen werden
können. Wir werden darauf weiter unten noch ausführlicher eingehen.
Trotz der fehlenden Kenntnis des mikroskopischen Mechanismus der Supraleitung kön-
nen wir die meisten Eigenschaften der Kuprat-Supraleiter sehr gut mit Hilfe der BCS- und
der GLAG-Theorie beschreiben, wenn wir ihre spezifischen Besonderheiten wie ihre hohen
Sprungtemperaturen oder ihre starke Anisotropie aufgrund der Lagenstruktur berücksichti-
gen und Schätzwerte für die Fermi-Geschwindigkeit und die Zustandsdichte verwenden. Da
insbesondere die GLAG-Theorie nur auf der Existenz eines komplexen Ordnungsparameters
basiert, kann sie, unabhängig davon, wie wir die Existenz eines solchen Ordnungsparame-
ters mikroskopisch begründen, für die Beschreibung der supraleitenden Kuprate verwendet
werden.

13.9.3.1 Anisotropie der supraleitenden Eigenschaften


Der in Abb. 13.60 gezeigte strukturelle Aufbau der Kuprat-Supraleiter verdeutlicht, dass wir
eine Schichtstruktur aus gut leitenden CuO2 -Ebenen und schlecht leitenden oder isolieren-
den Zwischenschichten vorliegen haben. Dies führt zu einer großen Anisotropie des spezi-
fischen Widerstands ρ ab parallel und ρ c senkrecht zu den CuO2 -Ebenen. Für Bi-2212 wird
zum Beispiel ρ c ⇑ρ ab ≃ 105 beobachtet. Große Anisotropien werden auch für die kritischen
Magnetfelder bzw. die Kohärenzlänge und die Londonsche Eindringtiefe gefunden. Die an-
isotropen supraleitenden Eigenschaften der Kuprate lassen sich gut mit einer verallgemei-
nerten Ginzburg-Landau Theorie beschreiben. Für die Differenz ∆𝒢 = 𝒢s − 𝒢n der freien

217
D. Estève et al., Observation of the ac Josephson effect inside copper-oxide-based superconductors,
Europhys. Lett. 3, 1237 (1987).
218
C. E. Gough et al., Flux quantization in a high-Tc superconductor, Nature 326, 855 (1987).
219
S. E. Barrett et al., 63 Cu Knight shifts in the superconducting state of YBa2 Cu3 O7−δ (Tc = 90 K), Phys.
Rev. B 41, 6283 (1990).
220
N. E. Bickers, D. J. Scalapino, S. R. White, Conserving Approximations for Strongly Correlated Elec-
tron Systems: Bethe-Salpeter Equation and Dynamics for the Two-Dimensional Hubbard Model,
Phys. Rev. Lett. 62, 961 (1989).
221
P. Monthoux, A. V. Balatsky, D. Pines, Toward a theory of high-temperature superconductivity in the
antiferromagnetically correlated cuprate oxides, Phys. Rev. Lett. 67, 3448 (1991).
13.9 Kuprat-Supraleiter 913

Enthalpien machen wir in Analogie zu (13.3.59) den als Lawrence-Doniach Modell bezeich-
neten Ansatz:222
⎨ 2 ⎬
⎝ ħ 2 ⎛ ∂Ψn 2 ∂Ψn ⎞⎠⎠ ħ2
⎝ 2 2 1
∆𝒢 = ∑ ∫ d r ⎝α⋃︀Ψn ⋃︀ + β⋃︀Ψn ⋃︀ +
4
⋀︀ ⋀︀ + ⋁︀ ⋁︀ ⎠ + ⋃︀Ψn − Ψn−1 ⋃︀ .
2
⎝ ab ⎝ ⎠⎠
2 2m ∂x ∂y 2m s 2
n
⎪ ⎮ c

(13.9.4)

Hierbei sind m ab und m c die effektiven Massen parallel und senkrecht zu den CuO2 -Ebenen,
s der Abstand der CuO2 -Schichten,223 n ist der Schichtindex und die Ableitung ∂Ψ⇑∂z wur-
de durch den Differenzenquotient ⋃︀Ψn − Ψn−1 ⋃︀⇑s ersetzt. Um die Diskussion einfach zu hal-
ten, haben wir das Vektorpotenzial weggelassen. Beschreiben wir jede supraleitende Schicht
mit Ψn = ⋃︀Ψn ⋃︀e ı θ n und nehmen an, dass ⋃︀Ψn ⋃︀ für alle Schichten gleich ist, so können wir den
letzten Term auf der rechten Seite von (13.9.4) schreiben als
ħ2
⋃︀Ψn ⋃︀ (︀1 − cos(θ n − θ n−1 )⌋︀ .
2
(13.9.5)
2m c s 2
Wir sehen, dass dieser Term gerade einer Josephson-Kopplung der supraleitenden Schichten
entspricht.
Da für Längenskalen, die groß im Vergleich zu s sind, die Ableitung ∂Ψ⇑∂z gut dem
Differenzenquotienten ⋃︀Ψn − Ψn−1 ⋃︀⇑s entspricht, sehen wir sofort, dass wir in diesem Fall
den Ausdruck (13.9.4) durch eine GL-Gleichung mit elliptischer Anisotropie ausdrücken
können. Wir erhalten dann durch Variationsrechnung eine der 1. Ginzburg-Landau Glei-
chung (13.3.65) entsprechende Beziehung mit anisotroper Masse:

1 ħ 1 ħ
0= ( ∇ − q s A) ⋅ ( ∗ ) ⋅ ( ∇ − q s A) Ψ + αΨ + β⋃︀Ψ⋃︀2 Ψ . (13.9.6)
2 ı m ı

Dabei ist (1⇑m∗ ) der reziproke Massetensor mit den Hauptachsenwerten 1⇑m ab , 1⇑m ab
und 1⇑m c (Anisotropien in der ab-Ebene wollen wir hier vernachlässigen). Da die Kopp-
lung zwischen den supraleitenden Schichten schwach ist, gilt m c ≫ m ab .
Aufgrund der anisotropen Masse erhalten wir eine anisotrope Ginzburg-Landau Kohärenz-
länge [vergleiche (13.3.77)]
⟨ ⟨
⧸︂ ⧸︂
ξ ab (T) = ⧸︂
⟩ ħ2
, ξ c (T) = ⧸︂
⟩ ħ2
. (13.9.7)
2m ab ⋃︀α(T)⋃︀ 2m c ⋃︀α(T)⋃︀
⌈︂
Wir sehen, dass ξ ab,c ∝ 1⇑m ab,c . Da m c ≫ m ab erhalten wir deshalb ξ ab ≫ ξ c . Mit der
⌋︂
Beziehung B cth = Φ 0 ⇑ 8π ξλ L [vergleiche (13.3.82)] und der Tatsache, dass B cth bzw. die
⌈︂
Kondensationsenergie nicht anisotrop ist, folgt sofort, dass die Anisotropie der London-
schen Eindringtiefe gerade invers zu derjenigen der Kohärenzlänge ist, d. h. λ L,ab ∝ 1⇑m c ,
222
W. E. Lawrence, S. Doniach, in Proc. 12th Int. Conf. Low Temp. Phys., ed. E. Kanda, Tokyo, Keikagu
(1971), pp. 361.
223
Für Kuprate mit CuO2 -Mehrfachlagen in der Einheitszelle werden diese Mehrfachlagen als eine
einzelne supraleitende Schicht betrachtet.
914 13 Supraleitung

𝒄
𝝃𝒄 𝝀
𝒂𝒃

𝒂
Abb. 13.64: Querschnitt durch eine Fluss-
linie in einem anisotropen Supraleiter.
Die Flussline verläuft parallel zur b-Achse, 𝝃𝒂𝒃
die senkrecht auf der Papierebene steht. 𝝀𝒄

⌈︂
λ L,c ∝ 1⇑m ab und λ L,ab ≪ λ L,c . Dieses Ergebnis wird sofort evident, wenn wir uns klar
machen, dass λ L,c das Abschirmverhalten von Supraströmen beschreibt, die parallel zur c-
Achse fließen. Da die Kopplung in c-Achsenrichtung schwach ist, sind diese Abschirmströ-
226
me klein und deshalb die zugehörige Abschirmlänge groß. Abb. 13.64 zeigt als Beispiel den
Querschnitt durch eine Flusslinie, die parallel zur b-Achse verläuft. Für einen isotropen Su-
praleiter würden sich für den Flusslinienkern und die Abschirmströme kreisförmige Profile
ergeben. Für einen anisotropen Supraleiter ergeben sich dagegen elliptische Profile.
Das untere und obere kritische Feld ist proportional zu 1⇑λ 2L bzw. 1⇑ξ 2 , wodurch sich auch
für diese Größen Anisotropien ergeben. Da für Felder parallel zur c-Achse die Abschirm-
ströme nur innerhalb der ab-Ebene, für Felder parallel zur ab-Ebene dagegen sowohl
in ab- als auch in c-Richtung fließen, erwarten wir B c2,∥c ∝ 1⇑ξ 2ab und B c2,∥ab ∝ 1⇑ξ ab ξ c
sowie B c1,∥c ∝ 1⇑λ 2L,ab und B c1,∥ab ∝ 1⇑λ L,ab λ L,c . Die genauen Ausdrücke für die kritischen
Felder lauten
Φ0
B c1,∥c = ln(κ ab + 0.08) (13.9.8)
4πλ 2L,ab
Φ0 ⌋︂
B c1,∥ab = ln( κ ab κ c + 0.08) (13.9.9)
4πλ L,ab λ L,c
Φ0 Φ0
B c2,∥c = , B c2,∥ab = (13.9.10)
2πξ 2ab 2πξ ab ξ c
Φ0 Φ0
B cth = ⌋︂ = ⌋︂ . (13.9.11)
8πξ ab λ L,ab 8πξ c λ L,c
Diese Abhängigkeiten können wir einfach zusammenfassen, indem wir einen dimensions-
losen Anisotropieparameter γ einführen:

m c 1⇑2 ξ ab B c2,∥ab λ L,c B c1,∥c


γ≡( ) = = = ≃ . (13.9.12)
m ab ξc B c2,∥c λ L,ab B c1,∥ab

Für YBa2 Cu3 O7−δ wird γ ≃ 6 − 7, für Bi-2212 ein sehr hoher Wert weit oberhalb von 100
gefunden.
Die Kohärenzlängen können durch Messung der oberen kritischen Felder ermittelt werden.
Dabei tritt allerdings das Problem auf, dass die kritischen Felder bei tiefen Temperaturen
teilweise weit oberhalb von 100 T liegen und deshalb experimentell nicht zugänglich sind.
Es wird deshalb meist nur in der Nähe von Tc gemessen und der ξ(T = 0) Wert durch Ex-
trapolation ermittelt. Für YBa2 Cu3 O7 erhält man auf diese Weise B c2,∥c = 160 ± 25 T und
13.9 Kuprat-Supraleiter 915

900 45

Bc1,||ab , Bc1,||c (T)


Bc2,||ab , Bc2,||c (T)

Abb. 13.65: Kritische Felder


von YBa2 Cu3 O7 für Felder parallel und
600 30 senkrecht zur c-Achse (Daten nach
D. N. Zheng et al., Phys. Rev. B 49, 1417–
1426 (1994)). Gemessen wurde die Lon-
300 15 donsche Eindringtiefe und die Konden-
sationsenergie (aus spezifischer Wärme).
Daraus wurde mit (13.9.11) und (13.9.10)
die Kohärenzlänge und das obere kritische
0 0
0 20 40 60 80 100 Feld ermittelt. Das untere kritische Feld
T (K) folgt dann aus (13.9.9).
227

für B c2,∥ab sehr hohe Werte um etwa 1000 T. Daraus ergibt sich ξ ab ≃ 1.4 ± 0.2 nm und ξ c ≃
0.2 ± 0.05 nm. Für die Londonsche Eindringtiefe wird λ L,ab ≃ 140 ± 10 nm und λ L,c ≃ 900 ±
70 nm gemessen. Für Felder parallel zur c-Achse ergibt sich daraus κ c ≃ 100. Die Kuprat-
Supraleiter sind demnach extreme Typ-II Supraleiter. Abb. 13.65 zeigt das untere und obere
kritische Feld von YBa2 Cu3 O7 für Felder parallel und senkrecht zur c-Achse.
Die für Kuprat-Supraleiter ermittelten kleinen Kohärenzlängen werden verständlich, wenn
wir den Ausdruck ξ BCS (0) = ħv F ⇑π∆(0) für die BCS-Kohärenzlänge betrachten. Die Fer-
mi-Geschwindigkeit v F ≃ 2 × 105 m/s ist aufgrund der geringen Ladungsträgerkonzentrati-
on (bei optimaler Dotierung etwa 0.16 Löcher pro Einheitszelle) und der effektiven Masse
von etwa 4m e klein, die Energielücke aufgrund der hohen Sprungtemperaturen groß. Für
YBa2 Cu3 O7 ist ∆ ab (0) ≃ 30 meV, so dass sich ξBCS,ab ≃ 1.3 nm in guter Übereinstimmung
mit dem aus B c2,∥c ermittelten Wert der Ginzburg-Landau Kohärenzlänge ergibt. Der große
Wert der Londonschen Eindringtiefe lässt sich wegen λ 2L ∝ 1⇑n s mit der geringen Ladungs-
trägerdichte verstehen. Für YBa2 Cu3 O7 ergibt p = 0.16/CuO2 eine Ladungsträgerdichte n ≃
1.8 × 1027 m−3 , woraus sich aus (13.3.6) unter Verwendung der freien Elektronenmasse λ L ≃
125 nm ergibt. Auch dieser Wert stimmt erstaunlich gut mit dem für B ∥ c gemessenen Wert
überein. In Tabelle 13.4 sind einige Daten zu dem Kuprat-Supraleiter YBa2 Cu3 O7 zusam-
mengefasst und mit den für Al und Nb3 Sn erhaltenen Werten verglichen.
Wir weisen abschließend darauf hin, dass die sehr kleinen Kohärenzlängen von Kuprat-Su-
praleitern zu einem Kohärenzvolumen ξ 2ab ξ c führen, das wesentlich kleiner ist als bei klas-
sischen Supraleitern. Während sich bei klassischen Supraleitern typischerweise 106 bis 107
Cooper-Paare innerhalb des Kohärenzvolumens befinden, sind es bei Kuprat-Supraleitern
nur noch etwa 10. Im Zusammenspiel mit den höheren Betriebstemperaturen führt dies
zu einem wesentlich stärkeren Einfluss von thermischen Fluktuationen. Im Rahmen der
Ginzburg-Landau Theorie kann die mittlere Fluktuationsamplitude des Ordnungsparame-
ters zu ∐︀⋃︀Ψ⋃︀2 ̃︀ ≃ k B T⇑⋃︀α⋃︀ξ 2ab ξ c angegeben werden. Sie wird also durch das Verhältnis von ther-
mischer Energie zur Kondensationsenergie des Kohärenzvolumens bestimmt. Thermische
Fluktuationen führen z. B. zu einer Verrundung des resistiven Übergangs in den supralei-
tenden Zustand oder des Sprungs in der spezifischen Wärme bei Tc . Sie resultieren im Zu-
sammenspiel mit der großen Anisotropie insgesamt in einem sehr komplexen Verhalten des
Mischzustands der Kuprat-Supraleitern, was wir hier nicht diskutieren wollen.
916 13 Supraleitung

Tabelle 13.4: Vergleich der Größe Einheit YBCO Nb Sn Al Anmerkung


supraleitenden Parameter
von YBa2 Cu3 O7 (YBCO), Nb3 Sn Tc K 93 18 1.19
und Al. Die Literaturwerte für ∆(0) meV 30 4.3 0.18
YBCO zeigen beträchtliche
2∆(0)⇑k B Tc 7.4 5.4 3.5
Schwankungen, weshalb die
angegebenen Werte nur als grobe ξ BCS nm 1.3 10 170
Mittelwerte betrachtet werden B cth T 1.1 0.9 0.01
können. Nb3 Sn und Al wur-
den als isotrop angenommen. B c1,∥c T 0.05 0.75 – B∥c
B c1,∥ab T 0.009 0.75 – B ∥ ab
λ L,∥c nm 140 80 50 Js ∥ c
λ L,∥ab nm 900 80 50 Js ∥ ab
B c2,∥c T 160 25 – B∥c
B c2,∥ab T 1000 25 – B ∥ ab
ξc nm 1.4 4 170 B∥c
ξ ab nm 0.2 4 170 B ∥ ab
κc 100 20 0.3 B∥c

13.9.3.2 Ordnungsparameter
Wir haben im vorangegangenen Abschnitt gesehen, dass die supraleitenden Eigenschaften
von Kuprat-Supraleitern gut im Rahmen einer anisotropen GLAG-Theorie beschrieben wer-
den können, ähnlich wie wir dies auch für andere anisotrope Supraleiter wie z. B. TaS2 tun
können. Es stellt sich die Frage, ob Kuprat-Supraleiter darüber hinausgehende Eigenschaf-
ten besitzen, die nicht mit denjenigen von anisotropen metallischen Supraleitern kompatibel
sind. Wir wollen im Folgenden zeigen, dass ein wesentlicher Unterschied hinsichtlich der
Symmetrie der Paarwellenfunktion besteht (vergleiche Abschnitt 13.5.1.3).

Konventionelle und unkonventionelle Paarung: Wir haben bereits gesehen, dass das
Paarpotenzial [vergleiche (13.5.29)]

∆ kσ1 σ2 ≡ − ∑ Vk,k′ g k′ σ1 σ2 (13.9.13)


k′

eine geeignete Größe ist, um die Paarwechselwirkung in Supraleitern zu charakterisieren. In


unserer Diskussion haben wir aber meist vereinfachend angenommen, dass ∆ k = −V0 un-
abhängig von k ist und eine sphärische Symmetrie besitzt. Wir haben in diesem Fall von
s-Wellen-Paarung gesprochen. Für Materialien mit anisotropen elektronischen Eigenschaf-
ten erwarten wir, dass ∆ k zwar anisotrop ist, aber immer noch die volle Symmetrie der zu-
grunde liegenden Kristallstruktur besitzt. Hätten wir z. B. eine tetragonale Kristallsymmetrie
vorliegen, so würden wir erwarten, dass ∆ k verschiedene Werte für k in c-Richtung und par-
allel zur ab-Ebene besitzt. Für beliebige k-Richtungen kann ∆ k einen nichttrivialen Verlauf
annehmen, der aber die volle Kristallsymmetrie besitzt. Wir sprechen in diesem Fall von
anisotroper s-Wellen-Paarung. Ganz allgemein sprechen wir von konventioneller Paarung,
wenn ∆ k die volle Symmetrie der zugrunde liegenden Kristallstruktur besitzt. Die Bezeich-
13.9 Kuprat-Supraleiter 917

nung unkonventionelle Paarung benutzen wir für Fälle, bei denen ∆ k eine niedrigere Sym-
metrie als die Kristallstruktur aufweist.
Betrachten wir die ursprüngliche Definition der Wechselwirkung [vergleiche (13.5.9)]
1 ı(k−k′ )⋅r
Vk,k′ = ∫ V (r)e dV , (13.9.14)

wobei r = r1 − r2 , so erkennen wir sofort, dass Vk,k′ im Allgemeinen von der Richtung k − k′
abhängt und deshalb [vergleiche (13.5.72)]

tanh(E k′ ⇑2k B T)
∆ k = − ∑ Vk,k′ ∆ k′ (13.9.15)
k′ 2E k′

eine Funktion der Richtung von k ist. Der Grad der Symmetrie von Vk,k′ wird sich somit in
der Symmetrie von ∆ k widerspiegeln.224 Wir müssen deshalb nach solchen Funktionen ∆ k
suchen, die nach der Gruppentheorie mit der Symmetrie von Vk,k′ kompatibel sind. Da wir
bereits wissen, dass in den Kuprat-Supraleitern eine Spin-Singulett-Paarung (S = 0) vorliegt,
müssen wir nach geraden Funktionen ∆(k) = ∆(−k) suchen. Für Systeme mit tetragonaler
Symmetrie wäre eine mögliche Lösung ein d-Wellen-Ordnungsparameter

∆m
∆k = (cos k y a − cos k x a) = ∆ m cos 2φ . (13.9.16)
2
Hierbei ist ∆ m der Maximalwert von ∆ k und φ der Winkel relativ zur k x bzw. Γ-X-Richtung
(vergleiche hierzu Abb. 13.62). Abb. 13.66 zeigt die k-Abhängigkeit eines s- und d-Wellen-
Ordnungsparameters mit den zugehörigen Zustandsdichten für die Quasiteilchenanregun-
gen. Wir sehen, dass der d-Wellen-Ordnungsparameter nicht mehr die volle Symmetrie ei-
nes tetragonalen Kristallgitters besitzt, da er nur noch eine zweizählige Drehachse hat. Für
einen Kuprat-Supraleiter mit tetragonaler Kristallstruktur (vierzählige Drehachse) wäre dies
also ein unkonventioneller Ordnungsparameter. Da für den d-Wellen-Ordnungsparameter
Knotenlinien mit verschwindender Amplitude der Paarwellenfunktion existieren, besitzt die
Zustandsdichte für die Quasiteilchenanregungen keine Lücke. Dies hat Auswirkungen auf
zahlreiche Messgrößen wie die Londonsche Eindringtiefe oder die spezifische Wärme, für
die bei tiefen Temperaturen anstelle einer exponentiellen Temperaturabhängigkeit Potenz-
gesetze erhalten werden.
Bevor wir auf die experimentelle Untersuchung von ∆ k in Kuprat-Supraleitern eingehen,
wollen wir ein anschauliches Argument dafür geben, wieso andere Symmetrien als die s-Wel-
lensymmetrie bevorzugt sein könnten. Falls zum Beispiel die Wechselwirkung einen stark
repulsiven Charakter bei kleinen und einen attraktiven bei großen Abständen hat, so sollte
die optimale radiale Abhängigkeit der Paarwellenfunktion eine kleine Amplitude für kurze
Teilchenabstände r haben. Dies wird automatisch von einer d-Wellensymmetrie erfüllt, für
welche die Wahrscheinlichkeitsamplitude für r → 0 mit r 2 gegen null geht. Falls die Wech-
selwirkung dagegen für r → 0 attraktiv ist, ist eine s-Wellensymmetrie optimal, für welche
die Wahrscheinlichkeitsamplitude für r → 0 endlich bleibt.
224
J. F. Annett, N. Goldenfeld, S. R. Renn, in Physical Properties of High Temperature Superconduc-
tors II, D. M. Ginsberg (Ed.), World Scientific, Singapore (1990), p. 571.
918 13 Supraleitung

𝑳=𝟎 2
𝒌𝒚
𝑺=𝟎 + 𝑳=𝟐 𝑳=𝟎
𝚫
𝑺=𝟎 𝑺=𝟎

+
+ 𝒌𝒙

Ds / Dn(EF)
1
𝑳=𝟐
𝑺=𝟎
𝒌𝒚

Abb. 13.66: s- und d-Wellen-Ord-
nungsparameter mit den zugehörigen 𝝋
Zustandsdichten für die Quasiteil- +
+ 𝒌𝒙
chenanregungen. Es wurde der Ein- 0
fachheit halber eine sphärisch symme- 0 1 2
trische Fermi-Fläche angenommen. – Ek / k
229

Symmetrie der Paarwellenfunktion in Kuprat-Supraleitern: Die Experimente zur Unter-


suchung der Symmetrie der Paarwellenfunktion lassen sich grundsätzlich in zwei Katego-
rien einteilen: (i) phasenempfindliche und (ii) amplitudenempfindliche Messungen. Erstere
liefern direkt die k-Abhängigkeit der Phase der Paarwellenfunktion und Letztere die k-Ab-
hängigkeit ihrer Amplitude. Um eindeutig zwischen einer stark anisotropen s-Wellensym-
metrie und einer d-Wellensymmetrie unterscheiden zu können, sind phasenempfindliche
Messungen notwendig. Solche Experimente können zum Beispiel mit Josephson-Kontakten
realisiert werden, deren Elektroden aus einem Kuprat-Supraleiter (1) und einem metalli-
schen Supraleiter (2) mit s-Wellen-Ordnungsparameter bestehen. Da die Josephson-Kopp-
lung proportional zu ∆ 1 ∆ 2 ist, spiegelt diese die Winkelabhängigkeit von ∆(k) für Elektro-
nen, die sich senkrecht zur Grenzfläche bewegen, wider. Der Josephson-Strom durch den
Kontakt enthält deshalb einen Faktor cos 2φ 1 , wobei φ 1 der Winkel zwischen der Normalen
auf der Grenzfläche und der a-Achse des Kuprat-Supraleiters ist.225 , 226
Eine besonders einfache Geometrie für phasenempfindliche Experimente ist in Abb. 13.67
gezeigt, in der zwei Josephson-Kontakte zu einem dc-SQUID zusammengefügt sind. Da die
Grenzflächennormalen der Josephson-Kontakte entweder parallel zur a- oder zur b-Achse
des Kuprat-Supraleiters verlaufen, würden wir für einen durch (13.9.16) gegebenen d-Wel-
len-Ordnungsparameter cos 2φ 1 = ±1 erhalten, was einer Phasenschiebung von 0 oder π
entspricht. Die entsprechenden Josephson-Kontakte bezeichnen wir deshalb als 0- bzw. π-
Kontakte. Wir sehen nun, dass wir in der in Abb. 13.67a gezeigten SQUID-Schleife zwei nor-
male 0-Kontakte, in der in Abb. 13.67b gezeigten Konfiguration dagegen einen 0- und einen
π-Kontakt vorliegen haben. Für das 0-dc-SQUID mit den beiden 0-Kontakten erwarten wir
nach (13.6.39)
Φ ext
I s (Φ ext ) = I c ⋀︀cos (π )⋀︀ . (13.9.17)
Φ0

225
M. Sigrist, T. M. Rice, Paramagnetic Effect in High Tc Superconductors – A Hint for d-Wave Super-
conductivity, J. Phys. Soc. Jpn. 61, 4283 (1992).
226
M. Sigrist, T. M. Rice, Unusual paramagnetic phenomena in granular high-temperature supercon-
ductors – A consequence of d-wave pairing?, Rev. Mod. Phys. 67, 503 (1995).
13.9 Kuprat-Supraleiter 919

(a)
1.0

Is / Ic
0.5

0.0
-2 -1 0 1 2
 / 0
(b)
1.0

Is / Ic
0.5

0.0
-2 -1 0 1 2
 / 0
232

Abb. 13.67: Experimentelle Konfiguration zum Nachweis des d-Wellen-Ordnungsparameters


in YBa2 Cu3 O7 . Gezeigt ist der schematische Aufbau eines (a) 0-dc-SQUIDs und eines (b) π-dc-
SQUIDs bestehend aus dem Kuprat-Supraleiter YBa2 Cu3 O7 und dem metallischen Supraleiter Pb. Für
das π-dc-SQUID ist die I s (Φ ext )-Abhängigkeit gegenüber derjenigen des 0-dc-SQUIDs um ein halbes
Flussquant verschoben.

Hierbei ist Φ ext der in die SQUID-Schleife durch ein äußeres Magnetfeld eingekoppelte Fluss
und I c die Summe der kritischen Ströme der beiden Josephson-Kontakte. Für das π-dc-
SQUID mit einem 0- und einem π-Kontakt erwarten wir dagegen

Φ ext + Φ 0 ⇑2
I s (Φ ext ) = I c ⋁︀cos (π )⋁︀ , (13.9.18)
Φ0

wobei wir die zusätzliche π-Phasenschiebung durch den zusätzlichen Fluss Φ 0 ⇑2 berück-
sichtigt haben. Für die beiden SQUID-Konfigurationen sollten sich somit die in Abb. 13.67
gezeigten, gerade um ein halbes Flussquant gegeneinander verschobenen I s (Φ ext )-
Abhängigkeiten ergeben. Dies wurde experimentell von D. J. Van Harlingen und Mit-
arbeitern in der Tat gefunden und damit ein klarer Beleg dafür erbracht, dass die Kuprat-
Supraleiter einen d-Wellen-Ordnungsparameter besitzten.227 , 228
Betrachten wir das π-dc-SQUID, so erkennen wir sofort, dass für Φ ext =0 die Supraströme
über die beiden Josephson-Kontakte endlich sein müssen. Wären sie null, so würde sich
die Phase entlang der geschlossenen SQUID-Schleife um genau π ändern, was aber nicht
zulässig ist. Die Ströme müssen also endlich sein und genau so fließen, dass sich eine gesam-
227
D. A. Wollman, D. J. Van Harlingen, W. C. Lee, D. M. Ginsberg, A. J. Leggett, Experimental deter-
mination of the superconducting pairing state in YBCO from the phase coherence of YBCO-Pb dc
SQUIDs, Phys. Rev. Lett. 71, 2134 (1993).
228
D. J. Van Harlingen, Phase-sensitive tests of the symmetry of the pairing state in the high-temperature
superconductors – Evidence for d x 2 −y 2 symmetry, Rev. Mod. Phys. 67, 515 (1995).
920 13 Supraleitung

50
𝑴
40 1

15
30 𝝋

| (meV)
15 𝑿
𝚪
Abb. 13.68: Abhängigkeit der Amplitude
des Ordnungsparameters in Bi-2212 vom 20
1
Winkel φ relativ zur Γ-X-Richtung gemes-
sen mit winkelaufgelöster Photoelektronen- 10
Spektroskopie (nach H. Ding et al., Phys.
Rev. B 54, R9678 (1995)). Das Inset zeigt
die gemessene Fermi-Fläche (Symbole) in 0
0 15 30 45 60 75 90
einem Teil der 1. Brillouin-Zone (Symbole),
die Linie stellt einen Tight-Binding-Fit dar. (°)
234

te Phasenänderung von 0 ergibt. Dies wird dadurch erreicht, dass die Ströme in den beiden
Kontakten in entgegengesetzte Richtung fließen. Insgesamt ergibt sich daraus ein Ringstrom,
der einem Fluss von Φ 0 ⇑2 entspricht. Kühlen wir also ein π-dc-SQUID im Nullfeld ab, so
entsteht unterhalb von Tc ein spontaner Ringstrom, der einem Fluss von Φ 0 ⇑2 entspricht.
Dieser Fluss wurde von C. C. Tsui und Mitarbeitern tatsächlich nachgewiesen.229 Eine weite-
re Konsequenz des Vorzeichenwechsels des d-Wellen-Ordnungsparameters sind gebundene
Andreev-Zustände bei der Fermi-Energie, die mit Hilfe von Tunnelspektroskopie nachge-
wiesen werden können.230
Die Winkelabhängigkeit der Amplitude von ∆(k) kann mit winkelaufgelöster Photoelek-
tronen-Spektroskopie bestimmt werden.231 Das Ergebnis ist in Abb. 13.68 gezeigt. Die
gemessene Abhängigkeit stimmt gut mit der nach (13.9.16) erwarteten Winkelabhängig-
keit ⋃︀∆(φ)⋃︀ = ∆ m ⋃︀cos 2φ⋃︀ überein, die in Abb. 13.68 als durchgezogene Linie eingezeichnet
ist. Weitere Belege für die d-Wellensymmetrie des Ordnungsparameters liefern Messungen
der Londonschen Eindringtiefe bei T ≪ Tc . Während man für einen s-Wellen-Ord-
nungsparameter λ L (T) − λ L (0) ∝ exp(−∆⇑k B T) misst, erhält man für einen d-Wellen-
Ordnungsparameter λ L (T) − λ L (0) ∝ T.232 , 233 Dies resultiert aus den niederenergetischen
Quasiteilchenanregungen aufgrund der in bestimmte k-Richtungen verschwindenden
Amplitude des d-Wellen-Ordnungsparameters.

229
C. C. Tsui, J. R. Kirtley, C. C. Chi, Lock See Yu-Jahnes, A. Gupta, T. Shaw, J. Z. Sun, M. B. Ketchen,
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14 Topologische Quantenmaterie
In den 1980er Jahren wurde erstmals klar, dass die
topologischen Eigenschaften physikalischer Systeme
im Bereich der kondensierten Materie eine wich-
tige Rolle spielen. Es wurde erkannt, dass das Zu-
sammenspiel von Symmetrie und Topologie zu neu-
en Phasen der kondensierten Materie führen kann,
deren Eigenschaften von der Topologie bestimmt
werden. In der theoretischen Physik wurden schnell
Schemata zur Klassifizierung dieser neuen Materie-
phasen entwickelt, wobei Ideen und Konzepte aus
der theoretischen Festkörperphysik, der Hochenergiephysik, der Informationstheorie und
der Mathematik verknüpft wurden. Auf der experimentellen Seite wurden eine Reihe von
nichttrivialen Materiephasen realisiert und charakterisiert. Dazu gehören die gebrochen-
rationalen Quanten-Hall-Phasen, zwei- und dreidimensionale topologische Isolatoren, to-
pologische Supraleiter sowie Weyl- und Dirac-Halbmetalle. Mehrere andere, von der Theo-
rie vorgeschlagene Phasen konnten allerdings noch gar nicht synthetisiert werden.
Wir werden in diesem Kapitel sehen, dass die Quantenphysik im Zusammenspiel mit der
Topologie und Symmetrie der elektronischen Bandstruktur zu einer neuen Klasse von Mate-
riephasen führt. Die Verwendung der aus der Mathematik stammenden Konzepte der Topo-
logie spielt für das Verständnis dieser neuen Materieklasse eine wichtige Rolle. Für ihre Pio-
nierarbeiten zur Anwendung von Konzepten der Topologie auf die Beschreibung von Phasen
der Materie und Phasenübergängen erhielten David J. Thouless, F. Duncan M. Haldane und
J. Michael Kosterlitz den Nobelpreis für Physik 2016.
Das Gebiet der topologischen Quantenmaterialien hat sich in den vergangenen zwei Jahr-
zehnten enorm weiterentwickelt und mittlerweile werden auch Anwendungen dieser Mate-
rialklasse diskutiert. Deshalb ist es an der Zeit, die Grundlagen dieses für viele Festkörper-
physiker immer noch etwas fremde Themengebiet in einem Lehrbuch vorzustellen.
930 14 Topologische Quantenmaterie

14.1 Geschichte und Grundlegende Aspekte


Kondensierte Materie kann in vielfältigen Erscheinungsformen (z.B. flüssig, fest, supraflüs-
sig) mit unterschiedlichen Eigenschaften (z.B. ferromagnetisch, supraleitend) auftreten. Wir
bezeichnen diese Erscheinungsformen als Zustandsformen oder Phasen. Die unterschied-
lichen Zustandsformen hängen mit der Art und Weise zusammen, wie wir die Atome an-
ordnen, weshalb wir sie auch als Ordnungszustände bezeichnen. Wenn ein Material von
einem in einen anderen Ordnungszustand übergeht, sprechen wir von einem Phasenüber-
gang. Da bei einem solchen Übergang üblicherweise die Symmetrie der Organisationsstruk-
tur der Atome verändert wird, können wir verschiedene Zustandsformen der Materie durch
die Symmetrien, die sie brechen, charakterisieren und klassifizieren. Bekannte Beispiele sind:

∎ kristalline Festkörper → gebrochene kontinuierliche Translationssymmetrie,


∎ Flüssigkristalle → gebrochene Rotationssymmetrie,
∎ ferroelektrische Materialien → gebrochene Inversionssymmetrie,
∎ ferromagnetische Materialien → gebrochene Rotationssymmetrie,
∎ supraleitende Materialien → gebrochene Eichsymmetrie.

Lange Zeit wurde geglaubt, dass alle möglichen Ordnungszustände und alle möglichen
Phasenübergänge durch gebrochene Symmetrien klassifiziert werden können. Nach der
Entdeckung des ganzzahligen (1980) und fraktionalen (1982) Quanten-Hall-Zustands und
der Entwicklung von chiralen Spin-Zuständen im Zusammenhang mit der Erklärung der
Hochtemperatur-Supraleitung wurde aber klar, dass diese Quantenzustände nicht durch
eine spontan gebrochene Symmetrie klassifiziert werden können. Ihre fundamentalen phy-
sikalischen Eigenschaften wie die quantisierte Hall-Leitfähigkeit werden vielmehr durch die
topologische Struktur des zugrunde liegenden quantenmechanischen Zustands bestimmt.
Das heißt, sie werden durch eine globale Größe beschrieben, die wir als topologische
Invariante bezeichnen und die nicht von den Details des jeweiligen Systems abhängt. Die
neuartige Ordnung nennen wir deshalb topologische Ordnung. Um uns dies anhand eines
Beispiels klarzumachen, betrachten wir einen Torus und ein Krug mit Henkel. Obwohl
beide sehr unterschiedlich ausschauen, besitzen sie die gleiche Topologie, da sie durch eine
kontinuierliche Umformung ineinander überführt werden können. Ein Krug ohne Henkel
hätte dagegen eine andere Topologie. Wir bezeichnen heute allgemein solche Zustands-
formen der kondensierter Materie, die durch eine topologische Ordnung charakterisiert
werden, die also nicht in das allgemeine Paradigma der Symmetriebrechung passen, als
topologischen Quantenmaterialien.
Bis heute wurden mehrere topologische Phasen gefunden. Neben den Spin-Ketten mit ganz-
zahligem Spin zählen hierzu insbesondere die topologischen Isolatoren, deren Entdeckung
das Feld der topologischen Quantenmaterialien stark belebt hat. Lange Zeit dachte man,
dass alle Bandisolatoren (vergleiche Abschnitt 8.4.3) prinzipiell äquivalent sind. Eine topo-
logische Bandtheorie sagt nun aber eine Vielzahl unterschiedlicher Klassen von Bandiso-
latoren voraus. Die Existenz einer nichttrivialen topologischen Ordnung in einem Isolator
führt zu charakteristischen physikalischen Eigenschaften. Die wohl bemerkenswerteste Kon-
sequenz ist die Existenz von Oberflächenzuständen, die keine Energielücke besitzen. Diese
führen dazu, dass topologische Isolatoren in ihrem Inneren zwar elektrisch isolierend, an
14.1 Geschichte und Grundlegende Aspekte 931

David J. Thouless, F. Duncan M. Haldane und J. Michael Kosterlitz,


Nobelpreis für Physik 2016
Der Nobelpreis für Physik 2016
wurde an David J. Thouless, F.
Duncan M. Haldane und J. Mi-
chael Kosterlitz für die theo-
retische Entdeckung von topolo-
gischen Phasenübergängen und
topologischen Phasen von Mate-
rie verliehen. Die drei britischen David J. Thouless F. Duncan M. Haldane J. Michael Kosterlitz
Physiker wendeten erfolgreich © Nobel Media AB 2016/Alexander Mahmoud.
Konzepte der Topologie auf phy-
sikalische Systeme an. Phasenübergänge lassen sich durch gebrochene Symmetrien charak-
terisieren. Kosterlitz und Thouless zeigten aber bereits in den 1970er-Jahren, dass Ord-
nungsstrukturen unterschiedliche Topologien besitzen können und der Übergang zwi-
schen ihnen eine neue Klasse von „topologischen“ Phasenübergängen definiert. Durch den
Nobelpreis wurde die große Tragweite topologischer Konzepte in der Physik gewürdigt. 161

Die Erforschung topologischer Phasen ist zwar immer noch überwiegend grundlagenori-
entiert, es zeichnen sich aber auch Anwendungsmöglichkeiten in der Spintronik, der Su-
praleitung oder der Quanteninformationsverarbeitung ab.
David Thouless wurde am 21. September 1934 in Bearsden, Schottland geboren. Nach dem
Studium an der Cambridge University promovierte er 1958 an der Cornell University bei
Hans Bethe. Nach Aufenthalten an der UC Berkeley und der Cambridge University wurde
er 1965 Professor an der University of Birmingham. Nach einer weiteren Station an der Yale
University wurde er 1980 Professor an der University of Washington in Seattle. Er übertrug
zusammen mit Michael Kosterlitz grundlegende Konzepte der Topologie auf die Beschrei-
bung von Phasenübergängen. Später entwickelte er auch eine Theorie zur Erklärung des
Quanten-Hall-Effekts.
Duncan Haldane wurde am 14. September 1951 in London, England geboren. Er studier-
te an der Cambridge University, wo er 1978 bei Philip Anderson promovierte. Er arbeite
anschließend am Institut Laue-Langevin in Grenoble, der University of Southern Califor-
nia in Los Angeles, den Bell Laboratories in Murray Hill, der UC San Diego und seit 1990
an der Princeton University in New Jersey. Er verwendete Konzepte der Topologie zur Be-
schreibung von Materiephasen und Phasenübergängen. In den 1980er-Jahren erklärte er
die magnetischen Eigenschaften von Spin-Ketten.
Michael Kosterlitz wurde am 22. Juni 1943 in Aberdeen, Schottland geboren. Er studierte
an der Cambridge University und promovierte 1969 an der Oxford University. Kurz da-
nach beschäftigte er sich zusammen mit David Thouless an der University of Birmingham
mit grundlegenden Aspekten zu topologischen Quantenphasen. Im Jahr 1982 wurde er
Professor an der Brown University in Providence, Rhode Island.

ihrer Oberfläche aber elektrisch leitend sind. Außerdem gibt es Materialien, in denen Elek-
tronen mit entgegengesetzter Bewegungsrichtung eine entgegengesetzte Spin-Richtung be-
sitzen. Bewegen sich also z.B. gleich viele Elektronen in Vorwärts- und Rückwärtsrichtun-
932 14 Topologische Quantenmaterie

gen, so führt das zu einem verschwindenden Ladungstrom. Aufgrund der entgegengesetzten


Spin-Richtungen resultiert aber ein endlicher Spin-Strom (vergleiche Abschnitt 9.6.2). Die-
se Tatsache ist für das Gebiet der Spin-Elektronik von großem Interesse. Die topologischen
Isolatoren wurden 2005 zuerst für zweidimensionale1 und wenig später im Jahr 2007 auch
für dreidimensionale Materialien2 theoretisch vorhergesagt. Eine erste experimentelle Be-
stätigung folgte für zweidimensionale Systeme bereits 2007.3 Der in den Experimenten an
zweidimensionalen Systemen gemessene elektrische Widerstand war immer derselbe, unab-
hängig von der Breite der Probe und zwar halb so groß wie der beim normalen Quanten-
Hall-Effekt gemessene Quantenwiderstand. Dies deutet darauf hin, dass die Randströme in
den topologischen Isolatoren nur halb so viele Elektronen transportieren wie die Randkanä-
le in Quanten-Hall-Proben. Wie wir später sehen werden, ist der Grund hierfür, dass die
Bewegungsrichtung der Elektronen mit der Orientierung ihres Spins gekoppelt ist: Spin-↑
Elektronen können nur in die eine Richtung, Spin-↓ Elektronen nur in die entgegengesetzte
Richtung fließen.
Das Feld der topologischen Quantenmaterialien ist noch jung und entwickelt sich sehr
schnell.4 , 5 , 6 Neben topologischen Isolatoren werden heute auch topologische Supraleiter
oder topologische nodale Halbmetalle diskutiert. Wir wollen in den folgenden Unterkapi-
teln einige Grundzüge dieser sehr interessanten Materialien und der zugrundeliegenden
Physik zusammenfassen.

14.2 Topologie und Bandstruktur


Zum Verständnis von topologischen Quantenmaterialien benötigen wir grundlegendes
Wissen zur Topologie und Bandstruktur. Wir werden hier das Konzept der topologischen
Äquivalenz einführen und seine Bedeutung bezüglich der elektronischen Bandstruktur
von Festkörpern erläutern. Wir werden dabei die Berry-Phase einführen, die ein wichtiges
konzeptionelles Werkzeug für die Analyse von topologischen Zuständen ist (vergleiche
hierzu Abschnitt 9.7).

1
C. L. Kane, E. J. Mele, Z2 Topological Order and the Quantum Spin Hall Effect, Phys. Rev. Lett. 95,
146802 (2005); siehe auch Phys. Rev. Lett. 95, 226801 (2005).
2
L. Fu, C. L. Kane, E. J. Mele, Topological Insulators in Three Dimensions, Phys. Rev. Lett. 98, 106803
(2007).
3
M. König, S. Wiedmann, C. Brüne, A. Roth, H. Buhmann, L. W. Molenkamp, X.-L. Qi, S.-C. Zhang,
Quantum Spin Hall Insulator State in HgTe Quantum Wells, Science 318, 766-770 (2007).
4
B. A. Bernevig, T. L. Hughes, Topological Insulators and Topological Superconductors, Princeton
University Press (2013).
5
M. Franz, L. Molenkamp (Hg.), Topological Insulators, in Contemporary Concepts of Condensed
Matter Series, Vol. 6, Elsevier, Amsterdam (2013).
6
M. Z. Hasan, C. L. Kane, Topological Insulators, Rev. Mod. Phys. 82, 3045-3067 (2010).
14.2 Topologie und Bandstruktur 933

14.2.1 Klassifizierung von geometrischen Körpern


Die Topologie ist ein Teilgebiet der Mathematik. Sie untersucht jene Eigenschaften von geo-
metrischen Körpern, die sich bei einer stetigen Verformung nicht verändern. Ein bekann-
tes Beispiel ist die topologische Äquivalenz eines Krugs mit Henkel und eines Torus. Beide
geometrische Körper können dann mit dem gleichen topologischen Index klassifiziert wer-
den. Die gleiche topologische Eigenschaft der beiden geometrischen Körper besteht darin,
dass wir auf ihren Oberflächen geschlossene Wege finden können, die durch ein Loch (beim
Krug ist dies der Henkel) hindurchgehen, und solche, die das nicht tun. Wenn wir den Torus
kontinuierlich in einen Krug verformen, ändert sich daran nichts. Würden wir jedoch den
Torus zu einer Kugel verformen, dann verschwindet das Loch, und die besagten Wege durch
das Loch existieren dann nicht mehr. Der Torus und die Kugel sind also topologisch nicht
äquivalent und werden durch zwei unterschiedliche topologische Invarianten klassifiziert.
Um uns das anhand eines einfachen Beispiels klar zu machen, betrachten wir die Euler-
Poincaré-Charakteristik von geschlossenen Flächen. Wir können diese Flächen A mit einer
Kennzahl χ(A), die auch als topologische Invariante bezeichnet wird, kennzeichnen (Gauß-
Bonnet-Theorem):
1
χ(A) = ∫ G dA . (14.2.1)

A

Das Integral läuft über die gesamte geschlossene Fläche A und G ist deren Gaußsche Krüm-
mung. Für eine Kugel mit Radius R, für die G = 1⇑R 2 , erhalten wir χ = 2, für den Torus
χ = 0 und den Doppeltorus χ = −2 (siehe Abb. 14.1). Zwei Flächen besitzen die gleiche Euler-
Poincaré-Charakteristik,7 wenn sie stetig ineinander umgeformt werden können. Für solche
mit unterschiedlichen Charakteristiken ist dies nicht möglich.8

(a) (b) (c) Abb. 14.1: Zur Veranschaulichung


der Euler-Poincaré-Charakteristik
geschlossener Flächen. Die Kugel (a)
besitzt die topologische Invariante
χ = 2, der Torus (b) χ = 0 und der
Doppeltorus (c) χ = −2.

Levi-Civita-Transport: Um uns den unten eingeführten Begriff der geometrischen Pha-


sen zu veranschaulichen, wollen wir hier zuerst das geometrische Beispiel des so genann-
ten Parallel- oder Levi-Civita-Transports diskutieren. Wir betrachten dazu eine Kugel und
transportieren auf der Kugel einen Vektor entlang des in Abb. 14.2 gezeigten Weges. Der
Vektor R soll dabei immer parallel zur Kugeloberfläche sein (R ⋅ ⧹︂
n = 0) und darf auch nicht
um die lokale Normalenrichtung ⧹︂ n gedreht werden (dR × ⧹︂n = 0). Diesen Transport nennen
wir Paralleltransport. Nachdem wir den geschlossenen Weg Γ durchlaufen haben und an den
Nordpol zurückgekehrt sind, stellen wir fest, dass der Vektor seine Richtung um den Winkel
7
Eine noch intuitivere Invariante ist das Geschlecht g = 12 (2 − χ) der Fläche, das gerade die Zahl
der Löcher angibt.
8
M. Nakahara, Geometry, Topology and Physics, 2. Auflage, Taylor & Francis (2003).
934 14 Topologische Quantenmaterie

α geändert hat. Wir erhalten also eine so genannte Holonomie, die den Vektor vor und nach
dem Transport unterscheidet und zwar nur aufgrund der Krümmung der Kugel. Würden
wir nämlich den umfahrenen Sektor der Kugel auf eine ebene Unterlage abflachen (siehe
Abb. 14.2, rechts), so würde der Normalenvektor ⧹︂ n immer aus der Papierebene heraus und
damit wegen dR × ⧹︂ n = 0 auch R immer in die gleiche Richtung zeigen. Der Winkel α beim
Paralleltransport auf der Kugeloberfläche ist gerade durch den von Γ umschlossenen halben
Raumwinkel Ω gegeben. Das Konzept des Paralleltransports kann auf beliebige Oberflächen
verallgemeinert werden.

𝜶
𝒏ෝ ෝ
𝒏 ෝ
𝒏 ෝ
𝒏
𝑹 𝑹
𝑹 𝑹


𝒏 ෝ
𝒏
𝜶
Abb. 14.2: Paralleltransport ei- ෝ
𝒏 ෝ
𝒏
𝑹 𝚪 𝑹 𝑹 𝚪 𝑹
nes Vektors auf einer Kugel-
oberfläche. Rechts haben
wir den Kugelsektor auf eine
ebene Unterlage abgeflacht.

14.2.2 Elektronische Bandstruktur und topologische Invarianten


148

Wir müssen uns nun fragen, welche Rolle die Topologie bei der Klassifizierung von Pha-
senzuständen kondensierter Materie spielt. Die Antwort lautet: Es sind die Symmetrieei-
genschaften der elektronischen Bandstruktur im reziproken Raum, welche die topologische
Äquivalenz oder eben Nicht-Äquivalenz verschiedener Phasen festlegen. Es hat sich heraus-
gestellt, dass die Gesamtheit aller Valenzbänder eines Materials eine topologische Eigen-
schaft besitzt, die wir wiederum mit einer geeigneten topologischen Invarianten klassifi-
zieren können. Bei topologischen Isolatoren übernimmt die Rolle des Lochs bei unserem
geometrischen Beispiel (Torus, Krug) die Bandlücke, durch die das Material zum Isolator
wird. Wollen wir z.B. verschiedene isolierende Phasen hinsichtlich ihrer topologischen Ei-
genschaften klassifizieren, müssen wir untersuchen, ob wir ihre Valenzbänder kontinuier-
lich ineinander transformieren können, ohne dabei die Energielücke zu schließen.9 Falls das
möglich ist, würden alle isolierende Phasen die gleichen topologischen Eigenschaften be-
sitzen. Es hat sich aber gezeigt, dass dies nicht der Fall ist. Wir bezeichnen nun Isolatoren,
deren Valenzbänder nicht-triviale topologische Eigenschaften besitzen, als topologische Iso-
latoren. Solche mit trivialer Topologie sind die bekannten Bandisolatoren. Wir werden später
sehen, dass wir zur Klassifizierung von topologischen Phasen wie zur Klassifizierung geo-
metrischer Objekte eine geeignete topologische Kennzahl verwenden können.
9
Hierzu benutzen wir das Prinzip der adiabatischen Kontinuität. Zwei Isolatoren sind äquivalent,
wenn wir sie durch eine langsame Änderung des Hamilton-Operators adiabatisch ineinander
transformieren können. Dieser Prozess ist möglich, falls wir eine endliche Energielücke vorliegen
haben, welche die Zeitskala dafür angibt, wie langsam wir die adiabatische Transformation machen
müssen.
14.3 Berry-Phase und Chern-Zahl 935

Die Bandstruktur von Festkörpern haben wir bereits ausführlich in Kapitel 8 diskutiert. Für
kristalline Festkörper können wir aufgrund der Translationssymmetrie Einteilchenzustän-
de mit dem Kristallimpuls k bezeichnen und sie durch Bloch-Wellen Ψk (r) = e ık⋅r u k (r) mit
einer gitterperiodischen Funktion u k (r) beschreiben. Ein wesentlicher Aspekt der topolo-
gischen Bandtheorie ist es nun, topologisch verschiedene Hamilton-Operatoren ℋ mit Hil-
fe von topologischen Invarianten zu klassifizieren und damit unterschiedliche topologische
Phasen herauszupräparieren.

14.3 Berry-Phase und Chern-Zahl


14.3.1 Berry-Phase
Es ist wohlbekannt, dass die Energieabhängigkeit der Bloch-Wellenfunktionen viele Eigen-
schaften von Festkörpern bestimmt. Weniger bekannt ist die mit der Berry-Phase10 verbun-
dene Physik, die mit der k-Abhängigkeit der Bloch-Wellenfunktionen verbunden ist. Den
Ursprung der Berry-Phase können wir uns anhand des in Abb. 14.2 gezeigten Beispiels des
Paralleltransports klar machen. Der Vektor R erhielt dabei entlang einem geschlossenen Pfad
eine Drehung. Wir können diese Drehung nur dann vermeiden, wenn wir den Vektor auf
dem gleichen Weg in umgekehrter Richtung an den Ausgangspunkt zurücktransportieren
würden. Dieses Bild können wir auf Bloch-Wellen in einem Festkörper übertragen. Den
mit einer Bloch-Welle beschriebenen Quantenzustand können wir auch als Vektor in ei-
nem Zustandsraum beschreiben. Der Quantenzustand kann deshalb “rotieren”, wenn er im
Zustandsraum bewegt wird, ähnlich zu dem in Abb. 14.2 gezeigten Paralleltransport. Dieser
Transport hat natürlich nicht unbedingt etwas mit einer physikalischen Bewegung zu tun,
sondern damit, dass sich der Zustand unter dem Einfluss eines Hamilton-Operators ℋ(R)
entwickelt, wenn sich externe Parameter R = (r 1 , R 2 , . . .), von denen der Hamilton-Operator
abhängt, zeitlich ändern. Wenn wir einen Bloch-Zustand langsam (adiabatisch) durch den
Parameterraum bewegen und ihn irgendwann wieder an seinen Ausgangspunkt zurückbrin-
gen, erwarten wir intuitiv, dass wir (bis auf einen Phasenfaktor, welcher der Zeitentwicklung
Rechnung trägt) wieder den gleichen Zustand vorliegen haben. Wie beim Beispiel des Par-
alleltransports stellen wir nun aber fest, dass der Endzustand vom ursprünglichen Zustand
abweicht, wenn wir eine geschlossene Schleife im Parameterraum durchlaufen haben. Ins-
besondere können wir einen geometrischen Phasenfaktor erhalten, den wir als Berry-Phase
bezeichnen. Die Berry-Phase spielt eine zentrale Rolle bei der Diskussion der Topologie der
elektronischen Bandstruktur.
Wir betrachten ein System, das wir mit dem Parametervektor R beschreiben und sich adiaba-
tisch entlang einem Pfad Γ in seinem Parameterraum bewegt. Befindet sich das System zur
Zeit t 0 in einem bestimmten Eigenzustand ⋃︀ψ(t 0 )̃︀ = ⋃︀m(︀R(t 0 )⌋︀̃︀ mit Eigenenergie ε m (t 0 )
(m ist der Bandindex) und ändern wir die Systemparameter R adiabatisch, so bleibt das Sys-
tem in dem sich zeitlich ändernden Eigenzustand ⋃︀m(t)̃︀. Wir nehmen ferner an, dass keine
10
M. V. Berry, Quantal Phase Factors Accompanying Adiabatic Changes, Proc. R. Soc. Lond. A 392,
45 (1984).
936 14 Topologische Quantenmaterie

Entartung vorliegt, so dass sich die Energieniveaus nicht schneiden. Da dann maximal eine
zeitabhängige Phase aufgesammelt werden kann, können wir schreiben:
′ ′
⋃︀ψ(t)̃︀ = e− ħ ∫t0 ε m (t )d t e ıγ m (t) ⋃︀m(︀R(t 0 )⌋︀̃︀ .
ı t
(14.3.1)

Setzen wir dies in die Schrödiger-Gleichung ein, können wir die Phasendifferenz des Sys-
tems im Anfangs- und Endpunkt des Pfades bestimmen. Diese setzt sich zum einen aus der
wohlbekannten dynamischen Phase
t
1
φ m (t) = − ∫ ε m (t ′ ) dt ′ , (14.3.2)
ħ
t 0 ,Γ

die von einem Zustand mit Energie ε m (t) bei seiner Bewegung entlang dem Pfad Γ im be-
trachteten Parameterraum aufgesammelt wird, und zum anderen aus einer geometrischen
Phase
t
d
γ m (t) = ı ∫ ∐︀m(︀R(t ′ )⌋︀⋃︀ ⋃︀m(︀R(t ′ )⌋︀̃︀ ⋅ dt ′
dt
t 0 ,Γ
R(t) R(t)

=ı ∫ ∐︀m(︀R(t)⌋︀⋃︀∇R ⋃︀m(︀R(t)⌋︀̃︀ ⋅ dR = ∫ Am (R) ⋅ dR (14.3.3)


R(t 0 ),Γ R(t 0 ),Γ

zusammen, die wir als Linienintegral über die vektorwertige Funktion

Am (R) = ı∐︀m(︀R(t)⌋︀⋃︀∇R ⋃︀m(︀R(t)⌋︀̃︀ , (14.3.4)

die als Mead-Berry-Vektorpotenzial bezeichnet wird, ausdrücken können.


Falls wir eine Eichtransformation finden könnten, mit der wir die geometrische Phase so
umdefinieren könnten, dass sie verschwindet, so hätte diese keine physikalische Bedeutung.
Berry hat allerdings gezeigt, dass eine solche Eichtransformation nicht global definiert wer-
den kann, da die Phase vom Pfad Γ im Parameterraum abhängt und deshalb γ m (t) zu einer
bestimmten Zeit t für unterschiedliche Pfade unterschiedlich sein wird.
Um uns die Bedeutung der geometrischen Phase klar zu machen, betrachten wir jetzt ge-
schlossene Pfade. Das heißt, nach der Umlaufzeit T gilt R(t 0 + T) = R(t 0 ). Um zu sehen, ob
wir die geometrische Phase wegeichen können, führen wir eine Transformation der Form

⋃︀m(︀R(t)⌋︀̃︀ → ⋃︀m′ (︀R(t)⌋︀̃︀ = e−ı χ(︀R(t)⌋︀ ⋃︀m(︀R(t)⌋︀̃︀ (14.3.5)

durch. Für den geschlossenen Weg muss e−ı χ(t 0 ) = e−ı χ(t 0 +T) und damit χ(t 0 ) = χ(t 0 + T) +
2πn gelten, wobei n eine ganze Zahl ist. Mit (14.3.3) folgt dann sofort

γ ′m (Γ) = ∮ A′m (︀R(t)⌋︀ ⋅ dR = γ m (Γ) + 2πn . (14.3.6)


Γ

Wir erkennen, dass sich die Berry-Phase für einen geschlossenen Pfad nicht wegeichen lässt.
Es ist ferner klar, dass das Berry-Potenzial Am von der Eichung abhängt und somit keine
14.3 Berry-Phase und Chern-Zahl 937

physikalische Observable ist. Sein Integral über einen geschlossenen Pfad, die Berry-Phase
γ m , ist aber eichinvariant bis auf Vielfache von 2π. Deshalb ist e ıγ m absolut eichinvariant und
besitzt Bezug zu physikalischen Observablen. Da für einen geschlossenen Pfad R(T) = R(0)
gilt, hängt die Berry-Phase im Gegensatz zur dynamischen Phase nicht von der Umlaufzeit
T ab, sondern nur von der Geometrie des Parameterraums und des darin gewählten Pfades.
Deshalb bezeichnen wir sie als geometrische Phase.
Das Linienintegral (14.3.3) können wir mit dem Stokesschen Theorem in ein Oberflächen-
integral über den Berry-Fluss oder die Berry-Krümmung (siehe hierzu Abb. 14.3)

Fm (R) = ∇R × Am (R) (14.3.7)

überführen und erhalten

γ m = ∮ Am (R) ⋅ dR = ∫ Fm (R) ⋅ n̂ d2 R , (14.3.8)


Γ S

wobei n̂ der Normalenvektor auf der Oberfläche ist.

𝑹𝒛
𝑭𝒎 𝑹

Abb. 14.3: Zur Veranschaulichung der Herleitung


𝚪 der Berry-Phase und des Berry-Flusses. Wir bewegen
𝒅ℓ 𝑹𝒚 uns entlang einer geschlossenen Schleife Γ im Para-
meterraum. Die Berry-Phase erhalten wir durch das
Linienintegral des Berry-Potenzials Am (R) entlang Γ.
𝑹𝒙 Der Berry-Fluss Fm = ∇R × Am durchsetzt die von Γ
umschlossene rote Fläche. Falls diese Fläche geschlos-
sen ist, schrumpft das Linienintegral auf einen Punkt
und ergibt ein ganzzahliges Vielfaches von 2π.

14.3.2 Chern-Zahl
Falls die Oberfläche S in (14.3.8) eine geschlossene Mannigfaltigkeit darstellt, verschwindet
der Randterm. Da der Randterm aber bis auf ganzzahlige Vielfache von 2π unbestimmt ist,
erhalten wir das Chern-Theorem
150
1
𝒞m = ∫ Fm (R) ⋅ n̂ d R .
2
(14.3.9)

S

Es entspricht dem für die Klassifizierung von geometrischen Körpern verwendeten Gauß-
Bonnet-Theorem (14.2.1) und besagt, dass das Integral des Berry-Flusses (der Berry-
Krümmung) über eine geschlossene Mannigfaltigkeit in Einheiten von 2π quantisiert ist.
Die damit verbundene ganze Zahl 𝒞m ist die Chern-Zahl, die für das Verständnis von
Quantisierungseffekten eine wichtige Rolle spielt.
938 14 Topologische Quantenmaterie

𝒌𝒛
Berry-Fluss

Monopol
𝒌𝒚

Abb. 14.4: Vektorfluss eines Monopolfeldes. Der 𝒌𝒙


Monopol im Ursprung erzeugt einen Berry-
Fluss durch die von Γ umschlossene Fläche.

Wir können den Ausdruck (14.3.9) in Analogie zur Elektrodynamik so interpretieren, dass
Fm (R) (die Krümmung einer Zusammenhangsform) einer „magnetischen Flussdichte“ ent-
spricht und Am (R) (die Zusammenhangsform selbst) seinem Vektorpotenzial. Die Chern-
Zahl 𝒞m entspricht dann dem gesamten Fluss von Fm (R) durch die Oberfläche S. Diesen
können wir uns durch einen magnetischen Monopol im Zentrum des von S umschlosse-
nen Körpers erzeugt denken (siehe Abb. 14.4). Die Berry-Phase und die Chern-Zahl sind
im Allgemeinen sehr nützlich zur Klassifizierung von geschlossenen Mannigfaltigkeiten im
Parameterraum.
Wir können nun das Chern-Theorem (14.3.9) dazu verwenden, um die topologischen Ei-
genschaften von Festkörpern zu klassifizieren. Hierzu benutzen wir die Tatsache, dass der
reziproke Raum aufgrund der periodischen Struktur von Festkörpern geschlossen ist. Wie
in Abb. 14.5 veranschaulicht ist, besitzt die 1D-Brillouin-Zone dieselbe Topologie wie eine
geschlossene Linie und die 2D-Brillouin-Zone dieselbe Topologie wie ein zweidimensiona-
ler Torus.11 Aufgrund der Gitterperiodizität sind die Anfangs- und Endpunkte der roten und
blauen Vektoren äquivalent, da sie sich um einen reziproken Gittervektor unterscheiden. Um
der Gitterperiodizität Rechnung zu tragen, müssten wir deshalb die Spitzen der Vektoren an
ihre Fußpunkte zurückbiegen. Dies ist bei der geschlossenen Linie und beim Torus erfüllt.
Der Integration über die Brillouin-Zone (BZ) entspricht also formal die Integration über ei-
ne geschlossene Mannigfaltigkeit und wir erhalten in Analogie zu (14.3.9) die topologische
Invariante (Chern-Zahl)
1
𝒞m = ∫ Fm (k) ⋅ n̂ d k ,
2
(14.3.10)

BZ

die durch das Integral der Berry-Krümmung über die Brillouin-Zone gegeben ist. Summie-
ren wir 𝒞m über alle Valenzbänder auf, erhalten wir die Gesamt-Chern-Zahl
N
1 N
𝒞 = ∑ 𝒞m = ∑ ∫ Fm (k) ⋅ n̂ d k .
2
(14.3.11)
m=1 2π m=1
BZ

Wir erkennen sofort die Analogie zwischen Gleichung (14.2.1) und (14.3.10). Genauso wie
das Integral der Gaußschen Krümmung eine quantisierte topologische Invariante (Euler-
Poincaré-Charakteristik) zur Klassifizierung geometrischer Körper ist, trifft dies auch für
11
In d-Dimensionen besitzt die Brillouin-Zone die Topologie eines d-dimensionalen Torus T d , der
kurz d-Torus genannt wird.
14.3 Berry-Phase und Chern-Zahl 939

(a) 𝜺 (b) 𝝅 𝒌𝒚
+
𝒂
2D
Brillouin-
Zone
𝝅 𝝅 𝝅
− 1D + 𝒌𝒙 −
𝒂 𝒂 𝒂 𝝅 𝝅


Brillouin- − + 𝒌𝒙
𝒂 𝒂
Zone

𝜺 2-Torus Abb. 14.5: Zur Veranschauli-


chung der topologischen Äqui-
valenz der 1D-Brillouin-Zone (a)
und 2D-Brillouin-Zone (b) mit
einer geschlossenen Linie und
einem zweidimensionalen Torus.

das Integral der Berry-Krümmung (Chern-Zahl) zu, die wir zur Klassifizierung
151
der Topo-
logie der elektronischen Bandstruktur verwenden können. Das Beispiel zeigt, dass wir das
von der Mathematik entwickelte, zugegebenermaßen für Physiker vielleicht etwas gewöh-
nungsbedürftige Konzept der topologischen Invarianten zur eindeutigen Klassifizierung von
topologischer Materie benutzen können.
Wir verwenden jetzt die bisherige, allgemeine Betrachtung, um die Größen Berry-Potenzial,
Berry-Phase und Chern-Zahl für Bloch-Elektronen in der Brillouin-Zone zu diskutieren.
Wir gehen dabei von Bloch-Wellen ⋃︀m(r)̃︀ = e ık⋅r u m,k (r) mit einer gitterperiodischen Funk-
tion u m,k (r) = e−ık⋅r ⋃︀m(r)̃︀ aus (m ist der Bandindex). Die Brillouin-Zone kann als Parame-
terraum für den Hamilton-Operator ℋ(k) und die Funktionen ⋃︀u m (k)̃︀ als Basisfunktionen
betrachtet werden. Damit erhalten wir das Berry-Potenzial

Am (k) = ı∐︀u m (k)⋃︀∇k ⋃︀u m (k)̃︀ (14.3.12)

und die Berry-Phase

γ m = ∮ Am (k) ⋅ dk = ∫ Fm (k) ⋅ n̂ d2 k (14.3.13)


Γ S

mit der Berry-Krümmung Fm (k) = ∇k × Am (k). Falls die Fläche S geschlossen ist, ergibt
das Integral in (14.3.13) nach dem Chern-Theorem (14.3.10) 𝒞m ⋅ 2π. Nach der obigen Dis-
kussion liegt eine geschlossene Fläche genau dann vor, wenn wir über die gesamte Brillouin-
Zone integrieren. Wir können dann topologische Phasen hinsichtlich ihrer Gesamt-Chern-
Zahl 𝒞 unterscheiden, da diese als topologische Invariante unterschiedliche Topologien der
Bandstruktur beschreibt. Wir werden unten sehen, dass Phasen mit 𝒞 ≠ 0 durch lückenlose
Oberflächenzustände charakterisiert sind.
940 14 Topologische Quantenmaterie

14.3.3 Beispiel Spin-1/2-System


Wir wenden die gerade eingeführten Konzepte auf ein Spin- 12 -System an, das sich in einem
Magnetfeld B(t) befindet. Die zeitliche Variation des Feldes soll dabei so langsam sein, dass
das Spin- 12 -System dem Feld adiabatisch folgen kann. Wir nehmen an, dass das Magnetfeld
mit der Kreisfrequenz ω unter einem Polarwinkel θ um die z-Achse rotiert (siehe Abb. 14.6):

⎛ sin θ cos(ωt) ⎞
B(t) = B 0 ⎜ sin θ sin(ωt) ⎟ . (14.3.14)
⎝ cos θ ⎠

Da das Spin- 12 -System dem Feld adiabatisch folgt, erhalten wir einen zeitunabhängigen
Wechselwirkungsterm µ B B0 ⋅ σ, wobei µ B das Bohrsche Magneton und σ der Vektor der
Paulischen Spin-Matrizen ist. Wir erhalten die normalisierten Eigenzustände (φ = ωt)

sin θ2 e−ı φ cos θ2 e−ı φ


⋃︀m− ̃︀ = ( ) ⋃︀m+ ̃︀ = ( ) (14.3.15)
− cos θ2 sin θ2

mit den zugehörigen Eigenenergien E± = ±µ B B 0 . Sie stellen Punkte auf der Oberfläche der so
genannten Bloch-Kugel dar. Berechnen wir die θ- und φ-Komponente des Berry-Potenzials
in Kugelkoordinaten (B 0 , θ, φ = ωt), so erhalten wir

ı∐︀m− ⋃︀∇θ ⋃︀m− ̃︀ 1 0


A− = ( )= ( 2 ) (14.3.16)
ı∐︀m− ⋃︀∇φ ⋃︀m− ̃︀ B 0 sin θ sin
θ
2

ı∐︀m+ ⋃︀∇θ ⋃︀m+ ̃︀ 1 0


A+ = ( )= ( ). (14.3.17)
ı∐︀m+ ⋃︀∇φ ⋃︀m+ ̃︀ B 0 sin θ cos2
θ
2

Integrieren wir dies entlang einem geschlossenen Pfad Γ (B 0 = const, θ = const) im Para-
meterraum auf (siehe hierzu Abb. 14.6), ergibt sich

γ± (Γ) = ∮ A φ,± B 0 sin θdφ = W(Γ) π(1 ∓ cos θ) = W(Γ) 12 Ω(Γ) . (14.3.18)

Hierbei ist W(Γ) die Windungszahl des Pfades Γ und die Größe π(1 ∓ cos θ) entspricht
gerade dem halben Raumwinkel Ω(Γ), der durch den Pfad Γ umschlossen wird. Die bei

𝚪
𝑩
𝜽

𝝋 y

Abb. 14.6: Zur Berry-Phase eines Spin- 12 -Systems im Ma- x


gnetfeld. Die Berry-Phase ist proportional zum halben
Raumwinkel, der durch den Pfad Γ umschlossen wird.
14.3 Berry-Phase und Chern-Zahl 941

einem Umlauf aufgesammelte dynamische Phase beträgt ϕ± = ± ħ1 ∫0 µ B B 0 dt = µ B B 0 T⇑ħ


T

und hängt im Gegensatz zur Berry-Phase von der Umlaufzeit T ab.


Wir können mit (14.3.16) und (14.3.17) auch den Berry-Fluss F± = ∇ × A± berechnen, für
den nur die radiale Komponente (B-Richtung)
1
FB,± = ∓ (14.3.19)
2B 20

einen endlichen Wert hat. Wie wir anhand von Abb. 14.4 bereits veranschaulicht haben,
können wir uns diesen Fluss durch einen magnetischen Monopol im Zentrum der Kugel
erzeugt denken, der die Ladung ∓ 12 besitzt. Da die betrachtete Kugel den Radius B 0 hat,
entspricht FB,± bis auf einen Faktor 12 der Krümmung der Kugel, weshalb der Berry-Fluss
auch als Berry-Krümmung bezeichnet wird.

14.3.4 Beispiel Aharonov-Bohm-Effekt


Als weiteres Beispiel betrachten wir die in Abb. 14.7 gezeigte Konfiguration, bei der ein ma-
gnetischer Fluss Φ in einem Schlauch eingeschlossen ist und sich in der Nachbarschaft an der
Stelle R eine Box mit Teilchen der Ladung q befindet. Die magnetische Flussdichte B ver-
schwindet außerhalb des Schlauchs, während das zugehörige Vektorpotenzial a nicht ver-
schwindet, außer wenn Φ = n Φ ̃ 0 = n h .12 Der Hamilton-Operator, der die Teilchen in der
e
Box beschreibt, sei ℋ(p − qa, r − R). Die Wellenfunktionen für a = 0 sind ψ m (r − R) mit Ei-
genenergien ε m , die unabhängig von R sind. Für Φ ≠ 0 können wir die neuen Basiszustände
⋃︀m(R)̃︀ verwenden, die

ℋ(p − qa, r − R) ⋃︀m(R)̃︀ = ε m ⋃︀m(R)̃︀ (14.3.20)

erfüllen und deren Lösungen durch


⎨ r ⎬
⎝ q ⎠
∐︀r⋃︀m(R)̃︀ = exp ⎝⎝ı ∫ dr′ a(r′ )⎠⎠ ψ m (r − R) (14.3.21)
⎝ ħ ⎠
⎪ R ⎮

𝒓
𝑭
𝑹 Box Abb. 14.7: Zum Aharonov-Bohm-Effekt: Ein magnetischer
Fluss Φ ist in einem Schlauch eingeschlossen und in seiner
𝚪 Nachbarschaft befindet sich eine Box mit Teilchen der Ladung
Fluss-Schlauch q. Die Box wird adiabatisch entlang dem Pfad Γ um den Fluss-
Schlauch bewegt.

12
Wir benutzen in diesem Abschnitt a für das Vektorpotenzial, um Verwechslungen mit dem Berry-
155
Potenzial A zu vermeiden.
942 14 Topologische Quantenmaterie

gegeben sind. Das Integral verläuft dabei entlang einem Pfad innerhalb der Box. Da wir im-
mer eine Eichtransformation finden können, für die a in der Box verschwindet, sind die
Eigenenergien ε m unabhängig vom Vektorpotenzial.
Wir sehen, dass der Hamilton-Operator über das Vektorpotenzial von der Position R der Box
abhängt. Das bedeutet, dass der Parameterraum in unserem Beispiel der Ortsraum ohne den
Bereich des Fluss-Schlauches ist. Wir transportieren jetzt die Box adiabatisch entlang einem
geschlossenen Pfad Γ um den Schlauch herum. Mit dem Berry-Potenzial
q
A(R) = ı∐︀m(R)⋃︀∇R ⋃︀m(R)̃︀ = a(R) (14.3.22)
ħ
erhalten wir die Berry-Phase
q q
γ m (Γ) = ∮ A(R) ⋅ dℓ = ∮ a(R) ⋅ dℓ = ∫ B ⋅ n̂d r .
2
(14.3.23)
ħ ħ
Γ Γ F

Hierbei ist n̂ der Normalenvektor auf F. Die Berry-Krümmung F(R) = ∇R × A = ħ B ist pro-
q

portional zur magnetischen Flussdichte B und verschwindet außerhalb des Schlauchs. Da


wir den Bereich des Schlauchs aber aus dem Parameterraum ausgeschlossen haben, ist die-
ser mehrfach verbunden. Die Berry-Phase ist deshalb rein topologisch und entspricht der
Windungszahl W(Γ) des Pfades Γ um den Schlauch. Wir erhalten dann
q Φ
γ m (Γ) = W(Γ) Φ = 2πW(Γ) , (14.3.24)
ħ ̃0
Φ
also ein ganzzahliges Vielfaches von 2π, falls der eingeschlossene Fluss Φ ein Vielfaches des
Flussquants Φ̃ 0 = h⇑e ist.

14.4 Topologische Phasen und Phasenübergänge


Wir haben in Abschnitt 11.8.1 und 13.3.3 bereits gesehen, dass wir Phasenübergänge, die
mit einer Symmetriebrechung verbunden sind, mit Hilfe der Ginzburg-Landau-Theorie be-
schreiben können. Diese Phasenübergänge fanden bei endlichen Temperaturen T statt und
wurden durch thermische Fluktuationen getrieben. Tatsächlich können aber auch bei T =
0 K so genannte Quantenphasenübergänge auftreten. Da thermische Fluktuationen in die-
sem Fall ausgefroren sind, induzieren Quantenfluktuationen den Phasenübergang, wenn wir
bei T = 0 Systemparameter (z.B. Druck, Magnetfeld) verändern. Im Jahr 1972 identifizier-
ten Michael Kosterlitz und David J. Thouless einen neuen Phasenübergangstyp – einen
so genannten topologischen Phasenübergang – in zweidimensionalen Systemen (z.B. Spin-
Systeme, dünne Filme aus Supraleitern oder suprafluidem Helium), bei dem topologische
Defekte eine zentrale Rolle spielen. Zusammen mit F. Duncan M. Haldane entwickelten
sie dann allgemeine theoretische Methoden, mit denen Materiephasen beschrieben werden
können, die nicht anhand einer gebrochenen Symmetrie klassifiziert werden können. Durch
Verwendung von Konzepten aus dem Bereich der Topologie konnten 1982 Thouless, Koh-
moto, Nightingale und den Nijs (TKNN) den Quanten-Hall-Effekt in zweidimensionalen
14.4 Topologische Phasen und Phasenübergänge 943

Elektronengasen erklären. Haldane sagte 1983 vorher, dass Ketten aus ganz- und halbzah-
ligen Spins sich qualitativ unterschiedlich verhalten. Wir nennen heute Phasen, die nicht
anhand einer gebrochenen Symmetrie sondern anhand ihrer Topologie klassifiziert werden
können, topologische Phasen. Zu ihrer Charakterisierung verwenden wir eine topologische
Invariante wie die Chern-Zahl. Diese kann nur ganzzahlige Werte annehmen und ist durch
ein Integral über die Berry-Krümmung gegeben. Bei den Quanten-Hall-Phasen, die sich
durch eine von Null verschiedene Chern-Zahl auszeichnen, ist die Chern-Zahl direkt pro-
portional zur Hall-Leitfähigkeit.

14.4.1 Kosterlitz-Thouless-Übergang
Wir diskutieren zuerst den Kosterlitz-Thouless (KT) Phasenübergang, da er für die Entwick-
lung des Gebiets der topologischen Phasenübergänge historisch von großer Bedeutung ist.13
Nach dem Mermin-Wagner-Theorem (vergleiche hierzu auch Abschnitt 12.10.1.2) erwartet
man, dass es in ein- (1D) und zweidimensionalen (2D) Systemen für T > 0 keine langreich-
weitigen Ordnungszustände (z.B. in Form von Ferromagnetismus oder Antiferromagnetis-
mus) geben kann, solange diese isotrop sind (eine kontinuierliche Symmetrie besitzen). Dies
liegt an dem geringen Energieaufwand für die Anregung von langreichweitigen Fluktuatio-
nen, welche die Ordnung zerstören.14 Kosterlitz und Thouless zeigten nun aber, dass das
2D-XY-Modell einen topologischen Phasenübergang zeigt. Diesen wollen wir im Folgenden
näher erläutern.
Das XY-Modell wird durch den Hamilton-Operator
ℋXY = −J ex ∑ cos(θ i − θ j ) (14.4.1)
∐︀i j̃︀

definiert. Hierbei bezeichnet J ex die Kopplungskonstante, ∐︀i j̃︀ die Summation über nächste
Nachbarn und die Winkel 0 ≤ θ i, j ≤ 2π entweder die Richtung von XY-Spins oder die Phase
⌋︂
einer Supraflüssigkeit, die wir mit dem komplexen Ordnungsparameter ψ = ρ s e ı θ (ρ s =
Dichte, θ = Phase) beschreiben können. Wir erwarteten, dass thermische Fluktuationen für
dieses 2D-System einen Ordnungszustand verhindern. Um die Ursache dafür zu verstehen,
betrachten wir den Kontinuumsgrenzfall von (14.4.1):15
J ex
ℋXY = ∫ (︀∇θ(r)⌋︀ d r .
2 2
(14.4.2)
2
13
J.M. Kosterlitz, D.J. Thouless, Ordering, metastability and phase transitions in two-dimensional sys-
tems, J. Phys. C 6: Solid State Phys., 1181 (1973).
14
Bei T = 0 minimiert der ferromagnetische Zustand die Energie des Systems. Da alle Spin-
Richtungen gleichberechtigt sind, können wir aber alle Spins um einen bestimmten Winkel drehen
und das System hat noch immer die minimale Energie. Dies impliziert, dass wir mit minimalem
Energieaufwand Anregungen – so genannte Goldstone-Moden – erzeugen können.
15
Dieser Grenzfall wird auch als Gaußsche Spin-Wellen-Theorie bezeichnet. Wir nehmen an, dass
die Phase/Spin-Richtung sich zwischen benachbarten Plätzen nicht stark ändert. Wir können dann
cos(θ i − θ j ) ≃ 1 − 12 (θ i − θ j )2 benutzen. Die Summe über NN entspricht dem diskreten Laplace-
Operator, den wir durch partielle Ableitungen (θ i − θ j ) ≃ ∂ x θdr für zwei Plätze, die in x-Richtung
um eine Gitterkonstante voneinander entfernt sind, ausdrücken. Wir können also cos(θ i − θ j )
durch 1 − 12 (∇θ)2 d2 r ausdrücken. Den konstanten Term können wir in der Energie weglassen.
944 14 Topologische Quantenmaterie

(a) (c)

Abb. 14.8: (a) Wirbel und (b)


Antiwirbel sowie (c) Wirbel-
Antiwirbel-Paar mit Abstand d in
einem zweidimensionalen Spin- 𝒅
System. Der Winkel θ entspricht (b)
der Richtung der Pfeile, die Ker-
ne des Wirbels und Antiwirbels
sind blau und rot markiert. Man
beachte, dass die Pfeile in un-
terschiedliche Richtung entlang
einer Konturlinie um einen Wir-
bel und Anti-Wirbel rotieren.

169

Vereinfachen wir weiter, indem wir −∞ ≤ θ ≤ ∞ annehmen, können wir die Spin-Spin-
Korrelationsfunktion
kB T
a 2π Jex
∐︀e ı(θ(r)−θ(0))
̃︀ ∼ ( ) (14.4.3)
r
ableiten, wobei a ein unterer Abschneideradius ist. Wir sehen, dass die Spin-Spin-
Korrelationsfunktion für r → ∞ gegen Null geht, wir also keine langreichweitige Ordnung
erhalten.16 Dies hätten wir auch nach dem Mermin-Wagner-Theorem erwartet.
Wir haben allerdings bei der Argumentation, die zu (14.4.3) führt, einen entscheidenden
Fehler gemacht. Wir haben nämlich in der verwendeten Kontinuumsnäherung die peri-
odische Natur von θ ignoriert. Kosterlitz und Thouless haben darauf hingewiesen, dass
dies gleichbedeutend damit ist, dass wir Wirbel vernachlässigen. Einen Wirbel, wie er in
Abb. 14.8(a) gezeigt ist, können wir durch eine Zirkulation oder Vortizität
1
V= ∮ ∇θ(r) ⋅ dℓ (14.4.4)

Γ

charakterisieren, wobei Γ eine Konturlinie ist, die den Wirbelkern umschließt. Die Zirkula-
tion V misst die Zahl der vollen Drehungen der Spin-Richtung entlang des Pfades. Wirbel
mit entgegengesetzter Drehrichtung haben ein unterschiedliches Vorzeichen der Zirkulati-
on. Für die in Abb. 14.8(a) und (b) gezeigten rotationssymmetrischen Wirbel mit V = ±1
ist nach (14.4.4) ⋃︀∇θ(r)⋃︀ = 1⇑r und wir erhalten mit (14.4.2) die Energie für die Erzeugung
eines einzelnen Wirbels
L
J ex 1 2 2 L
εV = ∫ ( ) d r = πJ ex ln ( ) . (14.4.5)
2 r a
a

16
Im Unterschied zum 3D-Fall, für den man ein exponentielles Abfallen mit einer endlichen Korre-
lationslänge ξ erhält, erhalten wir für das 2D-XY-Modell ein Potenzgesetz.
14.4 Topologische Phasen und Phasenübergänge 945

Hierbei ist L die Größe des Systems und a ein unterer Abschneideradius, den wir als Radius
des Wirbelkerns auffassen können. Wir sehen, dass für große Systeme ε V sehr groß wird und
deshalb einzelne Wirbel nicht thermisch erzeugt werden können. Dies stimmt aber nicht für
die Erzeugung von Wirbel-Antiwirbel-Paaren (siehe Abb. 14.8c). Für ein Paar mit Position
R1 = 0 und R2 = d beträgt die Erzeugungsenergie für den physikalisch sinnvollen Fall a ≪
d≪L
L
J ex 1 1 2r ⋅ (r − d) d
E Vp = ∫ ( 2+ − 2 ) d2 r = 2πJ ex ln ( ) . (14.4.6)
2 r ⋃︀r − d⋃︀2 r ⋃︀r − d⋃︀2 2a
a

Das heißt, für ein Paar mit Abstand d ≪ L ist die Paarerzeugungsenergie wesentlich kleiner
als die Energie für die Erzeugung eines einzelnen Wirbels. Da Paare leicht thermisch er-
zeugt werden, stellt die Tieftemperaturphase ein Gas von Wirbelpaaren dar. Kosterlitz und
Thouless stellten nun fest, dass bei einer bestimmten Temperatur TKT diese Paare aufbre-
chen und wir einen Phasenübergang zwischen einer Phase mit gebundenen Paaren und ei-
ner mit aufgebrochenen Paaren erhalten. Sie benutzen eine sehr einfache Betrachtung, um
die Phasenübergangstemperatur TKT abzuschätzen. Sie nahmen an, dass die freie Energie
eines einzelnen Wirbels
L L2
F = ε V − T S = πJ ex ln ( ) − T k B ln ( 2 ) (14.4.7)
a a

beträgt, da es L 2 ⇑a 2 mögliche Positionen für einen Wirbel mit Fläche a 2 gibt und damit
die Entropie zu S = k B ln (L 2 ⇑a 2 ) abgeschätzt werden kann. Die Übergangstemperatur TKT
ergibt sich aus dem Gleichgewicht der beiden Beiträge in (14.4.7) zu

TKT = πJ ex ⇑2k B . (14.4.8)

Im Gegensatz zu den üblichen Phasenübergängen wird beim KT-Übergang keine Symme-


trie gebrochen. Mikroskopisch ist er mit dem Aufbrechen von Wirbelpaaren und damit der
Erzeugung von topologischen Defekten verbunden, um die herum sich die Phase der Wel-
lenfunktion um ±2π ändert. Wir können auch sagen, dass oberhalb von TKT Wirbel vor-
liegen, die wir mit der topologischen Konstanten V = ±1 charakterisieren können, während
unterhalb von TKT nur Paare mit V = 0 vorliegen. Die Tatsache, dass die Vortizität eines Paa-
res verschwindet, können wir anhand von Abb. 14.8c erkennen. Wir sehen auch, dass die
Verzerrung des Phasenfeldes/der Spin-Textur für große Abstände vom Zentrum des Paa-
res verschwindend klein wird. Bei TKT fangen die Paare an aufzubrechen und die Zahl der
freien Wirbel steigt stark an. Wichtig ist, dass keine wahre langreichweitige Ordnung auf
beiden Seiten des Phasenübergangs existiert. Die Tieftemperaturphase zeigt allerdings eine
topologische Ordnung, da in ihr keine topologischen Defekte (freie Wirbel) vorliegen.17

17
Wir können die Wirbel-Antiwirbelpaare auch als Paare von positiven und negativen Ladungen be-
trachten. Der KT-Phasenübergang entspricht dann einem Übergang von einer isolierenden Tief-
temperaturphase, in der keine freien Ladungen vorliegen, in eine Hochtemperaturphase, die einem
leitenden Plasma von frei beweglichen positiven und negativen Ladungen entspricht. Die Ladun-
gen können als die topologischen Defekte betrachtet werden. Weder die Paare noch die freien La-
dungen sind in den beiden Phasen langreichweitig geordnet.
946 14 Topologische Quantenmaterie

14.4.2 Klassifizierung von topologischen Phasen


Die Entdeckung von topologischen Isolatoren und Supraleitern hat gezeigt, dass topologi-
sche Phasen weit verbreitet sind. Deshalb müssen wir uns überlegen, wie wir diese Phasen
klassifizieren können. Da es sich gezeigt hat, dass in diesen Phasen ein subtiles Wechsel-
spiel zwischen Symmetrie und Topologie vorliegt, müssen wir diesen Aspekt bei der Klas-
sifizierung berücksichtigen. Wir erinnern uns, dass bei der Klassifizierung von klassischen
Phasenübergängen im Rahmen der Ginzburg-Landau-Theorie gebrochene Symmetrien ei-
ne zentrale Rolle spielen. Wir haben bereits eingangs erklärt, dass wir topologische Pha-
sen nicht nach gebrochenen Symmetrien klassifizieren können. Für die Definition topolo-
gischer Phasen sind vielmehr ungebrochene Symmetrien von zentraler Bedeutung. Aus die-
sem Grund werden topologische Phasen auch als “symmetriegeschützt” bezeichnet. Für die
Klassifizierung dieser symmetriegeschützten topologischen Phasen können wir Äquivalenz-
klassen von Bandstrukturen einführen. Wir nennen dann zwei Bandstrukturen topologisch
äquivalent, wenn es eine adiabatische Transformation zwischen den beiden Bandstrukturen
gibt, welche die zugrundeliegende Symmetrie nicht bricht und die Bandlücke im Volumen
nicht schließt. Verschiedene Äquivalenzklassen lassen sich mit topologischen Invarianten
wie der Chern-Zahl unterscheiden, die bei einer adiabatischen Transformation der Band-
struktur unverändert bleiben.

14.4.2.1 Klassifizierungsschema
Wenn wir ein Schema entwerfen müssen, nach dem wir topologische Phasen klassifizieren
können, so ist sicherlich eine Einteilung nach ihrer Raum-Zeit-Dimension und den erhalte-
nen Symmetrien (Zeitumkehrinvarianz, Ladungskonjugation, chirale Symmetrie) sinnvoll.
Heute stehen vor allem zwei- und dreidimensionale, zeitumkehrinvariante Systeme im Fo-
kus, da sie bereits in der Natur gefunden wurden. Prinzipiell muss es aber für jede diskrete
Symmetrie eine topologisch isolierende Phase mit physikalischen Eigenschaften geben, die
sich grundlegend von den dazu äquivalenten, topologisch trivialen Phasen unterscheiden.
Für topologische Isolatoren (TI) und Supraleiter (TS) hat sich ein zehnfaches Klassifizie-
rungsschema herausgebildet, das auf den 10 Altland-Zirnbauer (AZ) Symmetrieklassen
beruht.18 Diese unterscheiden sich durch die Anwesenheit oder Abwesenheit von Zeitum-
kehrinvarianz (𝒯 ), Ladungskonjugation bzw. Teilchen-Loch-Symmetrie (𝒞) und chiraler
Symmetrie (𝒮). Die Zahl 10 ergibt sich dabei aus der Zahl der Fälle, wie ein Einteilchen-
Hamiltonian ℋ(k) durch die Operatoren 𝒯 , 𝒞 und 𝒮 transformiert werden kann.19
Die verschiedenen topologischen Phasen innerhalb einer AZ-Symmetrieklasse können
wir durch ganzzahlige oder binäre topologische Invarianten unterscheiden. Das Klassifizie-
rungssystem kann sowohl für TI als auch TS benutzt werden, da in beiden Materialsystemen
eine Energielücke existiert.
Historisch gesehen kann der in Abschnitt 10.5.3 diskutierte Quanten-Hall (QH) Zustand
als der zuerst entdeckte TI betrachtet werden. Der QH-Zustand gehört zu einer AZ-
18
A. Altland und M.R. Zirnbauer, Nonstandard symmetry classes in mesoscopic normal-
superconducting hybrid structures, Phys. Rev. B 55, 1142 (1997).
19
M.R. Zirnbauer, Riemannian symmetric superspaces and their origin in random-matrix theory, J.
Math. Phys. 37, 4986 (1996).
14.4 Topologische Phasen und Phasenübergänge 947

Symmetrieklasse, für die in der Dimension d = 2 die topologischen Invarianten durch die
ganzen Zahlen Z gegeben sind. Wir werden sehen, dass die gemessene QH-Leitfähigkeit
direkt durch diese Zahlen (Chern-Zahlen) gegeben ist. Für die gleiche AZ-Symmetrieklasse
gibt es in der Dimension d = 3 nur die triviale topologische Invariante Null, weshalb es
keinen QHE in drei Dimensionen gibt. Im QH-Zustand wird die Zeitumkehrsymmetrie
durch das von außen angelegte Magnetfeld gebrochen. Lange Zeit glaubte man deshalb, dass
Zeitumkehrsymmetriebrechung und Zweidimensionalität grundlegende Voraussetzungen
für topologische Isolatoren sind. Dies änderte sich, als 2005 TI zuerst für zweidimensio-
nale und kurz darauf für dreidimensionale Systeme vorhergesagt wurden, in denen die
Zeitumkehrsymmetrie nicht gebrochen ist. TI mit Spin-Bahn-Kopplung gehören zu einer
AZ-Symmetrieklasse, für die es für d = 2 und d = 3 genaue zwei topologische Phasen – eine
triviale und eine nichttriviale – gibt. Wir sprechen von einer Z2 -Klassifizierung. Supralei-
ter gehören zu verschiedenen AZ-Symmetrieklassen je nach Dimension und Symmetrie
der Paarwellenfunktion. Interessanterweise gibt es heute noch Symmetrieklassen, für die
man noch keine Realisierung in einem konkreten Materialsystem gefunden hat. Neue
Entdeckungen sind hier zu erwarten.
Das oben diskutierte Klassifizierungsschema gilt nur für nichtwechselwirkende Systeme. Bei
dieser Vereinfachung können wir die Bandstruktur berechnen und die Bänder mit nicht-
wechselwirkenden Elektronen unter Berücksichtigung des Pauli-Prinzips auffüllen. Dies er-
laubt dann die Berechnung einer topologischen Invarianten. Für Systeme mit Wechselwir-
kungen fehlt ein entsprechendes Klassifizierungsschema. Dies liegt daran, dass in wechsel-
wirkenden Vielteilchensystemen sehr komplexe Phasen entstehen können.
Zusammenfassend können wir hinsichtlich der Klassifizierung topologischer Phasen folgen-
des festhalten:

∎ Topologische Phasen werden durch bestimmte Symmetrien geschützt und lassen sich
den zehn Altland-Zirnbauer Symmetrieklassen zuordnen.
∎ Topologische Phasen können durch ganzzahlige topologische Invarianten wie z.B. die
Chern-Zahl klassifiziert werden.
∎ Verschiedene topologische Invarianten gehören zu unterschiedlichen Äquivalenzklas-
sen.

14.4.3 Oberflächen und Grenzflächen


Wir haben bereits erwähnt, dass sich TI dadurch auszeichnen, dass sie zwar im Inneren iso-
lierend, an der Oberfläche aber elektrisch leitend sind. Es stellt sich damit sofort die Frage,
woher dieser fundamentale Unterschied zu den üblichen Bandisolatoren kommt, die ja so-
wohl im Innern als auch an der Oberfläche isolierend sind. Die Antwort ist erwartungsge-
mäß mit der nichttrivialen Topologie der Bandstruktur von TI verknüpft. Bringen wir einen
TI, den wir z.B. mit einer Chern-Zahl 𝒞 = 1 charakterisieren können, nun mit einem norma-
len Isolator (das kann auch Luft oder Vakuum sein) in Kontakt, der eine triviale Topologie
(𝒞 = 0) besitzt, so entsteht an der Grenzfläche ein Problem. Die topologische Invariante muss
sich hier auf dem Weg vom Inneren zum Äußeren des Materials von 𝒞 = 1 (entspricht Torus)
948 14 Topologische Quantenmaterie

(a) 𝜺
𝑪=𝟎
Energielücke

𝝅 𝝅
− + 𝒌𝒙
𝒂 𝒂
Abb. 14.9: Zur Entstehung von lückenlosen (b) 𝜺
𝑪=𝟏
Oberflächenzuständen in der Bandstruk-
tur an der Grenzfläche eines (a) Isolators
mit trivialer Topologie (𝒞 = 0, entspricht
Kugel) und eines (b) topologischen Iso-
lators (𝒞 = 1, entspricht Torus). Die bei-
den Phasen mit unterschiedlicher Chern-
Zahl sind durch lückenlose Oberflächen- 𝝅 𝝅
zustände verbunden (rote Linie in (b)). − + 𝒌𝒙
𝒂 𝒂
156

auf 𝒞 = 0 (entspricht Kugel) ändern. Da die beiden Bandstrukturen topologisch aber nicht
äquivalent sind, können wir keine adiabatische Transformation zwischen den beiden Band-
strukturen finden, welche die zugrundeliegende Symmetrie nicht bricht und die Bandlücke
im Volumen nicht schließt. Der einzige Ausweg ist, dass sich an der Grenzfläche die Energie-
lücke schließen muss. Daher muss es an der Oberfläche metallisch leitende Zustände geben
(siehe Abb. 14.9). Der allgemeine Zusammenhang zwischen einer nichtverschwindenden
topologischen Invarianten eines Materials und lückenlosen Oberflächenzuständen trifft für
alle topologischen Phasen zu. Wir können also festhalten:

∎ Topologische Phasen weisen Oberflächenzustände auf, die besondere Eigenschaften be-


sitzen und durch die zugrundeliegende Symmetrie geschützt sind.

Anschaulich entspricht das eben beschriebene Problem demjenigen, wenn wir einen zu ei-
ner Brezel verschlungenen Draht mit einem völlig unverknoteten geraden Drahtstück ver-
binden wollen. Aufgrund der unterschiedlichen Topologie gelingt uns das nicht, es sei denn
wir schneiden die Brezel auf. Das Gleiche passiert nun an der Grenzfläche zwischen einem
TI und einem gewöhnlichen Isolator. Die verknotete Komponente ist hier die elektronische
Wellenfunktion im k-Raum. Da die beiden Isolatoren topologisch nicht äquivalent sind (die
topologische Invariante ändert sich an der Grenzfläche), müssen sich an der Grenzfläche me-
tallisch leitende Zustände ausbilden, was anschaulich gleichbedeutend mit dem Aufschnei-
den der Brezel ist. Übertragen auf das bereits oben verwendete Beispiel von Torus (er symbo-
lisiert den TI) und Kugel (normaler Isolator) bedeutet dies, dass wir die beiden Formen nur
dann miteinander verbinden können, wenn wir die Öffnung im Torus irgendwie schließen,
was bei einem TI dem Schließen der Bandlücke entspricht. Auf eine mathematische Formu-
lierung dieser Zusammenhänge wollen wir hier verzichten, da dies einige Zeit in Anspruch
nehmen würde.
14.5 Zweidimensionale Topologische Isolatoren 949

14.5 Zweidimensionale Topologische Isolatoren


14.5.1 TI mit gebrochener Zeitumkehrsymmetrie
Wir betrachten zuerst zweidimensionale TI, bei denen die Zeitumkehrsymmetrie gebrochen
ist. Der einfachste topologisch geordnete Zustand liegt in zweidimensionalen Elektronen-
gasen in einem starken senkrechten Magnetfeld vor. Die Lorentz-Kraft resultiert in einer
kreisförmigen Bewegung der Elektronen, die mit quantisierten Energien (Landau-Niveaus)
verbunden ist. Dies entspricht der Situation in einem gewöhnlichen Isolator, in dem sich die
lokalisierten Elektronen auf geschlossenen Bahnen um die Atomrümpfe bewegen. Wir er-
halten aber einen isolierenden Zustand nur im Inneren der Probe, da sich am Rand durch
Randstreuung so genannte “Skipping Orbits” ausbilden (siehe Abb. 14.10a). Dies führt zu
einer Propagation der Ladungsträger entlang der beiden Ränder in entgegengesetzte Rich-
tungen. Im Rahmen des in Abschnitt 10.5.3 diskutierten Randkanalmodells resultiert dies
in eindimensionalen Transportkanälen mit quantisierten Leitwerten, da die Rückstreuung
verboten ist. Vergleichen wir dies mit der Situation in einem eindimensionalen Leiter, in
dem Elektronen in beide Richtungen propagieren (siehe Abb. 14.10a, oben), so sehen wir,
dass die beiden Ränder der QH-Probe nur jeweils den halben Freiheitsgrad enthalten. Wir
erkennen bereits in dieser einfachen klassischen Betrachtungsweise, dass diese Eigenschaft
den Quanten-Hall-Effekt (QHE) “topologisch robust” macht. Falls ein Elektron in einem
Randkanal gestreut wird, macht es nur einen kleinen Umweg, wandert dann aber wieder in
die gleiche Richtung. Das Gleiche passiert, wenn wir den Probenrand etwas verformen. Eine
qualitative Änderung bekommen wir nur dann, wenn wir die beiden Randkanäle miteinan-
der verbinden oder Streuprozess zwischen den beiden Randkanälen möglich machen.
Heute können wir den bereits im Jahr 1980 von Klaus von Klitzing entdeckten QH-Zustand
als einen topologischen Isolator betrachten. Bereits 1982 zeigten Thouless, Kohmoto, Nigh-
tingale und den Nijs (TKNN),20 dass der QHE in einem 2D-Elektronengas auf eine topo-
logische Eigenschaft der gefüllten Bänder (Landau-Niveaus) zurückgeführt werden kann.

(a) (b)
1D 1D

Abb. 14.10: Zur Veranschaulichung


𝑩 von zweidimensionalen topologischen
2D 2D Isolatoren (a) mit und (b) ohne Bre-
chung der Zeitumkehrsymmetrie.
Oben ist jeweils ein eindimensiona-
𝜺 𝜺 ler Quantendraht und in der Mitte
ein zweidimensionaler topologischer
Leitungsband Leitungsband
Isolator gezeigt, dessen oberer und
Randzustände Randzustände
unterer Rand jeweils als die Hälfte
Valenzband Valenzband des Quantendrahts betrachtet werden
𝒌 𝒌 können.

20
D. J. Thouless, M. Kohmoto, M. P. Nightingale, M. den Nijs, Quantized Hall Conductance in a Two-
dimensional Periodic Potential, Phys. Rev. Lett. 49 405-408 (1982).
950 14 Topologische Quantenmaterie

Abb. 14.11: Eine Flussänderung von Φ ̃ 0 = h⇑e durch


den Zylinder resultiert in einer Polarisationsände-
𝑹 𝚽
rung, die der Verschiebung von einer Ladung Q = 𝑰𝒙
ne entlang dem Zylinders entspricht. Wir können
den Zylinder durch eine kontinuierliche Transfor- 𝑬𝒚
mation auch in eine Corbino-Scheibe überführen.

Sie zeigten, dass die Hall-Leitfähigkeit σx y quantisiert ist und proportional zu einer topo-
logischen Invarianten, der Chern-Zahl ist. Um uns dies klar zu machen, betrachten wir
den in Abb. 14.11 gezeigten Zylinder mit Radius R und erhöhen adiabatisch den Fluss Φ
durch den Zylinder von Φ = 0 auf Φ = Φ ̃ 0 = h⇑e. Die Flussänderung erzeugt gemäß Fara-
dayschem Induktionsgesetz eine elektrische Spannung U y = −dΦ⇑dt bzw. ein elektrisches
Feld E y = −(1⇑2πR)dΦ⇑dt um den Zylinder. Die Spannung U y erzeugt wiederum einen 156

Hall-Strom I x = σx y U y entlang dem Zylinder. Haben wir den Fluss von 0 auf h⇑e erhöht,
so haben wir insgesamt die Ladung Q = 2πR ∫ J x dt = 2πR ∫ σx y E y dt = σx y h⇑e transpor-
tiert. Wenn wir Φ = Φ ̃ 0 erreicht haben, können wir aber das Vektorpotenzial durch eine
Eichtransformation eliminieren und erhalten wieder den gleichen Ausgangszustand wie für
Φ = 0. Von TKNN wurde gezeigt, dass die bei dem Vorgang entlang dem Zylinder erzeug-
te Polarisation ∆P nur modulo e definiert ist. Deshalb kann sich die Polarisation nur um
∆P = ne ändern (dies wird auch als Thouless Ladungspumpe bezeichnet). Das heißt, dass
wir durch die gesamte Flussänderung eine Ladung Q = ne, also ein ganzzahliges Vielfaches
der Elementarladung transportiert haben. Daraus ergibt sich sofort

e2
σx y = 𝒞 ⋅ . (14.5.1)
h

Die Chern-Zahl 𝒞, die das System charakterisiert, können wir durch Aufsummierung über
alle besetzten Subbänder (Landau-Niveaus) erhalten, die wir mit der azimuthalen Wellen-
̃ 0 )⇑R indizieren können:
zahl k m, y = (m + Φ⇑Φ
̃0
Φ
N
1
𝒞= ∑ ∫ dΦ ∫ dk x Fm )︀k x , k m, y (Φ)⌈︀ . (14.5.2)
m=1 2π
0

Wechseln wir von der Integrationsvariablen Φ zu k m, y , können wir zeigen, dass die Summe
über die Integrale in ein einzelnes Integral über die 2D-Brillouin-Zone, also in ein Integral
über eine geschlossene Fläche übergeht und somit der Chern-Zahl (14.3.11) entspricht.

14.5.2 TI ohne gebrochene Zeitumkehrsymmetrie


Wir können uns nun fragen, ob wir das Magnetfeld los werden können und dadurch einen
topologischen Zustand in einem System ohne Zeitumkehrsymmetriebrechung erhalten kön-
nen. Wir betrachten zuerst einen eindimensionalen Leiter (siehe Abb. 14.10b, oben). In die-
sem hätten wir jeweils zwei in Vorwärts- und zwei in Rückwärtsrichtung propagierende Mo-
den mit jeweils entgegengesetzter Spin-Richtung. Wir können nun eine zum Quanten-Hall-
System analoge Situation schaffen, indem wir die Spin-↑ Elektronen an einem Probenrand
14.5 Zweidimensionale Topologische Isolatoren 951

𝟏
𝐞𝒊𝟐𝝅
Abb. 14.12: Zur Veranschaulichung der Unterdrückung
der Rückstreuung in einem Quanten-Spin-Hall-
Randkanal. Die Streuung an einer nichtmagnetischen
Störstelle kann in zwei unterschiedliche Richtungen er-
folgen. Bei Streuung im Uhrzeigersinn (blaue Kurve) ro-
tiert der Spin um den Winkel π, bei Streuung gegen den
𝟏
𝐞−𝒊𝟐𝝅
Uhrzeigersinn (rote Kurve) um −π. Der mit der relativen
Spin-Drehung von 2π verbundene Phasenfaktor von −1
führt zu einer destruktiven Interferenz der beiden Pfade.

nur nach links und die Spin-↓ Elektronen nur nach rechts laufen lassen und am gegenüber-
liegenden Rand genau umgekehrt (siehe Abb. 14.10b, Mitte). In diesem Fall erhalten wir an
beiden Rändern keinen elektrischen Strom sondern einen reinen Spin-Strom, da die bei-
den Spin-Spezies in entgegengesetzte Richtungen laufen. Da der Spin-Strom die Rolle des
elektrischen Stroms übernimmt, bezeichnen wir ein System mit solchen Randkanälen als
Spin-Quanten-Hall (SQH) System.
Wir müssen jetzt noch klären, warum erstens sich in entgegengesetzte Richtung bewegende
Elektronen entgegengesetzten Spin besitzen und warum zweitens in den Randkanälen
keine Rückstreuung stattfindet. Die Antwort auf die erste Frage gibt die Spin-Bahn-
Wechselwirkung, die wir im Detail in Abschnitt 12.5.4 diskutiert haben. Sie führt zu einer
Kopplung zwischen der Spin-Richtung und der orbitalen Bewegung der Elektronen und ist
besonders stark in Materialien ausgeprägt, die aus schweren Elementen aufgebaut sind.
Die Antwort auf die zweite Frage gibt die Zeitumkehrinvarianz. Um uns klarzumachen,
warum die Rückstreuung durch nichtmagnetische Streuer verboten ist, obwohl in den Rand-
kanälen eines SQH-Systems sich die Elektronen in beide Richtungen bewegen, betrachten
wir den in Abb. 14.12 skizzierten Prozess, bei dem ein Elektron an einer Verunreinigung
zurückgestreut wird. Das Elektron kann bei der Streuung entweder links- oder rechtsherum
laufen. Der Spin rotiert dabei um den Winkel ±π. Der Unterschied der Spin-Drehung für bei-
de Pfade, die über die Zeitumkehrsymmetrie miteinander verknüpft sind, beträgt also gera-
de 2π. Eine volle 2π-Drehung des Spins erhalten wir durch eine zweimalige Anwendung des
Zeitumkehroperators 𝒯 , die aber ein zusätzliches Minuszeichen liefert (𝒯 ist ein antiunitär-
er Operator, 𝒯 2 = −1, vergleiche Angang E). Das heißt, die Wellenfunktion eines Spin-1⇑2-
Teilchens erhält bei einer 2π-Rotation des Spins ein Minuszeichen. Das bedeutet wiederum,
dass die beiden Rückstreupfade destruktiv interferieren und somit die Rückstreuung verbo-
ten ist. Wir können deshalb sagen, dass die Robustheit der SQH-Randkanäle durch die Zeit-
umkehrsymmetrie gewährleistet wird oder dass der damit verbundene topologische Zustand
durch die Zeitumkehrsymmetrie symmetriegeschützt ist. Das eben vorgestellte Bild gilt nur
für einzelne Paare von SQH-Randkanälen. Würden wir die oberen und unteren Randkanäle
in Abb. 14.10 in einem einzigen eindimensionalen Leiter zusammenbringen, so könnte ein
Elektron von einem vorwärts- in einen rückwärtslaufenden Kanal gestreut werden, ohne den
Spin zu ändern. Es würde dann keine destruktive Interferenz auftreten und wir hätten durch
952 14 Topologische Quantenmaterie

die endliche Rückstreuung eine endliche Dissipation vorliegen. Damit der SQH-Zustand
robust ist, muss er aus einer ungeraden Zahl von vorwärts- und rückwärtslaufenden Mo-
den bestehen. Dieser gerade–ungerade Effekt wird durch die Z2 -Topologie charakterisiert.
Da wir also den SQH-Zustand mit einer topologischen Invariante charakterisieren können,
können wir ihn als topologische Phase bezeichnen.

14.5.2.1 Realisierung von 2D topologischen Isolatoren


Eine allgemeine Vorgehensweise bei der Realisierung von zweidimensionalen TI ist die
Verwendung von Halbleiter-Heterostrukturen, die eine Bandinversion zeigen. Hierbei heißt
Bandinversion, dass die Anordnung von Valenzband und Leitungsband invertiert ist, was
durch eine starke Spin-Bahn-Kopplung erreicht werden kann. In den meisten Halbleiter-
materialien wird das Leitungsband aus Elektronen in s-Orbitalen und das Valenzband aus
solchen in p-Orbitalen aufgebaut. In Materialien mit schweren Elementen wie HgTe ist die
Spin-Bahn-Wechselwirkung nun so stark, dass das Valenzband oberhalb dem Leitungsband
zu liegen kommt, so dass eine invertierte Bandstruktur entsteht. In CdTe liegt dagegen eine
normale Bandfolge vor. Wächst man eine CdTe/HgTe/CdTe-Heterostruktur, so kann man
den in Abb. 14.13 gezeigten Bandverlauf konstruieren. Bandstrukturberechnungen zeigen
nun, dass bei genügender Dicke (d > 6.5 nm) der HgTe-Schicht ein Paar von Randzuständen
vorliegt, die unterschiedlichen Spin tragen. Die Randzustände dispergieren vom Valenzband
bis zum Leitungsband (siehe Abb. 14.10b, unten) und schneiden sich. Der Schnittpunkt ist
eine direkte Folge der Zeitumkehrsymmetrie und kann nicht entfernt werden – er stellt die
topologische Signatur eines Quanten-Spin-Hall-Isolators dar.
Der in Abb. 14.13 skizzierte Quantentopf zeigt aufgrund der perfekt leitenden Randkanäle
einen quantisierten Widerstand. In den Experimenten konnte gezeigt werden, dass sich die-
ser Widerstand nicht mit der Probenbreite ändert. Dieser Befund belegt, dass in der Tat nur
die Randkanäle zum Transport beitragen, wogegen die Probe im Inneren isolierend ist. Im
Vergleich zum Quanten-Hall-Effekt wird ein um den Faktor 12 reduzierter Quantenwider-
stand gemessen, da nur eine Spin-Richtung beiträgt.

Abb. 14.13: Stark vereinfachter Bandverlauf in einer


CdTe/HgTe-Heterostruktur. Gezeigt sind die Ener-
gieniveaus des niedrigsten Leitungsbandniveaus (Γ6 ,
rot) und des obersten Valenzbandniveaus (Γ8 , blau). E 1
und H 1 sind die niedrigsten Quantentopf-Zustände.

14.5.3 Quanten-Hall-Effekte
Wir haben in Abschnitt 9.7.1 und 9.7.3 gesehen, dass wir aufgrund der Spin-Bahn-Kopplung
zusätzlich zum normalen Hall-Effekt, der auf der Ablenkung von sich bewegenden Ladungs-
trägern durch die Lorentz-Kraft basiert, einen anomalen Hall-Effekt und einen Spin-Hall-
Effekt erhalten. In zweidimensionalen Systemen können wir die jeweilige Quantenversi-
14.6 Dreidimensionale Topologische Isolatoren 953

on dieser Effekte beobachten, nämlich den Quanten-Hall-Effekt (QHE),21 den anomalen


Quanten-Hall-Effekt (AQHE)22 und den Spin-Quanten-Hall-Effekt (SQHE).23 Diese drei
Quanteneffekte sind mit topologisch geschützten Oberflächenzuständen in 2D TI verbun-
den und resultieren in dissipationslosen Ladungs- und Spin-Strömen in eindimensionalen
Randkanälen (siehe Abb. 14.14). Der QHE wurde 1980, der SQHE 2007 und der AQHE 2013
erstmals experimentell nachgewiesen.

(a) (b) (c)


𝑩𝐞𝐱𝐭 𝑴

Abb. 14.14: (a) Quanten-Hall-Effekt, (b) anomaler Quanten-Hall-Effekt und (c) Spin-Quanten-Hall-
Effekt. In allen 3 Fällen fließen die Ladungsträger durch verlustfreie Randkanäle in isolierenden Syste-
men. In (a) fließen beide Spin-Spezies in dieselbe, in (c) in entgegengesetzte Richtungen. In (b) über-
wiegt eine Spin-Spezies. Die Zahl der Randkanäle und die Kopplung zwischen orbitaler Bewegung und
Spin-Richtung hängt von dem jeweiligen System ab.

25

14.6 Dreidimensionale Topologische Isolatoren


Zweidimensionale TI besitzen ein Paar von eindimensionalen Randkanälen, die sich bei
k = 0 kreuzen (siehe Abb. 14.10b, unten). In der Nähe des Kreuzungspunktes verläuft die
Dispersion dieser Zustände linear und entspricht deshalb derjenigen, die man in der Quan-
tenfeldtheorie aus der Dirac-Gleichung für masselose, relativistische Fermionen in einer Di-
mension erhält. Dieses Bild können wir auf dreidimensionale TI verallgemeinern. Hier be-
steht der Oberflächenzustand aus zweidimensionalen massenlosen Dirac-Fermionen, deren
Dispersion einen so genannten Dirac-Kegel bildet (siehe Abb. 14.15). Der Kreuzungspunkt
– die Spitze des Kegels – ist wie im zweidimensionalen Fall durch die Zeitumkehrinvarianz
topologisch geschützt. Wir weisen darauf hin, dass es für eine einzelne 2D-Oberfläche ei-
nes 3D-TI immer eine ungerade Zahl von Bändern (beide Spin-Richtungen werden separat
gezählt) gibt, welche die Fermi-Energie ε F schneiden. Im Gegensatz dazu ist es bei einem
2D-Elektronengas mit Rashba-Spin-Bahn-Kopplung (vergleiche hierzu Abb. 12.16) immer
eine gerade Zahl.
Es wurde theoretisch vorhergesagt, dass die Legierung Bi1−x Sbx für einen bestimmten x-
Bereich einen TI bildet.24 In der Tat wurde wenig später experimentelle Evidenz für die
21
K. von Klitzing, G. Dorda, M. Pepper, New Method for High-Accuracy Determination of the Fine-
Structure Constant Based on Quantized Hall Resistance, Phys. Rev. Lett. 45, 494–497 (1980).
22
Cui-Zu Chang et al., Experimental observation of the quantum anomalous Hall effect in a magnetic
topological insulator, Science 340, 167–170 (2013).
23
M. König, S. Wiedmann, C. Brüne, A. Roth, H. Buhmann, L. W. Molenkamp, X.-L. Qi, S.-C. Zhang,
Quantum Spin Hall Insulator State in HgTe Quantum Wells, Science 318, 766-770 (2007).
24
L. Fu, C. L. Kane, Topological Insulators with Inversion Symmetry, Phys. Rev. B 76, 045302 (2007).
954 14 Topologische Quantenmaterie

𝜺
𝒌𝒚

𝜺𝐅
𝒌𝒙
Abb. 14.15: Die Oberfläche eines dreidimensionalen to-
pologischen Isolators erlaubt die Bewegung der Elektro- Dirac-Punkt
nen in einer beliebigen Richtung parallel zur Oberfläche. 𝒌𝒙 𝒌𝒚
Die Spin-Richtung ist aber aufgrund der Spin-Bahn-
Wechselwirkung immer an die Bewegungsrichtung
der Elektronen gekoppelt. Die zweidimensionale Di-
spersionsrelation ist durch einen Dirac-Kegel gegeben.
Rechts ist ein Schnitt durch den Kegel bei der Fermi-
Energie ε F gezeigt. Die Pfeile geben die Spin-Richtung an.

Existenz von topologischen Oberflächenzuständen in diesem System gefunden.25 Bis heu- 162
te wurden topologisch geschützte Oberflächenzustände auch in reinem Antimon, Bi2 Te3 ,
Bi2 Se3 und Sb2 Te3 nachgewiesen. Von verschiedenen weiteren Materialsystemen wird an-
genommen, dass sie sich wie ein 3D TI verhalten.

14.7 Topologische Supraleiter


Topologische Supraleiter (TS) sind eine weitere interessante Klasse von topologischen
Quantenmaterialien. Im Allgemeinen können wir intrinsische TS, die eine topologisch
nicht-triviale Energielückenfunktion aufgrund ihrer intrinsischen Eigenschaften besitzen,
und künstlich erzeugte TS unterscheiden, die in Form von Heterostrukturen aus kon-
ventionellen Supraleitern und anderen Materialien hergestellt werden können. Ein viel
versprechendes Material für einen intrinsischen TS ist Sr2 RuO4 . Für die Realisierung eines
künstlichen TS wurde vorgeschlagen, einen gewöhnlichen s-Wellensupraleiter über den
Proximity-Effekt an einen topologischen Isolator zu koppeln und dieses System in ein
externes Magnetfeld zu bringen. Eine Umsetzung und experimentelle Überprüfung der
Vorschläge steht aber noch weitgehend aus.26
Topologische Supraleitung ist auch deshalb besonders interessant, da sie mit Quasiteilchen-
anregungen assoziiert ist, die Majorana-Fermionen sind (Majorana-Fermionen sind Teil-
chen, die ihre eigenen Anti-Teilchen sind). Sie sind von zentraler Bedeutung für die Reali-
sierung von topologisch geschützten, Majorana-basierten Quantenbits.

25
D. Hsieh et al., A Topological Dirac Insulator in a Quantum Spin Hall Phase, Nature 452, 970 (2008).
26
M. Sato, Y. Ando, Topological Superconductors: A Review, Rep. Prog. Phys. 80, 076501 (2017).
14.8 Zukunftsperspektiven 955

14.8 Zukunftsperspektiven
Topologische Quantenmaterialien bieten faszinierende Möglichkeiten zur Konstruktion
exotischer Quantenzustände und für die Realisierung exotischer Quasiteilchen. Für zwei-
dimensionale SQH-Isolatoren erwarten wir zum Beispiel gebrochen-ganzzahlige Ladungen
an den Probenrändern. Für eine Punktladung über der Oberfläche eines dreidimensionalen
TI wird vorhergesagt, dass sie nicht nur eine Bildladung sondern auch das Bild eines ma-
gnetischen Monopols an der Oberfläche erzeugt. In topologischen magnetischen Isolatoren
erwarten wir die Existenz von so genannten Axionen, die in der Teilchenphysik postu-
liert wurden, um einige Rätsel des Standardmodells der Teilchenphysik zu lösen. Wenn
ein Supraleiter in Kontakt mit der Oberfläche eines TI gebracht wird, verhalten sich die
Flussschläuche im Supraleiter wie Majorana-Fermionen. Das Austauschen oder Verflechten
dieser Flussschläuche führt zu einer nicht-abelschen Teilchenstatistik. Schließlich denkt
man bereits an Anwendungen von topologischer Quantenmaterie. Magnetische Bildmo-
nopole könnten zur Datenspeicherung oder Majorana-Fermionen für einen topologischen
Quantenrechner benutzt werden.27

Literatur
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superconducting hybrid structures, Phys. Rev. B 55, 1142 (1997).
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ton University Press (2013).
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392, 45 (1984).
M. Franz, L. Molenkamp (Hg.), Topological Insulators, in Contemporary Concepts of Con-
densed Matter Series, Vol. 6, Elsevier, Amsterdam (2013).
L. Fu, C. L. Kane, E. J. Mele, Topological Insulators in Three Dimensions, Phys. Rev. Lett. 98,
106803 (2007).
M. Z. Hasan, C. L. Kane, Topological Insulators, Rev. Mod. Phys. 82, 3045-3067 (2010).
D. Hsieh et al., A Topological Dirac Insulator in a Quantum Spin Hall Phase, Nature 452, 970
(2008).
C. L. Kane, E. J. Mele, Z2 Topological Order and the Quantum Spin Hall Effect, Phys. Rev. Lett.
95, 146802 (2005); siehe auch Phys. Rev. Lett. 95, 226801 (2005).
M. König, S. Wiedmann, C. Brüne, A. Roth, H. Buhmann, L. W. Molenkamp, X.-L. Qi, S.-
C. Zhang, Quantum Spin Hall Insulator State in HgTe Quantum Wells, Science 318, 766-
770 (2007).
27
C. Nayak, S. H. Simon, A. Stern, M. Freedman, S. Das Sarma, Non-Abelian Anyons and Topological
Quantum Computation, Rev. Mod. Phys. 80, 1083-1159 (2008).
956 14 Topologische Quantenmaterie

J.M. Kosterlitz, D.J. Thouless, Ordering, metastability and phase transitions in two-
dimensional systems, J. Phys. C 6: Solid State Phys., 1181 (1973).
K. von Klitzing, G. Dorda, M. Pepper, New Method for High-Accuracy Determination of the
Fine-Structure Constant Based on Quantized Hall Resistance, Phys. Rev. Lett. 45, 494–
497 (1980).
K. von Klitzing, G. Dorda, M. Pepper, High-magnetic-field transport in a dilute two-dimen-
sional electron gas, Phys. Rev. B 28, 4886–4888 (1983).
M. Sato, Y. Ando, Topological Superconductors: A Review, Rep. Prog. Phys. 80, 076501 (2017).
D. J. Thouless, M. Kohmoto, M. P. Nightingale, M. den Nijs, Quantized Hall Conductance in
a Two-dimensional Periodic Potential, Phys. Rev. Lett. 49 405-408 (1982).
M.R. Zirnbauer, Riemannian symmetric superspaces and their origin in random-matrix theo-
ry, J. Math. Phys. 37, 4986 (1996).
Cui-Zu Chang et al., Experimental observation of the quantum anomalous Hall effect in a
magnetic topological insulator, Science 340, 167–170 (2013).
A Quantentheorie des harmonischen
Kristallgitters

A.1 Der harmonische Oszillator


Wir diskutieren zuerst die Quantentheorie eines eindimensionalen harmonischen Oszilla-
tors mit dem Hamilton-Operator

p2 1
ℋ= + mω 2 x 2 . (A.1.1)
2m 2
Man definiert die Erzeugungs- und Vernichtungsoperatoren
{︂ }︂
mω 1
a =

x−ı p (A.1.2)
2ħ 2ħmω
{︂ }︂
mω 1
a= x+ı p. (A.1.3)
2ħ 2ħmω

Aus der Vertauschungsrelation (︀x, p⌋︀ = x p − px = ıħ folgt

(︀a, a† ⌋︀ = 1 . (A.1.4)

Der Hamilton-Operator kann mit diesen Operatoren als

ℋ = ħω (a† a + 12 ) (A.1.5)

geschrieben werden. Die Eigenwerte E n der Schrödinger-Gleichung ℋ⋃︀ñ︀ = E n ⋃︀ñ︀ lauten

E n = ħω (n + 12 ) . (A.1.6)

Hierbei ist ⋃︀ñ︀ der n-te angeregte Zustand, der sich aus dem Grundzustand ⋃︀0̃︀ durch
1
⋃︀ñ︀ = ⌋︂ (a† )n ⋃︀0̃︀ (A.1.7)
n!
ergibt.
958 A Quantentheorie des Gitters

Für einen harmonischen Oszillator ist die zeitgemittelte kinetische und potenzielle Energie
gleich, das heißt, es gilt 12 ∐︀E tot ̃︀ t = ∐︀E kin ̃︀ t = ∐︀E pot ̃︀ t . Mit ∐︀E tot ̃︀ t = (n + 12 )ħω und 12 ∐︀E pot ̃︀ t ∝
∐︀x 2 ̃︀ folgt für die mittlere quadratische Auslenkung
∐︀x 2 ̃︀ ∝ n . (A.1.8)
Wir sehen also, dass der harmonische Oszillator der Frequenz ω in verschiedenen, diskreten
Anregungszuständen vorliegen kann. Die Energien dieser Zustände sind ħω(n + 12 ), wo-
bei die Quantenzahl n = 0, 1, 2, 3, . . . die Anregungszustände durchnummeriert. Je größer n,
desto größer auch die mittlere quadratische Auslenkung.

A.2 Quantisierung von Gitterschwingungen


Nach den Ausführungen in Abschnitt 5.1.2 können wir den Hamilton-Operator für Gitter-
schwingungen eines dreidimensionalen Kristallgitters in harmonischer Näherung durch
1 2
ℋharm = ∑ p (rnα ) + U elharm (A.2.1)
n,α 2M α
ausdrücken, wobei die harmonische Näherung der potenziellen Energie durch (5.1.13) ge-
geben ist:
1 2
U elharm = ∑ )︀(unα − umβ ) ⋅ ∇⌈︀ ϕ(rnα − rmβ ) .
0 0
(A.2.2)
4 n,m,α,β

Die in U elharm auftretenden Kopplungskonstanten


∂ 2 U elharm
C nα i =
mβ j
(A.2.3)
∂r nα i ∂r mβ j
können dabei als Verallgemeinerungen der Federkonstante eines harmonischen Oszillators
aufgefasst werden, so dass (A.2.1) die verallgemeinerte Form des Hamilton-Operator eines
harmonischen Oszillators darstellt.

A.2.1 Lineare Kette


Um aufzuzeigen, wie die Eigenwerte der Schrödinger-Gleichung für den Hamilton-Opera-
tor (A.2.1) bestimmt werden können, betrachten wir das einfache Problem einer linearen
Kette von Atomen der Masse M mit Abstand a, in der wir nur die Wechselwirkung nächster
Nachbarn berücksichtigen müssen. Der Hamilton-Operator lautet in diesem Fall
N
1 2 1
ℋharm = ∑ { p + C(x s+1 − x s )2 . (A.2.4)
s=1 2M s 2
Hierbei ist x s die Auslenkung des Atoms s aus seiner Ruhelage und p s sein Impuls. Zur
Lösung der Schrödinger-Gleichung nimmt man üblicherweise eine Fourier-Transformation
der Teilchenkoordinaten x s , p s in die neuen Koordinaten X q , Pq vor, die wir als Phonon-
Koordinaten bezeichnen.
A.2 Quantisierung von Gitterschwingungen 959

A.2.1.1 Phonon-Koordinaten
Die Transformation von Teilchenkoordinaten x s in Phonon-Koordinaten X q ist für gitter-
periodische Probleme üblich. Wir schreiben x s als Fourier-Reihe
1
x s = ⌋︂ ∑ X q e ı qs a (A.2.5)
N q
mit der entsprechenden inversen Transformation
1
X q = ⌋︂ ∑ x s e−ı qs a . (A.2.6)
N s
In (A.2.5) summieren wir über alle gemäß den geltenden Randbedingungen erlaubten Wel-
lenzahlen q (vergleiche Abschnitt 5.3.1):
2π p
q= , p = 0, ±1, ±2, . . . , ± ( 12 N − 1) , ± 12 N . (A.2.7)
a N
Wir benötigen jetzt noch die Transformation vom Teilchenimpuls p s zum Impuls Pq , der
zur Phonon-Koordinate kanonisch konjugiert ist. Die Transformation lautet:
1
p s = ⌋︂ ∑ Pq e−ı qs a (A.2.8)
N q
mit der entsprechenden inversen Transformation1
1
Pq = ⌋︂ ∑ x s e ı qs a . (A.2.9)
N s
Wir können leicht zeigen, dass die Wahl von Pq und X q richtig ist, indem wir den Kommu-
tator berechnen. Mit Hilfe von (︀x s , p s ′ ⌋︀ = ıħδ(s, s′ ) lässt sich leicht zeigen, dass
(︀X q , Pq′ ⌋︀ = ıħδ(q, q′ ) . (A.2.10)
Das heißt, X q und Pq sind wirklich konjugierte Variablen.
Wir können nun die Transformationen (A.2.5) und (A.2.6) sowie (A.2.8) und (A.2.9) im
Hamilton-Operator (A.2.4) benutzen und erhalten
1 −ı(q+q ′ )s a
∑ ps = ∑ ∑ ∑ Pq Pq′ e
2
s N s q q′

= ∑ ∑ Pq Pq′ δ(−q, q′ ) = ∑ Pq P−q . (A.2.11)


q q′ q

Hierbei haben wir ausgenutzt, dass


−ı(q−q ′ )s a ′
∑e = ∑ e−ı2π(p−p )s⇑N = N δ(p, p′ ) = N δ(q, q′ ) . (A.2.12)
s s

1
Hinweis: Das Ergebnis entspricht nicht ganz dem, das wir durch eine naive Substitution von p
durch q sowie P durch Q in (A.2.5) und (A.2.6) erhalten würden, da q und −q in (A.2.5) und
(A.2.8) gerade vertauscht sind.
960 A Quantentheorie des Gitters

Analog erhalten wir


1 ı q′ s a ı q′ a
∑(x s+1 − x s ) = ∑ ∑ ∑ X q X q′ e )︀e − 1⌈︀ × e )︀e − 1⌈︀
2 ı qs a ı qa
s N s q q′

= 2 ∑ X q X−q (1 − cos qa) . (A.2.13)


q

Damit erhalten wir den Hamilton-Operator in den Phonon-Koordinaten zu


1
ℋ = ∑{ Pq P−q + CX q X−q (1 − cos qa) (A.2.14)
q 2M

Führen wir noch für die Dispersionsrelation das Symbol


}︂
2C
ωq = (1 − cos qa)1⇑2 (A.2.15)
M
ein, so erhalten wir

1 1
ℋ = ∑{ Pq P−q + Mω 2q X q X−q . (A.2.16)
q 2M 2

Die Bewegungsgleichung des Operators X q erhalten wir, indem wir die Standardvorschrift
der Quantenmechanik verwenden, zu
P−q
ıħ Ẋ q = (︀X q , ℋ⌋︀ = ıħ , (A.2.17)
M
wobei ℋ durch (A.2.14) gegeben ist. Mit dem Kommutator
1
ıħ Ẍ q = (︀ Ẋ q , ℋ⌋︀ = (︀P−q , ℋ⌋︀ = ıħω 2q X q (A.2.18)
M
folgt daraus

Ẍ q + ω 2q X q = 0 . (A.2.19)

Dies ist die Bewegungsgleichung eines harmonischen Oszillators der Frequenz ω q . Die Ener-
gieeigenwerte sind

E q = ħω q (n q + 12 ) , n q = 0, 1, 2, 3, . . . . (A.2.20)

Die Gesamtenergie des Systems aller Phononen ist

E = ∑ ħω q (n q + 12 ) . (A.2.21)
q

Diese Ergebnis erhalten wir, da wir es mit einem System unabhängiger harmonischer Oszil-
latoren zu tun haben. Für dieses gilt ℋ = ∑ i ℋ i mit (︀ℋ i , ℋ j ⌋︀ = 0 für i ≠ j. Wir wissen aus der
Quantenmechanik, dass für ein solches System der Eigenzustand von ℋ gleich dem Produkt
A.2 Quantisierung von Gitterschwingungen 961

der Eigenzustände der ℋ i ist. Mit ℋ i ⋃︀ϕ i ̃︀ = E i ⋃︀ϕ i ̃︀ und ⋃︀Ψ̃︀ = ∏ i ⋃︀ϕ i ̃︀ folgt dann ℋ⋃︀Ψ̃︀ = E⋃︀Ψ̃︀
mit E = ∑ i E i .
Unser Ergebnis zeigt die Quantisierung der Energien der elastischen Schwingungen einer
eindimensionalen Kette von Atomen. Das Ergebnis kann auf den dreidimensionalen Fall
eines Gitters mit einer Basis aus r ′ Atomen erweitert werden. Wir müssen dann nicht nur
über alle Wellenvektoren q aufsummieren, sondern auch über alle r = 3r ′ Dispersionszweige
und erhalten
E = ∑ ħω qr (n qr + 12 ) . (A.2.22)
qr

A.2.2 Erzeugungs- und Vernichtungsoperatoren


Wir können in Analogie zu unserer Diskussion in Abschnitt A.1 Erzeugungs- und Vernich-
tungsoperatoren einführen, so dass wir den Hamilton-Operator (A.2.16) in der Form
ℋ = ∑ ħω q (a†q a q + 12 ) . (A.2.23)
q

schreiben können. Die geeigneten Operatoren lauten:2


1 ⎨⎝⌈︂ 1 ⎬

a †q = ⌋︂ ⎝ Mω q X−q − ı ⌈︂ Pq ⎠ (A.2.24)
2ħ ⎝⎪ Mω q ⎠⎮

1 ⎨⎝⌈︂ 1 ⎬

a q = ⌋︂ ⎝ Mω q X q + ı ⌈︂ P−q ⎠ . (A.2.25)

2ħ ⎪ ⎠
Mω q ⎮
Die dazu inversen Beziehungen lauten

⧸︂ ħ
X q = ⧸︂
⟩ (a q + a−q

) (A.2.26)
2Mω q

⧸︂ ħMω q
Pq = ı ⧸︂
⟩ (a †q − a−q ) . (A.2.27)
2
Damit lässt sich der Ortsoperator x s schreiben als

⧸︂
x s = ∑ ⧸︂
⟩ ħ
(a q e ı qas + a †q e−ı qas ) . (A.2.28)
q 2N Mω q

Diese Gleichung stellt die Beziehung zwischen der Auslenkung der Atome und den Phonon-
Erzeugungs- und Vernichtungsoperatoren her.
Setzen wir (A.2.24) und (A.2.25) in (A.2.23) ein, so können wir zeigen, dass die Form
(A.2.23) des Hamilton-Operators zu derjenigen aus Gleichung (A.2.16) identisch ist.
2 †
Dabei benutzen wir die Eigenschaften X−q = X q und Pq† = P−q , die aus (A.2.6), (A.2.8) und (A.2.9)
folgen, wenn wir die Tatsache ausnutzen, dass x s und p s hermitesche Operatoren sind, d. h. x s = x s†
und p s = p†s .
B Quantenstatistik
Wir wollen hier Systeme aus Teilchen betrachten, deren Wechselwirkung vernachlässigbar
ist, d. h. wir beschäftigen uns mit idealen Teilchengasen. Wir wollen diese Systeme vollstän-
dig aus quantenmechanischer Sicht behandeln. Dies wird uns erlauben, Probleme zu behan-
deln, bei denen es um Gase bei sehr niedrigen Temperaturen oder sehr hohen Drücken geht.
Es wird uns dadurch möglich sein, nicht-klassische Gase wie Photonen oder Leitungselek-
tronen in Metallen zu behandeln.
Wir werden in Abschnitt B.1 zunächst diskutieren, wie sich die statistische Beschreibung
eines Gases aus nicht-wechselwirkenden Teilchens ändert, wenn wir von einem klassischen
Gas unterscheidbarer Teilchen zu einem quantenmechanischen System ununterscheidbarer
Teilchen übergehen. In Abschnitt B.2 werden wir dann die quantenmechanischen Vertei-
lungsfunktionen für Bosonen und Fermionen ableiten. Mit Hilfe dieser Verteilungsfunktio-
nen können wir die Besetzungswahrscheinlichkeit eines Quantenzustandes angeben.

B.1 Identische Teilchen


Wir betrachten ein System aus N identischen Teilchen, die in einen Behälter mit Volumen V
eingeschlossen sind und nicht miteinander wechselwirken. Die Teilchen sollen ferner keine
interne Struktur besitzen. Die möglichen Quantenzustände der Teilchen stellen Lösungen
der Schrödinger-Gleichung für ein System von nur einem Teilchen dar. Den Quantenzu-
stand eines Systems aus N Teilchen konstruieren wir, indem wir die N Teilchen N verschie-
denen Zuständen zuordnen, die jeweils Lösungen einer Einteilchen-Schrödiger-Gleichung
sind. Gewöhnlich gibt es eine unbegrenzte Zahl von besetzbaren Zuständen, von denen die
N Teilchen N besetzen werden.
Wir wollen zunächst die möglichen Quantenzustände der Teilchen klassifizieren. Hierzu
benutzen wir die Ortskoordinate q i , die alle Ortskoordinaten (z. B. die drei kartesischen
Ortskoordinaten) des i-ten Teilchens bezeichnen soll. Zur Charakterisierung der mögli-
chen Quantenzustände eines Teilchens benutzen wir die Bezeichnung s i . Ein möglicher Wert
von s i entspricht dann z. B. einer Spezifizierung der drei Impulskomponenten und der Spin-
Orientierung. Den Zustand des gesamten Systems aus N Teilchen können wir dann durch
den Satz von Quantenzahlen

{s 1 , s 2 , . . . , s N } (B.1.1)
964 B Quantenstatistik

beschreiben. Diese Quantenzahlen nummerieren die Wellenfunktion Ψ des Gases in dem


entsprechenden Zustand:
Ψ = Ψ{s 1 ,s 2 ,...,s N } (q1 , . . . , q N ) . (B.1.2)
Wir betrachten nun verschiedene Fälle.

B.1.1 Klassischer Fall: Maxwell-Boltzmann-Statistik


Im klassischen Fall müssen wir die Teichen als unterscheidbar betrachten und annehmen,
dass jede beliebige Anzahl von Teilchen einen bestimmten Zustand besetzen kann. Die klas-
sische Beschreibung bringt keine Anforderungen hinsichtlich der Symmetrie der Wellen-
funktion (B.1.2) mit sich, wenn wir zwei Teilchen miteinander vertauschen. Wir sagen, dass
die Teilchen einer Maxwell-Boltzmann-Statistik entsprechen. Diese Beschreibung ist natür-
lich quantenmechanisch nicht korrekt. Sie ist aber interessant für Vergleichszwecke und lie-
fert unter bestimmten Umständen eine sehr gute Näherung.

B.1.2 Quantenmechanischer Fall


Im quantenmechanischen Fall sind die Teilchen ununterscheidbar. Wenn wir eine quanten-
mechanische Beschreibung des Systems machen wollen, müssen wir berücksichtigen, dass
es bestimmte Symmetriebedingungen für die Wellenfunktion (B.1.2) beim Austausch von
zwei beliebigen identischen Teilchen gibt. Als Ergebnis erhalten wir keinen neuen Zustand
des Gases, wenn wir zwei beliebige Gasteilchen miteinander vertauschen. Wenn wir also
die verschiedenen möglichen Zustände des Systems abbzählen, müssen wir berücksichtigen,
dass die Teilchen ununterscheidbar sind. Beim Zählen der Zustände kommt es somit nicht
darauf an, welches Teilchen sich in welchem Zustand befindet, sondern wie viele Teilchen es
in jedem Einteilchenzustand s gibt.
Hinsichtlich der Symmetrieeigenschaften der Gesamtwellenfunktion (B.1.2) bezüglich Teil-
chenvertauschung müssen wir zwischen Teilchen mit ganzahligem (Bosonen: z. B. Photo-
nen, Deuteronen, He4 -Atome) und Teilchen mit halbzahligem Spin (Fermionen: z. B. Elek-
tronen, Protonen, Neutronen, Neutrinos) unterscheiden. Die Wellenfunktion von Bosonen
ist symmetrisch gegenüber der Vertauschung von zwei beliebigen Teilchen, während die
Wellenfunktion von Fermionen antisymmetrisch ist. Das heißt, es gilt
Ψ(. . . , q i , . . . , q j , . . .) = Ψ(. . . , q j , . . . , q i , . . .) Bosonen (B.1.3)
Ψ(. . . , q i , . . . , q j , . . .) = −Ψ(. . . , q j , . . . , q i , . . .) Fermionen . (B.1.4)

B.1.2.1 Bosonen
Für Bosonen führt die Vertauschung von zwei Teilchen nicht zu einem neuen Zustand des
Gases (Gesamtsystems). Die Teilchen müssen deshalb beim Abzählen der verschiedenen Zu-
stände des Gases als echt ununterscheidbar betrachtet werden. Wichtig ist, dass es keine
Beschränkung hinsichtlich der Teilchenzahl in irgendeinem Einteilchenzustand s gibt. Wir
sagen, dass die Teilchen der Bose-Einstein-Statistik gehorchen.
B.1 Identische Teilchen 965

B.1.2.2 Fermionen
Für Fermionen tritt beim Austausch von zwei Teilchen eine Vorzeichenänderung auf. Dies
hat eine weitreichende Konsequenz. Befinden sich nämlich zwei Teilchen i und j im gleichen
Einteilchenquantenzustand s i = s j = s, so führt die Vertauschung offensichtlich zu

Ψ(. . . , q i , . . . , q j , . . .) = Ψ(. . . , q j , . . . , q i , . . .) .

Da aber die fundamentale Symmetrieforderung (B.1.4) erfüllt werden muss, folgt sofort, dass
Ψ = 0, wenn die Teilchen i und j den gleichen Einteilchenzustand besitzen. Für Fermio-
nen kann also kein Zustand des Gesamtsystems existieren, in dem zwei oder mehr Teilchen
den gleichen Einteilchenzustand besetzen. Diese Tatsache ist uns als das Paulische Auschlie-
ßungsprinzip bereits bekannt. Beim Abzählen der Zustände des Gases muss man also stets
die Einschränkung berücksichtigen, dass nie mehr als ein Teilchen einen bestimmten Ein-
teilchenzustand besetzen kann. Wir sagen, dass die Teilchen der Fermi-Dirac-Statistik ge-
horchen.

B.1.2.3 Beispiel
Wir wollen ein ganz einfaches Beispiel benutzen, um die gerade diskutierten Begriffe und
ihre Konsequenzen zu verdeutlichen. Wir betrachten hierzu ein Gas, dass nur aus zwei Teil-
chen X und Y besteht, die einen von drei möglichen Quantenzuständen 1, 2, 3 einnehmen
können. Wir wollen jetzt alle möglichen Zustände des Gases aufzählen. Dies entspricht der
Beantwortung der Frage, auf wie viele verschiedene Arten wir zwei Teilchen auf drei Einteil-
chenzustände verteilen können. Das Ergebnis ist in Abb. B.1 gezeigt.
Im klassischen Fall (Maxwell-Boltzmann-Statistik) werden die Teilchen als unterscheidbar
angesehen und jede Anzahl von Teilchen kann jeden Zustand besetzen. Es gibt also 32 =
9 mögliche Zustände für das gesamte Gas.
Im quantenmechanischen Fall müssen wir die Teilchen als ununterscheidbar betrachten.
Die Ununterscheidbarkeit impliziert X = Y. Für Bosonen (Bose-Einstein-Statistik) kann je-
de Anzahl von Teilchen jeden Zustand besetzen. Die Ununterscheidbarkeit impliziert, dass
die drei Zustände des klassischen Falls, die sich nur durch Vertauschung von X und Y erge-
ben, jetzt wegfallen. Es gibt jetzt nur noch drei Arten, die Teilchen in den gleichen Zustand
und drei Arten, sie in verschiedene Zustände zu platzieren. Wir erhalten also insgesamt 6
verschiedene Zustände.

Maxwell-Boltzmann Bose-Einstein Fermi-Dirac


1 2 3 1 2 3 1 2 3
XY ... ... XX ... ... X X ...
... XY ... ... XX ... X ... X
... ... XY ... ... XX ... X X
X Y ... X X ... Abb. B.1: Verteilung von zwei Teil-
Y X ... X ... X chen X und Y auf drei Zustände 1, 2, 3
X ... Y ... X X entsprechend der Maxwell-Boltz-
Y ... X mann-Statistik, der Bose-Einstein-
... X Y Statistik und der Fermi-Dirac-
... Y X Statistik.
966 B Quantenstatistik

Für Fermionen (Fermi-Dirac-Statistik) darf nur noch ein Teilchen einen bestimmten Ein-
teilchenzustand besetzen. Im Vergleich zu den Bosonen fallen deshalb die drei Zustände
mit zwei Teilchen im gleichen Zustand weg. Es gibt dann insgesamt nur noch drei mögliche
Zustände für das Gas.
Definieren wir α als
p1
α= ,
p2
wobei p 1 (p 2 ) die Wahrscheinlichkeit dafür ist, dass sich beide Teilchen (nicht) im gleichen
Zustand befinden, so erhalten wir
α MB = 0.5 Maxwell-Boltzmann-Statistik
α BE = 1 Bose-Einstein-Statistik (B.1.5)
α FD = 0 Fermi-Dirac-Statistik .
Wir sehen, dass für Bosonen eine größere Tendenz vorhanden ist, sich im gleichen Quanten-
zustand anzusammeln als für klassische Teilchen. Andererseits gibt es für Fermionen eine
größere Tendenz dafür, sich in verschiedenen Zuständen anzusammeln als im klassischen
Fall.

B.2 Die quantenmechanischen


Verteilungsfunktionen
Wir wollen nun diskutieren, wie die absolute Besetzungswahrscheinlichkeit eines Quanten-
zustands für Fermionen und Bosonen aussieht. Dazu werden wir zunächst das statistische
Problem formulieren und dann die quantenmechanischen Verteilungsfunktionen ableiten.

B.2.1 Quantenstatistische Beschreibung


Wir betrachten ein Gas aus N nicht wechselwirkenden Teilchen, die im Volumen V einge-
schlossen sind und sich im Gleichgewicht bei der Temperatur τ = 1⇑β (β = 1⇑k B T) befinden.
Wir indizieren die möglichen Quantenzustände der Teichen mit dem Index k, die Energie
eines Zustandes k sei є k und die Zahl der Teilchen, die einen Zustand k besetzen, sei n k . Mit
dieser Nomenklatur erhalten wir die Gesamtenergie des Gases, wenn es sich in einem Zu-
stand K befindet, bei dem der Zustand k = 1 mit n 1 , der Zustand k = 2 mit n 2 usw. Teilchen
besetzt ist, zu
EK = ∑ nk єk , (B.2.1)
k

wobei die Summe über alle möglichen Zustände k geht. Die Gesamtzahl N der Teilchen ist
N = ∑ nk . (B.2.2)
k
B.2 Die quantenmechanischen Verteilungsfunktionen 967

Um die thermodynamischen Funktionen des Gases (z. B. seine Entropie) zu berechnen, müs-
sen wir seine Zustandssumme bestimmen. Es gilt

Z = ∑ e−βE K = ∑ e−β(n 1 є 1 +n 2 є 2 +...) . (B.2.3)


K K

Hierbei läuft die Summe über alle möglichen Gesamtzustände K des Gases, das heißt, über
alle möglichen Kombinationen der Zahlen n 1 , n 2 , n 3 , . . ..
Da der Boltzmann-Faktor exp(︀−β(n 1 є 1 + n 2 є 2 + . . .)⌋︀ die relative Wahrscheinlicheit dafür
darstellt, das Gas in einem bestimmten Zustand zu finden, bei dem sich n 1 Teilchen im Zu-
stand 1, n 2 Teilchen im Zustand 2 usw. befinden, können wir die mittlere Teilchenzahl im
Zustand k durch
∑ n k e−β(n 1 є 1 +n 2 є 2 +...)
∐︀n k ̃︀ =
K
(B.2.4)
∑ e−β(n 1 є 1 +n 2 є 2 +...)
K

ausdrücken. Diesen Ausdruck können wir umschreiben in


1 1 ∂ 1 ∂Z 1 ∂ ln Z
∐︀n k ̃︀ = ∑ (− ) e−β(n 1 є 1 +n 2 є 2 +...) = − =− . (B.2.5)
Z K β ∂є k β Z ∂є k β ∂є k
Wir sehen, dass wir die mittlere Teilchenzahl in einem Einteilchenzustand k auch durch die
Zustandssumme Z ausdrücken können. Da die Berechnung aller interessierenden Größen
die Auswertung der Zustandssumme (B.2.3) erfordert, müssen wir genauer diskutieren, was
wir bei der Ermittlung der Zustandssumme mit der Summe über alle möglichen Zustände
des Gases meinen.

1. Maxwell-Boltzmann-Statistik:
Hier kann jeder Einteilchenzustand k mit einer beliebigen Teilchenzahl besetzt werden,
d. h. wir müssen über alle Werte
n k = 0, 1, 2, 3, . . . für jedes k (B.2.6)
unter der Nebenbedingung

∑ nk = N (B.2.7)
k

aufsummieren. Dabei müssen wir berücksichtigen, dass die Teilchen in diesem klassi-
schen Fall unterscheidbar sind. Wir müssen also jede Permutation von zwei Teilchen in
verschiedenen Zuständen als neuen Zustand des gesamten Gases betrachten, obwohl das
Zahlentupel {n 1 , n 2 , n 3 , . . .} gleich bleibt. Es ist also hier nicht ausreichend anzugeben,
wie viele Teilchen welchen Zustand besetzen, sondern welches Teilchen sich in welchem
Zustand befindet. Dies ist sehr einfach anhand unseres Beispiels in Abb. B.1 einzusehen.
Da wir die Teilchen X und Y unterscheiden können, ist z. B. der Gesamtzustand, in dem
X den Zustand 1 und Y den Zustand 2 besetzt, von dem Gesamtzustand, in dem X den
Zustand 2 und Y den Zustand 1 besetzt, zu unterscheiden. Wären die Teilchen unun-
terscheidbar, so wären die beiden Gesamtzustände identisch, da wir nur sagen könnten,
dass Zustand 1 und 2 jeweils von einem Teilchen besetzt werden.
968 B Quantenstatistik

2. Bose-Einstein-Statistik:
Hier müssen die Teilchen als ununterscheidbar betrachtet werden. Das heißt, hier ist die
Angabe der Zahlen {n 1 , n 2 , n 3 , . . .} ausreichend, um den Gesamtzustand des Gases zu
kennzeichnen. Deshalb ist nur die Summation über alle möglichen Teilchenzahlen des
Einteilchenzustandes notwendig, das heiß, wir müssen über alle möglichen Werte

n k = 0, 1, 2, 3, . . . für jedes k (B.2.8)

unter der Nebenbedingung

∑ nk = N (B.2.9)
k

aufsummieren.
Ein einfacher Spezialfall ist der, dass wir keine Einschränkung hinsichtlich der Gesamt-
zahl N der Teilchen haben. Dies ist z. B. der Fall, wenn wir Photonen in einem Behälter
des Volumens V betrachten, die von dessen Wänden absorbiert und wieder emittiert
werden können. Die Photonenzahl kann deshalb schwanken und man erhält den Spezi-
alfall der Photonen-Statistik.
3. Fermi-Dirac-Statistik:
Hier müssen die Teilchen wiederum als ununterscheidbar betrachtet werden, so dass
auch hier die Angabe der Zahlen {n 1 , n 2 , n 3 , . . .} ausreichend ist, um den Gesamtzustand
des Gases zu kennzeichnen. Es ist daher nur notwendig, über alle möglichen Teilchen-
zahlen der Einteilchenzustände aufzusummieren. Allerdings muss hier außer der Ne-
benbedingung (B.2.9) für die Gesamtzahl der Teilchen als weitere Nebenbedingung das
Pauli-Prinzip berücksichtigt werden. Aufgrund dieses Prinzips gibt es nur zwei mögliche
Werte für die Besetzungszahlen:

n k = 0, 1 für jedes k (B.2.10)

Unsere bisherige Betrachtung zeigt bereits, dass es einen tiefgreifenden Unterschied zwi-
schen der Bose-Einstein-Statistik und der Fermi-Dirac-Statistik gibt, der sich insbesondere
bei tiefen Temperaturen zeigen wird, da sich hier das Gas als Ganzes in seinem Zustand
niedrigster Energie befindet. Wir nehmen im Folgenden an, dass der energetisch niedrigste
Einteilchenzustand der Zustand є 1 ist. Im Fall der Bose-Einstein-Statistik erhalten wir dann
den energetisch tiefsten Zustand einfach dadurch, dass wir alle N Teilchen in diesen Zu-
stand bringen. Die Gesamtenergie ist dann Nє 1 . Im Fall der Fermi-Dirac-Statistik ist dies
aber nicht möglich, da wir jeden Zustand nur mit einem Teilchen besetzen dürfen. Den
niedrigsten Zustand des Gesamtsystems erhalten wir folglich dadurch, dass wir die mögli-
chen Einteilchenzustände vom energetisch niedrigsten Zustand an nach ansteigender Ener-
gie besetzen. Die Gesamtenergie des Gases wird folglich sehr viel größer als Nє 1 sein. Das
Paulische Ausschließungsprinzip hat also weitreichende Folgen für das Gesamtsystem.
Wir wollen nun noch die mittlere Besetzungszahl ∐︀n k ̃︀ eines bestimmten Zustands k be-
trachten. Ausgehend von (B.2.4) können wir die Summe ∑K über alle möglichen Gesamt-
zustände K für ununterscheidbare Teilchen durch eine Summe ∑n 1 ,n 2 ,... über alle Zahlen-
B.2 Die quantenmechanischen Verteilungsfunktionen 969

tupel {n 1 , n 2 , . . .} ersetzen und erhalten:

∑ n k e−β(n 1 є 1 +n 2 є 2 +...+n k є k +...)


∐︀n k ̃︀ =
n 1 ,n 2 ,...
. (B.2.11)
∑ e−β(n 1 є 1 +n 2 є 2 +...+n k є k +...)
n 1 ,n 2 ,...

Dies können wir umschreiben in


(k)
∑ n k e−βn k є k ∑ e−β(n 1 є 1 +n 2 є 2 +...)
∐︀n k ̃︀ =
nk n 1 ,n 2 ,...
. (B.2.12)
(k)
∑ e−βn k є k ∑ e−β(n 1 є 1 +n 2 є 2 +...)
nk n 1 ,n 2 ,...

Hierbei lassen die Summen ∑(k) im Zähler und Nenner den Zustand k außer Betracht.

B.2.2 Photonen-Statistik
Die Photonen-Statistik stellt den Spezialfall der Bose-Einstein-Statistik mit unbestimmter
Teilchenzahl dar. Die Besetzungszahlen n 1 , n 2 , . . . können hier alle Werte n k = 0, 1, 2, 3, . . .
ohne jegliche Einschränkung annehmen. Die Summen ∑(k) im Zähler und Nenner von
(B.2.12) sind deswegen identisch und kürzen sich heraus. Deswegen bleibt einfach

∑ n k e−βn k є k
∐︀n k ̃︀ =
nk
(B.2.13)
∑ e−βn k є k
nk

übrig. Durch Umformen erhalten wir

− β1 ∂
∂є k ∑ e−βn k є k
1 ∂
∐︀n k ̃︀ = =− ln (∑ e−βn k є k ) .
nk
(B.2.14)
∑ e−βn k є k β ∂є k nk
nk

Die letzte Summe ist eine unendliche geometrische Reihe, da N beliebig ist. Diese kann auf-
summiert werden zu

−βn є −βє −2βє k 1
∑ e k k =1+e k +e + e−3βє k + . . . = . (B.2.15)
n k =0 1 − e−βє k

Damit lässt sich (B.2.14) schreiben als

1 ∂ e−βє k
∐︀n k ̃︀ = ln (1 − e−βє k ) = (B.2.16)
β ∂є k 1 − e−βє k
und wir erhalten mit β = 1⇑k B T die Plancksche Verteilung

1
∐︀n k ̃︀ = Plancksche Verteilung . (B.2.17)
eє k ⇑k B T − 1
970 B Quantenstatistik

B.2.3 Die Fermi-Dirac-Statistik


Zur Herleitung der Verteilungsfunktion von Fermionen (Fermi-Dirac-Verteilung) betrach-
ten wir unser abgeschlossenes System aus N Teilchen als Summe eines kleinen Systems, das
nur aus einem einzigen Zustand k mit Energie є k besteht, der entweder leer oder mit einem
Teilchen besetzt sein kann, und einem großen Reservoir. Das kleine System steht mit dem
Reservoir in thermischem und diffusivem Kontakt, wie es in Abb. B.2 gezeigt ist. Das Reser-
voir besteht aus allen weiteren Zuständen des Gesamtsystems.1 Unsere Aufgabe besteht nun
darin, den thermischen Mittelwert der Besetzung des ausgewählten Zustandes zu finden.

e1 e2 e3 e4 Reservoir

Abb. B.2: Die zur Herleitung der Fermi-Dirac e5 e6 e7 ek System


Verteilung benutzte Unterteilung in System
und Reservoir. Alle Zustände mit Ausnahme
des herausgegriffenen Zustands k mit Ener- e8 e9 e10 e11
gie є k werden dem Reservoir zugeschlagen.

Die Gesamtenergie des Systems ist durch

EK = ∑ nk єk (B.2.18)
k

gegeben, wobei n k die Anzahl der Teilchen im Zustand k ist. Für Fermionen kann der Zu-
stand des Systems entweder leer (n k = 0) oder genau mit einem Teilchen besetzt sein (n k =
1). Die große Zustandssumme enthält deshalb genau zwei Terme

̃ = e−0⋅β(є k −µ) + e−1⋅β(є k −µ) = 1 + e−β(є k −µ) = 1 + λe−βє k ,


Z (B.2.19)

wobei wir die absolute Aktivität λ = exp(βµ) benutzt haben. Der erste Term resultiert aus
n k = 0, der zweite aus n k = 1. Der zweite Term ist gerade der Gibbs-Faktor des Zustands k
mit Energie є k bei Einfachbesetzung.
Der thermische Mittelwert der Besetzung des Zustandes ist das Verhältnis des Terms in der
großen Zustandssumme mit n k = 1 zur Summe der Terme mit n k = 0 und n k = 1:

λ e−βє k λ e−βє k 1
∐︀n k ̃︀ = = = . (B.2.20)
̃
Z 1 + λ e−βє k 1
e βє k +1
λ

Für die mittlere Fermionenbesetzung benutzen wir im Folgenden die übliche Bezeichnung
f (є k ) = ∐︀n k ̃︀. Mit 1⇑λ = exp(−βµ) und β = 1⇑k B T erhalten wir die Fermi-Dirac-Verteilung

1
f (є k ) = Fermi-Dirac-Verteilung . (B.2.21)
e(є k −µ)⇑k B T +1

1
Ist der einzelne Zustand z. B. ein bestimmter Zustand eines Wasserstoffatoms, so wird das Reservoir
aus den weiteren Zuständen dieses Atoms und denjenigen von allen anderen Atomen gebildet.
B.2 Die quantenmechanischen Verteilungsfunktionen 971

1.0

10
5
0.8
2
0.6
/ kBT = 1
f (k)

0.4 Abb. B.3: Grafische Darstellung


der Fermi-Dirac Verteilungsfunk-
0.2 tion in Abhängigkeit der reduzier-
200
ten Energie є k ⇑µ für µ⇑k B T = 1,
50 2, 5, 10, 50 und 200. Für Metal-
0.0 le ist µ ∼ 5 eV ∼ 50 000 K, so dass
0.0 0.4 0.8 1.2 1.6 2.0
µ⇑k B T = 200 etwa den Verhältnissen
k /  bei Raumtemperatur entspricht.

Die Verteilung ist in Abb. B.3 dargestellt. Sie gibt die mittlere Anzahl von Fermionen in einem
einzelnen Zustand der Energie є k an. Der Wert von f liegt stets zwischen null und eins, was
die Einschränkungen des Paulischen Ausschließungsprinzips wiederspiegelt. Ist k B T sehr
klein gegenüber dem chemischen Potenzial µ, so handelt es sich in guter Näherung um eine
Stufenfunktion. Alle Zustände mit є k ≤ µ sind besetzt, alle Zustände є k ≥ µ sind leer. Für
є k = µ ist die Besetzungswahrscheinlichkeit immer 1⇑2.
Im Bereich der Festkörperphysik nennt man das chemische Potenzial oft Fermi-Niveau. Das
chemische Potenzial hängt gewöhnlich von der Temperatur ab. Der Wert von µ für T → 0
wird Fermi-Energie є F bezeichnet:

µ(T=0) = µ(0) ≡ є F Fermi-Energie . (B.2.22)

Das chemische Potenzial wird durch die Gesamtteilchenzahl N des betrachteten Gesamtsys-
tems festgelegt. Es muss nämlich gelten

∑∐︀n k ̃︀ = ∑ f (є k ) = N . (B.2.23)
k k

Ist die Teilchendichte in einem System hoch, so müssen aufgrund des Pauli-Prinzips die Ein-
teilchenzustände є k bis zu hohen Energie besetzt werden, um alle Teilchen unterzubringen.
Dies führt zu großen Werten des chemischen Potenzials. Um genaue Aussagen über die Grö-
ße des chemischen Potenzials machen zu können, müssen wir noch wissen, wie viele Ein-
teilchenzustände es pro Energieintervall gibt, das heißt, wir müssen die Zustandsdichte des
Systems kennen. Für Metalle (Elektronengas) beträgt µ typischerweise einige eV, was Tem-
peraturen von mehreren 10 000 K entspricht.2 Wir weisen an dieser Stelle auch darauf hin,
dass die Wahl des Nullpunktes der Energie є k natürlich willkürlich ist. Die spezielle Wahl,
die wir bei einem bestimmten Problem treffen, wirkt sich aufgrund der Bedingung (B.2.23)
auf den Wert des chemischen Potenzials aus. Der Wert der Differenz є k − µ ist unabhängig
von der Wahl des Nullpunktes von є k .

2
1 eV entspricht 11 590 K, bzw. 1 K entspricht 8.625 × 10−5 eV.
972 B Quantenstatistik

B.2.4 Die Bose-Einstein-Statistik


Wir betrachten nun die Verteilungsfunktion für ein System nichtwechselwirkender Boso-
nen, das heißt von Teilchen mit ganzzahligem Spin, für die das Paulische Ausschließungs-
prinzip nicht gilt. Das System soll in thermischem und diffusivem Kontakt mit einem Reser-
voir stehen. Bei unserer Behandlung der Bosonen soll є k die Energie eines Zustandes k sein.
Wird der Zustand von n k Bosonen besetzt, so ist seine Energie n k є k .
Wir betrachten nun wieder einen Zustand als System und alle restlichen als Reservoir. Im
Gegensatz zu den Fermionen können wir jetzt den einzelnen Zustand mit einer beliebi-
gen Zahl von Bosonen besetzten. Da wir nur einen Zustand betrachten, haben wir in dem
Ausdruck der großen Zustandssumme nur die Summation über n k durchzuführen und er-
halten
∞ ∞ ∞
̃ = ∑ e β(n k µ−n k є k ) = ∑ λ n k e−βn k є k = ∑ )︀λ e−βє k ⌈︀n k .
Z (B.2.24)
n k =0 n k =0 n k =0

Die obere Grenze für n k bei der Summation sollte eigentlich die Gesamtzahl der Teilchen im
kombinierten Komplex System plus Reservoir bilden. Wir dürfen allerdings ein sehr großes
Reservoir zulassen, wodurch die Summation von null bis Unendlich eine sehr gute Näherung
ist.
Die Reihe in (B.2.24) kann in geschlossener Form aufsummiert werden. Mit x ≡ λ exp(−βє k )
erhalten wir

̃ = ∑ x nk =
Z
1
=
1
, (B.2.25)
n k =0 1 − x 1 − λ e−βє k

falls λ exp(−βє k ) < 1. In allen realistischen Fällen wird λ exp(−βє k ) dieser Anforderung ge-
nügen, da sonst die Anzahl der Bosonen im System nicht begrenzt wäre.
Wir müssen jetzt das Scharmittel der Teilchenzahl in den Zuständen berechnen. Nach der
Definition des Mittelwertes erhalten wir unter Benutzung von (B.2.25)
∞ ∞
∑ nk x nk x ddx ∑ x n k
n k =0 n k =0 x ddx (1 − x)−1
∐︀n k ̃︀ = ∞ = ∞ = . (B.2.26)
(1 − x)−1
∑ x nk ∑ x nk
n k =0 n k =0

Durch Ausführen der Differentiation erhalten wir schließlich


x 1 1
∐︀n k ̃︀ = = = (B.2.27)
1 − x x −1 − 1 λ−1 e βє k − 1

oder mit β = 1⇑k B T und λ−1 = e−µ⇑k B T

1
n(є k ) = Bose-Einstein-Verteilung . (B.2.28)
e(є k −µ)⇑k B T −1
B.2 Die quantenmechanischen Verteilungsfunktionen 973

Bose-Einstein
3
f (k ) n(k )

Abb. B.4: Grafische Darstellung der


Fermi-Dirac Bose-Einstein und der Fermi-Dirac
1 Verteilungsfunktion in Abhängig-
keit der reduzierten Energie für
(є − µ)⇑k B T. Den klassischen Gel-
0 tungsbereich, in dem beide Verteilun-
-2 -1 0 1 2 gen etwa gleich sind, erhält man für
(k - ) / kBT (є − µ)⇑k B T ≫ 1.

wobei wir n(є k ) statt ∐︀n k ̃︀ geschrieben haben. Gleichung (B.2.28) definiert die Bose-Ein-
stein-Verteilungsfunktion. Sie ist in Abb. B.4 zusammen mit der Fermi-Dirac Verteilungs-
funktion grafisch dargestellt. Wir sehen, dass für den Grenzfall є − µ ≫ k B T die beiden Ver-
teilungsfunktionen näherungsweise gleich sind. Diesen Bereich nennt man den klassischen
Grenzfall, auf den wir weiter unten noch zu sprechen kommen.3
Die Größe n(є) bezeichnet man auch als die Besetzung eines Zustandes. Für Bosonen ist n(є)
aber nicht dasselbe wie die Wahrscheinlichkeit dafür, dass ein Zustand besetzt ist. Für Fer-
mionen sind dagegen die Besetzung und die Wahrscheinlichkeit dasselbe, da nur 0 oder
1 Teilchen einen Zustand besetzen können.
Die Bose-Einstein-Verteilung unterscheidet sich mathematisch von der Fermi-Dirac Vertei-
lungsfunktion nur dadurch, dass im Nenner eine −1 statt eine +1 steht. Dieser kleine Unter-
schied hat aber physikalische sehr bedeutsame Folgen, wie wir in den folgenden Abschnitten
noch diskutieren werden.

B.2.5 Quantenstatistik im klassischen Grenzfall


Wir haben in den vorangegangenen Abschnitten die Quantenstatistik idealer Gase behandelt
und die Verteilungsfunktionen
1
∐︀n k ̃︀ = (B.2.29)
e(є k −µ)⇑k B T ±1
abgeleitet, wobei die unterschiedlichen Vorzeichen sich auf die Fermi-Dirac- (+) und die
Bose-Einstein-Statistik (−) beziehen. Wenn das Gas aus einer festen Anzahl von Teilchen

3
Wir weisen an dieser Stelle auch darauf hin, dass die Wahl des Nullpunktes der Energie є k immer
willkürlich ist. Die spezielle Wahl, die man bei einem bestimmten Problem trifft, wirkt sich auf den
Wert des chemischen Potenzials aus. Der Wert der Differenz є k − µ ist unabhängig von der Wahl
des Nullpunktes von є k .
974 B Quantenstatistik

besteht, so ist das chemische Potenzial aus der Bedingung


1
∑∐︀n k ̃︀ = ∑ =N (B.2.30)
k k e(є k −µ)⇑k B T ± 1

zu bestimmen.
Wir wollen jetzt die Größe von µ⇑k B T für einige Grenzfälle diskutieren. Wir betrachten zu-
nächst ein hinreichend verdünntes Gas bei fester Temperatur. Die Beziehung (B.2.30) kann
wegen der kleinen Teilchenzahl N nur dann erfüllt werden, wenn jeder Term in der Summe
über alle Zustände genügend klein ist. Das heißt, es muss ∐︀n k ̃︀ ≪ 1 oder e(є k −µ)⇑k B T ≫ 1 für
alle k sein. Dies ist der Fall, wenn (є k − µ) ≫ k B T.
In ähnlicher Weise können wir den Fall sehr hoher Temperaturen bei fester Teilchenzahl
diskutieren. In diesem Fall ist β = 1⇑k B T ausreichend klein. In der Summe in (B.2.30) sind
dann Glieder, für die (є k − µ)⇑k B T ≪ 1 gilt, groß. Daraus folgt, dass für große T eine wach-
sende Zahl von Summanden auch mit großen Werten von є k zur Summe beitragen kann.
Damit die Summe N nicht überschreitet, muss (є k − µ) genügend groß werden, so dass je-
der Term in der Summe ausreichend klein ist. Das heißt, es ist wiederum notwendig, dass
e(є k −µ)⇑k B T ≫ 1 oder ∐︀n k ̃︀ ≪ 1 ist.
Wir können also insgesamt folgern, dass bei genügend niedriger Konzentration oder genü-
gend hoher Temperatur (є k − µ)⇑k B T so groß werden muss, dass für alle k

e(є k −µ)⇑k B T ≫ 1 (B.2.31)

gilt. Gleichwertig damit ist, dass die Besetzungszahlen genügend klein werden müssen, so
dass für alle k

∐︀n k ̃︀ ≪ 1 (B.2.32)

gilt. Wir werden den Grenzfall niedriger Konzentration oder hoher Temperatur, für den die
Bedingungen (B.2.31) und (B.2.32) erfüllt sind, den klassischen Grenzfall nennen.
Wir wollen kurz eine anschauliche Begründung für die Anwendbarkeit der klassischen Be-
schreibung im Fall verdünnter Gase oder sehr hoher Temperaturen geben. Unter diesen
Bedingungen sind nur wenige Einzelzustände besetzt und diese fast ausnahmslos nur mit
einem Teilchen. Bei der Berechnung der Besetzungswahrscheinlichkeiten spielt dann die
Ununterscheidbarkeit der Teilchen und das Pauli-Prinzip keine Rolle mehr. Erstere, da eine
Umbesetzung der Teilchen ja fast immer bedeutet, dass die Teilchen in einen vorher nicht
besetzten Zustand gelangen und letzteres, da ja ein Zustand fast ausschließlich nur mit einem
Teilchen besetzt ist.
Im klassischen Grenzfall folgt wegen (B.2.31), dass sich sowohl für die Fermi-Dirac- als auch
die Bose-Einstein-Statistik auf

∐︀n k ̃︀ = e−(є k −µ)⇑k B T (B.2.33)


B.2 Die quantenmechanischen Verteilungsfunktionen 975

reduziert. Wegen (B.2.30) wird das chemische Potenzial durch die Bedingung
−(є −µ)⇑k B T
∑∐︀n k ̃︀ = ∑ e k = e µ⇑k B T ∑ e−є k ⇑k B T = N
k k k
−1
−є k ⇑k B T
oder e µ⇑k B T
= N (∑ e ) (B.2.34)
k

bestimmt. Setzen wir diese in (B.2.33) ein, so erhalten wir

e−є k ⇑k B T
∐︀n k ̃︀ = N . (B.2.35)
∑ k e−є k ⇑k B T
Wir sehen also, dass im klassischen Grenzfall (genügend kleine Teilchendichte, große Tem-
peratur) sich die quantenmechanischen Verteilungen auf die Maxwell-Boltzmann-Vertei-
lung reduzieren. In Abb. B.4 wurde bereits gezeigt, dass die quantenmechanische und die
klassische Verteilungsfunktion bei großen Werten von (є k − µ)⇑k B T, also e(є k −µ)⇑k B T ≫ 1,
übereinstimmen.
Zum Vergleich sind in Abb. B.5 nochmals die Fermi-Dirac- und die Bose-Einstein-Ver-
teilung zusammen mit der Maxwell-Boltzmann-Verteilung für eine Temperatur von T =
2000 K und verschiedene Werte des chemischen Potenzials dargestellt. Wir weisen nochmals
darauf hin, dass die Verteilungen keine Wahrscheinlichkeiten darstellen, deren Integral je-
weils eins ergeben müsste, sondern Besetzungszahlen, deren Integral die Teilchenzahl ergibt.
Für die Bose-Einstein-Verteilung muss, damit die Teilchenzahl beschränkt bleibt, µ ≤ 0 sein.
Für die Fermi-Dirac-Verteilung ist dagegen µ ≥ 0.
3
Abb. B.5: Bose-Einstein-, Fermi-
Bose-Einstein Dirac- und Maxwell-Boltzmann-
µ=0 Verteilungen in Abhängigkeit von
2 Maxwell-Boltzmann der Energie. Für die Bose-Einstein-
Verteilung wurde µ = 0, für die Fermi-
f (k ) n(k )

Dirac-Verteilung µ = 5k B T (man be-


Fermi-Dirac achte: für ein Metall liegt µ im Bereich
µ = 5kBT von einigen eV, was einer Temperatur
1 von einigen 10 000 K entspricht) ge-
wählt. Für die Maxwell-Boltzmann-
Verteilungen wurde ebenfalls µ = 0
und 5k B T gewählt, so dass die klassi-
0 sche Verteilung mit der quantenme-
0 2 4 6 8 10
chanischen Verteilung für große Werte
k / kBT von є k ⇑k B T zusammenfallen.
C Sommerfeld-Entwicklung
Die Sommerfeld-Entwicklung wird auf Integrale der Form

1
∫ dEH(E) f (E) mit f (E) = (C.1.1)
e(E−µ)⇑kBT +1
−∞

angewendet, wobei die Funktion H(E) für E → −∞ verschwindet und für E → +∞ nicht
schneller als mit einer Potenz von E divergiert. Bekannte Beispiele sind H(E) = D(E) oder
H(E) = E D(E), für die das Integral (C.1.1) die Teilchenzahl oder die Gesamtenergie liefert.
Definiert man
E
K(E) = ∫ dE ′ H(E ′ ) , (C.1.2)
−∞

so dass
dK(E)
H(E) = , (C.1.3)
dE
so kann man (C.1.1) partiell integrieren und erhält
∞ ∞
∂f
∫ dE H(E) f (E) = ∫ dE K(E) (− ). (C.1.4)
∂E
−∞ −∞

Dabei nutzt man aus, dass der integrierte Ausdruck bei ∞ verschwindet, da die Fermi-
Funktion schneller gegen Null konvergiert als K divergiert, und bei −∞, da hier die Fermi-
Funktion eins ist während K verschwindet.
Da f ≃ 0, wenn E nur einige k B T größer als µ ist und f ≃ 1, wenn E nur einige k B T kleiner
als µ ist, wird seine Ableitung bezüglich E nur innerhalb einiger k B T um µ von null ver-
schieden sein. Wir können deshalb (C.1.4) auswerten, indem wir K(E) in eine Taylor-Reihe
um E = µ entwickeln:

(E − µ)n d n K(E)
K(E) = K(µ) + ∑ ⌊︀ }︀ ⌊︀ }︀ . (C.1.5)
n=1 n! dE n E=µ

Substituieren wir (C.1.5) in (C.1.4), so ergibt der führende Term gerade K(µ), da

∂f
∫ dE (− )=1. (C.1.6)
∂E
−∞
978 C Sommerfeld-Entwicklung

Da ferner ∂E eine gerade Funktion in (E − µ) ist, tragen nur Terme mit geradem n in (C.1.5)
∂f

zu (C.1.4) bei. Wir erhalten dann, wenn wir K mit Hilfe von (C.1.2) durch die ursprüngliche
Funktion H ausdrücken:
∞ µ

∫ dE H(E) f (E) = ∫ dE H(E)


−∞ −∞
∞ ∞
(E − µ)2n ∂f d 2n−1 H(E)
+ ∑ ∫ dE ⌊︀ }︀ (− ) ⌊︀ }︀ . (C.1.7)
n=1−∞ (2n)! ∂E dE 2n−1 E=µ

Machen wir schließlich die Substitution x = (E − µ)⇑k B T, so erhalten wir


∞ µ

d 2n−1 H(E)
∫ dE H(E) f (E) = ∫ dE H(E) + ∑ a n (k B T) ⌊︀ }︀
2n
, (C.1.8)
dE 2n−1
−∞ −∞ n=1 E=µ

wobei a n dimensionslose Zahlen sind, die durch



x 2n d 1
a n = ∫ dx (− ) (C.1.9)
(2n)! dx e + 1
x
−∞

gegeben sind. Man erhält


1 1 1 1
a n = 2 (1 − + − + − . . .) . (C.1.10)
22n 32n 42n 52n
Dies kann auch mit Hilfe der Riemannschen ζ-Funktion ausgedrückt werden:
1 1 1 1
a n = (2 − ) ζ(2n) , ζ(n) = 1 + + n + n +... (C.1.11)
22(n−1) 2 n 3 4
Für die ersten Terme erhalten wir die Werte
π 2n
ζ(2n) = 22n−1 Bn , (C.1.12)
(2n)!

wobei die Zahlen B n die so genannten Bernoulli-Zahlen sind:


1 1 1 1 5
B1 = ; B2 = ; B3 = ; B4 = ; B5 = . (C.1.13)
6 30 42 30 66
In den meisten Fällen kann bereits nach dem ersten Entwicklungsterm abgebrochen werden
und man benötigt nur ζ(2) = π 2 ⇑6.
D Geladenes Teilchen in
elektromagnetischem Feld

D.1 Der verallgemeinerte Impuls


Der verallgemeinerte Impuls – auch generalisierter, kanonischer oder kanonisch konjugier-
ter Impuls genannt – tritt sowohl in der Hamiltonschen Mechanik als auch in der Lagrange-
Mechanik auf. Er kennzeichnet zusammen mit dem Ort den Zustand eines Systems, des-
sen Zeitentwicklung mit den Hamiltonschen Bewegungsgleichungen beschrieben wird. Als
Funktion des Ortes und der Geschwindigkeit ist der verallgemeinerte Impuls die Ableitung
der Lagrange-Funktion ℒ nach der Geschwindigkeit ẋ:

∂ℒ
pj ≡ , j = 1, 2, . . . , n . (D.1.1)
∂ ẋ j

Beim Übergang von der klassischen Physik zur Quantenmechanik wird der kanonische Im-
puls (im Gegensatz zum kinetischen Impuls) durch den Impulsoperator ersetzt:

ħ ∂
p j → ⧹︂
pj ≡ . (D.1.2)
ı ∂x j

Der verallgemeinerte oder kanonische Impuls ist derjenige, welcher der kanonischen Ver-
tauschungsrelation (︀x, p x ⌋︀ = ıħ gehorchen muss.

D.2 Lagrange-Funktion
Wir betrachten ein punktförmiges Teilchen mit Masse m und Ladung q, das sich im elektro-
magnetischen Feld bewegt. Die generalisierten Koordinaten entsprechen den kartesischen
Koordinaten in 3 Raumdimensionen. Das elektrische Feld E und das Magnetfeld B werden
über das Skalarpotenzial ϕ und das Vektorpotenzial A bestimmt:

∂A(r, t)
E(r, t) = − − ∇ϕ(r, t) (D.2.1)
∂t
B(r, t) = ∇ × A(r, t) . (D.2.2)
980 D Geladenes Teilchen in elektromagnetischem Feld

Die kinetische Energie des Teilchens ist klassisch:


1
T(ṙ) = mṙ2 (D.2.3)
2
und das Potenzial ist geschwindigkeitsabhängig:

V (r, ṙ, t) = q )︀ϕ(r, t) − ṙ ⋅ A(r, t)⌈︀ . (D.2.4)

Somit ist die Lagrange-Funktion eines geladenen Teilchens im elektromagnetischen Feld:

ℒ(r, ṙ, t) = 12 mṙ2 − q )︀ϕ(r, t) − ṙ ⋅ A(r, t)⌈︀ . (D.2.5)

Die Euler-Lagrange-Gleichung

d
∇ṙ ℒ − ∇r ℒ = 0 . (D.2.6)
dt
führt auf die Bewegungsgleichung

∂A(r, t)
mr̈ = qṙ × (∇ × A(r, t)) − q − q∇ϕ(r, t)
∂t
= qE(r, t) + q (ṙ × B(r, t)) , (D.2.7)

auf deren rechter Seite die Lorentz-Kraft steht. Dieses Ergebnis bestätigt, dass der Ansatz
(D.2.5) für die Lagrange-Funktion richtig ist. Der verallgemeinerte Impuls ist gegeben durch

∂ℒ
p≡ = mṙ + qA(r, t) = pkin + pf . (D.2.8)
∂ṙ

Er setzt sich aus einem kinematischen Impuls pkin = mṙ = mv und einem Feldimpuls pf =
qA(r, t) zusammen und die kinetische Energie ist gegeben durch
1 2 1 1 2
mṙ = (mṙ)2 = (p − qA(r, t)) . (D.2.9)
2 2m 2m
Während uns der kinematische Impuls vertraut ist, ist der Ursprung des Feldimpules weni-
ger evident. Wir können uns den Feldimpuls verständlich machen, wenn wir den Impuls in
einem elektromagnetischen Feld betrachten, der mit einem sich im Magnetfeld bewegenden
geladenen Teilchen verknüpft ist. Er ist durch das Volumenintegral des Poynting-Vektors
S = (E × B)⇑µ 0 gegeben:
1
pf = ∫ S dV = є 0 ∫ E × B dV . (D.2.10)
c2
Für kleine Geschwindigkeiten v⇑c ≪ 1 können wir annehmen, dass B nur aus äußeren Quel-
len resultiert, wogegen E durch die Ladung des Teilchens verursacht wird. Für eine Punkt-
ladung am Ort r′ gilt
q
E = −∇ϕ , ∇2 ϕ = − δ(r − r′ ) (D.2.11)
є0
D.3 Hamilton-Funktion 981

und damit

pf = −є 0 ∫ dV ∇ϕ × ∇ × A

= є 0 ∫ dV (︀A × ∇ × (∇ϕ) − A∇ ⋅ (∇ϕ) − (∇ϕ)∇ ⋅ A⌋︀ . (D.2.12)

Da ∇ × (∇ϕ) = 0 und wir immer eine Eichung wählen können, für die ∇ ⋅ A = 0, ergibt sich
q
pf = −є 0 ∫ dV A∇2 ϕ = є 0 ∫ dV A δ(r − r′ ) = qA . (D.2.13)
є0

D.3 Hamilton-Funktion
Die Hamilton-Funktion ℋ(p, r, t) ist definiert durch

ℋ(p, r, t) ≡ p ⋅ ṙ − ℒ(r, ṙ, t) . (D.3.1)

Setzen wir (D.2.5) und (D.2.8) ein, so erhalten wir


1
ℋ(p, r, t) = mṙ2 + qṙ ⋅ A(r, t) − mṙ2 + qϕ(r, t) − qṙ ⋅ A(r, t) , (D.3.2)
2
also

1 2
ℋ(p, r, t) = (p − qA(r, t)) + qϕ(r, t) . (D.3.3)
2m

Gehen wir von der klassischen Physik zur Quantenmechanik über, müssen wir den kanoni-
schen Impuls durch den Impulsoperator ersetzten und erhalten den Hamilton-Operator

2
⧹︂ r, t) = 1 ( ħ ∇ − qA(r, t)) + qϕ(r, t) .
ℋ(p, (D.3.4)
2m ı

Man beachte, dass der in die Schrödinger-Gleichung eingehende kinematische Impuls ħk =


mṙ durch p − qA gegeben. Man beachte ferner, dass der kanonische Impuls p = mṙ + qA
offensichtlich von der Eichung des Vektorpotenzials abhängt. Für eine physikalische Ob-
servable wie den kinematischen Impuls ħk = mṙ darf das natürlich nicht der Fall sein.
E Symmetrietransformationen

E.1 Symmetrien in der Physik


Symmetrien spielen in der modernen Physik eine wichtige Rolle. Als Symmetrietransfor-
mationen bezeichnen wir solche Transformationen, unter denen ein physikalisches System
unverändert (invariant) bleibt. Wir können zwischen diskreten Symmetrien (z.B. die räum-
liche Spiegelung oder die Zeitumkehr), die nur eine endliche Anzahl an Symmetrieopera-
tionen besitzen und kontinuierlichen Symmetrien (z.B. die räumliche und zeitliche Trans-
lation oder die Rotation), die eine unendliche Anzahl an Symmetrieoperationen besitzen,
unterscheiden. In der Festkörperphysik sind wichtige diskrete Symmetrieoperationen Ver-
schiebungen um ganzzahlige Vielfache von Gitterabständen. Wir haben in Kapitel 1 bereits
ausführlich diskutiert, dass wir Kristallstrukturen hinsichtlich derjenigen Symmetrietrans-
formationen klassifizieren können, welche einen Kristall in sich selber überführen. Wäh-
rend wir diskrete Symmetrien durch Symmetriegruppen (wie z.B. Punktgruppen und Raum-
gruppen) beschreiben, verwenden wir für die Beschreibung kontinuierlicher Symmetrien
Lie-Gruppen. Wir unterscheiden ferner zwischen globalen und lokalen Symmetrietransfor-
mationen. Transformationen, die nicht vom Ort abhängen, nennen wir global und solche,
bei denen der Transformationsparameter an jedem Ort frei gewählt werden kann, bezeich-
nen wir als lokale oder Eichtransformationen. Entsprechend bezeichnen wir physikalische
Theorien, deren Wirkung invariant unter Eichtransformationen sind, als Eichtheorien. Alle
fundamentalen Wechselwirkungen – Gravitation, elektromagnetische, schwache und starke
Wechselwirkung – werden nach unserem heutigen Kenntnisstand durch Eichtheorien be-
schrieben.
Wird experimentell für ein physikalisches System eine bestimmte Symmetrie festgestellt,
muss die das System beschreibende Theorie invariant unter einer entsprechenden Symme-
trieoperation sein. Heute wissen wir, dass Symmetrien direkt mit physikalischen Erhaltungs-
sätzen verknüpft sind. So besagt das Noether-Theorem, dass jeder kontinuierlichen Symme-
trie eine Erhaltungsgröße zugeordnet werden kann. Insbesondere folgt aus der zeitlichen
Translationsinvarianz die Energieerhaltung, aus der räumlichen Translationsinvarianz die
Impulserhaltung und aus der Rotationsinvarianz die Drehimpulserhaltung.
Von großer Bedeutung sind in der Physik auch gebrochene Symmetrien. So ist die Ther-
modynamik nicht invariant unter Zeitumkehr, da Wärmeströme von kalt nach heiß nicht
existieren und die Zunahme der Entropie eine Zeitrichtung auszeichnet. Ferner ist z.B. die
schwache Wechselwirkung nicht invariant unter Raumspiegelung.
Nach dem Wigner-Theorem lassen alle Symmetrietransformationen 𝒮 eines komplexen
Hilbert-Raums H den Absolutwert des Skalarprodukts von zwei Vektoren u und v aus H
984 E Symmetrietransformationen

unverändert. Das heißt, es gilt

⋃︀∐︀𝒮u ⋃︀ 𝒮ṽ︀⋃︀ = ⋃︀∐︀u ⋃︀ ṽ︀⋃︀ . (E.1.1)

Sie können deshalb in zwei Kategorien, nämlich unitäre und anti-unitäre Transformationen
unterteilt werden. Ein Beispiel für eine unitäre Transformation ist der Paritätsoperator 𝒫
(Raumspiegelung). Er kehrt das Vorzeichen von Ortsoperator x und Impulsoperator p um.
Der kanonische Kommutator (︀x, p⌋︀ = ıħ bleibt deshalb nur dann erhalten, wenn 𝒫 −1 𝒫 =
𝒫𝒫 −1 = ℐ. Ein Beispiel für eine anti-unitäre Transformation ist der Zeitumkehr-Operator 𝒯 .
Er lässt den Ortsoperator unverändert, invertiert aber die Impulsrichtung. Der Kommutator
bleibt deshalb nur dann unverändert, wenn 𝒯 −1 𝒯 = 𝒯 𝒯 −1 = −ℐ.

E.2 Zeitumkehrtransformation
Die Zeitumkehrtransformation führt einen Zustand ⋃︀Ψ̃︀ in einen Zustand ⋃︀Ψ′ ̃︀ über, der sich
mit der entgegengesetzten Zeitrichtung entwickelt. Im Vergleich zu ⋃︀Ψ̃︀ sind für diesen neu-
en Zustand ⋃︀Ψ′ ̃︀ die Vorzeichen aller linearen Impulse und Drehimpulse umgekehrt, alle
anderen Größen bleiben dagegen unverändert. Formal können wir die Zeitumkehr als phy-
sikalische Transformation

𝒯 ∶ t → −t (E.2.1)

einführen, welche die Zeit umkehrt. Viele grundlegenden physikalischen Gesetze sind sym-
metrisch bezüglich einer Umkehrung der Zeitrichtung. Wir bezeichnen sie dann als zeitum-
kehrinvariant. Zeitumkehrinvariante Prozesse laufen vollkommen gleich ab, wenn wir sie
auf der Zeitachse vorwärts oder rückwärts ablaufen lassen. Unsere tägliche Erfahrung zeigt
aber auch, dass viele makroskopische Phänomene nicht zeitumkehrinvariant sind: Lassen
wir z.B. zwei Gase interdiffundieren, so trennen sich diese bei Zeitumkehr nicht mehr. Hei-
ßer Kaffee kühlt sich ab und wird bei Zeitumkehr nicht mehr warm. Bei mikroskopischen
Prozessen sieht dies anders aus: Wenn wir alle Reibungseffekte ausschließen, sind die Gesetze
der klassischen Mechanik symmetrisch gegenüber Zeitumkehr. Das Gleiche gilt für die Be-
wegung von geladenen Teilchen im Magnetfeld. Bei Zeitumkehr ändern sowohl B als auch
v ihr Vorzeichen, so dass die Lorentz-Kraft FL = q(v × B) invariant ist. Das Magnetfeld B
wird nämlich durch einen elektrischen Strom J erzeugt, der bei Zeitumkehr sein Vorzeichen
ändert.1
Für die mathematische Darstellung des Zeitumkehr-Operators 𝒯 für Spin-1⇑2 Teilchen ge-
hen wir von dem Fall aus, dass wir wie in der nichtrelativistischen Physik mit einem Zwei-
erspinor arbeiten können:

Ψ1 (r, t) Ψ (r, t)
⋃︀Ψ(r, t)̃︀ = ( )=( ↑ ). (E.2.2)
Ψ2 (r, t) Ψ↓ (r, t)

1
Nichtsdestotrotz können wir in Festkörpern die Zeitumkehr als lokal gebrochen betrachten, wenn
wir ein äußeres Magnetfeld vorgeben. Dies ist z.B. für magneto-optische Effekte relevant.
E.3 Parität 985

Der zeitlich invertierte Zweierspinor ist gegeben durch

Ψ↓⋆ (r, t)
⋃︀𝒯 Ψ(r, t)̃︀ = ( ). (E.2.3)
−Ψ↑⋆ (r, t)

Es werden also erstens die konjugiert-komplexen Wellenfunktionen gebildet (⋃︀Ψ̃︀ ↔ ⋃︀Ψ⋆ ̃︀),
zweitens die Spin-Komponenten vertauscht (↑↔↓) und drittens die Phasenfaktoren +1 bzw.
−1 addiert. Letzteres entspricht der üblichen Winkelhalbierung beim Übergang von Vekto-
○ ○
ren zu Spinoren: e ı0 ⇑2 = +1 und e ı360 ⇑2 = −1.
Für ein Elektron mit Spin s = 1⇑2 können wir die Darstellung

0 −ı 01
𝒯 = ıσ y 𝒦 = ı ( )𝒦 = ( )𝒦 (E.2.4)
ı 0 −1 0
verwenden, wobei σ y die Paulische Spin-Matrix und 𝒦 der Operator der komplexen Konju-
gation ist. Der Operator σ y sorgt für die Umkehr der Spin-Richtung, der Operator 𝒦 für die
Impulsumkehr. Zweimaliges Anwenden von 𝒯 ergibt
𝒯 2 = −1 , (E.2.5)
das heißt, der Zeitumkehr-Operator 𝒯 ist anti-unitär.
Falls der Hamilton-Operator eines Systems zeitumkehrinvariant ist, d.h. 𝒯 ℋ𝒯 −1 = ℋ, sollte
der Erwartungswert der Energie für den ursprünglichen Zustand ⋃︀Ψ̃︀ und den zeitumgekehr-
ten Zustand ⋃︀𝒯 Ψ̃︀ identisch sein. In der Tat gilt
E = ∐︀𝒯 Ψ⋃︀𝒯 ℋ𝒯 −1 ⋃︀𝒯 Ψ̃︀ = ∐︀Ψ⋃︀𝒯 ⋆ 𝒯 ℋ𝒯 −1 𝒯 ⋃︀Ψ̃︀ = ∐︀Ψ⋃︀ℋ⋃︀Ψ̃︀ , (E.2.6)
wobei wir die Eigenschaft 𝒯 ⋆ = 𝒯 −1 eines anti-unitären Operators benutzt haben.
Mit Hilfe des Zeitumkehroperators lässt sich auch leicht das Kramers-Theorem ableiten. Es
besagt, dass bei Vorliegen eines zeitumkehrinvarianten Hamilton-Operators Spin-1⇑2 Teil-
chen (z.B. Elektronen) zweifach entartete Energieeigenzustände besitzen. Wir haben be-
reits gezeigt, dass die Zustände ⋃︀Ψ̃︀ und ⋃︀𝒯 Ψ̃︀ die gleichen Eigenenergien besitzen. Da für
Spin-1⇑2 Teilchen nun aber 𝒯 2 = −1 gilt, folgt ∐︀Ψ⋃︀𝒯 Ψ̃︀ = ∐︀Ψ⋃︀𝒯 𝒯 −1 𝒯 Ψ̃︀ = −∐︀Ψ⋃︀𝒯 Ψ̃︀ = 0.
Das heißt, die beiden Zustände ⋃︀Ψ̃︀ und ⋃︀𝒯 Ψ̃︀ sind orthogonal. Das bedeutet, dass der zu-
gehörige Energieeigenzustand mindesten zweifach entartet sein muss. Mit ⋃︀Ψ̃︀ = ⋃︀Ψ↑ ̃︀ und
⋃︀𝒯 Ψ̃︀ = ⋃︀Ψ↓⋆ ̃︀ erhalten wir
E↑ (k) = E↓ (−k) . (E.2.7)
Abb. E.1a zeigt, dass zeitumgekehrte Spin-1⇑2-Zustände mit entgegengesetztem Impuls und
Spin die gleiche Energie haben. Man bezeichnet dies als Kramers-Entartung.

E.3 Parität
Die Paritätstransformation (räumliche Spiegelung) führt einen Zustand ⋃︀Ψ̃︀ in einen Zu-
stand ⋃︀Ψ′ ̃︀ über, der nach Auswahl eines Punktes als Koordinatenursprung durch einen Vor-
986 E Symmetrietransformationen

(a) 𝐸 (b) 𝐸

𝐸F 𝐸F

𝐸↑ 𝑘 ≠ 𝐸↓ (𝑘) 𝐸↑ (𝑘) = 𝐸↓ (𝑘)

0 𝑘 0 𝑘

Abb. E.1: (a) Allgemeine Dispersionsrelation für Bandelektronen ohne Vorliegen einer Inversionssym-
metrie. Die zeitumgekehrten Zustände mit entgegengesetztem Impuls und Spin haben die gleiche Ener-
gie (Kramers-Entartung). (b) Dispersionsrelation bei Vorliegen einer Inversionssymmetrie. Zusätzlich
zur Kramers-Entartung liegt jetzt eine Entartung von Zuständen mit entgegengesetztem Impuls1unab-
hängig von der Spin-Richtung vor.

zeichenwechsel in jeder der drei Ortskoordinaten charakterisert ist. Der Paritätstransforma-


tion liegt eine Raumspiegelung bei unveränderter Zeitrichtung zugrunde:

𝒫∶ (t, x, y, z) → (t, −x, −y, −z) . (E.3.1)

Wie bereits in Abschnitt 1.1.2.1 diskutiert wurde, kann diese Transformation aus einer Spie-
gelung an einer Ebene und einer anschließenden 180○ -Drehung um die senkrecht auf dieser
Ebene stehenden Achse zusammengesetzt werden. Bleibt eine physikalische Größe des Sys-
tems bezüglich der Paritätstransformation unverändert, so nennen wir das System hinsicht-
lich dieser Größe spiegelsymmetrisch, es hat eine gerade oder positive Parität. Wechselt eine
physikalische Größe bei gleichbleibendem Betrag dagegen ihr Vorzeichen, so hat das System
hinsichtlich dieser Größe eine ungerade oder negative Parität. In allen anderen Fällen liegt
keine bestimmte Parität vor und wir nennen solche Systeme unsymmetrisch in Bezug auf
den für die Transformation benutzten Koordinatenursprung.
Für einen Hamilton-Operator, der unter der Paritätstransformation invariant bleibt,2 d.h.
𝒫ℋ𝒫 −1 = ℋ, erwarten wir die gleichen Energieeigenwerte für die Zustände ⋃︀Ψ̃︀ und ⋃︀𝒫 Ψ̃︀,
was wir leicht analog zu (E.2.6) zeigen können. Dies trifft z.B. für den Hamilton-Operator
von Kristallelektronen bei vorliegender Inversionssymmetrie zu. In diesem Fall haben die
Bloch-Wellen Ψn,k ∝ e ık⋅r und 𝒫 Ψn,k ∝ e−ık⋅r (n ist der Bandindex) die gleichen Energieei-
genwerte, das heißt, es gilt

E(k) = E(−k) . (E.3.2)

Liegt ferner Zeitumkehrinvarianz vor, so gilt zusammen mit der Kramers-Entartung (siehe
Abb. E.1b)

E↑,↓ (k) = E↑,↓ (−k) . (E.3.3)

2
Dies ist insbesondere bei Vorliegen eines Zentralpotenzials V (r) = V (−r) oder bei Festkörpern
mit einem Inversionszentrum der Fall.
E.4 Ladungskonjugation 987

E.4 Ladungskonjugation
Die Ladungskonjugation 𝒞 ersetzt in quantenmechanischen Zuständen jedes Teilchen durch
sein Antiteilchen. Sie spiegelt also das Vorzeichen der Teilchenladung (elektrische Ladung,
Baryonenzahl, Leptonenzahl und die Flavour-Quantenzahl)3 und lässt Energie, Impuls,
Masse und Spin eines Teilchens unverändert. Die elektromagnetische und die starke Wech-
selwirkung sind invariant unter der Ladungskonjugation, die schwache Wechselwirkung
dagegen nicht.
Die Anwendung des 𝒞-Operators verwandelt ein Teilchen mit Zustand ⋃︀Ψ̃︀ in sein Anti-
Teilchen ⋃︀Ψ̃︀:

𝒞∶ ⋃︀Ψ̃︀ → ⋃︀Ψ̃︀ . (E.4.1)

Da beide Zustände normalisiert sein müssen, gilt

1 = ∐︀Ψ ⋃︀ Ψ̃︀ = ∐︀Ψ ⋃︀ Ψ̃︀ = ∐︀Ψ⋃︀𝒞 † 𝒞⋃︀Ψ̃︀ (E.4.2)

und damit

𝒞𝒞 † = 1 . (E.4.3)

Der 𝒞-Operator ist also unitär. Wenden wir ihn zweimal an, so erhalten wir

𝒞 2 ⋃︀Ψ̃︀ = 𝒞⋃︀Ψ̃︀ = ⋃︀Ψ̃︀ . (E.4.4)

Es gilt also 𝒞 2 = 1 und 𝒞 = 𝒞 −1 . Insgesamt gilt damit 𝒞 = 𝒞 † , der 𝒞-Operator ist also hermi-
tesch und repräsentiert deshalb eine physikalische Observable.
Für die Eigenwerte des 𝒞-Operators gilt

𝒞⋃︀Ψ̃︀ = η C ⋃︀Ψ̃︀ . (E.4.5)

Wenden wir den 𝒞-Operator wiederum zweimal an, erhalten wir

𝒞 2 ⋃︀Ψ̃︀ = η C 𝒞⋃︀Ψ̃︀ = η 2C ⋃︀Ψ̃︀ = ⋃︀Ψ̃︀ . (E.4.6)

Es sind deshalb nur die Eigenwerte η C = ±1 möglich, weshalb man auch von der 𝒞-Parität ei-
nes Teilchens spricht. Dies ist gleichbedeutend damit, dass 𝒞⋃︀Ψ̃︀ und ⋃︀Ψ̃︀ die gleichen Quan-
tenladungen besitzen müssen. Es können deshalb nur neutrale Teilchen Eigenzustände des
𝒞-Operators sein (z.B. das Photon, gebundene Teilchen-Antiteilchen-Zustände wie das neu-
trale Pion π 0 oder das Positronium).

3
Nukleonen, also neben dem Neutron auch das Proton, haben die Baryonenzahl +1, ihre Antiteil-
chen −1. Damit ist das Neutron nicht identisch mit dem Antineutron, auch wenn beide keine elek-
trische Ladung tragen. Das neutrale π-Meson sowie das Photon sind vollkommen ladungsneutral
und damit ihre eigenen Antiteilchen.
F Dipolnäherung
Wir diskutieren den Übergang eines Atoms von einem Ausgangszustand ⋃︀ĩ︀ in einen End-
zustand ⋃︀k̃︀ unter der Wirkung eines elektromagnetischen Feldes. Wie die quantenmecha-
nische Behandlung (zeitabhängige Störungsrechnung) zeigt, ist die Wahrscheinlichkeit für
einen solchen Übergang vom Zustand E i in den Zustand E k in niedrigster Ordnung dem
Absolutquadrat des Matrixelementes M i k des Wechselwirkungsoperators ℋr proportional:
2
M i k = ⋂︀∐︀i⋃︀ ℋr ⋃︀k̃︀⋂︀ . (F.1.1)

Das Matrixelement1 ist dabei, wie in der Formel angedeutet, bezüglich des Anfangszustan-
des ⋃︀ĩ︀ und des Endzustandes ⋃︀k̃︀ des elektronischen Übergangs zu bilden und schreibt sich
in der wellenmechanischen Darstellung als

M i k = ∫ Ψi∗ (r) ℋr (r) Ψk (r) dV . (F.1.2)


V

Die Wechselwirkung der Elektronen mit einem äußeren Feld ist durch
e
ℋr = Â ⋅ p̂ (F.1.3)
m
gegeben.
Es ist zweckmäßig, für das Vektorpotenzial A im Falle des elektromagnetischen Strahlungs-
felds einen Fourier-Ansatz der Form

A = A 0 ê (e ı(k⋅r−ωt) + e−ı(k⋅r−ωt) ) (F.1.4)

zu wählen, d. h. eine in Richtung k laufende Welle mit Polarisationsvektor ê zu betrachten.


Wir können dann, wie in der klassischen Elektrodynamik, die elektromagnetische Strahlung
nach Multipolen entwickeln. Die bekannteste Form dieser Multipolstrahlung ist der oszillie-
rende Dipol (Hertzscher Dipol). Die elektrische Dipolkomponente ergibt sich als niedrigste
Ordnung, wenn man die Exponentialfunktion in (F.1.4) entwickelt:

e ık⋅r = 1 + ık ⋅ r − 12 (k ⋅ r)2 + . . . . (F.1.5)

Für sichtbares Licht ist k ∼ 105 cm−1 . Da die Wellenfunktionen eine typische Ausdehnung
von wenigen Å aufweisen, ist in den Bereichen, in denen die Wellenfunktion nicht ver-
1
Wir können die Erwartungswerte M i k für alle Übergänge eines Atoms in einer Matrix anordnen,
deren von null verschiedene Elemente gerade alle möglichen Übergänge und ihre Amplituden an-
geben. Deshalb bezeichnen wir die M i k als Matrixelemente.
990 F Dipolnäherung

schwindet, kr ∼ 10−3 . Wir dürfen daher alle höheren Glieder in der Entwicklung (F.1.5) in
guter Näherung vernachlässigen. Die dominante Komponente der von Atomen emittierten
Strahlung hat Dipolcharakter.
Das Matrixelement (F.1.1) schreibt sich in der Dipolnäherung e ık⋅r ≃ 1 als

M i k ∝ ∐︀i⋃︀ e p̂ ⋃︀k̃︀ ∝ ∐︀i⋃︀ er̂ ⋃︀k̃︀ ∝ ∐︀i⋃︀ p̂ e l ⋃︀k̃︀ , (F.1.6)

wobei p̂ e l = −er̂ der Operator des elektrischen Dipolmoments ist. Die zweite Proportionali-
tät kann mit Hilfe der Vertauschungsrelation2

1 2 iħ
)︀r̂, Ĥ 0 ⌈︀ = ]︀r̂, p̂ {︀ = p̂ (F.1.7)
2m e me
über
me me
∐︀i⋃︀ p̂ ⋃︀k̃︀ = ∐︀i⋃︀ r̂ Ĥ 0 − Ĥ 0 r̂ ⋃︀k̃︀ = (E k − E i ) ∐︀i⋃︀ r̂ ⋃︀k̃︀ ∝ ∐︀i⋃︀ r̂ ⋃︀k̃︀ (F.1.8)
iħ iħ
abgeleitet werden. Geht man in der Entwicklung obiger Exponentialfunktion einen Schritt
weiter, so kommt man zu den magnetischen Dipolen und elektrischen Quadrupolen. Sie
werden aber nur dann von Bedeutung, wenn die elektrischen Dipolelemente null sind.

2
Es gilt:
1 1 1
(︀r̂, p̂2 ⌋︀ = (r̂ p̂2 − p̂2 r̂) = (r̂ p̂2 − p̂(︀p̂ r̂⌋︀) .
2m e 2m e 2m e
Mit (︀r̂, p̂⌋︀ = r̂ p̂ − p̂ r̂ = iħ können wir umformen zu
1 1 1
(︀r̂, p̂2 ⌋︀ = (r̂ p̂2 − p̂(r̂ p̂ − iħ)) = (r̂ p̂2 − (p̂ r̂)p̂ + iħp̂)
2m e 2m e 2m e
und unter nochmaliger Benutzung der Identität (︀r̂, p̂⌋︀ = r̂ p̂ − p̂ r̂ = iħ zu
1 1
(︀r̂, p̂2 ⌋︀ = (r̂ p̂2 + (iħ − r̂ p̂)p̂ + iħp̂) ,
2m e 2m e
woraus sich
1 1 iħp̂
(︀r̂, p̂2 ⌋︀ = (r̂ p̂2 + 2iħp̂ − r̂ p̂2 ) =
2m e 2m e me
ergibt.
G Thermodynamische Eigenschaften
von Festkörpern
Wir wollen in diesem Anhang kurz einige wichtige Fakten zur Beschreibung der thermody-
namischen Eigenschaften von Festkörpern zusammenfassen. Bezüglich einer weiterführen-
den Diskussion wird auf die Fachliteratur verwiesen.1 , 2 , 3 , 4

G.1 Thermodynamische Potenziale


In der Thermodynamik beschreiben wir Vielteilchensysteme mit einer kleinen Zahl von ma-
kroskopischen Variablen. So charakterisieren wir das Verhalten eines Gases nicht mehr mit
der sehr großen Zahl von 3N Orts- und 3N Impulskoordinaten, sondern nur noch mit weni-
gen Variablen wie z. B. Temperatur T, Volumen V und Teilchenzahl N. Von großem Inter-
esse sind meist die thermodynamischen Gleichgewichtszustände, die sich unter bestimm-
ten Randbedingungen einstellen. Zur Diskussion solcher Gleichgewichtszustände werden
geeignete thermodynamische Potenziale verwendet, durch deren Extremalwerte sie festge-
legt sind. Ausgehend von der Fundamentalgleichung der Thermodynamik, die die innere
Energie U als Funktion aller extensiven Variablen (z. B. Volumen V , Entropie S, Teilchen-
zahl N) ausdrückt, besteht die Möglichkeit, andere, vom Informationsgehalt gleichwerti-
ge Funktionen als Funktion ihrer natürlichen Variablen anzugeben. Diese Funktionen be-
zeichnen wir als thermodynamische Potenziale. Ihre Bedeutung besteht darin, dass sie die
Gleichgewichtsbedingung charakterisieren. So sind zwei Phasen eines Systems genau dann
im Gleichgewicht, wenn ihre thermodynamischen Potenziale den gleichen Wert besitzen.
Verbinden wir zum Beispiel zwei vorher getrennte Systeme miteinander, so stellt sich ein
thermodynamisches Gleichgewicht ein (die Entropie wird maximal), bei dem alle intensi-
ven Größen (z. B. Temperatur T, Druck p, Teilchendichte n) gleich sind. Man kann nun
allgemein zeigen, dass dies immer einem Extremum des zugehörigen thermodynamischen
Potenzials entspricht. Sind zum Beispiel die Entropie S, das Volumen V und die Teilchen-
zahl N die veränderlichen Variablen eines Systems (alle anderen seien mittels Zwangsbe-
dingungen festgelegt), so liefert die innere Energie U die vollständige Information über das
1
G. Carrington, Basic Thermodynamics, Oxford University Press, Oxford (1994).
2
Christoph Strunk, Moderne Thermodynamik, Walter de Gruyter Verlag, Berlin (2015).
3
Herbert B. Callen, Thermodynamics and an Introduction to Thermostatistics, John Wiley & Sons
(1985).
4
Franz Schwabl, Statistische Mechanik, Springer Verlag, Heidelberg (2000).
992 G Thermodynamische Eigenschaften von Festkörpern

System und sie nimmt im Gleichgewicht ein Minimum ein. Adiabatisch-isochore Prozes-
se werden durch ein Minimum der inneren Energie beschrieben. Sind, wie bei chemischen
Reaktionen meist der Fall, dagegen der Druck p, die Temperatur T und die Teilchenzahl N
die freien Parameter, so liefert die Enthalpie H die korrekte Beschreibung. Adiabatisch-iso-
bare Prozesse werden durch ein Minimum der Enthalpie beschrieben. Die gebräuchlichsten
thermodynamischen Potenziale, ausgedrückt jeweils als Funktion ihrer natürlichen Varia-
blen, sind die innere Energie 𝒰 = 𝒰(S, V , N), die freie Energie (auch Helmholtz-Potenzial
genannt) ℱ = ℱ(T, V , N), die Enthalpie ℋ = ℋ(S, p, N), die Gibbs-Energie5 (auch Freie
Enthalpie genannt) 𝒢 = 𝒢(T, p, N) und das großkanonisches Potenzial Ω = Ω(T, V , µ).
Die Schwierigkeit bei der Beschreibung von thermodynamischen Systemen liegt oft beim
Auffinden des geeigneten thermodynamischen Potenzials. Dabei ist es wichtig, zunächst
einen Satz von unabhängigen Variablen zu finden. Bekannte Sätze sind Druck p, Tempe-
ratur T und Teilchenzahl N oder Volumen V , Temperatur T und Teilchenzahl N. Bei der
Diskussion von elektrischen und magnetischen Eigenschaften kommen weitere Variablen
wie die Polarisation P oder die Magnetisierung M hinzu. Die thermodynamischen Poten-
ziale sind dadurch ausgezeichnet, dass bei einer differenziellen Variation gerade die Differen-
ziale der unabhängigen Variablen auftreten. Wir diskutieren im Folgenden einige einfache
Beispiele, wobei wir immer eine konstante Teilchenzahl N annehmen.

G.2 Innere Energie


Die innere Energie 𝒰 wird auch als thermodynamische Energie bezeichnet. Die Änderung
dieser physikalischen Größe ist gleich der Summe der Wärme, die einem System zugeführt
wird, und der Arbeit, die am System verrichtet wird. Für das Differenzial der inneren Ener-
gie 𝒰 gilt:

d𝒰 = δQ + δWmech + δWem = TdS − pdV + δWem . (G.2.1)

Hierbei ist δQ die reversibel zugeführte Wärmemenge und δWmech bzw. δWem die am Sys-
tem mechanisch bzw. elektromagnetisch geleistete Arbeit. Die elektromagnetisch geleistete
Arbeit kann zum Beispiel durch Polarisation eines dielektrischen Systems oder Magnetisie-
rung eines magnetischen Systems erfolgen. Wir können allgemein

δWem = ∑ F Z i ⋅ dZ i . (G.2.2)
i

schreiben, wobei Z i die Zustandsvariable (z. B. elektrisches oder magnetisches Dipolmo-


ment, p oder m) und FZ i die zugehörige verallgemeinerte Kraft ist (z. B. elektrisches oder
magnetisches Feld, Eext oder Bext ). Wir werden im nächsten Abschnitt genau diskutieren,
dass die verrichtete Arbeit δWem unterschiedlich berechnet werden kann, je nachdem, ob
der Term −d(F Z i ⋅ Z i ) berücksichtigt wird oder nicht. Wir werden diesen Beitrag als Wech-
selwirkungsenergie zwischen der Zustandsgröße und der verallgemeinerten Kraft (also z. B.
5
Josiah Willard Gibbs, geboren am 11. Februar 1839 in New Haven, Connecticut, gestorben am
28. April 1903 in New Haven, Connecticut.
G.2 Innere Energie 993

zwischen elektrischem Dipolmoment und elektrischem Feld) identifizieren.6 Abhängig da-


von, ob wir die Wechselwirkungsenergie in die verrichtete Arbeit einbeziehen (Schema I)
oder nicht (Schema II), erhalten wir

δWI = ∑ )︀F Z i ⋅ dZ i − d(F Z i ⋅ Z i )⌈︀ = − ∑ Z i ⋅ dF Z i (G.2.3)


i i

δWII = ∑ F Z i ⋅ dZ i (G.2.4)
i

und damit

d𝒰I = TdS − pdV − ∑ Z i ⋅ dF Z i (G.2.5)


i

d𝒰II = TdS − pdV + ∑ F Z i ⋅ dZ i . (G.2.6)


i

Die Kompressionsarbeit geht mit einem Minuszeichen ein, da eine Volumenverkleinerung,


also −dV , zu einer Energiezufuhr und damit Erhöhung von 𝒰 führt. Gleichung (G.2.1) be-
sagt allgemein, dass sich die innere Energie eines Systems erhöht, wenn ihm Wärme zuge-
führt oder an ihm Arbeit verrichtet wird, da die von außen aufgebrachte Energie im System
gespeichert wird.

G.2.1 Arbeit an Systemen in elektrischen und magnetischen


Feldern
Wir haben oben bereits diskutiert, dass es verschiedene Möglichkeiten gibt, einen geeigneten
Ausdruck für die verrichtete Arbeit δWem abzuleiten. Um uns dies klar zu machen, betrach-
ten wir die in Abb. G.1a und b gezeigten Situationen, die zu unterschiedlichen Resultaten
für die am System geleistete Arbeit führen. Der Unterschied resultiert daraus, wie wir das
betrachtete System definieren und welchen Teil der Feldenergie wir als Teil des Systems be-
trachten.
Als Beispiel betrachten wir zwei verschiedene Methoden, wie wir ein dielektrisches (magne-
tisches) System durch ein elektrisches (magnetisches) Feld polarisieren (magnetisieren). In
Schema I (Abb. G.1a) polarisieren (magnetisieren) wir das Medium dadurch, dass wir es aus
dem Unendlichen in das elektrische (magnetische) Feld einer festen Ladung (festen Dipols)
bringen. Das Medium verbleibt dann dort. In Schema II polarisieren (magnetisieren) wir es
dadurch, dass wir es ebenfalls aus dem Unendlichen in das elektrische (magnetische) Feld ei-
ner festen Ladung (festen Dipols) bringen, das induzierte Moment dann festhalten und das
Medium wieder ins Unendliche bringen. Der Unterschied zwischen beiden Fällen besteht
darin, dass in Schema I die Wechselwirkungsenergie des Dipols mit dem Feld berücksich-
tigt werden muss, während dies in Schema II nicht der Fall ist, da wir den Dipol wieder ins
Nullfeld im Unendlichen bringen. Wir werden sehen, dass die gesamte geleistete Arbeit in
6
Bringen wir z. B. einen magnetischen Dipol mit magnetischem Moment m in ein äußeres Magnet-
feld Bext , so richtet sich der Dipol parallel zum Feld aus und wir erhalten die Wechselwirkungs-
energie −mB ext .
994 G Thermodynamische Eigenschaften von Festkörpern

(a) polarisierbares (b) polarisierbares


𝑬 Medium 𝑬 Medium

𝑷 ++ 𝑷 ++
+ +
+
+ + +
+
+

𝑽
Schema I Schema II
𝑰
magnetisierbares magnetisierbares
𝑩 Medium 𝑩 Medium
𝑰 𝑴 ++ 𝑰 𝑴 ++
+ +
+ +
+ +

Schema I Schema II
Abb. G.1: Beziehung zwischen elektrischer (oben) bzw. magnetischer Feldquelle (unten) und einem
polarisierbaren (oben) bzw. magnetisierbarem Medium (unten) in einem elektrischen (oben) bzw. ma-
gnetischen Arbeitsvorgang (unten). In (a) sind keine externen Quellen angeschlossen, so dass die elek-
trische bzw. magnetische Flussdichte konstant sein müssen. Die magnetische Feldquelle wird durch
einen Ring mit unendlich hoher Leitfähigkeit realisiert, damit die Flussdichte zeitlich nicht abklingt.
Diese Konfiguration entspricht einem Permanentmagneten. In (b) ist eine externe Spannungsquelle
(oben) bzw. eine Stromquelle (unten) angeschlossen, die das elektrische Feld (oben) bzw. das magneti-
sche Feld (unten) konstant halten. Die elektrische Konfiguration kann als Kugelkondensator aufgefasst
werden, dessen zweite Elektrode im Unendlichen auf Masse liegt.

Schema I als Summe der Polarisierungsarbeit (Magnetisierungsarbeit) und der Wechselwir-


kungsenergie des induzierten Dipolmoments mit dem jeweiligen Feld interpretiert werden
kann.
Einen weiteren wichtigen Aspekt betrifft die Frage, welche Arbeit bei den betrachteten Pro-
zessen die mit dem Kondensator (Spule) verbundene Spannungsquelle (Stromquelle) leis-
tet. Wir diskutieren dies anhand eines magnetischen Systems. Für dielektrische Systeme ist
die Diskussion analog. In Abb. G.1b betrachten wir eine Leiterschleife aus perfekt leiten-
dem Material, in der mit einer Stromquelle ein konstanter Strom I vorgegeben wird. Falls
sich nun der Fluss Φ durch die Schleife aufgrund einer Variation der Magnetisierung des
Systems ändern müsste, würde diese Flussänderung wiederum zu einer Spannung führen,
die aber durch die Stromquelle kompensiert wird, da diese ja den Strom konstant hält. Die
Stromquelle verrichtet oder absorbiert deshalb Arbeit mit einer Rate I Φ̇, je nach Vorzei-
chen von Φ̇. Das magnetische Medium und die stromtragende Leiterschleife bilden hier ein
zusammengesetztes System. Offensichtlich kann das Medium nicht als isoliertes System be-
trachtet werden, während es mit dem Ring magnetisch wechselwirkt. In dem betrachteten
Fall ist wegen I = const das Magnetfeld B ext konstant.
In Abb. G.1a betrachten wir zum Vergleich einen Ring aus perfekt leitendem Material, in dem
ein Strom I fließt, an den aber keine Stromquelle angeschlossen ist. Der Gesamtfluss Φ durch
den Ring ist aufgrund der perfekten Leitfähigkeit konstant. Falls sich nun Φ aufgrund einer
Variation der Magnetisierung des Mediums ändern müsste, würde diese Flussänderung zu
einer Spannung führen, die den dissipationslos fließenden Ringstrom genau so ändert, dass
der Fluss durch den Ring insgesamt konstant bleibt. In diesem Fall ist also die magnetische
G.2 Innere Energie 995

Flussdichte B = µ 0 (H ext + M) und nicht das Magnetfeld B ext = B − µ 0 M konstant. Letzteres


variiert aufgrund der Variation von M. Die Leiterschleife und das Medium bilden hier ein
abgeschlossenes System. Die Arbeit, die für die Magnetisierung des Mediums benötigt wird,
wird der Feldenergie der Leiterschleife entzogen. Bei angeschlossener Stromquelle stellt die
Stromquelle die benötigte Energie bereit, so dass die Feldenergie konstant bleiben kann.

G.2.1.1 Schema I
Wir betrachten zuerst die Arbeit, die geleistet werden muss, wenn wir einen elektrischen
Dipol mit Dipolmoment p (magnetischen Dipol mit magnetischem Moment m) aus dem
Unendlichen an eine bestimmte Position r1 zu bringen. Sie ist gegeben durch das Integral
über die Kraft Fel = −p ⋅ ∇Eext bzw. Fmag = −m ⋅ ∇Bext :
r1 r1 E1
WI = ∫ Fel ⋅ dr = − ∫ p ⋅ ∇Eext dr = − ∫ p ⋅ dEext (G.2.7)
∞ ∞ 0

r1 r1 B1
WI = ∫ Fmag ⋅ dr = − ∫ m ⋅ ∇Bext dr = − ∫ m ⋅ dBext . (G.2.8)
∞ ∞ 0

Hierbei geben die Integrationsgrenzen 0 und E1 (B1 ) die Werte des elektrischen (magneti-
schen) Feldes im Unendlichen und am Ort r1 an. Für δWem erhalten wir damit

δWI = −p ⋅ dEext (G.2.9)

δWI = −m ⋅ dBext . (G.2.10)

Wir sehen, dass die verrichtete Arbeit negativ ist, wenn die Momente parallel zu den Feldern
ausgerichtet sind. Dies liegt daran, dass die Momente an den Ort r1 hingezogen werden.
Falls die Momente antiparallel zu den Feldern orientiert sind, liegt eine abstoßende Wech-
selwirkung vor. Die am System verrichtete Arbeit ist positiv, da wir ja gegen die abstoßende
Wechselwirkung Arbeit leisten müssen.
Wir können (G.2.9) und (G.2.10) leicht umschreiben und erhalten

δWI = −d(p ⋅ Eext ) + Eext ⋅ dp (G.2.11)

δWI = −d(m ⋅ Bext ) + Bext ⋅ dm . (G.2.12)

Die geleistete Arbeit setzt sich aus der Änderung der Wechselwirkungsenergie −d(p ⋅ Eext )
(−d(m ⋅ Bext )) und der geleisteten Polarisierungsarbeit Eext ⋅ dp (Magnetisierungsarbeit
Bext ⋅ dm) zusammen.

G.2.1.2 Schema II
Wir wollen jetzt die Frage beantworten, welche Arbeit wir leisten müssen, um einen Fest-
körper im äußeren Feld null zu polarisieren (magnetisieren). Dies ist die Arbeit, die wir in
Schema II verrichten müssen. Bei diesem Prozess trägt die Arbeit, die wir am Dipol ver-
richten, ausschließlich zur inneren Energie bei. Im Gegensatz zum Schema I gibt es keine
996 G Thermodynamische Eigenschaften von Festkörpern

Wechselwirkungsenergie mit dem äußeren Feld, weil ja am Ende des Prozesses kein äußeres
Feld vorhanden ist. Um uns diesen fiktiven Prozess klar zu machen und die damit verbun-
dene Arbeit zu berechnen, betrachten wir folgenden reversiblen Prozess:

1. Wir bringen einen unpolarisierten (unmagnetisierten) Festkörper aus dem Unendlichen


an den Ort r1 an dem das Feld E1 (B1 ) herrscht.
2. Das elektrische Dipolmoment p1 (magnetische Diplomoment m1 ), das im Festkörper
am Ort r1 existiert, soll nun auf diesem Wert eingefroren werden. Wir nehmen an, dass
für diesen Vorgang keine Arbeit notwendig ist.
3. Wir bringen das fixierte Dipolmoment von r1 wieder ins Unendliche, wo die Felder null
sein sollen.

Wir müssen nun die mit Schritt 1 und Schritt 3 verbundene Arbeit berechnen. Die im
(1)
Schritt 1 verrichtete Arbeit WII entspricht der oben diskutieren Arbeit gemäß (G.2.7) und
(G.2.8). Für den Schritt 2 ist keine Arbeit notwendig. Im Schritt 3 leisten wir am Dipol
Arbeit, indem wir in aus dem elektrischen Feld E1 (magnetischen Feld B1 ) wieder in das
Feld null bringen. Diese Arbeit lässt sich aus (G.2.7) und (G.2.8) berechnen zu
0 0
(3)
WII = − ∫ p1 ⋅ dEext = −p1 ∫ dEext = p1 ⋅ E1 (G.2.13)
E1 E1

0 0
(3)
WII = − ∫ µ 0 m1 ⋅ dHext = −µ 0 m1 ∫ dHext = µ 0 m1 ⋅ H1 . (G.2.14)
H1 H1

Wir sehen, dass diese Arbeit positiv ist, wenn die Momente parallel zu den Feldern ausge-
richtet sind. Dies liegt daran, dass wir die Momente gegen die anziehende Wechselwirkung
ins Unendliche bringen müssen. Die am System verrichtete Arbeit ist folglich positiv. Wir
können nun die in Schritt 1 und 3 verrichteten Arbeiten summieren und erhalten die Ge-
samtarbeit in Schema II zu
E1
WII = − ∫ p ⋅ dEext + p1 ⋅ E1 (G.2.15)
0

B1
WII = − ∫ m ⋅ dBext + m1 ⋅ B1 . (G.2.16)
0

Wir können diese Ausdrücke umformen, indem wir die folgenden Identitäten

d(p ⋅ E) = p ⋅ dE + E ⋅ dp (G.2.17)
E1 p1

p1 ⋅ E1 = ∫ p ⋅ dEext + ∫ Eext ⋅ dp (G.2.18)


0 0
G.2 Innere Energie 997

verwenden. Wir erhalten damit


E1 E1 p1 p1

WII = −∫ p ⋅ dEext + ∫ p ⋅ dEext + ∫ Eext ⋅ dp = ∫ Eext ⋅ dp (G.2.19)


0 0 0 0

B1 B1 m1 m1
WII = −∫ m ⋅ dBext + ∫ m ⋅ dBext + ∫ Bext ⋅ dm = ∫ Bext ⋅ dm . (G.2.20)
0 0 0 0

Für δWem ergibt sich also


δWII = Eext ⋅ dp (G.2.21)

δWII = Bext ⋅ dm . (G.2.22)


Dies ist die Arbeit, die durch die Änderung des elektrischen (magnetischen) Dipolmoments
von null auf p1 (m1 ) im elektrischen (magnetischen) Nullfeld geleistet wird.
p m
Die Arbeit WII = ∫0 1 Eext ⋅ dp (WII = ∫0 1 Bext ⋅ dm) entspricht gerade der Arbeit, die wir
beim Polarisieren (Magnetisieren) eines Mediums in einem Kondensator (einer Spule) ver-
richten. Wir zeigen dies kurz anhand der Magnetisierungsarbeit. Ein Strom I durch eine
Spule der Länge L, Querschnittsfläche F und Windungszahl n = N⇑L erzeugt ein Magnet-
feld B ext = µ 0 nI. Wir füllen nun die Spule gleichmäßig mit einem magnetischen Medium.
Die Änderung der Magnetisierung M = m⇑V = m⇑FL dieses Mediums führt zu einer Fluss-
änderung µ 0 F∆M. Die zeitliche Änderung des Flusses durch die Spule führt zu einer In-
duktionsspannung V = −µ 0 nLFdM⇑dt zwischen den Spulenenden. Der Strom I, der gegen
diese Spannung fließt, leistet die Arbeit −IV . Für die durch die Stromquelle zu verrichten-
de Arbeit gilt dann −I ∫ Vdt = µ 0 nILF∆M = B ext ∆m, was gerade (G.2.22) entspricht. Das
heißt, die Arbeit, die dazu notwendig ist, ein magnetisches Medium in einer Spule zu ma-
gnetisieren entspricht in der Tat der Arbeit WII .

Permanenter Dipol: Der Zusammenhang zwischen WI , WII und µ 0 m1 ⋅ B1 ist in Abb. G.2
anhand eines magnetischen Systems dargestellt. Wir können die Abbildung benutzen, um

0.8 𝑾𝐈𝐈
𝑾𝐈 + 𝒎1 ⋅ 𝑩1

0.4
3
W (bel. Einheiten)

𝒎1 ⋅ 𝑩1

0.0

1
-0.4
𝑩𝐞𝐱𝐭 = 𝟎
-0.8
𝑩𝟏
𝑾𝐈 = − න 𝒎 ⋅ d𝑩𝐞𝐱𝐭
2 𝟎
-1.2 𝑩𝐞𝐱𝐭 = 𝑩𝟏 Abb. G.2: Beziehungen zwischen den
Arbeiten WI und WII für ein magneti-
0 1 2 3 4 5 6 sierbares Medium. Die Zahlen deuten
r / r1 die drei Teilschritte im Schema II an.
998 G Thermodynamische Eigenschaften von Festkörpern

den Fall eines permanenten magnetischen Moments mit Moment m = m p zu diskutieren.


Die Arbeit, die wir leisten müssen, um das Moment aus dem Unendlichen an den Ort r1 zu
bringen, ist gegeben durch
B1
WI = − ∫ m p ⋅ dBext = −m p ⋅ B1 . (G.2.23)
0

Die Arbeit, die wir benötigen, um das Medium im Nullfeld zu magnetisieren, ist dann
m1
WII = ∫ Bext ⋅ dm = 0 , (G.2.24)
mp

da m1 = m p . Wir sehen also, dass in diesem Fall keine innere Arbeit WII verrichtet wird, da
uns ja ein permanentes Moment vorgegeben wurde, das sich in der Schrittfolge 1 → 2 → 3
nicht ändert. Die Arbeit WI ist die reine Wechselwirkungsenergie des permanenten Mo-
ments mit dem äußeren Feld.

Paraelektrische und paramagnetische Systeme: Die Situation ist anders für ein para-
magnetisches Medium, d. h. ein magnetisch polarisierbares Medium mit Polarisierbarkeit α,
das kein permanentes Moment besitzt. Hier gilt
B1 B1
1
WI = − ∫ m ⋅ dBext = − ∫ αHext ⋅ dBext = − αB 2 (G.2.25)
2µ 0 1
0 0

m1 m1
1 1
WII = ∫ Bext ⋅ dm = ∫ µ 0 m ⋅ dm = µ 0 m 12 . (G.2.26)
α 2α
0 0

𝑚 (a) 𝑚 (b)
𝒎 𝑩ext 𝒎 𝑩ext
𝑚1 𝑚1
න 𝑩ext ⋅ d𝒎

න 𝒎 ⋅ d𝑩ex𝑡

0 0
0 𝐵1 𝐵ext 0 𝐵1 𝐵ext

Abb. G.3: Darstellung der magnetischen Arbeit anhand (a) einer linearen Magnetisierungskurve
m(Bext ) eines paramagnetischen Systems und (b) einer nichtlinearen Magnetisierungskurve eines Fer-
romagneten. Die rot hinterlegte Fläche stellt die Arbeit WII = ∫ Bext ⋅ dm dar, die für das Aufmagneti-
sieren des Materials benötigt wird. Das schraffierte Rechteck mit der Fläche B 1 m 1 gibt den Betrag der
Wechselwirkungsenergie −m1 ⋅ B1 des magnetischem Moments m1 mit dem äußeren Feld B1 an. Der
Betrag der Arbeit WI = − ∫ m ⋅ dBext entspricht der blauen Fläche. Diese erhalten wir, indem wir die
Summe der Magnetisierungsarbeit (rote Fläche) und der Wechselwirkungsenergie (negativer Wert der
schraffierte Fläche) bilden.
G.2 Innere Energie 999

Mit m 1 = αB 1 ⇑µ 0 folgt
1
WI = − µ 0 m 12 . (G.2.27)

Die Arbeit WI können wir gemäß Abb. G.2 als Summe der Magnetisierungsarbeit WII =
1
µ m 2 und der Wechselwirkungsenergie −m 1 B 1 = − α1 µ 0 m 12 des induzierten magnetischen
2α 0 1
Moments mit dem Feld B 1 interpretieren. Der gleiche Sachverhalt ist nochmals in Abb. G.3
anhand einer Magnetisierungskurve eines paramagnetischen Systems mit einer linearen Ma-
gnetisierungskurve m(Bext ) und eines ferromagnetischen Systems mit einer nichtlinearen
m(Bext ) Abhängigkeit dargestellt.

Ferroelektrische und ferromagnetische Systeme: In der oben geführten Betrachtung ha-


ben wir uns auf den einfachen Fall eines elektrischen oder magnetischen Dipols in einem
äußeren Feld beschränkt. Wesentlich schwieriger ist die Situation bei ferroelektrischen und
ferromagnetischen Materialien, da diese Materialien einen nichtlinearen Zusammenhang
zwischen Polarisation P und elektrischem Feld Eext bzw. zwischen Magnetisierung M und
magnetischem Feld Bext besitzen. Wir werden im Folgenden exemplarisch nur ein ferro-
magnetisches System betrachten. Die abgeleiteten Beziehungen können aber leicht auf ein
ferroelektrisches System übertragen werden.
Wir beginnen unsere Betrachtung, indem wir von der Arbeit δ W̃II = IδΦ ausgehen, die wir
verrichten müssen, um eine inkrementale Flussänderung δΦ in einer Spule zu erzeugen, in
der sich ein ferromagnetisches Material befindet. Da nach dem Ampèreschen Gesetz ∮ H ⋅
dℓ = I und ferner δΦ = ∫ δBdA gilt, erhalten wir

̃II = ∫ H ⋅ δB dV .
δW (G.2.28)
V

Das Problem besteht nun darin, dass wir gerne einen Ausdruck für die Energie der Magneti-
sierungsverteilung M(r) einer ferromagnetischen Probe im von außen angelegten Feld Bext
hätten. Das lokale Magnetfeld, dass innerhalb der Probe vorherrscht ist aber

H = Hext + HN , (G.2.29)

wobei HN das Entmagnetisierungsfeld ist. Die korrespondierende Flussdichte ist durch

B = µ 0 (H + M) = µ 0 (Hext + HN + M) (G.2.30)

gegeben. Wir weisen darauf hin, dass die Annahme einer vollkommen homogenen Magneti-
sierung selbst für gute Permanentmagnete unrealistisch ist. M(r) wird während des Magne-
tisierungsprozesses modifiziert und hängt von der Feldverteilung H(r) im Inneren des Mate-
rials ab. Die für ein Material konstitutive Beziehung ist M = M(H) und nicht M = M(Hext ).
Dies ist so, da wir ja nicht wollen, dass die ein Material charakterisierende Beziehung von
der Probenform abhängt.
Setzen wir H und B in (G.2.28) ein, so sehen wir, dass wir einen Beitrag ∫ Hext ⋅ δBext dV
̃II erhalten, der mit der Feldenergie im freien Raum verbunden ist und nichts mit der
zu δ W
1000 G Thermodynamische Eigenschaften von Festkörpern

Magnetisierungsarbeit zu tun hat. Ziehen wir diesen Beitrag ab, so erhalten wir

δWII = ∫ (H ⋅ δB − Hext ⋅ δBext ) dV . (G.2.31)


V

Mit den Beziehungen (G.2.29) und (G.2.30) ergibt sich H ⋅ δB = µ 0 (Hext + HN ) ⋅ (δHext +
δHN + δM) und damit

δWII = µ 0 ∫ (Hext ⋅ δHN + HN ⋅ δHext ) dV + µ 0 ∫ HN ⋅ δHN dV


V )︁⌊︂⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ]︂⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ )︂ V
=δ(H ext ⋅H N )

+ µ 0 ∫ (Hext + HN ) ⋅δM dV . (G.2.32)


V )︁⌊︂⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂]︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ )︂
=H

Das erste Integral auf der rechten Seite ergibt null7 und das zweite Integral entspricht dem
Beitrag δE m zur magnetostatischen Selbstenergie (vergleiche hierzu Abschnitt 12.1.5). Wir
erhalten also

δWII = δE m + µ 0 ∫ (Hext + HN ) ⋅ δM dV . (G.2.33)


V

Wir können nun noch zeigen, dass µ 0 ∫ HN ⋅ δM dV = −δE m . Hierzu benutzen wir
(12.1.27), woraus wir
1
−δE m = µ 0 ∫ δ(HN ⋅ M) dV
2
V

1
= µ 0 ∫ (HN ⋅ δM + M ⋅ δHN ) dV = µ 0 ∫ HN ⋅ δM dV (G.2.34)
2
V V

erhalten. Damit erhalten wir schließlich

δWII = ∫ Bext ⋅ δM dV = Bext ⋅ δm . (G.2.35)


V

Da die Diskussion für ferroelektrische Materialien äquivalent ist, sehen wir, dass auch für
ferroelektrische und ferromagnetisches Materialien die Beziehungen (G.2.21) und (G.2.22)
gelten.

G.2.2 Zusammenhang zwischen innerer Energie


und elektromagnetischer Arbeit
Gemäß der Definition (G.2.1) der inneren Energie, erhalten wir unterschiedliche Ausdrücke,
je nachdem wie wir die Arbeit in elektrischen und magnetischen Feldern verrichten. Wird
7
Wir benutzen hier die gleiche Argumentation wie in der Fußnote auf Seite 668 und ferner ∇ ⋅ Bext =
0 und ∇ × HN = 0.
G.3 Freie Energie 1001

die Arbeit nach Schema I durch Verschieben eines elektrischen (magnetischen) Dipols im
Feld einer festen Ladung (magnetischen Dipols) verrichtet, so erhalten wir mit (G.2.9) und
(G.2.10)

d𝒰I = TdS − pdV − p ⋅ dEext (G.2.36)

d𝒰I = TdS − pdV − m ⋅ dBext . (G.2.37)

Wird die Arbeit nach Schema II durch Polarisation (Magnetisierung) im elektrischen (ma-
gnetischen) Feld null verrichtet, so erhalten wir mit (G.2.21) und (G.2.22)

d𝒰II = TdS − pdV + Eext ⋅ dp (G.2.38)

d𝒰II = TdS − pdV + Bext ⋅ dm . (G.2.39)

Da wir zwei unterschiedliche Ausdrücke vorliegen haben, muss es unterschiedliche Bedeu-


tungen für die Energie des Systems geben. Offensichtlich hängt die Energie davon ab, wie
wir unser System definieren, das heißt, welche Energiebeiträge wir in das betrachtete System
einbeziehen. Im Schema I wird die Wechselwirkungsenergie −d(p1 ⋅ E1 ) bzw. −d(m1 ⋅ B1 )
zum System hinzugezählt. Die gesamte am System verrichtete Arbeit ist negativ. Sie setzt
sich aus der Arbeit, die benötigt wird, um das System im Nullfeld zu polarisieren bzw. zu
magnetisieren und der Wechselwirkungsenergie zusammen. Im Schema II wird dagegen die
Wechselwirkungsenergie nicht zum System gezählt. Sie wird dem externen Apparat zuge-
rechnet, der Arbeit am System verrichtet. Die am System verrichtete Arbeit entspricht der
Arbeit, die benötigt wird, um das System im Nullfeld zu polarisieren bzw. zu magnetisieren.
Sie ist positiv.

G.3 Freie Energie


Die freie Energie oder Helmholtz-Energie ℱ ist mit der inneren Energie 𝒰 über die Bezie-
hung

ℱ = 𝒰 − TS (G.3.1)

verknüpft. Im Spezialfall der reversiblen isothermen Expansion eines Gases entspricht die
Änderung der freien Energie gerade der vom Gas verrichteten Volumenarbeit. Für elektro-
magnetische Systeme ergeben sich mit (G.2.36) und (G.2.37) für das Differenzial die Aus-
drücke

dℱI = −SdT − pdV − p ⋅ dEext (G.3.2)

dℱI = −SdT − pdV − m ⋅ dBext . (G.3.3)

ℱI ist somit das thermodynamische Potenzial für die unabhängigen Variablen T, V und
Eext (Bext ) für dielektrische (magnetische) Systeme. Isotherm-isochore Zustände für Eext =
1002 G Thermodynamische Eigenschaften von Festkörpern

const (Bext = const) werden durch ein Minimum der freien Energie beschrieben. Für die
Temperatur-, Volumen- und Feldabhängigkeit von ℱI erhalten wir:

∂ℱI ∂ℱI
−( ) = S−( ) =p
∂T V ,E ext (B ext ) ∂V T,E ext (B ext )
(G.3.4)
∂ℱI ∂ℱI
−( ) = p−( ) =m.
∂E ext V ,T ∂B ext V ,T

Mit (G.2.38) und (G.2.39) erhalten wir dagegen

dℱII = −SdT − pdV + Eext ⋅ dp (G.3.5)

dℱII = −SdT − pdV + Bext ⋅ dm . (G.3.6)

Für ℱII ist neben T und V die unabhängige Variable jetzt p bzw. m. Isotherm-isochore
Zustände (dT = dV = 0) für p = const (m = const) werden durch ein Minimum der freien
Energie beschrieben.
Die Änderung der freien Energie bei isotherm-isochoren Prozessen entspricht gerade der
vom System verrichteten elektromagnetischen Arbeit. Im Schema I ist diese Arbeit für p (m)
parallel zu Eext (Bext ) negativ. Dies liegt daran, dass die Wechselwirkungsenergie −p ⋅ Eext
(−m ⋅ Bext ) negativ ist. Im Schema II ist diese Arbeit dagegen positiv, da hier nur die innere
Selbstenergie zum System gezählt wird.
In den meisten Fällen ist man nur an der nach Schema II verrichteten Arbeit interessiert, da
diese nur die für das Polarisieren bzw. Magnetisieren eines Materials verrichtete Arbeit und
nicht die Wechselwirkungsenergie enthält. Das Differenzial dℱII der freien Energie enthält
dann neben −pdV den Ausdruck Eext ⋅ dp bzw. Bext ⋅ dm. Da in Experimenten neben der
Temperatur aber meist der Druck und die externen Felder Eext bzw. Bext die relevanten Va-
riablen sind, stellt üblicherweise nicht die freie Energie, sondern die im nächsten Abschnitt
diskutierte freie Enthalpie das interessierende thermodynamische Potenzial dar.

G.4 Freie Enthalpie


In Experimenten in der Festkörperphysik ist es häufig schwierig, das Volumen konstant zu
halten bzw. es kontrolliert zu variieren, wogegen der Druck leicht über einen großen Be-
reich eingestellt werden kann. Deshalb verwendet man häufig anstelle der freien Energie die
Gibbs-Funktion oder freie Enthalpie 𝒢, damit man bei isobaren Prozessen die dabei auf-
tretende Volumenarbeit nicht berechnen muss. Bei der mit der Umgebung ausgetauschten
Energie müssen wir dann nur die Wärme und diejenigen Arbeiten berücksichtigen, die keine
Volumenarbeiten darstellen (z. B. elektrische und magnetische Arbeit).
Die freie Enthalpie ist mit der inneren Energie über die Beziehung

𝒢 = 𝒰 − T S + pV − ∑ F Z i ⋅ Z i (G.4.1)
i
G.4 Freie Enthalpie 1003

𝑚1 𝒎 𝑩ext

Δ𝐹∥
Δ𝐺∥

0
0 𝐵1 𝐵ext

Abb. G.4: Darstellung der Änderung der freien Energie ∆ℱII (rote Fläche) und des Betrags der freien
Enthalpie ⋃︀∆𝒢II ⋃︀ (blaue Fläche) bei reversibler Magnetisierung. Die Änderung der freien Enthalpie er-
halten wir zu ∆𝒢II = ∆ℱII − m 1 B 1 , das heißt, indem wir von der roten Fläche das schraffierte Rechteck
mit der Fläche m 1 B 1 abziehen. Da −m 1 B 1 gerade die Wechselwirkungsenergie zwischen m1 und B1
ist, unterscheiden sich ∆ℱII und ∆𝒢II also genau um die Wechselwirkungsenergie.

verknüpft und wir erhalten deshalb für ihr Differenzial


d𝒢 = d𝒰 − TdS − SdT + pdV + Vd p − ∑ F Z i ⋅ dZ i − ∑ Zi ⋅ dF Z i . (G.4.2)
i i

Mit den Beziehungen (G.2.36) und (G.2.37) erhalten wir daraus für Schema I8
d𝒢I = −SdT + Vd p − p ⋅ dEext (G.4.3)

d𝒢I = −SdT + Vd p − m ⋅ dBext . (G.4.4)


Mit den Beziehungen (G.2.38) und (G.2.39) erhalten wir für Schema II
d𝒢II = −SdT + Vd p − p ⋅ dEext (G.4.5)

d𝒢II = −SdT + Vd p − m ⋅ dBext . (G.4.6)


Wir sehen, dass die Ausdrücke für d𝒢I und d𝒢II gleich sind, da jetzt in beiden Fällen die
Wechselwirkungsenergie berücksichtigt wurde. Sowohl für d𝒢I als auch d𝒢II ist neben T
und p die unabhängige Variable Eext bzw. Bext . Dies entspricht den meisten experimentellen
Situationen. Isotherm-isobare Zustände (dT = d p = 0) für Eext = const (Bext = const) wer-
den durch ein Minimum der freien Enthalpie beschrieben. In Abb. G.4 sind die Änderun-
gen ∆𝒢II = − ∫0 1 m ⋅ dBext und ∆ℱII = − ∫0 1 Bext ⋅ dm, die mit einer reversiblen Magneti-
B m

sierungskurve zusammenhängen, grafisch dargestellt.


Für die Temperatur-, Druck- und Feldabhängigkeit von 𝒢I bzw. 𝒢II erhalten wir:
∂𝒢II ∂𝒢II
−( ) =S, ( ) =V,
∂T p,E ext (B ext ) ∂p T,E ext (B ext )
(G.4.7)
∂𝒢II ∂𝒢II
−( ) = p, −( ) =m.
∂E ext p,T ∂B ext p,T
8
Es gilt δWI = −p ⋅ dEext = −p ⋅ dEext − Eext ⋅ dp + Eext ⋅ dp = −d(p ⋅ Eext ) + Eext ⋅ dp. Wir sehen al-
so, dass wir das Differenzial der Wechselwirkungsenergie −d(p ⋅ Eext ) bereits bei der Berechnung
von δWI berücksichtigt haben. Wir dürfen diesen Beitrag natürlich nur einmal zählen und müssen
deshalb den Term −d(p ⋅ Eext ) im Differenzial der freien Enthalpie weglassen.
1004 G Thermodynamische Eigenschaften von Festkörpern

G.5 Verwendung der thermodynamischen


Potenziale
Um uns die Verwendung der thermodynamischen Potenziale klar zu machen, betrachten
wir einen Supraleiter im äußeren Feld Bext . Wir nehmen einen Entmagnetisierungsfaktor
N = 0 und T = 0 an, so dass wir Entmagnetisierungsfelder und den Beitrag T S zur freien
Energie oder Enthalpie vernachlässigen können. Für eine Probe mit Volumen Vs ist die freie
Energie im normalleitenden Zustand gegeben durch

ℱn = Vs fn + 1
B2 V
2µ 0 ext
. (G.5.1)

Hierbei ist fn die freie Energiedichte im Normalzustand bei Feld null und V = Vs + Va das
Gesamtvolumen, dass sich aus dem Probenvolumen Vs und dem Volumen Va außerhalb der
Probe zusammensetzt.
Im supraleitenden Zustand zeigt die Probe den Meißner-Effekt, so dass das Magnetfeld im
Inneren der Probe verschwindet. Für die freie Energie erhalten wir dann

ℱs = Vs fs + 1
B2 V
2µ 0 ext a
. (G.5.2)

Hierbei ist fs die freie Energiedichte im supraleitenden Zustand. Für die Differenz erhalten
wir

ℱn − ℱs = Vs (fn − fs ) + 1
B2 V
2µ 0 ext s
. (G.5.3)

Da fn − fs = 1
B2
2µ 0 cth
(vergleiche hierzu Abschnitt 13.2), erhalten wir für B ext = B cth

ℱn − ℱs ⋃︀B ext =B cth = 1 2


B V
µ 0 cth s
. (G.5.4)

Wir können dieses Ergebnis vor dem Hintergrund der Diskussion in den vorangegangenen
Abschnitten einfach verstehen. Da für einen Supraleiter M = −Hext gilt, können wir (G.5.4)
mit m = Vs M wie folgt umschreiben:

ℱn − ℱs ⋃︀B ext =B cth = −mcth ⋅ Bcth . (G.5.5)

Wir sehen also, dass die Änderung der freien Energie beim Übergang in den supraleiten-
den Zustand aus der Wechselwirkungsenergie des magnetischem Moments des Supraleiters
mit dem externen Feld resultiert. Da m antiparallel zu Bext steht, ist dieser Energiebeitrag
negativ. Er tritt auf, da wir die Arbeit nach Schema I berechnet haben (wir haben einen Su-
praleiter in das Feld einer Spule gebracht und ihn dort belassen), und wird natürlich von der
Magnetspule geliefert. Da wir beim Übergang vom supraleitenden zum normalleitenden Zu-
stand eine Flussänderung haben, resultiert eine Induktionsspannung in der Spule und das
Netzteil muss die Arbeit ∫ IVdt verrichten, um den Strom und damit das externe Feld kon-
stant zu halten. Wir sehen, dass sich die freie Energie gut für Situationen eignen würde, in
denen wir die Flussdichte B festhalten. Für den in Experimenten meist vorliegenden Fall ei-
nes vorgegebenen äußeren Magnetfeldes Bext gilt dies allerdings nicht. Um zu erreichen, dass
G.6 Spezifische Wärme 1005

im Phasengleichgewicht beim Übergang in den supraleitenden Zustand ℱn = ℱs gilt, hätten


wir das unschöne Problem, dass wir die von der an die Spule angeschlossenen Stromquelle
geleistete Arbeit berücksichtigen müssten.
Wir wollen im Folgenden zeigen, dass für den Fall eines von außen vorgegebenen Magnetfel-
des die freie Enthalpie 𝒢 = ℱ − m ⋅ Bext das geeignete thermodynamische Potenzial ist. Mit
m = MVs = −Hext Vs im supraleitenden und m = 0 im normalleitenden Zustand erhalten wir
𝒢n = Vs fn + 1
B2 V
2µ 0 ext s
+ 1
B2 V
2µ 0 ext a
(G.5.6)

und
𝒢s = Vs fs + 1
B2 V
2µ 0 ext a
+ 1 2
B V
µ 0 ext s
. (G.5.7)

Für die Differenz ergibt sich damit


𝒢n − 𝒢s = Vs (fn − fs ) − 1
B2 V
2µ 0 ext s
. (G.5.8)

Da fn − fs = 2µ1 0 B 2cth , folgt aus der Forderung 𝒢n = 𝒢s für das Phasengleichgewicht am Pha-
senübergang jetzt gerade B ext = B cth .
Das diskutierte Beispiel zeigt, dass es häufig einer subtilen Analyse bedarf, um das geeignete
thermodynamische Potenzial zur Beschreibung eines physikalischen Systems zu finden.

G.6 Spezifische Wärme


Eine weitere wichtige thermodynamische Größe, die im Experiment direkt zugänglich ist, ist
die Wärmekapazität C eines Stoffes. Sie ist diejenige Wärmemenge ∆Q, die benötigt wird, um
seine Temperatur um 1 K zu erhöhen, d. h. C ≡ ∆Q⇑∆T (vergleiche hierzu Abschnitt 6.1).
Die auf diese Weise definierte Wärmekapazität hängt natürlich von der Stoffmenge ab. Um
verschiedene Materialien vergleichen zu können, wird C meistens auf die Stoffmenge 1 mol
(molare Wärmekapazität c mol = C⇑mol) oder auf die Masse eines Stoffes (spezifische Wär-
mekapazität c mass = C⇑m) bezogen. Der Zusammenhang zwischen der Wärmekapazität und
der inneren Energie 𝒰 folgt aus dem 1. Hauptsatz der Thermodynamik:9
d𝒰 = δQ + δW . (G.6.1)
Hierbei ist d𝒰 die Änderung der inneren Energie, δQ die zugeführte Wärmemenge und δW
die am System geleistete Arbeit.
Halten wir das Volumen V und das elektrische (magnetische) Feld konstant, so erhalten wir
bei isochor-reversibler Prozessführung mit δQ rev = TdS
∂S ∂2 ℱ
CV = T ( ) = −T ( 2 ) (G.6.2)
∂T V ,E ext (B ext ) ∂T V ,E ext (B ext )
9
Man beachte, dass δQ und δW Prozessgrößen sind und keine Differentiale einer Zustandsgröße.
Wir benutzen deshalb δQ und δW anstelle von dQ und dW.
1006 G Thermodynamische Eigenschaften von Festkörpern

Halten wir den Druck p und das elektrische (magnetische) Feld konstant, so erhalten wir bei
isobar-reversibler Prozessführung mit δQ rev = TdS

∂S ∂2 𝒢
Cp = T ( ) = −T ( 2 ) (G.6.3)
∂T p,E ext (B ext ) ∂T p,E ext (B ext )

Literatur
H. B. Callen, Thermodynamics and an Introduction to Thermostatistics, John Wiley & Sons
(1985).
G. Carrington, Basic Thermodynamics, Oxford University Press, Oxford (1994).
C. Kittel, H. Krömer, Thermodynamik, R. Oldenbourg Verlag, München (2001).
F. Schwabl, Statistische Mechanik, Springer Verlag, Heidelberg (2000).
Christoph Strunk, Moderne Thermodynamik, Walter de Gruyter Verlag, Berlin (2015).
H Herleitungen zur Supraleitung

H.1 Madelung-Transformation
Die Darstellung einer quantenmechanischen Wellenfunktion als Amplitude ψ 0 (r, t) und
Phase θ(r, t) geht auf Erwin Madelung zurück.1 , 2 Er interpretierte die Schrödinger-Glei-
chung der linear unabhängigen Funktionen ψ und ψ ∗ als zwei hydrodynamische Gleichun-
gen, die eine „Wahrscheinlichkeitsflüsigkeit“ beschreiben. Das Einsetzen der Wellenfunk-
tion ψ = ψ 0 e ı θ in die Schrödinger-Gleichung wird deshalb als Madelung-Transformation
bezeichnet. Wendet man die Idee von Madelung auf das Konzept der makroskopischen Wel-
lenfunktion eines Supraleiters oder von Supraflüssigkeiten an, kann man für diese quanten-
hydrodynamische Gleichungen ableiten.
Wir gehen von einem geladenen Teilchen mit Ladung q und Masse m aus [vergleiche
(13.3.18)], das wir mit der Wellenfunktion Ψ(r, t) beschreiben. Die Schrödinger-Gleichung
lautet:
2
1 ħ ∂Ψ(r, t)
( ∇ − qA(r, t)) Ψ(r, t) + (︀qϕ(r, t) + µ(r, t)⌋︀Ψ(r, t) = ıħ .
2m ı ∂t
(H.1.1)
Hierbei ist qϕ(r, t) + µ(r, t) das elektrochemische Potenzial. Wir ersetzen nun die Wellen-
funktion Ψ(r, t) des Teilchens durch die makroskopische Wellenfunktion
ψ(r, t) = ψ 0 (r, t)e ı θ(r,t) (H.1.2)
des Supraleiters sowie q und m durch die Ladung q s und Masse m s der „supraleitenden“
Elektronen. Damit ergibt sich
2
1 ħ ∂ψ(r, t)
( ∇ − q s A(r, t)) ψ(r, t) +(︀q s ϕ(r, t) + µ(r, t)⌋︀ ψ(r, t) = ıħ .
2m s ı ∂t
)︁⌊︂⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ]︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂)︂ )︁⌊︂⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ]︂⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ )︂
II I
(H.1.3)
Unter Benutzung der Wirkung S(r, t) = ħθ(r, t) erhalten wir für die Teile I und II folgende
Ausdrücke:
∂ψ(r, t) ∂ψ 0 (r, t) ∂S(r, t) ı S(r,t)⇑ħ
I = ıħ = ⌊︀ıħ − ψ 0 (r, t) }︀ e (H.1.4)
∂t ∂t ∂t
1
E. Madelung, Eine anschauliche Deutung der Gleichung von Schrödinger, Naturwiss. 14, 1004 (1926).
2
E. Madelung, Quantentheorie in hydrodynamischer Form, Z. Phys. 40, 322 (1926).
1008 H Herleitungen zur Supraleitung

2
1 ħ
II = ( ∇ − q s A(r, t)) ψ(r, t)
2m s ı
⎨ ⎬
1 ⎝⎝ 2 2 ⎠
2 2⎠
= ⎝−ħ ∇ + ıħq s ∇ ⋅ A + ıħq s A ⋅ ∇ + q s A ⎠ ψ 0 (r, t)e ı S(r,t)⇑ħ (H.1.5)
2m s ⎝⎝)︁⌊︂⌊︂ ⌊︂ ]︂⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ )︂ )︁⌊︂⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ]︂⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ )︂ )︁⌊︂⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ]︂⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ )︂ ⧸︀⎠⎠
⎪ 1 2 3 4 ⎮

Die Auswertung von II erfordert etwas Aufwand. Die mit 1 bis 4 markierten Beiträge ergeben

ħ 2 ∇2
1=− ψ 0 e ı S⇑ħ
2m s
1
= )︀−ħ 2 ∇2 ψ 0 + ψ 0 (∇S)2 − 2ıħ∇ψ 0 (∇S) − ıħψ 0 ∇2 S⌈︀ e ı S⇑ħ (H.1.6)
2m s
1
2= ıħq s ψ 0 (∇ ⋅ A)e ı S⇑ħ + term 3 (H.1.7)
2m s
1
3= (︀ıħq s A ⋅ (∇ψ 0 ) − q s ψ 0 A(∇S)⌋︀ e ı S⇑ħ (H.1.8)
2m s
1
2+3= (︀ıħq s ψ 0 (∇ ⋅ A) + 2ıħq s A ⋅ (∇ψ 0 ) − 2q s ψ 0 A(∇S)⌋︀ e ı S⇑ħ (H.1.9)
2m s
1
4= q s ψ 0 A2 e ı S⇑ħ (H.1.10)
2m s
Summieren wir die verschiedenen Beiträge auf, so ergibt sich für den Teil II

⎨ ⎬
⎝ ⎠
⎝ (∇S − q A)2 ħ 2 ∇2 ⎠
⎝ ı ⎠
II = ⎝ψ 0 − ψ0 − (2ħ∇ψ 0 + ħψ 0 ∇)(∇S − q s A)⎠ e ı S⇑ħ
s
⎝ s )︁⌊︂⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ]︂⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ )︂⎠
⎝ 2m s 2m s 2m ⎠
⎝ ⎠
⎪ = ψħ ∇⋅)︀ψ 20 (∇S−q s A)⌈︀
0 ⎮
(∇S − q s A)2 ħ 2 ∇2 ħ ψ2
= ⌊︀ψ 0 − ψ0 − ı ∇ ⋅ ( 0 (∇S − q s A))}︀ e ı S⇑ħ
2m s 2m s 2ψ 0 ms
(H.1.11)

Wir setzen jetzt die Ergebnisse (H.1.11) für II und (H.1.4) für I in (H.1.3) ein und spalten
nach Real- und Imaginärteil auf. Für den Realteil erhalten wir

(∇S − q s A)2 ħ 2 ∇2 ∂S
⌊︀ψ 0 ( + q s ϕ + µ) − ψ 0 }︀ e ı S⇑ħ = −ψ 0 e ı S⇑ħ (H.1.12)
2m s 2m s ∂t
was wir in
∂S (∇S − q s A)2 ħ 2 ∇2 ψ 0
+ +q s ϕ + µ = (H.1.13)
∂t 2m s 2m s ψ 0
)︁⌊︂⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ]︂⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ )︂
= 12 m s v s2 = 2n1 s Λ J s2
H.1 Madelung-Transformation 1009

umschreiben können. Der zweite Term auf der linken Seite stellt dabei die kinetische Ener-
gie dar und die Summe aus zweitem bis viertem Term ist die Hamilton-Funktion H. Unter
Benutzung des London-Koeffizienten Λ = m s ⇑n s q 2s erhalten wir schließlich

∂θ(r, t) 1 ħ 2 ∇2 ψ 0 (r, t)
ħ + ΛJ s2 (r, t) + q s ϕ(r, t) + µ(r, t) = . (H.1.14)
∂t 2n s 2m s ψ 0 (r, t)

Wenn wir Terme der Ordnung ∇2 vernachlässigen, was immer dann zulässig ist, wenn die
betrachteten elektromagnetischen Potenziale langsam variieren, erhalten wir

∂θ(r, t) 1
ħ = −( ΛJ2 (r, t) + q s ϕ(r, t) + µ(r, t)) . (H.1.15)
∂t 2n s s

Dieser Ausdruck stellt eine Energie-Phasen-Beziehung dar, da in der Klammer auf der rech-
ten Seite die Summe aus kinetischer und potenzieller Energie steht.
Der Term auf der rechten Seite von (H.1.14) ist proportional zur räumlichen Variation der
Amplitude ψ 0 der makroskopischen Wellenfunktion, d.h. zu räumlichen Variationen der
Dichte der supraleitenden Elektronen. Er enthält ħ und deutet auf den quantenmechani-
schen Ursprung des Ausdruckes hin. Im quasi-klassischen Grenzfall (ħ 2 → 0) erhalten wir
die klassische Hamilton-Jacobi-Gleichung

∂S(r, t)
= −H(r, t) . (H.1.16)
∂t

Für den Imaginärteil erhalten wir

∂ψ 0 ı S⇑ħ ħ ψ2
ıħ e = −ı ∇ ⋅ ( 0 (∇S − q s A)) e ı S⇑ħ , (H.1.17)
∂t 2ψ 0 ms

was wir weiter in


∂ψ 02 ψ2
= −∇ ⋅ ( 0 (∇S − q s A)) (H.1.18)
∂t ms
⧸︀ )︁⌊︂⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂]︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ )︂
=∂n s ⇑∂t =n s v s =J ρ

umschreiben können. Da ⋃︀ψ 02 ⋃︀ = n s der Teilchendichte entspricht, erkennen wir sofort, dass
(H.1.18) die Form einer Kontinuitätsgleichung ∂n s ⇑∂t + ∇ ⋅ J ρ = 0 für die Teilchenstrom-
dichte J ρ hat. Multiplizieren wir J ρ mit q s , so erhalten wir die supraleitende Stromdichte

ħ qs
Js (r, t) = q s n s { ∇θ(r, t) − A(r, t) . (H.1.19)
ms ms

Dieser Ausdruck stellt eine Strom-Phasen-Beziehung dar. Die Energie-Phasen- und die
Strom-Phasen-Beziehung beinhalten die wesentliche Physik einer geladenen Supraflüssig-
keit.
1010 H Herleitungen zur Supraleitung

H.2 BCS Hamilton-Operator


Wir wollen im Folgenden den Hamilton-Operator (13.5.51), den wir in der Schreibweise
der 2. Quantisierung angegeben haben, ableiten. Die ortsabhängigen Wellenfunktionen der
Leitungselektronen können wir mit Wellenpaketen, die aus ebenen Wellen aufgebaut sind,
beschreiben. Wir führen nun die Feldoperatoren ein:

⧹︂σ (r) = ⌋︂1 ∑ ⧹︂


Ψ c kσ e ık⋅r ⧹︂
1 ⧹︂σ (r)e−ık⋅r dr
c kσ = ⌋︂ ∫ Ψ (H.2.1)
V k V
⧹︂ † (r) = ⌋︂1 ∑ ⧹︂
Ψ † −ık⋅r
c kσ e ⧹︂†
c kσ
1 ⧹︂ † (r)e ık⋅r dr .
= ⌋︂ ∫ Ψ (H.2.2)
σ σ
V k V
Die Feldoperatoren Ψ⧹︂σ (r) und Ψ
⧹︂ † (r) können wir als “zweite Quantisierungen” einer Wel-
σ
lenfunktion betrachten. Wir werden sehen, dass es sich dabei einfach um einen sehr beque-
men und hilfreichen Formalismus für die Beschreibung von Vielteilchensystemen handelt.
Die Ausdrücke auf der rechten Seite stellen jeweils die in den k-Raum transformierten Aus-
drücke dar.
Der Hamilton-Operator im Ortsraum stellt eine Summe über alle N Elektronen dar und
umfasst deren kinetische Energie, die potentielle Energie aufgrund externer Felder wie das
skalare Potenzial ϕ(r) und das Vektorpotenzial A(r) und einen Wechselwirkungsterm zwi-
schen den Elektronen, der zur Supraleitung führt:
N
ħ2 2 1 N
ℋBCS = ∑ ∑ (− ∇ i + Vext (r)) + ∑ ∑ V (r i − r j ) . (H.2.3)
σ i=1 2m 2 σ i, j=1

Hierbei umfasst Vext (r) die Beiträge der externen Felder und der Faktor 1⇑2 verhindert eine
Doppelzählung. Wir können nun die Feldoperatoren einsetzen. Dadurch geht die Summe
über alle N Teilchen in eine Summe über alle k über und eine Integration über den gesamten
Raum vervollständigt die Fourier-Transformation in den k-Raum:
2
⧹︂ † (r) (− ħ ∇2 + Vext (r)) Ψ
ℋBCS = ∫ Ψ ⧹︂σ (r)dr
σ
2m i
1 ′ ⧹︂ † ⧹︂ ⧹︂ † ′ ⧹︂ ′ ′
+ ∫ V (r − r )Ψ σ (r)Ψσ (r)Ψσ (r )Ψσ (r )drdr . (H.2.4)
2
Für die kinetische Energie erhalten wir
2 2 2
⧹︂ † (r) (− ħ ∇2 ) Ψ
⧹︂σ (r)dr = 1 ∑ ∑ ∫ ⧹︂ −ık′ ⋅r ħ k
𝒯 =∫ Ψ σ c †

k σ e ⧹︂
c kσ e ık⋅r dr
2m i V σ k,k′ 2m
(H.2.5)
ħ2 k 2 †
= ∑∑ ⧹︂
c ⧹︂
c kσ . (H.2.6)
σ k 2m kσ
Die anderen Terme können in ähnlicher Weise ausgewertet werden, so dass wir insgesamt
ℋBCS = ∑ є k ⧹︂†
c kσ ⧹︂
c kσ + ∑ Vq c k† 1 +q,σ1 c k† 2 −q,σ2 c k2 ,σ2 c k1 ,σ1 (H.2.7)
k,σ k 1 ,k 2 ,q,σ 1 ,σ 2
H.3 Grundzustandsenergie 1011

erhalten. Hierbei ist


1 ı(k−k′ )⋅r 1
V (q) = ∫ V (r)e dr = ∫ V (r)e ıq⋅r dr . (H.2.8)
V V
Der Wechselwirkungsterm kann vereinfacht werden, indem wir für die Cooper-Paare k1 = k
und k2 = −k sowie σ1 =↑ und σ2 =↓, also eine Spin-Singulett-Paarung annehmen:

ℋBCS = ∑ є k ⧹︂†
c kσ ⧹︂
c kσ + ∑ Vk,k′ c k↑
† †
c−k↓ c−k′ ↓ c k′ ↑ . (H.2.9)
k,σ k,k′

Hierbei steht Vk,k′ für V (k − k′ ) = V (q) mit q = k − k′ . Die kinetische Energie wir häufig
auf das chemische Potenzial µ bezogen, so dass in (H.2.9)

ξk = єk − µ , (H.2.10)

verwendet wird.

H.3 Grundzustandsenergie
Wir schätzen ab, um wie viel die Gesamtenergie des Elektronensystems im supraleitenden
relativ zum normalleitenden Zustand für T = 0 abgesenkt ist. Wir gehen dabei von (13.5.65)
aus und nutzen aus, dass der Beitrag ∑k E k )︀α k† α k − β †k β k ⌈︀ der Bogoliubov-Quasiteilchen
keinen Beitrag sowohl bei T = 0 (keine Quasiteilchen angeregt) als auch im Normalzustand
liefert. Für den supraleitenden Zustand bei T = 0 erhalten wir

∐︀ℋBCS ̃︀ = ∑ (ξ k − E k + g k† ∆ k ) . (H.3.1)
k
⌈︂
Im Grenzfall ∆ k → 0 erhalten wir mit E k = ξ k2 + ∆2k ≃ ⋃︀ξ k ⋃︀ für den Normalzustand

∐︀ℋn ̃︀ = lim ∐︀ℋBCS ̃︀ = ∑ ξ k − ⋃︀ξ k ⋃︀ = 2 ∑ ξ k . (H.3.2)


∆→0
k ⋃︀k⋃︀<k F

Hierbei haben wir ausgenutzt, dass ⋃︀ξ k ⋃︀ = −ξ k für ⋃︀k⋃︀ ≤ k F (Teilchen-Loch-Symmetrie). Für
die Absenkung der Grundzustandsenergie im supraleitenden Zustand für T = 0 erhalten wir

∆E = ∐︀ℋBCS ̃︀ − ∐︀ℋn ̃︀
= ∑ (ξ k − E k + g k† ∆ k ) − 2ξ k + ∑ (ξ k − E k + g k† ∆ k ) . (H.3.3)
⋃︀k⋃︀<k F ⋃︀k⋃︀≥k F

⌈︂ wir wiederum die Teilchen-Loch-Symmetrie, ⋃︀ξ k ⋃︀ = −ξ k für ⋃︀k⋃︀ ≤ k F , und


Benutzen
E k = ξ k2 + ⋃︀∆ k ⋃︀2 , so erhalten wir
⌉︂
∆E = 2 ∑ (ξ k − ξ k2 + ∆2k + g k† ∆ k ) . (H.3.4)
⋃︀k⋃︀>k F
1012 H Herleitungen zur Supraleitung

Den letzten Term in der runden Klammer können wir umformen, indem wir g k† = u k v k⋆ und
∆k uk
v⋆
= ξ k + E k benutzen. Damit erhalten wir
k

∆ k u k v k⋆ 1 ξk ⋃︀∆ k ⋃︀2
g k† ∆ k = v k⋆ = (ξ k − E k ) ( − )=
2
v k⋆ 2 2 2E k 2E k
⋃︀∆ k ⋃︀2
= ⌈︂ (H.3.5)
2 ξ k2 + ⋃︀∆ k ⋃︀2
und durch Einsetzen in (H.3.4) schließlich
⎨ ⌉︂ ⋃︀∆ k ⋃︀2 ⎬
⎝ ⎠
∆E = 2 ∑ ⎝ ξ k − ξ k2 + ⋃︀∆ k ⋃︀2 + ⌈︂ ⎠. (H.3.6)
⎝ 2 + ⋃︀∆ ⋃︀2 ⎠
⋃︀k⋃︀>k F ⎪ 2 ξ k k ⎮

Um die Diskussion einfach zu halten, benutzen wir im Folgenden ⋃︀∆ k ⋃︀ = ∆. Wir können nun
unter Verwendung der Zustandsdichte für eine Spin-Richtung D(0)⇑2 = D(E F )⇑2 (bei der
Summation wird nicht über die Spin-Projektionen aufsummiert) die Summation in eine In-
tegration überführen. Mit der Substitution x = ξ k ⇑∆ erhalten wir
z
⌋︂ 1
∆E = D(E F )∆ ∫ dx ⌊︀x − 2
x 2 + 1 + ⌋︂ }︀ . (H.3.7)
0
2 x2 + 1

⌋︂ ist z = ħω
Hierbei D ⇑∆
⌋︂ die durch die−1 ⌋︂
Debye-Energie bestimmte obere Integrationsgrenze. Mit
−1 −1
∫ dx x + 1 = 2 (x x + 1 + sinh x) sowie ∫ dx(2 x + 1) = 2 sinh x erhalten wir
2 1 2 2 1

1 1 ⌋︂ 1
∆E = D(E F )∆2 ]︀ z 2 − (z z 2 + 1 − sinh−1 z) + sinh−1 z{︀ . (H.3.8)
2 2 2
⌈︂
Da z = ħω D ⇑∆ ≫ 1 können wir 1 + 1⇑z 2 ≃ 1 + 1⇑2z 2 verwenden und erhalten
1 1 1
∆E = D(E F )∆2 ]︀z 2 − z 2 (1 + 2 ){︀ = − D(E F )∆2 . (H.3.9)
2 2z 4
Wir erhalten also die Kondensationsenergie bei T = 0 zu

1
E Kond (0) = ∐︀ℋBCS ̃︀ − ∐︀ℋn ̃︀ = − D(E F )∆2 (0) . (H.3.10)
4

H.4 Josephson-Gleichungen
Um die Josephson-Gleichungen für einen Supraleiter/Isolator/Supraleiter (SIS) Kontakt her-
zuleiten, benutzen wir die zeitabhängige Schrödinger-Gleichung
∂ψ(r, t)
ıħ = Eψ(r, t) . (H.4.1)
∂t
H.4 Josephson-Gleichungen 1013

und beschreiben die beiden Supraleiter 1 und 2, welche die Elektroden eines Josephson-
Kontakts bilden, mit den makroskopischen Wellenfunktionen

ψ 1 (r, t) = ψ 0,1 (r)e ı θ 1 (r,t) , ψ 2 (r, t) = ψ 0,2 (r)e ı θ 2 (r,t) . (H.4.2)

Hierbei sind ⋃︀ψ 0,1 ⋃︀2 = n s1 und ⋃︀ψ 0,2 ⋃︀2 = n s2 die Dichten der gepaarten Elektronen in den bei-
den Supraleitern, die wir als zeitunabhängig annehmen. Aufgrund der endlichen Kopplung
zwischen den beiden Wellenfunktionen ändert sich die Wellenfunktion ψ 1 (r, t) mit einer
Rate, die proportional zur Kopplungsstärke K 12 zu Supraleiter 2 ist. Umgekehrt gilt das glei-
che für die Wellenfunktion ψ 2 (r, t). Falls die Kopplungsstärke der beiden Supraleiter klein
gegenüber den stationären Energieeigenwerten E 1 und E 2 der beiden Supraleiter ist, können
wir das gekoppelte System analog zu zwei schwach gekoppelten harmonischen Oszillatoren
beschreiben. Die gekoppelten Schrödinger-Gleichungen lauten

∂ψ 1 (r, t)
ıħ = E 1 ψ 1 (r, t) + K 12 ψ 2 (r, t) = e∆ϕψ 1 (r, t) + K 12 ψ 2 (r, t) (H.4.3)
∂t
∂ψ 2 (r, t)
ıħ = E 2 ψ 2 (r, t) + K 21 ψ 1 (r, t) = −e∆ϕψ 2 (r, t) + K 21 ψ 1 (r, t) . (H.4.4)
∂t
Hierbei haben wir angenommen, dass der Energieunterschied E 1 − E 2 = q s ∆ϕ = 2e∆ϕ
durch die Potenzialdifferenz ∆ϕ bestimmt wird und wir haben den Energienullpunkt
symmetrisch zwischen E 1 und E 2 gelegt. Setzen wir die Wellenfunktionen (H.4.2) ein
(dies entspricht wiederum einer Madelung-Transformation) und spalten nach Real- und
Imaginärteil auf, so erhalten wir für den Imaginärteil
}︂
∂θ 1 K n s2 e∆ϕ
=− cos φ − (H.4.5)
∂t ħ n s1 ħ
}︂
∂θ 2 K n s1 e∆ϕ
=− cos φ + . (H.4.6)
∂t ħ n s2 ħ

Hierbei haben wir K 12 = K 21 = K angenommen und die Phasendifferenz φ = θ 2 − θ 1 ver-


wendet. Wir sehen, dass die zeitliche Variation der Phasen θ 1 und θ 2 durch die Potenzial-
differenz ∆ϕ und die Phasendifferenz φ bestimmt wird. Für den Realteil ergibt sich

∂n s1 2K ⌋︂
=+ n s1 n s2 sin φ (H.4.7)
∂t ħ
∂n s2 2K ⌋︂
=− n s1 n s2 sin φ . (H.4.8)
∂t ħ
Aus (H.4.7) und (H.4.8) folgt ∂n∂ts1 = − ∂n∂ts2 . Diese Beziehung bedeutet nichts anderes als die
Erhaltung der Teilchendichte: Alle Teilchen, die aus Supraleiter 1 herausfließen, müssen in
Supraleiter 2 hineinfließen und umgekehrt. Multiplizieren wir ∂n∂ts1 bzw. ∂n∂ts2 mit der Ladung
q s = −2e der supraleitenden Elektronen und teilen durch die Kontaktfläche A, so erhalten
wir die von 1 nach 2 bzw. die von 2 nach 1 fließende (technische) Josephson-Stromdichte:
2e ∂n s1 2e ∂n s2
J s1→2 = , J s2→1 = . (H.4.9)
A ∂t A ∂t
1014 H Herleitungen zur Supraleitung

Setzen wir (H.4.7) und (H.4.8) ein, so erhalten wir die als Strom-Phasen-Beziehung bezeich-
nete erste Josephson-Gleichung zu

4eK ⌋︂
Js = n s1 n s2 sin φ = J c sin φ . (H.4.10)
ħA

Die Größe der kritischen Stromdichte J c hängt wie erwartet von der Kopplungsstärke K
und den Cooper-Paardichten der beiden Supraleiter ab. Für SIS-Kontakte aus zwei gleichen
Supraleitern gilt3

π∆(T) ∆(T)
J c (T) = tanh ( ), (H.4.11)
2eR n A kB T

wobei R n A das Produkt aus Normalwiderstand und Fläche des Josephson-Kontakts ist. Für
T → 0 erhalten wir I c R n = π∆(0)⇑2e, das heißt, das Produkt aus kritischem Strom und Nor-
malwiderstand wird durch die Energielücke des Supraleiters bestimmt.
Wir benutzen nun die Zeitableitung der eichinvarianten Phasendifferenz [vergleiche
(13.6.8)]
2
∂φ ∂θ 2 ∂θ 1 2e ∂
= − − ∫ A(r, t) ⋅ dl (H.4.12)
∂t ∂t ∂t ħ ∂t
1

und setzen die Zeitableitungen der Phasen entsprechend (H.4.5) und (H.4.6) ein. Wir schrei-
ben noch die Potenzialdifferenz ∆ϕ als Linienintegral des Potentialsgradienten und erhalten
damit für n s1 = n s2
2
∂φ 2e∆ϕ 2e ∂
= − ∫ A(r, t) ⋅ dl
∂t ħ ħ ∂t
1
2
2e ∂A
= ∫ (−∇ϕ − ) ⋅ dl . (H.4.13)
ħ ∂t
1
)︁⌊︂⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ]︂⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ ⌊︂ )︂
=U

Hierbei entspricht U dem Spannungsabfall über den Kontakt. Die deshalb als Spannung-
Phasen-Beziehung bezeichnete zweite Josephson-Gleichung lautet also

∂φ 2eU
= . (H.4.14)
∂t ħ

3
V. Ambegaokar, A. Baratoff, Tunneling Between Superconductors, Phys. Rev. Lett. 10, 486-489
(1963).
I SI-Einheiten
Das aus dem metrischen System weiterentwickelte Internationale Einheitensystem SI (Sys-
tème Internationale d’Unités) enthält als die 7 Basiseinheiten Meter (m), Kilogramm (kg),
Sekunde (s), Ampère (A), Kelvin (K), Candela (Cd) und Mol (mol). Hinzu kommen die beiden
ergänzenden Einheiten Radiant und Steradiant. Seit dem 01. 01. 1978 ist in der Bundesrepu-
blik Deutschland die Verwendung des SI-Einheitensystems im amtlichen und geschäftlichen
Verkehr gesetzlich vorgeschrieben.
Abgeleitete SI-Einheiten werden durch Multiplikation und Division aus den SI-Basis-
einheiten, immer mit dem Faktor 1 (kohärent), gebildet. Für viele abgeleitete SI-Einheiten
wurden besondere Namen und Einheitenzeichen festgelegt, z. B. Newton (N) für die Einheit
der Kraft und Volt (V) für die der elektrischen Spannung.
Das SI ist weltweit von der internationalen und nationalen Normung übernommen wor-
den (z. B. ISO 1000, DIN 1301). In den EU-Mitgliedstaaten ist es die Grundlage für die
Richtlinie über Einheiten im Messwesen (EU-Richtlinien 80/181 und 89/617). Ausführli-
che Informationen zum SI Einheitensystem findet man bei der Physikalisch-Technischen
Bundesanstalt unter http://www.ptb.de oder dem National Institut of Standards unter
http://www.physics.nist.gov.

I.1 Geschichte des SI-Systems


Bis kurz vorm Mars war noch alles in Ordnung. Doch dann passierte das Unglück: Statt ei-
ne stabile Umlaufbahn einzunehmen, kam der Mars Climate Orbiter dem roten Planeten
zu nahe und verglühte in seiner Atmosphäre. Das war im September 1999. Sofort begann
eine fieberhafte Suche nach der Ursache für den Fehler. Das Ergebnis war kaum zu glauben:
Die beiden NASA-Kontrollzentren in Denver und Pasadena hatten mit unterschiedlichen
Maßeinheiten gerechnet: das eine Team in Metern und Kilogramm, das andere in Foot und
Pound – über ein Jahrhundert, nachdem sich die USA und 16 andere Staaten darauf geeinigt
hatten, künftig nur noch das metrische System zu verwenden – und 40 Jahre, nachdem na-
hezu weltweit die (auf dem metrischen System beruhenden) SI-Einheiten eingeführt waren.
Ein peinlicher Vorfall – und ein eindrucksvolles Beispiel dafür, wie wichtig es ist, dass alle
mit dem gleichem Maß messen. Für alle Welt, für alle Völker – dieses Motto wurde zur Zeit
der Französischen Revolution geprägt, als in Frankreich die neue Längeneinheit Meter ent-
stand. Das neue Maß wurde zur Grundlage des internationalen metrischen, dezimalen Maß-
systems, das ein großes Durcheinander bei den Maßeinheiten beendete. Über die Einhaltung
und Weiterentwicklung des metrischen Systems wachen die Organe der Meterkonvention.
1016 I SI-Einheiten

Ihr ausführendes Organ, die Generalkonferenz für Maß und Gewicht, tagte zum ersten Mal
im Jahr 1889. Sie genehmigte Prototype für das Meter und das Kilogramm und verteilte sie
an die Mitgliedstaaten. Auf den folgenden Treffen ging es vor allem um ein Ziel: ein neues in-
ternationales Einheitensystem zu schaffen. 1948 verabschiedete die 9. Generalkonferenz für
Maß und Gewicht einen Entwurf für ein solches Einheitensystem, das zunächst auf sechs Ba-
siseinheiten beruhte. Alle anderen Einheiten sind mit diesen Basiseinheiten ausschließlich
über Multiplikation und Division verbunden. Der große Vorteil dieses Systems: Sämtliche
Umrechnungsfaktoren fielen weg.
Die 10. Generalkonferenz für Maß und Gewicht im Jahr 1954 nahm die sechs Basisein-
heiten offiziell an: Länge (Meter), Masse (Kilogramm), Zeit (Sekunde), elektrische Strom-
stärke (Ampère), thermodynamische Temperatur (Kelvin) und Lichtstärke (Candela). Eine
siebte Basiseinheit, die der Stoffmenge (Mol), kam erst 1973 dazu. Sie wird heute üblicher-
weise an sechster Stelle genannt. Diese Änderung der historisch gewachsenen Reihenfolge
hat das Internationale Büro für Maß und Gewicht (Bureau International des Poids et Me-
sures, BIPM) veranlasst, um auszudrücken, dass die Entwicklung in der Optik möglicher-
weise zu einer Diskussion über die Candela als Basiseinheit führen wird.
Im Jahr 1960 bekam das neue System seinen Namen: Système International d’Unités, ab-
gekürzt SI. Die 11. Generalkonferenz für Maß und Gewicht im Jahr 1960 vereinbarte, dass
diese Abkürzung in allen Sprachen zu verwenden ist, und verabschiedete Vorsätze zur Be-
zeichnung der dezimalen Vielfache und Teile von Einheiten. In Deutschland wurde das neue
System mit dem Gesetz über Einheiten im Messwesen (Einheitengesetz) vom 2. Juli 1969 und
der Ausführungsverordnung zu dem Gesetz vom 5. Juli 1970 eingeführt. Seit dem 1. Januar
1978 sind die alten Einheiten in Deutschland verboten.

I.2 Die SI-Basiseinheiten


Größe Abkürzung Name Symbol Definition
Länge l Meter m Das Meter ist die Länge der Strecke, die Licht im Vakuum wäh-
rend der Dauer von (1⇑299 792 458) Sekunden durchläuft.
Masse m Kilogramm kg Das Kilogramm ist die Einheit der Masse; es ist gleich der
Masse des Internationalen Kilogrammprototyps (Ur-Kilo-
gramm, 1889).
Zeit t Sekunde s Die Sekunde ist das 9 192 631 770-fache der Periodendauer
der dem Übergang zwischen den beiden Hyperfeinstruktur-
niveaus des Grundzustandes von Atomen des Nuklids 133 Cs
entsprechenden Strahlung.
elektrische I Ampère A Das Ampere ist die Stärke eines konstanten elektrischen Stro-
Stromstärke mes, der, durch zwei parallele, geradlinige, unendlich lange
und im Vakuum im Abstand von einem Meter voneinander
angeordnete Leiter von vernachlässigbar kleinem, kreisför-
migem Querschnitt fließend, zwischen diesen Leitern je ei-
nem Meter Leiterlänge die Kraft 2 × 10−7 Newton hervorrufen
würde.
Fortsetzung auf nächster Seite
I.2 Die SI-Basiseinheiten 1017

Fortsetzung von letzter Seite


Größe Abkürzung Name Symbol Definition
Temperatur T Kelvin K Das Kelvin, die Einheit der thermodynamischen Temperatur,
ist der 273.16-te Teil der thermodynamischen Temperatur des
Tripelpunktes des Wassers.
Lichtstärke J Candela cd Die Candela ist die Lichtstärke in einer bestimmten Richtung
einer Strahlungsquelle, die monochromatische Strahlung der
Frequenz 540 × 1012 Hertz aussendet und deren Strahlstärke
in dieser Richtung (1⇑683) Watt durch Steradiant beträgt.
Stoffmenge n Mol mol Das Mol ist die Stoffmenge eines Systems, das aus ebenso-
viel Einzelteilchen besteht, wie Atome in 0.012 Kilogramm des
Kohlenstoffnuklids 12 C enthalten sind. Bei Benutzung des Mol
müssen die Einzelteilchen spezifiziert sein und können Ato-
me, Moleküle, Ionen, Elektronen sowie andere Teilchen oder
Gruppen solcher Teilchen genau angegebener Zusammenset-
zung sein.
ergänzende SI Einheiten:
ebener ϑ Radiant rad
Winkel
Raumwinkel Ω Steradiant sr

I.2.1 Einige von den SI-Einheiten abgeleitete Einheiten


Größe Abkürzung Name Symbol SI-Einheit
Frequenz ν Hertz Hz s−1
Kreisfrequenz ω Radiant/Sekunde s−1
Geschwindigkeit v Meter/Sekunde ms−1
Beschleunigung a Meter/Sekunde 2
ms−2
Winkelgeschwindigkeit ω Radiant⇑Sekunde s−1
Winkelbeschleunigung α Radiant⇑Sekunde 2
s−2
Kraft F Newton N
Energie E Joule J m2 kg s−2
Leistung P Watt W m2 kg s−3
Druck p Pascal Pa kg m−1 s−2
Ladung Q Coulomb C As
Spannung (Potenzial) U Volt V m2 kg s−3 A−1
elektrische Feldstärke E Volt⇑Meter V⇑m m kg s−3 A−1
elektrische Polarisation P Coulomb⇑Meter C⇑m A s m−1
elektrische Flussdichte D Coulomb⇑Meter 2
C⇑m 2
A s m−2
elektrischer Widerstand R Ohm Ω m2 kg s−3 A−2
elektrische Leitfähigkeit σ Siemens⇑Meter S⇑m m−3 kg−1 s3 A2
magnetische Flussdichte B Tesla T = V s⇑m 2
kg s−2 A−1
magnetische Feldstärke H Ampère⇑Meter A⇑m
magnetischer Fluss Φ Weber Wb = V s m2 kg s−2 A−1
Selbstinduktion L Henry H = V s⇑A m2 kg s−2 A−2
Wärmekapazität C Joule⇑Kelvin J⇑K m2 kg s−2 K−1
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1018 I SI-Einheiten

Fortsetzung von letzter Seite


Größe Abkürzung Name Symbol SI-Einheit
Entropie S Joule⇑Kelvin J⇑K m2 kg s−2 K−1
Enthalpie J Joule J m2 kg s−2
Wärmeleitfähigkeit λ Watt⇑Meter Kelvin W⇑m K m kg s−3 K−1

I.3 Vorsätze
Faktor Bezeichnung Abkürzung Faktor Bezeichnung Abkürzung
1024 Yotta Y 10−1 Dezi d
1021 Zetta Z 10−2 Zenti c
1018 Exa E 10−3 Milli m
1015 Peta P 10−6 Mikro µ
12 −9
10 Tera T 10 Nano n
109 Giga G 10−12 Pico p
106 Mega M 10−15 Femto f
103 Kilo k 10−18 Atto a
102 Hekto h 10−21 Zepto z
101 Deka da 10−24 Yokto y

I.4 Abgeleitete Einheiten


und Umrechnungsfaktoren
In der Bundesrepublik Deutschland ist das Gesetz über Einheiten im Messwesen die Rechts-
grundlage für die Angabe physikalischer Größen in gesetzlichen Einheiten. Es verpflichtet
zu ihrer Verwendung im geschäftlichen und amtlichen Verkehr. Die gesetzlichen Einheiten
sind in den folgenden Tabellen blau geschrieben. Die Ausführungsverordnung zum Gesetz
über Einheiten im Messwesen (Einheitenverordnung) verweist auf die Norm DIN 1301.

I.4.1 Länge, Fläche, Volumen


Einheit Abkürzung Umrechnung
Ångström Å 1 Å = 10−10 m
Astronomische Einheit AE 1 AE = 1.4960 × 1011 m
Fermi fm 1 fm = 10−15 m
inch inch 1 inch = 0.254 m
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I.4 Abgeleitete Einheiten und Umrechnungsfaktoren 1019

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Einheit Abkürzung Umrechnung
foot ft 1 ft = 0.3038 m
yard yd 1 yard = 0.9144 m
mile mile 1 mile = 1609 m
Lichtjahr Lj 1 Lj = 9.46 × 1015 m
Parsekunde pc 1 pc = 30.857 × 1015 m
Ar a 1 a = 100 m2
Hektar ha 1 ha = 104 m2
barn b 1 b = 10−28 m2
Liter l 1 l = 10−3 m3
gallon gal (US) 1 gal = 3.7851 × 10−3 m3
barrel bbl 1 bbl = 158.988 × 10−3 m3

I.4.2 Masse
Einheit Abkürzung Umrechnung
atomare Masseneinheit u 1 u = 1.660 565 5 × 10−27 kg
Tonne t 1 t = 1000 kg
metrisches Karat 1 Karat = 2 × 10−4 kg
pound lb 1 lb = 0.4536 kg
ounce oz 1 oz = 1⇑16 lb = 0.02835 kg

I.4.3 Zeit, Frequenz


Einheit Abkürzung Umrechnung
Tag d 1 d = 86400 s
Stunde h 1 h = 3600 s
Minute min 1 min = 60 s
Jahr (tropisches) a 1 a = 365.24 d = 3.156 × 107 s
Hertz Hz 1 Hz = 1 s−1

I.4.4 Temperatur
Einheit Abkürzung Umrechnung
Grad Celsius ○
C T(○ C) = T(K) − 273.15 (K)
Grad Fahrenheit ○
F T(○ F) = 9
5
T(○ C) + 32
1020 I SI-Einheiten

I.4.5 Winkel
Einheit Abkürzung Umrechnung
Radiant rad 1 rad = 1 m⇑m
Grad ○
1 ○ = (2π⇑360) rad = 1.745 × 10−2 rad
Winkelminute ′ 1′ = 2.91 × 10−4 rad
Winkelsekunde ′′ 1′′ = 4.85 × 10−6 rad
Neugrad gon 1 gon = 2π⇑400 rad
Steradiant sr 1 sr = 1 m2 ⇑m2

I.4.6 Kraft, Druck, Viskosität


Einheit Abkürzung Umrechnung
Newton N 1 N = 1 kg m⇑s2
Dyn dyn 1 dyn = 10−5 N = 1 g cm⇑s2
Kilopond kp 1 kp = 1 kg ⋅ g = 9.8067 N
Pascal Pa 1 Pa = 1 N⇑m2 = 1 kg⇑ms2
Bar bar 1 bar = 105 Pa
Atmosphäre (physikalisch) atm 1 atm = 101 325 Pa
Atmosphäre (technisch) at 1 at = 98 066 Pa
Torr, mmHg Torr 1 Torr = 1 mmHg = 133.322 Pa
Poise P 1 P = 0.1 Pa s
psi lb/in2 1 psi = 6895.0 Pa s

I.4.7 Energie, Leistung, Wärmemenge


Einheit Abkürzung Umrechnung
Joule J 1 J = 1 N m = 1 kgm2 ⇑s2
Kilowattstunde kWh 1 kWh = 3.6 × 106 J = 860 kcal
Kalorie cal 1 cal = 4.187 J
Erg erg 1 erg = 1 g cm2 ⇑s2 = 10−7 1 kg m2 ⇑s2 == 10−7 J
Elektronenvolt eV 1 eV = 1.6022 × 10−19 J
1 eV entspricht 11 604 K (E = k B T)
1 eV entspricht 2.4180 × 1014 Hz (E = hν)
Watt W 1 W = 1 J⇑s = 1 kg m2 ⇑s3
Pferdestärke PS 1 PS = 735.6 W
I.4 Abgeleitete Einheiten und Umrechnungsfaktoren 1021

I.4.8 Elektromagnetische Einheiten


Einheit Abkürzung Umrechnung
Coulomb C 1C = 1As
Volt V 1 V = 1 J⇑A s = 1 kg m2 ⇑A s3
Farad F 1 F = 1 C⇑V = 1 A2 s4 ⇑kg m2
Ohm Ω 1 Ω = 1 V⇑A = 1 kg m2 ⇑A2 s3
Siemens S 1 S = 1⇑Ω
Tesla T 1 T = 1 V s⇑m2 = 1 kg⇑A s2
Gauß G 1 G = 10−4 T
Oersted Oe 1 Oe = (103 ⇑4π) A⇑m, entspricht 1 G (B = µ 0 H)
Henry H 1 H = 1 V s⇑A = 1 m2 kg⇑A2 s2
Weber Wb 1 Wb = 1 V s = 1 m2 kg⇑A s2
Maxwell M 1 M = 10−8 Wb
J Physikalische Konstanten
Fundamentalkonstanten treten im Netz der physikalischen Theorien als quantitative Ver-
knüpfungsparameter dieser Theorien auf. So ist beispielsweise die Theorie der Hohlraum-
strahlung über die Planck-Konstante h mit der Quantentheorie sowie über die Vakuum-
Lichtgeschwindigkeit mit der Elektrodynamik und über die Boltzmann-Konstante k B mit
der Statistischen Mechanik verknüpft. Die Konstanten werden durch die Theorien nicht fest-
gelegt, sie sind vielmehr experimentell so genau wie überhaupt nur möglich zu ermitteln.
Denn die quantitativen Aussagen der Theorien können nur so genau sein, wie die Konstan-
ten bekannt sind. Die möglichst genaue Kenntnis der Fundamentalkonstanten setzt aber ei-
ne möglichst genaue experimentelle Darstellung der im Internationales Einheitensystem (SI)
definierten physikalischen Einheiten voraus. Dieser Sachverhalt bindet die Ermittlung der
Werte der Fundamentalkonstanten eng an die Metrologie, die Wissenschaft vom genauen
Messen, deren vornehmste und wichtigste Aufgabe die bestmögliche experimentelle Reali-
sierung der definierten Einheiten ist.
Umgekehrt aber sind die Fundamentalkonstanten deshalb von besonderem Interesse für die
Metrologie, weil sie selbst als ideale Einheiten dienen oder die ideale Basis für Einheiten
bilden können. Schon heute werden sie zur Darstellung der SI-Einheiten herangezogen. Ex-
perimente zur Bestimmung einer Fundamentalkonstanten werden häufig direkt an metrolo-
gischen Instituten wie der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt oder zumindest in enger
Zusammenarbeit mit solchen Instituten ausgeführt.
Die Task Group on Fundamental Constants des Committee on Data for Science and Technolo-
gy (CODATA) des International Council of Scientific Unions (ICSU) erstellt in regelmäßigen
Abständen einen neuen Satz von Fundamentalkonstanten und empfiehlt ihn zur einheitli-
chen Verwendung in Wissenschaft und Technik. Dessen Werte sind das Ergebnis einer mul-
tivariaten Ausgleichsrechnung und beruhen auf jeweils aktuellen Daten. Zur Zeit ist geplant,
regelmäßig alle vier Jahre eine neue Ausgleichsrechnung unter Hinzuziehung neuer Daten
vorzunehmen. Eine Auswahl der wichtigsten Fundamentalkonstanten sind in der folgenden
Tabelle zusammengefasst (Quelle: Peter J. Mohr, David B. Newell, and Barry N. Taylor, CO-
DATA recommended values of the fundamental physical constants: 2014, Reviews of Modern
Physics 88, 035009 (2016)).
1024 J Physikalische Konstanten

Physikalische Konstante Symbol Wert Einheit rel. Fehler


universelle Konstanten
Lichtgeschwindigkeit c 299 792 458 m⇑s exakt
Plancksche Konstante h 6.626 070 040(81) × 10−34 Js 1.2 × 10−8
h⇑2π ħ 1.054 571 800(13) × 10−34 Js 1.2 × 10−8
6.582 119 514(40) × 10−16 eV s 6.1 × 10−9
Gravitationskonstante G 6.674 08(31) × 10−11 m3 ⇑ kg s2 4.7 × 10−5
Induktionskonstante, magnetische Feld- µ0 4π × 10 −7
N⇑A2 exakt
konstante
Influenzkonstante, elektrische є0 8.854 187 817 . . . × 10−12 F⇑m exakt
Feldkonstante, 1⇑µ 0 c 2 1⇑4πє 0 8.987 551 . . . × 109 N m2 ⇑C2 exakt
Vakuumimpedanz 1⇑µ 0 c 2
⌈︂
Z0 376.730 313 461 . . . Ω exakt
Planck-Masse ħc⇑G mP 2.176 470(51) × 10−8 kg 2.3 × 10−5
elektromagnetische Konstanten
Elementarladung e 1.602 176 6208(98)) × C 6.1 × 10−9
10−19
Magnetisches Flussquant h⇑2e Φ0 2.067 833 831(13) × 10−15 Vs 6.1 × 10−9
von Klitzing Konstante h⇑e 2 = µ 0 c⇑2α RK 25 812.807 4555(59) Ω 2.3 × 10−10
Leitfähigkeitsquant 2e ⇑h
2
G0 7.748 091 7310(18) × 10 −5
S 2.3 × 10−10
inverses Leitfähigkeitsquant h⇑2e 2
G 0−1 12 906.403 7278(29) Ω 2.3 × 10−10
Josephson-Konstante 2e⇑h KJ 483 597.8525(30) GHz⇑V 6.1 × 10−9
Bohrsches Magneton eħ⇑2m e µB 927.400 9994(57) × 10 −26
J⇑T 6.2 × 10−9
5.788 381 8012(26) × 10−5 eV⇑T 4.5 × 10−10
13.996 245 042(86) × 109 Hz⇑T 6.2 × 10−9
0.671 714 05(39) K⇑T 5.7 × 10−7
Kernmagneton eħ⇑2m p µK 5.050 783 699(31) × 10−27 J⇑T 6.2 × 10−9
3.152 451 2550(15) × 10−8 eV⇑T 4.6 × 10−10
7.622 593 285(47) × 106 Hz⇑T 6.2 × 10−9
3.658 2690(21) × 10−4 K⇑T 5.7 × 10−7
atomare und nukleare Konstanten
Feinstrukturkonstante e 2 ⇑4πє 0 ħc α 7.297 352 5664(17) × 10−3 2.3 × 10−10
1⇑α 137.035 999 139(31) 2.3 × 10−10
Ruhemasse des Elektrons me 9.109 383 56(11) × 10−31 kg 1.2 × 10−8
5.485 799 090 70(16) × u 2.9 × 10−11
10−4
Ruheenergie des Elektrons me c 2 0.510 998 946(31) × 106 eV 6.2 × 10−9
me c 2 8.187 105 65(10) × 10−14 J 1.2 × 10−8
Ruhemasse des Protons mp 1.672 621 898(21) × 10−27 kg 1.2 × 10−8
1.007 276 466 879(91) u 9.0 × 10−11
Ruheenergie des Protons mp c 2 9.382 720 813(58) × 108 eV 6.2 × 10−9
mp c 2 1.503 277 593(18) × 10−10 J 1.2 × 10−8
Ruhemasse des Neutrons mn 1.674 927 471(21) × 10−27 kg 1.2 × 10−8
1.008 664 915 88(49) u 4.9 × 10−10
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J Physikalische Konstanten 1025

Fortsetzung von letzter Seite


Physikalische Konstante Symbol Wert Einheit rel. Fehler
Ruheenergie des Neutrons mn c 2
939.565 4133(58) × 10 6
eV 6.2 × 10−9
mn c 2 1.505 349 739(19) × 10−10 J 1.2 × 10−8
Magnetisches Moment des Elektrons µe −9.284 764 620(57) × 10−24 J⇑T 6.2 × 10−9
µ e ⇑µ B −1.001 159 652 180 91(26) 2.6 × 10−13
Magnetisches Moment des Protons µp 1.410 606 7873(97) × 10−26 J⇑T 6.9 × 10−9
µ p ⇑µ B 1.521 032 2053(46) × 10−3 3.0 × 10−9
µ p ⇑µ N 2.792 847 3508(85) 3.0 × 10−9
Massenverhältnis m p ⇑m e 1836.152 673 89(17) 9.5 × 10−11
Proton/Elektron
spezifische Ladung des Elektrons −e⇑m e −1.758 820 024(11) × 1011 C⇑kg 6.2 × 10−9
2
Rydberg-Konstante α m e c⇑2h R∞ 10 973 731.568 508(65) 1⇑m 5.9 × 10−12
2.179 871 325(27) × 10−18 J 1.2 × 10−8
13.605 693 009(84) eV 6.1 × 10−9
Bohrscher Radius aB 5.291 772 1067(12) × 10−11 m 2.3 × 10−10
α⇑4πR∞ = 4πє 0 ħ 2 ⇑m e e 2
Klassischer Elektronenradius α 2 a B re 2.817 940 3227(19) × 10−15 m 6.8 × 10−10
Compton Wellenlänge des Elektrons λC 2.426 310 2367(11) × 10−12 m 4.5 × 10−10
h⇑m e c
physikalisch-chemische Konstanten
Loschmidtsche Zahl, Avogadro Konstante NA 6.022 140 857(74) × 1023 1⇑mol 1.2 × 10−8
Atomare Masseneinheit u 1.660 539 040(20) × 10−27 kg 1.2 × 10−8
1u = 1m u = 12
1
m(12 C)
= 10−3 kg mol−1 /N A
Faradaysche Konstante N A e F 96 485.332 89(59) C⇑mol 6.2 × 10−9
Gaskonstante R 8.314 4598(48) J⇑mol K 5.7 × 10−7
Boltzmann-Konstante kB 1.380 648 52(79) × 10−23 J⇑K 5.7 × 10−7
Molvolumen eines idealen Gases RT⇑p Vm 22.413 962(13) × 10 −3
m ⇑mol
3
9.1 × 10−7
(bei T = 273.15 K, p = 101 325 Pa)
Tripelpunkt des Wassers Tt 273.15 K
T0 272.16 K

0 C
Stefan-Boltzmannsche Strahlungs- σ 5.670 367(13) × 10−8 W⇑m2 K4 2.3 × 10−6
konstante (π 2 ⇑60)k B4 ⇑ħ 3 c 2
Wiensche Verschiebungskonstante b 2.897 7729(17) × 10−3 mK 5.7 × 10−7
b = λ max T
fundamentale physikalische Konstanten – angenommene Werte
Normaldruck p0 101 325 Pa exakt
Standard Fallbeschleunigung g 9.806 65 m⇑s2 exakt
konventioneller Wert der Josephson- K J−90 483 597.9 GHz⇑V exakt
Konstante
konventioneller Wert der von Klitzing- R K−90 25 812.807 Ω exakt
Konstante
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1026 J Physikalische Konstanten

Fortsetzung von letzter Seite


Physikalische Konstante Symbol Wert Einheit rel. Fehler
Molare Massenkonstante Mu 1 × 10 −3
kg⇑mol exact
Molare Masse von 12 C M(12 C) 12 × 10−3 kg⇑mol exact
Literatur
Einführung in die Festkörperphysik
1. Einführung in die Festkörperphysik, Charles Kittel, Oldenbourg Verlag, München (2006).
2. Festkörperphysik, N. W. Ashcroft, N. D. Mermin, Oldenbourg Verlag, München (2012).
3. Solid State Physics, Harald Ibach, Hans Lüth, 2. Auflage, Springer Verlag, Berlin (1995).
4. Einführung in die Festkörperphysik, Konrad Kopitzki, Teubner Studienbücher, 3. Auflage, B. G.
Teubner, Stuttgart (1993).
5. Bergmann-Schäfer, Lehrbuch der Experimentalphysik, Band 6, Festkörper, Herausgeber Rainer
Kassing, 2. Auflage, Walter de Gruyter, Berlin (2005).
6. Einführung in die Festkörperphysik, K. H. Hellwege, 3. Auflage, Springer Verlag, Berlin (1988).
7. Experimentalphysik 3: Atome, Moleküle und Festkörper, Wolfgang Demtröder, 2. Auflage,
Springer-Verlag, Berlin (2000).
8. Festkörperphysik, Siegfried Hunklinger, 3. Auflage, Oldenbourg Verlag, München (2011).

Schwerpunkt Festkörpertheorie
1. Fundamentals of the Theory of Metals, A. A. Abrikosov, North-Holland, Amsterdam (1988).
2. Quantum Theory of the Solid State, J. Callaway, Academic Press, New York (1991).
3. Advanced Solid State Physics, Philip Phillips, Cambridge University Press, (2012).
4. Correlated Electrons in Quantum Matter, Peter Fulde, World Scientific, Singapore (2012).
5. Quantentheorie der Festkörper, Charles Kittel, Oldenbourg Verlag, München (1970).
6. Electrons and Phonons, J. M. Ziman, Oxford University Press, Oxford (1962).
7. Principles of the Theory of Solids, J. M. Ziman, Cambridge University Press, Cambridge (1972).
8. Prinzipien der Festkörpertheorie, J. M. Ziman, Verlag Harry Deutsch, Zürich (1975).
9. Festkörpertheorie, O. Madelung, Springer Verlag, Berlin (1972).
10. Elektronentheorie der Metalle, A. Sommerfeld, H. Bethge, Heidelberger Taschenbuch, Bd. 19,
Springer Verlag, Berlin (1967).
11. Solid State Theory, W. A. Harrison, McGraw-Hill, New York (1970).
12. Electronic Properties of Metals and Alloys, A. Dugdale, Edward Arnold Publishers, London (1982).
13. Simulations for Solid State Physics, Robert H. Silsbee, Jörg Dräger, Cambridge University Press,
Cambridge (1997).
14. Anharmonic Crystal, R. A. Cowley, Rep. Prog. Phys. 31, 123 (1968).
15. Thermal Conduction in Solids, R. Berman, Oxford University Press (1976).
16. Thermal Conduction in Semiconductors, C. M. Bhandari, D. M. Rowe, John Wiley and Sons, New
York (1988).
1028 Literatur

Weiterführende Literatur
Kristallographie, Strukturbestimmung
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4. Supraleitung — Grundlagen und Anwendungen, Werner Buckel, Reinhold Kleiner, VCH-Verlag,
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Abbildungsnachweis
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URL: http://www.owlnet.rice.edu/∼mishat/1933-5.html

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VIAS Encyclopedia, Wikimedia Commons
URL http://www.vias.org/encyclopedia/bio_schottky.html

S. 678
Gerhard Hund, Wikimedia Commons, lizensiert unter
Creative Commons Attribution 3.0 Unported
URL: http://creativecommons.org/licenses/by/3.0/legalcode

S. 878
PetaRZ, Wikimedia Commons, lizensiert unter
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Unported
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Index
A Austauschfeld, 722, 724, 757
Abrikosov, Alexei Alexeyevich, 778, 836 Austauschintegral, 125
Abrikosov-Gitter, 837 Austauschkonstante, 700, 701
Abschirmradius, 629 Austauschkopplung, 745
Abschirmung Austauschloch, 713
klassisches Gas, 628 Austauschwechselwirkung, 117, 138, 671, 698, 703,
Metalle, 622–642 722, 736
Phononen in Metallen, 633–636 direkte, 703
statische, 623 Doppelaustausch, 704
Thomas-Fermi, 625 itinerante Elektronen, 711–718
Abschlussdomäne, 743 lokalisierte Elektronen, 698–705
Absorption, 579 RKKY-Wechselwirkung, 705
optische, Halbleiter, 493 Superaustausch, 703
Absorptionskoeffizient, 494, 495, 580 Austrittsarbeit, 355, 527
GaAs, 621 Avogadro-Konstante, 215
Metall, 613 Azbel-Kaner-Geometrie, 478
Absorptionskonstante, 579 Azbel-Kaner-Resonanz, 479
Absorptionsspektrum, 595
Achse B
polare, 644 Bahndrehimpuls, 663, 678, 707
adiabatische Näherung, 118, 172–175, 201 Bahndrehimpulsquantenzahl, 681
Air Mass (AM), 540 Bahnquantisierung, 459–470
Aktorik, 655 freie Ladungsträger, 459–464
Alfjorow, Schores Iwanowitsch, 554 Kristallelektronen, 465–468
amorphe Festkörper, 46 Bandbreite, 324
Anderson-Isolatoren, 349 Banddiskontinuität, 547
Andreev-Zustände Tabelle, 548
gebundene, 920 Bandferromagnetismus, 714–717
anharmonische Effekte, 647, 651 Bandindex, 320, 324, 374
Anisotropie Bandstruktur, 315–363, 323, 350, 374, 386
magnetische, 734–741 Berechnungsmethoden, 328–344
magnetokristalline, 708 APW-Methode, 342
Anisotropieenergie, 744 KKR-Methode, 342
Anisotropiekonstante, 737 LCAO-Methode, 342
hexagonale, 739 LMTO-Methode, 342
kubische, 739 OPW-Methode, 342
uniaxiale, 738 Pseudopotenzial-Methode, 342
Anomaler Hall-Effekt einfache Metalle, 352
extrinsisch, 443–445 experimentelle Bestimmung, 354–358
intrinsisch, 436–439 GaAs, 493
anomaler Skin-Effekt, 479 Ge, 489, 492
Antiferroelektrizität, 585, 643 Halbleiter, 354, 489–492
Antiferromagnetismus, 671, 730–734 kritische Punkte, 351
Anti-Stokes-Linie, 210 Kuprat-Supraleiter, 909
Antwortfunktion, lineare, 416, 578 Si, 489, 492
Atomformfaktor, 76 Übergangsmetalle, 353
Atomradius, 142, 676 Bandüberlappung, 347
Austauschanisotropie, 735, 741 Bandverbiegung, 548
Austauschbosonen, 848 Bardeen, John, 542, 770, 779, 789, 847
Austauschenergie, 701 Bardeen-Stephen Modell, 900
1034 Index

Basis, 543 Bohr, Niels, 660


einatomige, 179 Bohrscher Radius, 102, 174, 621, 640, 673
BCS-Theorie, 779, 847–882 Donatorzustand, 503
Anregungsspektrum, 873–875 Bohrsches Magneton, 663
Energielücke, 873–875 Bohr-Sommerfeld-Quantisierung, 465, 563, 790
T-Abhängigkeit, 869–871 Boltzmann-Faktor, 210, 220
Grundzustand, 855, 858–875 Boltzmann-Transportgleichungen, 373, 405–413
Grundzustandsenergie, 872, 873, 1011, 1012 linearisierte, 409
Hamilton Operator, 1010, 1011 Boltzmann-Verteilung, 499
kritische Temperatur, 870 Born, Max, 173
spezifische Wärme Bornsche Näherung, 399
Sprung bei Tc , 881 Bose-Einstein-Statistik, 220, 403, 755, 972, 973
thermodynamische Größen, 879–882 Bragg, William Henry, 68
BCS-Vielteilchenwellenfunktion, 859 Bragg-Bedingung, 66, 67, 70, 211
Bean-Livingston Barriere, 843 Bragg-Reflexion, 469
Bednorz, Johannes Georg, 770 Kristallelektronen, 329, 376
Berry-Fluss, 436, 937 Brattain, Walter H., 542
Berry-Krümmung, 937, 938 Bravais, Auguste, 3
Berry-Phase, 935–937 Bravais-Gitter, 3–20, 15, 56, 64, 317
Besetzungsinversion, 555 Klassifizierung, 7–20
Besetzungszahl, 201, 220, 222 Translationsvektor, 4
Beugungsbedingung Bravais-Gittervektor, 203
von Laue, 329 Brechungsindex, 579, 593, 604
Beugungsexperimente, 87–94 Brillouin, Léon Nicolas, 61, 63, 209
Beugungstheorie, 65–78 Brillouin-Funktion, 687, 723
allgemeine, 71–78 Brillouin-Streuung, 209
Atomformfaktor, 76 Brillouin-Zone, 61, 62, 183, 322, 330, 381
Autokorrelationsfunktion, 74 erste, 61
Faltungssatz, 74 bcc-Gitter, 62
Streuamplitude, 73 fcc-Gitter, 62
Strukturfaktor, 74 Konstruktion, 61, 332
Beispiele, 77, 78 Rand, 329
Beweglichkeit, 419, 508 Brockhouse, Bertram N., 207
Halbleiter, 401, 405 Buckingham-Potenzial, 113
Biegung, 149 Bulk-Modul
Bindungsenergie, 96, 97 Edelgaskristalle, 109
Ionenkristall, 111, 114 fcc-Gitter, 110
kovalente Bindung, 125 Ionenkristall, 116
metallische Bindung, 137 kubischer Kristall, 156
Van der Waals Bindung, 106 Burgers-Vektor, 42
Bindungskräfte, 95–142
Binnig, Gerd Karl, 51 C
bipolarer Transistor, 542–545 chemisches Potenzial, 270, 272–274
Aufbau, 544 Chern-Theorem, 937
Bandverlauf, 543, 544 Chern-Zahl, 937–939, 950
Basis, 543 Clausius, Rudolf, 590
Emitter, 543 Clausius-Mossotti Beziehung, 590, 651
Kollektor, 543 Compliance-Tensor, 151
Bitter-Technik, 747 Conwell-Weisskopf-Streuung, 400
Bloch, Felix, 316, 318, 762 Cooper, Leon Neil, 770, 779, 789, 847
Bloch-Elektronen, 317–327 Cooper-Paare, 852–856
Dispersionsrelation, 323–325 Bindungsenergie, 855
reduziertes Zonenschema, 325–327 Coulomb-Blockade, 309–313
Bloch-Grüneisen-Gesetz, 404 Coulomb-Eichung, 591, 672
Bloch-Oszillationen, 381 Coulomb-Integral, 338
Blochsches T 3⇑2 Gesetz, 762 Coulomb-Potenzial, 708, 712
Bloch-Theorem, 321 abgeschirmtes, 628, 629, 636, 640
Bloch-Wellen, 320–322 Coulomb-Wechselwirkung, 113, 642, 671, 850
Bloch-Wellenpakete, 372, 395 Curie, Pierre, 685
Blount-Kriterium, 470 Curie-Gesetz, 685, 687
Bohm-Staver-Beziehung, 635 Curie-Konstante, 685, 688
Index 1035

Curie-Temperatur, 643 Dipolnäherung, 591, 989, 990


ferrimagnetische, 728, 729 Dirac, Paul Adrien Maurice, 697
ferromagnetische, 724 Dispersionsrelation
paraelektrische, 652 Bloch-Elektronen, 327
paramagnetische, 724 elastische Wellen, 166
Curie-Weiss-Gesetz, 652, 724 freie Elektronen, 261
Kristallelektronen, 334
D Magnonen, 758
de Broglie Wellenlänge, 87, 261 antiferromagnetische, 765
de Haas, Wander Johannes, 355, 471 Neutronen, 205
de Haas-van Alphen-Effekt, 355, 471, 558 Phononen, 179, 181, 184, 601
Kupfer, 475 einatomige Basis, 182
Debye, Petrus Josephus Wilhelmus, 93, 200, 226, zweiatomige Basis, 185–189, 187
628, 690 Photonen, 205
Debye-Energie, 1012 Plasmaschwingungen, 617
Debye-Frequenz, 227, 403, 636 Plasmonen, 617
Debye-Hückel-Formel, 401, 628 Plasmon-Polaritonen, 618
Debyesche Formeln, 608 Polaritonen, 605
Debye-Temperatur, 228 Spin-Wellen, 758
Debye-Waller-Faktor, 81–84 Nickel, 760
T-Abhängigkeit, 83 Zonenrand, 334
Debye-Wellenvektor, 226, 402 Dispersionszweige, 187, 196, 198, 201
Defektelektronen, 382 Dissoziationsenergie, 121
Dehnung, 146–151, 148 Divergenztheorem, 668
Dehnungskoeffizienten, 149–151, 150, 153 Doll, Robert, 770, 789
Dehnungsmodul, 146 Domänen
Dehnungstensor, 150 ferroelektrische, 653
Depolarisationsfaktor, 584, 598 ferromagnetische, 742–750
Depolarisationsfeld, 584 Domänenstruktur, 744, 748
Diamagnetismus, 668 Domänenwände, 744
atomarer, 671–692 Bloch-Wand, 744
Leitungselektronen, 696 in Ferroelektrika, 653
perfekter, 786, 787 Néel-Wand, 747
Diamant, 135 Wanddicke, 746
Diamantstruktur, 492 Wandenergie, 744, 746
Dichtefunktionaltheorie, 365 Dopplereffekt, 84
dielektrische Eigenschaften, 573–655 Double Heterostructure Injection Laser, 554
dielektrische Funktion, 575–578, 576, 588, 590, Drehachsen, 9
622, 632 Drehimpulsoperator, 688
freies Elektronengas, 610–614 Drei-Phononen-Prozesse, 236
frequenzabhängige, 635 Dreitor-Bauelemente, 545, 546
Ionenkristall, 603, 609 Driftgeschwindigkeit, 280, 282, 418, 544
Metalle, 610–621 Driftstrom, 291, 517
mikroskopische Theorie, 584–586 Drude, Paul Karl Ludwig, 260, 395
statische, 634 Drude-Modell, 274, 279, 280, 283, 292, 379
dielektrische Verschiebung, 623 Drude-Sommerfeld-Modell, 280–284
Dielektrizitätskonstante, 578, 594, 654 Dulong, Pierre Louis, 215
Halbleiter, 502 Dulong-Petitsches Gesetz, 215, 217
statische, 600 Durchbruch
Dielektrizitätstensor, 576 elektrischer, 378
Diffusionskonstante, 519 dynamische Matrix, 179
Halbleiter, 519 Dzyaloshinskii-Moriya Wechselwirkung, 705, 706
Diffusionsspannung, 517, 529
Diffusionsstrom, 291, 515 E
Dipol-Dipol-Wechselwirkung, 698 Edelgaskristalle, 106
Dipolfeld effektive Masse, 375, 385, 558, 642
elektrisches, 582 Halbleiter, 489–492
Dipolmoment Tabelle, 491
elektrisches, 102, 104, 575, 587 kombinierte, 495
induziertes, 103, 104 effektiver Massetensor, 375, 421, 491, 498
magnetisches, 662 Ehrenfest-Klassifikation, 647
1036 Index

Eichinvarianz, 807–809, 930 Energielücke, 324


Einstein, Albert, 200, 224 Halbleiter
Eisengranate, 729 Tabelle, 490
elastische Eigenschaften, 145–168 Entartung, 556
elastische Konstanten, 151 Enthalpie
kubische Kristalle, 156, 168 freie, 792, 817, 882
polykristalline Materialien, 162 Entmagnetisierung
elastische Wellen, 163–168 adiabatische, 689–692, 691
longitudinale, 165 Entmagnetisierungseffekte, 829
transversale, 166 Entmagnetisierungsfaktor, 666, 740, 829
Elastizitätskoeffizienten, 151 Entmagnetisierungsfeld, 665, 666, 667, 735
Elastizitätsmoduln, 151, 153, 154, 654 Entropie, 675, 691
effektive, 166 Erzeugungsoperator, 858
Esaki, Leo, 536, 546
Elastizitätstensor, 151–157, 163
Esaki-Diode, 534
kubischer Kristall, 155
Ettingshausen-Effekt, 426, 431
elektrisches Feld
Ettingshausen-Koeffizient, 427
lokales, 581–584 Euler-Lagrange-Gleichung, 980
Elektron-Elektron-Streuung, 283, 396–398 Euler-Poincaré-Charakteristik, 933
Elektron-Elektron-Wechselwirkung, 138, 622–642, Ewald-Konstruktion, 69
641 Ewald-Kugel, 69, 203
attraktive, 636, 849–858 Extinktionskoeffizient, 579
effektive, 636 Extremalbahn, 474, 477
Paarwechselwirkung, 853 Exzitonen, 620, 621
retardierte, 852 Bindungsenergie, 621
Streuintegral, 854 Frenkel, 620
Elektronen Mott-Wannier, 620
itinerante, 711
Leitungs-, 678 F
lokalisierte, 678 Faraday-Effekt, 730
quasi-freie, 316, 328–335 Faraday-Waage, 675
quasi-gebundene, 316, 335–344 Feinstruktur-Konstante, 562, 670
Elektronenaffinität, 110, 527, 546 Feldeffekt-Transistor, 552
Elektronendichte, 329, 712 Feldgradient, 674
Elektronengas, 259–313 Feldkonstante
eindimensional, 305 magnetische, 579, 662
Gesamtenergie, 269 Feldstärke
Kompressibilität, 270 magnetische, 664
niederdimensional, 302–306, 546–553 Feldverdrängungsarbeit, 826
nulldimensional, 306 Fermi-Dirac-Statistik, 270, 406, 970, 971
Transporteigenschaften, 279–301 Fermi-Energie, 265–269, 642
niederdimensional, 306–313 Fermi-Fläche
wechselwirkendes, 363–367 2D Quadratgitter, 359
zweidimensional, 302–304, 464, 546, 557 Alkali-Metalle, 361
Aluminium, 362
Transporteigenschaften, 558
Erdalkali-Metalle, 362
Elektronenmikroskopie, 49
experimentelle Bestimmung, 470–480
Elektronenmobilität, 550
Kristallelektronen, 360
Elektronenspinresonanz, 496 Kupfer, 361, 389
elektronische Struktur Metalle, 358–363
Atome, 97–102 Nickel, 362
Elektron-Loch-Paare, 537 Fermi-Flüssigkeit, 641
Elektron-Phonon-Kopplung, 878 Fermi-Geschwindigkeit, 267
Elektron-Phonon-Wechselwirkung, 637 Fermionen, 641
elektrostatisches Potenzial, 515 wechselwirkende, 641
Emitter, 543 zusammengesetzte, 570
Energiebänder, 315–363, 324 Fermi-Statistik, 377
Diamant, 348 Fermi-Temperatur, 267, 693
Tight-Binding-Modell, 341 Fermi-Wellenlänge, 267
Energiedichte Fermi-Wellenvektor, 705
elastische, 153, 155 Fermi-Wellenzahl, 266
Index 1037

Fernordnung, 46 Ginzburg-Landau-Parameter, 823, 828, 834


Ferrielektrizität, 643 Ginzburg-Landau-Theorie, 813–825
Ferrimagnetismus, 671, 726–730 anisotrope, 912
Ferrite, 727 Längenskalen, 820–824
Ferroelektrika Gitterdynamik, 171–212
BaTiO3 , 650 einatomige Basis, 180–185
Kalium-Dihydrogen-Phosphat, 649 experimentelle Methoden, 204–212
Klassifizierung, 649 klassische Theorie, 178–192
Ferroelektrizität, 643–655 zweiatomige Basis, 185–190
Ferromagnetische Resonanz, 753, 754 Gitterfehlanpassung, 157–160, 158, 547
Ferromagnetismus, 671, 720–726 Gitterfehler, 37–44
Fert, Albert, 300 chemische Fehlordnung, 43
Festkörperoberflächen, 35–37 Farbzentrum, 40
Fluktuationen, 915 Fehlordnung, 37
Flussdichte Frenkel-Defekt, 40
elektrische, 576 Konfigurationsentropie, 39
magnetische, 663, 664 Korngrenze, 43
Flüssigkristalle, 46–49 Leerstellenkonzentration, 40
Flusslinien, 837 Liniendefekte, 37
Energie, 840 Punktdefekte, 37, 38
Linienspannung, 840 Schraubenversetzung, 43
radialer Flussdichteverlauf, 838 strukturelle Fehlordnung, 37
thermisch aktivierte Bewegung, 903 Stufenversetzung, 42
Typ-II Supraleiter, 838–842 Gitterkonstante
Verankerung, 901 Gleichgewichts-, 107, 115
Flussliniengitter, 835–840 Gitterpotenzial, 324, 376
Flussquant, 462, 557, 811 Gitterschwingungen
Flussquantisierung, 789–791, 809–813 Quantentheorie, 200–202
Fluxoid, 812 Quantisierung, 200–204, 958–961
Fluxoid-Quantisierung, 809–813 Gittervektoren
Fock, Wladimir A., 364 primitive, 3, 4, 65
Fock-Energie, 364 reziproke, 57–61, 64, 317
freie Energie, 646, 674, 1001, 1002 Glasfaser, 555
freie Energiedichte Gleichgewichtsabstand, 177
magnetische, 736 Gleitmodul, 161
freie Enthalpie, 646, 674, 1002, 1003 Goldstone-Mode, 820
Supraleiter, 1005 Graphit, 135
Frenkel, Yakov, 620 Grenzfrequenz, 545
Frequenzlücke, 188 Grünberg, Peter, 300
Frequenzspektrum Grüneisen, Eduard, 404
schwarzer Strahler, 200 Grüneisen-Parameter, 241–243
Friedel-Oszillationen, 633 Gruppengeschwindigkeit, 323, 372
Friedrich, Walter, 1, 55, 65 Kristallelektronen, 371, 372
Fullerene, 136 Phononen, 182
Füllfaktor, 557, 560 gyromagnetisches Verhältnis, 757

G H
Gaskonstante, allgemeine, 216 H2 -Molekül, 122–129
Geim, Andre, 35 Potenzialkurve, 125
Generationsstrom, 518 H+2 -Molekülion, 118–122, 121
geometrische Phase, 937 Halbleiter, 483–571
Gesamtdrehimpuls, 678 Absorptionskoeffizient, 494
Giaever, Ivar, 875 Akzeptor, 503
Gilbert, William, 659 Akzeptorniveau, 501
Gilbert-Dämpfung, 753 amorphe, 485
Ginzburg, Vitaly Lasarevich, 778, 814, 847 Banddiskontinuität, 547
Ginzburg-Landau-Gleichungen, 815 Tabelle, 548
erste, 819 Bandlücke, 620
zweite, 820 Bandverbiegung, 548
Ginzburg-Landau-Kohärenzlänge, 822, 833 Beweglichkeit, 508
anisotrope, 913 Tabelle, 511
1038 Index

direkte, 485 Hamilton-Funktion, 981


Donator, 502 Hamilton-Operator, 671
Ionisierungsenergie, 502 harmonische Näherung, 176–178
Donatorniveau, 501 harmonischer Oszillator, 957, 958
dotierte, 501–508 Hartree-Energie, 364
Ladungsträgerdichte, 501–508 Hartree-Fock-Methode, 364
effektive Bandlücke, 552 Heisenberg, Werner Karl, 697, 701
effektive Masse Heisenberg-Modell, 701, 702, 703, 719, 721, 756
Tabelle, 491 Heisenbergsche Unschärfe-Beziehung, 371, 699,
elektrische Leitfähigkeit, 508–511 713, 862
Elementhalbleiter, 485 Heitler, Walther, 124
Energielücke, 158, 547, 555 Heitler-London-Ansatz, 699
Fermi-Niveau, 504 Helmholtz-Potenzial, 674
T-Abhängigkeit, 506 Hermann-Mauguin-Symbolik, 10
Gitterkonstante, 158 Heteroepitaxie, 546
grundlegende Eigenschaften, 485–514 Hochfeldgrenzfall, 468
III-V-Halbleiter, 486 Hohenberg-Kohn-Theorem, 365
indirekte, 485 Holoeder, 13
inhomogene, 514–532 Holoedrie, 13
intrinsische, 485, 497 Holstein, T.D., 476
Ionisierungsenergie Hookesches Gesetz, 146
Akzeptoren, Donatoren, 503 Hubbard-Modell, 366, 702
Donator, 512 Hund, Friedrich, 680
IV-IV-Halbleiter, 487 Hundsche Regeln, 679–681
IV-VI-Halbleiter, 487 Hüpfenergie, 703
Klassifizierung Hybridisierung, 129–136, 347
Tabelle, 487 sp, 131
kristalline, 485 sp2 , 132
Ladungsträgerdichte, 504, 519 sp3 , 133
Eigenleitung, 508 Hybridorbitale, 131, 133, 134
Kompensationsbereich, 506
Störstellenerschöpfung, 507 I
Störstellenreserve, 506 Idealstruktur, 49
T-Abhängigkeit, 506 Impuls
magnetische, 488 Feldimpuls, 980
Majoritätsladungsträger, 523 kanonischer, 671, 979–981
Minoritätsladungsträger, 523 kinematischer, 459, 980
organische, 487 Impulserhaltung, 204, 209
oxidische, 488 Impulsoperator, 323
Schichthalbleiter, 488 inelastische Streuung, 78–81
Verbindungshalbleiter, 486 innere Energie, 216, 222, 675, 992–1001
Halbleiter-Bauelemente, 532–546 quantenmechanischer Mittelwert, 219
Halbleiter-Heterostrukturen, 546, 569 integrierte Schaltung, 553
Dotierungsübergitter, 551 Interband-Übergänge, 377, 468, 586, 618
isotypische, 549 Halbleiter, 493
Kompositionsübergitter, 550 Intraband-Übergänge, 586
Halbleiter-Laser, 554, 555 Inversionssymmetrie, 9, 344, 592, 643, 930
Halbmetalle, 346, 348 Ionenkristall, 596
Haldane, Duncan M., 931 Bindungsenergie, 111
Hall, Edwin Herbert, 294 Eigenschwingungen, 597–600
Hall-Effekt, 426, 431, 511 longitudinal, 598
anomaler, 435–445 transversal, 599
Einband-Modell, 453–455 erzwungene Schwingungen, 600–606
Halbleiter, 511–513 optisches Verhalten, 601–605
Hochfeldgrenzfall, 391–394 paraelektrischer, 608
Metalle, 293–295 Ionenradius, 114, 142, 676
Zweiband-Modell, 455–458 Ionisationsenergie, 110
Hall-Koeffizient, 294 ionische Bindung, 110–116
anomaler, 435 NaCl- und CsCl-Struktur, 115
Hall-Konstante, 511 Potenzialverlauf, 114
Hall-Winkel, 295 Ising, Ernst, 702
Index 1039

Ising-Modell, 702 Kramers, Hendrik Anthony, 683


Isolator Kramers-Entartung, 344, 985
Anderson-, 349 Kramers-Kronig-Relationen, 578, 594
antiferromagnetischer, 703 Kramers-Theorem, 985
Band-, 348 Kristallelektronen, 328, 371
Mott-, 349 Bewegung, 378–394
Peierls-, 349 Bewegung im Magnetfeld, 386–391
topologischer, 350, 930–955 Bewegungsgleichungen, 386
isotherm-isochorer Prozess, 647 Energie, 336
Isotopen-Effekt, 870 geschlossene Bahnen, 388, 392
elektronenartig, 389
J lochartig, 389
Josephson, Brian David, 884 offene Bahnen, 388, 394
Josephson-Effekt, 791, 883–893 Quantisierung der Bahnen, 465–468
1. Josephson-Gleichung, 886 Zyklotronfrequenz, 390
2. Josephson-Gleichung, 887 Kristallfeld, 609, 681, 682, 735
Josephson-Frequenz, 888 -aufspaltung, 682
Josephson-Gleichungen, 883–888, 1012– -Multiplett, 683
1014 Kristallgitter
Spannung-Phasen-Beziehung, 887 anharmonische Effekte, 233–237
Strom-Phasen-Beziehung, 886 basiszentrierte, 16
Josephson-Kontakt flächenzentrierte, 16
im Magnetfeld, 889–893 Fourier-Analyse, 57
π-Kontakt, 918 innenzentrierte, 16
mit Wechselspannung, 888, 889 konventionelle Zelle, 5
Strom-Spannungs-Kennlinie, 888 bcc, fcc, 6
primitive, 15
K primitive Gitterzelle, 5
Kanallänge, 545, 553 Quantentheorie, 957–961
Kasuya, Tadao, 705 thermische Eigenschaften, 213–256
Kerr-Effekt, 576 Wigner-Seitz-Zelle, 6
kinetische Gastheorie, 246 zentrierte, 15
Kittel, Charles, 705 Kristallimpuls, 204, 322, 323, 376, 396, 596
Klitzing, Klaus von, 553, 560, 565 Kristallstruktur, 1–52
Klitzing-Konstante, 308, 562 direkte Abbildung, 49–52
Knipping, Paul, 1, 55, 65 periodische Strukturen, 3–21
Koerzitivfeld, 749 Proteinkristall, 3
Kohärenzfaktoren, 861, 867, 875 Kristallstrukturen, 24–34
Kohärenzlänge, 822 CsCl-Struktur, 29
BCS, 867, 915 Diamantstruktur, 30
Kohärenzvolumen, 915 einfach kubisch, 25
Kohlenstoff-Nanoröhrchen, 136 Graphitstruktur, 33
Kohler-Regel, 297 hexagonal dichte Kugelpackung, 27
Kollektor, 543 kubisch flächenzentriert, 25
Kompressibilität, 157 kubisch raumzentriert, 26
Edelgaskristalle, 109 NaCl-Struktur, 28
Ionenkristall, 116 Wurtzitstruktur, 31
kubischer Kristall, 156 Zinkblendestruktur, 31
Kompressionsmodul, 161 Kristallsysteme, 12, 13
Kondensationsenergie, 841 hexagonale, 19
Kontinuumsnäherung, 145 kubische, 17
kooperativer Magnetismus, 697–718 monokline, 20
Koordinationszahl, 142 rhombische, 18
Kopplungskonstanten, 177, 181, 184 rhomboedrische, trigonale, 19
Korrespondenzprinzip, 373, 465 tetragonale, 17
Kosterlitz, Michael J., 931 triklines, 20
Kosterlitz-Thouless-Übergang, 943–945 kritische Felder, 788, 826, 830–833
kovalente Bindung, 117–136 Ginzburg-Landau, 816
Kramers Nukleationsfeld, 834
-Multiplett, 683 oberes, 830–833
-Singulett, 683 anisotropes, 914
1040 Index

thermodynamisches, 816, 826, 831, 873 Langevin, Paul, 671


unteres, 832, 833, 842 Langevin-Debye-Beziehung, 607
anisotropes, 914 Langevin-Funktion, 685
kritische Stromdichte, 843–847 Langevin-Paramagnetismus, 671, 684–688
Londonsche, 844 Lanthaniden, 681
paarbrechende, 845–847 Kontraktion, 681
Kroemer, Herbert, 554 Larmor-Diamagnetismus, 669, 676, 677
Kugelflächenfunktionen, 97 Larmor-Frequenz, 677, 759
Kuprat-Supraleiter, 857, 905–920 Laue, Max von, 2, 55, 65
Elektrondotierung, 908 Laughlin, Robert B., 568
elektronische Eigenschaften, 907–911 Lawinendurchbruch, 532
Fermi-Fläche, 909 Lawrence-Doniach Modell, 913
Fermi-Geschwindigkeit, 909 LCAO-Methode, 118
Knight-Shift, 912 Leitfähigkeit
Kristallstruktur, 906 elektrische, 282, 417
Lochdotierung, 908 T-Abhängigkeit, 284–286
Ordnungsparameter, 916–920 thermische, 287–290, 419
d-Wellensymmetrie, 917, 918–920 Tabelle, 288
Phasendiagramm, 910 T-Abhängigkeit, 289, 290
Pseudolücke, 911 verallgemeinerte, 578
Spin-Fluktuationen, 912 Leitfähigkeitstensor, 417, 558
Spin-Struktur, 910 Leitungsbandkante, 546, 551, 554
strukturelle Eigenschaften, 906, 907 Leitungselektronen, 678, 714
supraleitende Eigenschaften, 912–920 Leitwertquantisierung, 306
YBa2 Cu3 O7−δ , 906 Quanten-Punkt-Kontakt, 308
Zustandsdichte, 917 Lennard-Jones-Potenzial, 106
Lenzsche Regel, 668
L Lichstreuung
Ladung inelastische, 208–212
topologische, 570 Lindesche Regel, 400
Ladungsdichte, 582 Lindhard Theorie, 629–633
Ladungskonjugation, 987 Lindhard, Jens, 630
Ladungsträgerdichte, 497, 612 Lindhardsche Näherung, 632
dotierte Halbleiter, 501 lineare Antwortfunktion, 575
effektive, 499 Liouvillesches Theorem, 378
Halbmetalle, 348 Lochbahn, 388
intrinsische Lochkonzept, 381
T-Abhängigkeit, 500 London, Fritz, 124, 778, 847
intrinsische Halbleiter, 497–501 London-Gleichungen, 798–801, 805–807
Leitungsband, 499 London-Koeffizient, 799
Metalle, 268 Londonsche Eindringtiefe, 799, 821, 833
Valenzband, 499 anisotrope, 915
Ladungstransfer-Isolator, 908 T-Abhängigkeit, 800
Ladungstransport London-Theorie
diffusiver, 451 verallgemeinerte, 801–813
Lagrange-Funktion, 979 Lorentz, Hendrik Antoon, 586
Landau, Lev Davidovich, 460, 466, 642, 778, 814, Lorentz-Feld, 583
847 Lorentz-Kraft, 292, 898
Landau-Diamagnetismus, 669, 696, 697 Lorentzsches Oszillator-Modell, 585, 587, 588
Landauer, Rolf, 545 Lorenz, Ludvig Valentin, 287
Landauer-Büttiker-Formalismus, 567 Lorenz-Zahl, 287
Landau-Kreis, 556 Lyddane-Sachs-Teller-Relation, 599, 651
Landau-Länge, 556
Landau-Lifshitz-Gilbert-Gleichung, 753 M
Landau-Lifshitz-Gleichung, 752 Madelung, Erwin Rudolf, 111, 112
Landau-Niveaus, 460, 556, 558 Madelung-Energie, 111–115
Entartung, 462, 472 Madelung-Konstante, 113
Landau-Theorie der Phasenübergänge, 646–649, Madelung-Transformation, 802, 1007–1009
697 magnetische Anisotropie, 734–741
Landau-Zylinder, 463, 473 Austauschanisotropie, 735, 741
Landé-Faktor, 670, 679, 721 Eisen, 739
Index 1041

elastische Verspannung, 740 Meißner, Walther, 774, 775


Formanisotropie, 740 Meißner-Ochsenfeld-Effekt, 774–777, 786, 787
hexagonale Kristallstruktur, 739 Mermin-Wagner-Theorem, 762, 943
induzierte Anisotropie, 740 mesoskopische Systeme, 450
Kobalt, 740 metallische Bindung, 136–139
kubische Kristallstruktur, 738 Bindungsenergie, 137
leichte Achse, 734 Metall-Isolator-Übergang, 640
magnetokristalline, 736 Millersche Indizes, 20, 62–64
schwere Achse, 734 Minibänder, 551
uniaxiale, 738 Minoritätsladungsträger, 517, 523, 553
magnetische Domänen, 742–750 Minoritäts-Spinband, 760
Abbildung, 747 Mischzustand, 788, 826, 836
antiferromagnetische, 744 Mößbauer, Rudolf, 85
ferromagnetische, 742 Mößbauer-Effekt, 84–87
magnetische Speichermedien, 749 Mößbauer-Spektroskopie, 86
Speicherdichte, 749 MOCVD, 546
magnetischer Durchbruch, 468–470 Modulationsdotierung, 549, 909
magnetisches Feld Molekularfeld, 711, 715, 719, 722
lokales, 666 Molekularfeld-Beschreibung, 861
magnetisches Moment, 662, 684, 727 Molekularfeldkonstante, 715, 722, 728
effektives, 688, 718 Molekularfeld-Näherung, 719, 721–725
Magnetisierung, 662 Ferrimagnete, 727
Ferromagnet Molekularstrahlepitaxie, 546
T-Abhängigkeit, 725 Molekülorbital
isotherme, 691 antibindendes, 121
Untergitter, 727, 728, 733 bindendes, 121
Magnetisierungsdynamik, 751–754 Molekülorbitalnäherung, 122, 123
Gilbert-Dämpfung, 753 Mooresches Gesetz, 553
Magnetisierungskurve, 748 MOSFET, 552
Hystereseschleife, 749 Aufbau, 552
Rotationsprozesse, 748 Bandverlauf, 552
Wandverschiebung, 748 Mossotti, Ottaviano Fabrizio, 590
Magnetit, 727 Mott, Sir Nevill Francis, 620, 640
Magnetonenzahl, 683 Mott-Isolator, 349, 908
effektive, 679, 682, 688 Müller, Karl Alexander, 770
magnetooptische Abbildung, 747
magnetostatische Energie, 740 N
Magnetostriktion, 741 Nachgiebigkeitstensor, 151
Magnetowiderstandseffekte, 299–301 Nahordnung, 46
GMR, 301 Néel, Louis Eugène Felix, 727
Magnetwiderstand, 296–299, 298, 452–458 Néel-Temperatur, 730
Einband-Modell, 453–455 paramagnetische, 732
Hochfeldgrenzfall, 391–394 Nernst-Effekt, 427, 431
longitudinaler, 297, 458 anomaler, 445, 446
negativer, 450 Nernst-Koeffizient, 427
Sättigung, 457 Netzebenen, 20
transversaler, 296, 458 Neutronenbeugung, 730
Zweiband-Modell, 296, 455–458 inelastische, 605
Magnonen, 755, 760 Neutronenstreuung
Majorana-Fermion, 954 Dreiachsenspektrometer, 206
Majoritätsladungsträger, 515, 553 inelastische, 206–208
Majoritäts-Spinband, 760 nichtkristalline Festkörper, 44–49
Makropotenzial, 515 Novoselov, Konstantin, 35
makroskopische Wellenfunktion, 802 Nullpunktsenergie, 109, 230
Massenwirkungsgesetz, 500, 518 Nullpunktsschwingungen, 108
Matrixelement, 592
Matthiessen-Regel, 248, 284, 398, 510 O
Maxwell-Boltzmann-Statistik, 964 Oberflächenladungen
Maxwell-Boltzmann-Verteilung, 221, 260, 628, magnetische, 666
973–975 Ochsenfeld, Robert, 774
Maxwell-Gleichungen, 577 Ohmsches Gesetz, 577
1042 Index

Onnes, Heike Kamerlingh, 769, 773 spontaner Zerfall, 252


Onsager, Lars, 416 transversal akustische, 180, 184
Onsager-Beziehungen, 416, 467, 577 transversal optische, 604, 651
Orbitalbewegung, 696 Phononengas, 231
Ordnungsparameter, 647 Phononen-Mitführung, 424
komplexer, 814 Phononenspektrum, 193–199
Ordnungsphänomene Phononenstruktur, 878
magnetische, 719–734 Phononenzahl, 230
helikale, 720 Photoeffekt
zykloidale, 720 inverser, 357
Orientierungspolarisation, 585, 606–609 Photoelektronenspektroskopie, 355, 911, 920
Ortsfunktion, 699 UPS, XPS, 357
symmetrische, antisymmetrische, 699 Piezoelektrizität, 644, 653–655
Oszillatorstärke, 588, 593 Piezoelement, 655
Overscreening, 636 Pippard, Sir Alfred Brian, 479
Planck, Max Karl Ernst Ludwig, 200, 232
P Plancksches Strahlungsgesetz, 200, 232
Paaramplitude, 859 Plancksches Wirkungsquantum, 200
Paarpotenzial, 859, 916 Plasmafrequenz, 611, 635
Paarsuszeptibilität, 869 Plasmaschwingung
Paarung freies Elektronengas, 612
unkonventionelle, 916 longitudinale, 614
Paarwechselwirkung, 176 transversale, erzwungene, 617
Singulett-Paarung, 857 Plasmonen, 614–617
Triplett-Paarung, 857 Frequenz, 616
Paarwellenfunktion, 711 Oberflächen-, 616
Symmetrie, 856 Volumen-, 616
Paarzustand Plasmon-Polaritonen, 618
Besetzungswahrscheinlichkeit, 867 p-n-Übergang, 515–527
paraelektrische Festkörper, 585 Diffusionsspannung, 517
paramagnetisches Salz, 689 Diffusionsstrom, 523
Paramagnetismus, 669 Driftstrom, 523
atomarer, 671–692 Durchlassrichtung, 524
Pauli, Wolfgang, 671, 693 Generationsstrom, 523
Pauli-Paramagnetismus, 671, 693–696 mit angelegter Spannung, 522–527
Pauli-Prinzip, 106, 265, 397, 671, 679, 698, 965 Rekombinationsstrom, 523
Paulische Spin-Matrizen, 432, 443, 940 Sättigungsstrom, 524
Peierls-Isolatoren, 349 Sperrrichtung, 524
Peltier-Effekt, 422 Strom-Spannungs-Charakteristik, 523
Peltier-Koeffizient, 416, 423 Pockels-Effekt, 576
Periodensystem, 100, 681 Poisson-Gleichung, 623, 631
Permeabilität, magnetische, 663 Poisson-Zahl, 161
Permeabilitätstensor, 664 Polarisation, 575, 643
Perowskit, 643 elektronische, 586–596
Phasengeschwindigkeit, 372 frequenzabhängige, 608
Phasenkohärenzlänge, 451 ionische, 596–606
Phasenraumvolumen, 378 spontane, 647
Phasenschiebung, 450 spontane elektrische, 643
Phasenübergang statische, 606
1. Ordnung, 648 Polarisationskatastrophe, 717
2. Ordnung, 648, 725 Polarisationsladung, 583
displaziver Übergang, 649 Polarisierbarkeit, 587, 589, 593
Ordnungs-Unordnungs-Übergang, 649 elektronische, 588, 602
struktureller, 645 ionische, 651
topologischer, 942–948 Polaritonen, 605, 606
Phononen, 202 Polaronen, 637–639
akustische, 190, 596 Bipolaron, 637
Impuls, 202–204 e-ph Kopplungskonstante
longitudinal akustische, 180, 635 Tabelle, 639
longitudinal optische, 604 große, 638
optische, 190, 596 kleine, 638
Index 1043

Ladungspolaron, 637 Rayleigh-Streuung, 209


orbitales Polaron, 637 Realstruktur, 49
Spin-Polaron, 637 Reflektivität, 555, 581
Potenzial Reflexion, 579
chemisches, 499 Reflexionskoeffizient, 581, 593
elektrochemisches, 519 Ionenkristall, 604
Fourier-Komponenten, 333 Reflexionsvermögen
gitterperiodisches, 317, 328 Metall, 612
Pseudopotenzial, 139, 342, 343 Rekombination
Pyroelektrizität, 643 nichtstrahlende, 554
Rekombinationsstrom, 515
Q Relaxationsbereich, 613
Quantenfluktuationen, 311 Relaxationszeit, 406, 409, 608
Quanten-Hall-Effekt, 553, 555–571 Relaxationszeit-Näherung, 281, 409–413, 414
Einschlusspotenzial, 563 Remanenz, 748
fraktionaler, 569–571 Renormierung, 642
ganzzahliger, 560 Resonanzabsorption, 85
lokalisierte Zustände, 563 Resonanzfrequenz, 588
Randelektronen, 564 Responsefunktion, 575
Randkanal, 563, 567 Restwiderstand, 285
Skipping Orbits, 563 reziprokes Gitter, 56–65
Unordnungspotenzial, 563 kubisch flächenzentriertes Gitter, 60
Widerstandsplateaus, 562 kubisch primitives Gitter, 59
Quanteninterferenzeffekte, 448–452 kubisch raumzentriertes Gitter, 60
Quanten-Spin-Hall-System, 951 Righi-Leduc-Effekt, 427, 431
Quantenstatistik, 963–975 Righi-Leduc-Koeffizient, 427
Quantentrog, 550 Rohrer, Heinrich, 51
Quantenzahlen, 97, 708 Röntgendiffraktometrie, 91–94
Bahndrehimpulsquantenzahl, 97 Debye-Scherrer-Verfahren, 93
Hauptquantenzahl, 97 Drehkristallverfahren, 92
Orientierungsquantenzahl, 97 Laue-Verfahren, 91
Spin-Quantenzahl, 100 Röntgenstreuung
Quantisierungsachse, 684, 702 inelastische, 205
Quantum Confinement, 302 Rotationssymmetrie, 9
Quasikristall, 22–24 Rückstreuwahrscheinlichkeit, 450
Quasiteilchen, 570, 642, 868 Rückwärtsdiode, 534
Anregungsenergie, 868, 873 Ruderman, M. A., 705
Zustandsdichte, 874 Ruderman-Kittel-Oszillationen, 633
Quasiteilchentunneln, 875–879 Russel-Saunders-Kopplung, 670, 678
Querdehnung, 148, 161 Rydberg-Energie, 102, 174, 673
Querzahl, 161
S
R Sättigungsmagnetisierung, 685, 726, 740
radiale Verteilungsfunktion, 44 bei T = 0, 717
Radialfunktion, 97 Nickel, 718
Wasserstoffatom, 99 T-Abhängigkeit, 754, 762
Raman, Sir Chandrasekhara Venkata, 210 Schallgeschwindigkeit, 183, 224
Raman-Streuung, 209 Schallwellen, 165
Kupratsupraleiter, 212 Schermodul, 161
resonante, 209 Scherrer, Paul, 93
Randbedingungen, 194–196 Scherung, 149
periodische, 193, 194 Scherwelle, 166
Randschicht, 549 Schmelztemperatur, 96, 97
Rashba-Effekt, 709 Schoenflies Notation, 10
Rasterelektronenmikroskopie Schottky, Walter H., 530
spinaufgelöste, 747 Schottky-Kontakt, 527–532
Rasterkraftmikroskopie, 747 Diffusionsspannung, 529
Rastersondentechniken, 51 Kapazität, 531
Raumladung, 515 mit angelegter Spannung, 529
Raumladungszone, 517, 521, 529, 549 Strom-Spannungs-Charakteristik, 531
Rayleigh, John William, 209 Schottky-Modell, 520
1044 Index

Schottky-Randschicht, 531 Spin-Bahn-Wechselwirkung, 343, 344, 679, 681,


Schrieffer, John Robert, 770, 779, 789, 847 707–710, 737, 951
Schrödinger-Gleichung, 97, 118, 261, 335, 625, 629 Rashba-Effekt, 709
reziproker Raum, 319 Spin-Entartung, 377, 558
zeitabhängige, 591 Spin-Flop-Feld, 734
zeitunabhängige, 317, 459 Spin-Flop-Phase, 734
Schubmodul, 161 Spin-Funktion, 699
schwarzer Strahler, 200 antisymmetrische, 124
schwere Fermionen, 278, 903 symmetrische, 124, 679
Schwingquarz, 654 Spin-Hall-Effekt, 446–448
Seebeck, Thomas Johann, 290 Spin-Nernst-Effekt, 446–448
Seebeck-Effekt, 421, 422 Spin-Polarisation, 430
Halbleiter, 513 Spin-Singulett-Zustand, 123, 126, 699
Seebeck-Koeffizient, 290 Spin-Ströme, 431–434
Seitz, Ferderik, 6 Spin-Struktur
Selbstenergie inkommensurable, 720
magnetostatische, 667, 743 Spin-Triplett-Zustand, 123, 126, 699
Seltene Erden, 681 Spin-Wellen, 754–765
semiklassische Näherung, 371, 374, 378, 625 antiferromagnetische, 764
Shechtman, Daniel, 23 Austauschmoden, 756
Shockley, William Bradford, 514, 542 dipolare Moden, 756, 763
Shubnikov, Lev Vasilyevich, 354, 476 Spin-Wellensteifigkeit, 759
Shubnikov-de Haas-Effekt, 355, 476, 558 Sprungtemperatur, 781, 784
Shubnikov-Phase, 788, 835–840 Stefan-Boltzmann Gesetz, 233
Shull, Clifford G., 207 Steglich, Frank, 278, 770
Skin-Eindringtiefe, 480, 612 Stoermer, Horst L., 569
Skipping Orbits, 565 Stokes-Linie, 209
Stoner, Edmund Clifton, 714
Slater, John C., 364
Stoner-Anregungen, 760
Slater-Determinante, 364
Stoner-Faktor, 717
Solarzelle, 536–542
Stoner-Kriterium, 716
Ersatzschaltbild, 538
Störpotenzial, 337, 625, 629
Funktionsschema, 537
Störungstheorie, 395, 629, 672, 704
Grätzel-Zelle, 542
zeitabhängige, 591
Konversionseffizienz, 541 Streufeld, 665, 666
Konzentratorzelle, 539, 542 Streufeldenergie, 743
Open-Circuit-Spannung, 537 Streuprozesse, 248, 249, 373, 395–405, 407
Strom-Spannungs-Kennlinie, 539 elastische, 396, 451
Tandem-Zelle, 542 Elektron-Elektron-Streuung, 283
Wirkungsgrad, 538, 539 geladene Störstellen, 400, 510
Sommerfeld, Arnold, 260, 262, 280, 316 inelastische, 204, 396
Sommerfeld-Entwicklung, 272, 275, 417, 977, 978 Isotopenstreuung, 250
Sommerfeld-Koeffizient, 275 neutrale Störstellen, 399
Sonnenspektrum, 540 Phononen, 248, 285, 401–404, 509
Spannung Normalprozesse, 237
elastische, 146–151 Umklappprozesse, 237, 249
Normal-, 147 Potenzialstreuung, 285, 399
Schub-, 147 Side Jump, 445
Spannungskoeffizienten, 153, 654 Skew Scattering, 443, 444
Spannungstensor, 147 spinabhängig, 443–445
spezifische Wärme, 214, 215, 274–279, 1005, 1006 Streuwinkel, 403
Diamant, Si, Ge, 218 Streuquerschnitt, 397, 398–405, 509
Einstein-Modell, 224, 225 Streuzeit, 468, 508
Elektronengas Halbleiter, 508
Tabelle, 277 Stromdichte
festes Argon, 229 elektrische, 379, 414
Kalium, 277 Wärme-, 287, 379, 415
konstanter Druck, 215 Ströme
konstantes Volumen, 214, 222 gefüllte Bänder, 378
niederdimensionale Systeme, 229 teilweise gefüllte Bänder, 380
T-Abhängigkeit, 222–233 Strukturanalyse, 55–94
Index 1045

Strukturfaktor, 74 Rotationssymmetrie, 930


Beispiele, 77, 78 Translationssymmetrie, 930
statischer, 81 Symmetrieoperationen, 7–20, 9
Stufenversetzung, 159 Drehinversion, 10
Subband, 304, 305, 460, 556 Drehspiegelung, 10
Superaustausch, 703 Drehung, 9
Superparamagnetismus, 750 Inversion, 9
Superpositionsprinzip, 235 Punktgruppe, 8, 14
supraleitende Materialien, 780–784 Raumgruppe, 8, 14
supraleitende Quanteninterferometer, 893–895 Spiegelung, 9
DC-SQUID, 894, 895 Translationsgruppe, 8
Supraleiter Symmetrietransformation, 983–987
Dauerströme, 806 anti-unitär, 984
Eisen-Pniktide, 783 global, 983
Elemente, 780 lokal, 983
Energielücke unitär, 984
T-Abhängigkeit, 869–871
Energie-Phasen-Beziehung, 804, 1009 T
Entropie, 793, 879 Teilchen
Feldverdrängungsarbeit, 793, 817 unterscheidbare, 675
grundlegende Eigenschaften, 784–791 ununterscheidbare, 124
Isotopeneffekt, 849 Teilchen-Welle-Dualismus, 201
Kohärenzlänge, 822 Teilchenzahloperator, 366, 638, 703, 864
Kondensationsenergie, 793 thermische Ausdehnung, 237–243
kritische Stromdichte, 843–847 Längenausdehnungskoeffizient, 237
kritische Temperatur, 870 Silizium, 243
kritisches Feld, 787 Volumenausdehnungskoeffizient, 237
Legierungen, 781 Zustandsgleichung, 239
thermischer Leitwert, 255
Londonsche Eindringtiefe, 821
Thermodynamik
makroskopisches Quantenmodell, 801–813
1. Hauptsatz, 214
organische, 782
thermodynamische Eigenschaften, 991–1006
oxidische, 783
thermodynamische Potenziale, 648, 991–1005
Schwere Fermionen, 782
thermoelektrische Effekte, 414–425
Shubnikov-Phase, 788
Thermoelement, 422
spezifische Wärme, 794–796, 798, 880 Thermokraft, 290–292, 416, 420, 421, 514
stark koppelnde, 871 thermomagnetische Effekte, 425–427
Strom-Phasen-Phasen-Beziehung, 1009 Thomas-Faktor, 708
Suprastromdichte, 804, 885, 1009 Thomas-Fermi
thermodynamische Eigenschaften, 792–798 Abschirmlänge, 627, 640
topologische, 932 Abschirmung, 625
unkonventionelle, 903, 904 Theorie, 626
Zwischenzustand, 829, 830 Wellenvektor, 627
Supraleiter-Normalleiter-Grenzfläche, 824, 827– Thomas-Fermi Wellenvektor, 850
829 Thomson, Joseph John, 259
Supraleitungselektronik, 545 Thomson-Effekt, 423
Suszeptibilität Thomson-Koeffizient, 424
Antiferromagnet, 731 Thouless, David J., 931
Bandferromagnet, 717 Tight-Binding-Modell, 328–344, 909
diamagnetische, 677 Bandstruktur, 340
elektrische, 575, 654 kubisches Gitter, 339–342
Ferrimagnete, 729 Topologische Isolatoren, 350
magnetische, 662–664 dreidimensional, 953
molare, 677 zweidimensional, 949–953
T-Abhängigkeit, 725 topologische Phasen, 942–948
Paulische Spin-, 695, 717 Klassifizierung, 946, 947
Van Vleck Beitrag, 689 Topologische Quantenmaterie, 929–955
Suszeptibilitätstensor, 576 topologischer Hall-Effekt, 440
Symmetriebrechung, 930 topologischer Nernst-Effekt, 440
Eichsymmetrie, 930 Topologischer-Hall-Effekt, 439–443
Inversionssymmetrie, 930 Topologischer-Nernst-Effekt, 439–443
1046 Index

Torsion, 149 Verformung


Totalreflexion, 593, 613 elastische, 146
Transfer-Integral, 338 plastische, 146
Transistor Verluste
bipolar, 552 dielektrische, 609
Feldeffekt, 552 Vernichtungsoperator, 858
unipolar, 552 Verschiebungsvektor, 150
Translationsinvarianz, 178, 179, 203, 930 Verspannung
diskrete, 203 biaxiale, 158
Translationsvektor, 7, 15 epitaktische Schichten, 157–160
Transmission, 579 uniaxiale, 740
Transmissionskoeffizient, 579 Voigt-Notation, 152
Transportkoeffizienten, 416, 425 Volumenausdehnung, 153
allgemeine, 413–452 von Laue-Bedingung, 67–69, 70
Klassifizierung, 428–431 Vortizität, 944
Tabelle, 430
Transportphänomene W
Spin-Ströme, 431–434 Wahrscheinlichkeitsamplitude, 449
Spin-Transport, 428–434 Wandverschiebung, 748
Tsui, Daniel C., 569 Wannier-Funktionen, 322, 335
Tunnelmatrixelement, 875 Wärmeleitfähigkeit, 243–256, 246, 419
Tunnelstrom, 877 amorphe Festkörper, 252
eindimensionales System, 256
Typ-I Supraleiter, 792–796
niederdimensionale Systeme, 254–256
Typ-I und Typ-II Supraleiter, 789, 825–847
T-Abhängigkeit, 247–252
Typ-II Supraleiter, 797, 798
Wassermolekül, 129
Haftkraft, 901–903
Wasserstoffbrückenbindung, 140, 141
kritischer Strom, 895–903 Weiss, Pierre Ernest, 721
Lorentz-Kraft, 898–900 Wellenfunktion
Mischzustand, 896 antisymmetrische, 119, 123, 124
Reibungskraft, 900, 901 Heitler-London, 124
symmetrische, 119, 124
U Wellenpaket, 371
Überabschirmung, 851 Wellenvektoren
Übergangsmetalle, 353, 682, 717, 737 erlaubte, 195
Überlappintegral, 119 Widerstandstensor, 559
Ultraschallabsorption, 168 Wiedemann, Gustav Heinrich, 287
Ultraschallmessverfahren, 167 Wiedemann-Franz-Gesetz, 287, 419
Umklapp-Prozesse, 404, 425 Wigner, Eugene Paul, 6
universelle Leitwertfluktuationen, 452 Wigner-Seitz Zelle, 61
unkonventionelle Supraleitung, 903, 904 Wigner-Theorem, 983

Y
V Yosida, Kei, 705
Valenzbandkante, 546, 551, 554 Yosida-Funktion, 880
Valenzbindungsnäherung, 124–126 Young’s modulus, 151, 160
Valenzelektronen, 136, 361 Yukawa-Potenzial, 629
Valley-Entartung, 558
van Alphen, P.M., 355, 471 Z
Van der Waals Bindung, 102–110 Zeeman-Energie, 744
Bindungsenergie, 108 Zeeman-Wechselwirkung, 710
Van der Waals Wechselwirkung Zeitumkehrinvarianz, 325, 951, 984
Potenzial, 105 Zeitumkehr-Operator, 984
van der Waals, Johannes Diderik, 102, 103 Zeitumkehrtransformation, 984, 985
van Hove Singularität, 351 Zener, Clarence Melvin, 532, 704
van Leeuwen, Johanna Hendrika, 660 Zener-Diode, 532
Van Vleck Paramagnetismus, 673, 688 Zener-Tunneln, 532
van Vleck, John H., 673 Zentrierung, 15
Variationsrechnung, 864 Zinkblende-Struktur, 492
Varshni-Formel, 490 Zirkulation, 944
Verarmungszone, 537, 551 Zonenrand, 330
Index 1047

Zonenschema, 330 niederdimensionale Systeme, 199


ausgedehntes, 327 Phononen, 193–199
periodisches, 327, 469 Zustandsdichtemasse, 498
reduziertes, 325–327 Zustandssumme, 675, 687
Zustandsdichte, 350–358 Zweiband-Modell, 511
beim Fermi-Niveau, 716 Zweiflüssigkeiten-Modell, 777, 798
Elektronen, 695 Zweiniveausystem, 253
Elektronengas, 271 quantenmechanisches, 685
Energieraum, 264, 265, 351 Zwischenzustand, 829, 830
Frequenzraum, 196, 197 Zyklotronfrequenz, 293, 377, 389, 460, 558
Halbleiter, 497 Zyklotronmasse, 390, 497
im Magnetfeld, 464 Halbleiter, 497
isotropes Medium, 198 Zyklotronradius, 478
kombinierte, 495, 619 Zyklotronresonanz, 477
k-Raum, 194, 196, 263, 264 Halbleiter, 495
Magnonen, 761 Metalle, 478

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