The Project Gutenberg eBook of Gegen den Strich
    
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Title: Gegen den Strich

Author: J.-K. Huysmans

Translator: Martha Capsius

Release date: February 23, 2019 [eBook #58941]

Language: German

Credits: Produced by Jens Sadowski and the Online Distributed
        Proofreading Team at http://www.pgdp.net. This file was
        produced from images generously made available by The
        Internet Archive


*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK GEGEN DEN STRICH ***




Produced by Jens Sadowski and the Online Distributed
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                           GEGEN DEN STRICH.




                               GEGEN DEN
                                 STRICH


                            (À REBOURS) VON
                             J. K. HUYSMANS

                       AUTORISIERTE UEBERSETZUNG
                             VON M. CAPSIUS


                                  1897

                         IM VERLAG VON SCHUSTER
                           U. LÖFFLER BERLIN


                  Ich muss mich über die Zeit
                  hinaus belustigen ..., obwohl
                  meine Freude der Welt ein Greuel
                  ist, und ihr Stumpfsinn gar nicht
                  erfasst, was ich sagen will.

                              Busbrock, l'Admirable.




                              EINLEITUNG.


Wenn man nach den Porträts urteilen sollte, die im Schloss Lourps
aufbewahrt werden, so müsste die Familie Floressas des Esseintes in
alten Zeiten aus athletischen alten Haudegen und rauhen Kriegsmannen
bestanden haben.

Gedrängt und eingeengt in ihre alten Rahmen, die sie mit ihren breiten
Schultern gänzlich ausfüllen, könnten sie uns mit ihren starren Augen,
den à la yatagans gedrehten Schnurrbärten und ihrer mit gewölbtem Panzer
bedeckten Brust nahezu erschrecken.

So sahen die Ahnen der berühmten Familie des Esseintes aus; die Bilder
der Nachkommen fehlen, da die Reihenfolge unterbrochen. Ein einziges
Gemälde dient als Mittelglied, Vergangenheit und Gegenwart verbindend.
Es war dies ein gar eigentümliches, schlaues Gesicht mit bleichen,
schlaffen Zügen, die Backenknochen wie rot punktiert, das Haar wie
angeklebt und von Perlen durchflochten, mit ausgestrecktem, geschminktem
Hals, der aus den tiefen Falten einer steifen Krause hervortritt.

Schon auf diesem Bilde eines der intimsten Vertrauten des Herzogs von
Epernon und des Marquis d'O machten sich die Gebrechen einer
untergrabenen Gesundheit wie der Einfluss des lymphatischen Blutes
bemerkbar.

Der Verfall dieser Familie hatte zweifellos seinen regelmässigen Verlauf
genommen; die Verweichlichung der männlichen Linie war immer mehr
hervorgetreten, und als ob die des Esseintes das Werk der Zeit hätten
selbst vollenden wollen, hatten sie während zweier Jahrhunderte ihre
Kinder unter sich verheiratet, wodurch der Rest ihrer Kraft in naher
verwandtschaftlicher Verbindung noch mehr geschwächt worden war.

Von dieser einst so zahlreichen Familie, welche fast das ganze Gebiet
von Isle-de-France und Brie bewohnte, lebte nur noch ein einziger
Nachkomme, der Herzog Jean, ein schmächtiger junger Mann von dreissig
Jahren, blutarm und nervös, mit eingefallenen Backen, kalten stahlblauen
Augen, gerader feiner Nase und dürren schmalen Händen.

Durch ein seltsames Vorkommnis der Vererbung hatte dieser letzte Sprosse
eine ganz auffällige Ähnlichkeit mit dem Urahnen, von dem er den spitzen
Bart von ausserordentlich hellem Blond und den doppelsinnigen Ausdruck
des sehr ermüdeten und doch lebendigen Gesichtes hatte.

Seine Kindheit war eine traurige gewesen; bedroht von Skrofeln und
heimgesucht von hartnäckigen Fiebern war er dennoch mit Hülfe frischer
Luft und Pflege so weit gediehen, dass er die Klippen der Reifezeit
überschritt. Von da ab hielten seine Nerven stand, so dass er, die
Schwächen der Bleichsucht überwindend, es schliesslich bis zur
vollständigen Entwickelung brachte.

Seine Mutter, eine sehr blasse Frau, still und schweigsam, starb an
Entkräftung, während sein Vater einer unbestimmbaren Krankheit erlag,
als Jean des Esseintes eben sein achtzehntes Jahr erreichte.

Von seinen Eltern war ihm nur eine Erinnerung verblieben, die einer
gewissen Furcht, die jedes kindliche Gefühl erstickte. Seinen Vater, der
fast immer in Paris lebte, kannte er kaum; und seine Mutter vermochte er
sich nur in einem dunklen Zimmer des Schlosses von Lourps unbeweglich
auf dem Schlummerbette liegend vorzustellen. Selten nur waren die Gatten
vereint gewesen, und von jenen Tagen erinnerte er sich nur noch der gar
einförmigen Zusammenkünfte, wo beide sich gegenüber sassen, zwischen
sich einen Tisch, auf dem eine grosse Lampe brannte, die durch einen
Lampenschirm tief verhängt war, da die Frau Herzogin weder Licht noch
Lärm zu ertragen vermochte, ohne einer Nervenkrisis zu verfallen. Hier
im Halbdunkel wechselten die Gatten wohl einige wenige Worte, bis der
Herzog aufstand, sich verabschiedete und gleichsam erleichtert den
nächsten besten Zug nahm, der ihn wieder nach Paris zurückführte. --

Bei den Jesuiten, zu denen Jean zur Erziehung geschickt wurde, fand er
wohlwollend freundliche Aufnahme. Die Pater gewannen das Kind, dessen
Fassungskraft sie in Erstaunen setzte, recht lieb. Dennoch aber
vermochten sie nicht, es trotz all ihrer Bemühungen dahin zu bringen,
dass es sich den geregelten Studien widmete. Wohl fand es Geschmack an
gewissen Arbeiten, so dass es frühzeitig der lateinischen Sprache
mächtig ward, dagegen war es aber unfähig, nur zwei Worte griechisch zu
erklären. Es hatte durchaus keine Befähigung für das Erlernen der
lebenden Sprachen und zeigte sich geradezu stumpf, sobald man sich
bemühte, es in die Anfangsgründe der exakten Wissenschaften einzuführen.

Seine Familie kümmerte sich wenig um Jean; dann und wann besuchte ihn
sein Vater auf einen Augenblick in der Pension: »Guten Tag! -- Adieu! --
Sei artig! Arbeite tüchtig!« -- dies war alles, was er zu hören bekam.

Die Sommerferien verbrachte er im Schlosse von Lourps; doch vermochte
seine Gegenwart nicht, die Mutter ihrem träumerischen Zustande zu
entreissen. Sie bemerkte ihn oft kaum oder betrachtete ihn während
einiger Sekunden mit fast schmerzlichem Lächeln und versenkte sich dann
wieder von neuem in die durch dicke Gardinen erzeugte künstliche Nacht.

Die Dienstboten waren langweilig und alt. Der Knabe, sich selbst
überlassen, durchstöberte an Regentagen die Bücher der Bibliothek und
streifte bei schönem Wetter in der Umgegend umher.

Seine grösste Freude war, in das kleine Thal hinunter zu gehen bis nach
Jutigny, einem kleinen Dörfchen, das sich am Fusse der Hügel ausdehnte
und aus wenigen kleinen Häusern und Hütten bestand, die, meist mit Stroh
bedeckt, gleichsam aus dem Moos herauswuchsen. Er warf sich dann wohl
auf die Wiesen im Schatten eines hohen Heuschobers nieder, dem dumpfen
Geplätscher der Wassermühle lauschend, oder auch die frische Luft der
Voulzie einatmend. Manchmal dehnte er seinen Spaziergang bis zum
Torfmoor oder bis zu dem grünen und schwarzen Weiler von Longueville
aus, oder er kletterte gar die Anhöhen hinauf, wo der Wind schärfer
wehte und von wo er eine schönere Aussicht genoss. An der einen Seite
hatte er unter sich das Seine-Thal, das sich in weiter Ferne mit dem
Blau des Himmels mischte; an der anderen Seite hatte er den Blick hoch
oben gen Westen auf die Kirchen und den Turm von Provins, welche in der
Sonne und dem goldigen Luftstaub zu zittern schienen.

Er las oder träumte, in vollen Zügen die Abgeschlossenheit einsaugend,
wohl bis zur Dunkelheit; und da er sich immer grübelnd denselben
Gedanken hingab, so konzentrierte sich sein Geist, und seine bis dahin
noch unbestimmten Ideen begannen vorzeitig zu reifen. Nach den Ferien
kam er jedesmal nachdenklicher und störrischer zu seinen Lehrern zurück,
denen diese Veränderung keineswegs entging. Scharfsinnig und schlau --
durch ihren Beruf daran gewöhnt, die Seelen bis ins Innere zu ergründen
-- liessen sie sich durch seine aufgeweckte, doch unlenksame Intelligenz
durchaus nicht hinters Licht führen. Sie erkannten wohl, dass dieser
Schüler niemals zum Ruhme ihrer Anstalt beitragen werde; da aber seine
Familie reich war und sich wenig um seine Zukunft bekümmerte, so
verzichteten sie vollständig darauf, ihn auf den einträglichen
Schulberuf hinzulenken, obgleich er gern diejenigen der theologischen
Doktrinen mit ihnen erörterte, welche ihn durch ihre Spitzfindigkeit und
ihren Scharfsinn reizten. Dachten sie doch nicht einmal daran, ihn für
ihren Orden zu gewinnen; denn trotz aller ihrer Bemühungen blieb sein
Glaube schwach, weil sie ihn, aus Klugheit und Furcht vor etwas
Unvorhergesehenem, auch ruhig die Studien verfolgen liessen, die ihm
eben zusagten, und andere dagegen vernachlässigen, damit ihnen sein
selbständiger Charakter nicht durch die Plackereien weltlicher
Studienlehrer noch mehr entfremdet werde.

So lebte er vollständig zufrieden, das väterliche Joch der Priester kaum
fühlend, indem er mit seinen lateinischen und französischen Studien ganz
in seiner Weise fortfuhr, und, obgleich Theologie nicht auf dem
Schulplan stand, widmete er sich doch den Lehren derselben, deren
Studium er bereits im Schlosse Lourps in der vom Urgrossonkel, dem
Domherrn Prosper, dem vormaligen Prior der Ordensstiftsherren von
Saint-Ruf, hinterlassenen Bibliothek begonnen hatte.

Als er die Erziehungsanstalt der Jesuiten bei seiner Grossjährigkeit
verlassen musste, wurde er Herr seines Vermögens; sein Vetter und
Vormund, der Graf von Montchevrel, legte ihm Rechenschaft über seinen
Besitz ab. Die Beziehungen zwischen ihnen aber waren nur von kurzer
Dauer, da es keinen Berührungspunkt zwischen beiden gab, weil der eine
alt, der andere jung war. Aus Neugier, Langeweile und Höflichkeit setzte
der junge Herzog dennoch eine Weile den Umgang mit der Familie fort. Er
machte einige Besuche in ihrem Palais in der Rue de la Chaise;
entsetzlich langweilige Abende, an denen die steinalten Verwandten sich
über adelige Familien, heraldische Monde und veraltetes Ceremoniel
unterhielten.

Mehr noch als diese vornehmen alten Damen hier erschienen ihm jene
hochadeligen Herren, welche die Whisttische umsassen, als verknöcherte,
höchst unbedeutende Menschen.

Die Nachkommen der alten Helden, die letzten Zweige der feudalen
Geschlechter erwiesen sich dem Auge des Herzogs Jean des Esseintes nach
Lüftung ihrer Maske meist nur als vom Katarrh geplagte arg verschrobene
Käuze, die immer wieder dieselben faden Redensarten und hundertjährigen
Phrasen im Munde führten.

Nachdem er einige Abende in solcher Gesellschaft zugebracht, fasste er
den Entschluss, trotz aller Einladungen und Vorwürfe nie wieder dort
hinzugehen.

Jetzt fing er an mit jungen Leuten seines Alters und seines Standes zu
verkehren.

Einige von ihnen waren mit ihm in der Ordensschule erzogen und hatten
durch diese Erziehungsweise gleichsam einen besonderen Stempel
aufgedrückt erhalten. Sie gingen regelmässig zur Messe, beichteten zu
Ostern, besuchten die katholischen Kreise und hielten jeden ihrer
Angriffe, die sie auf schöne Mädchen niedergeschlagenen Auges
unternahmen, geheim wie ein Verbrechen. Es waren dies meist geistlos
unselbständige Zierpuppen, welche die Geduld ihrer Lehrer ermüdet
hatten, die aber trotzdem ihren Wünschen soweit nachgekommen waren, sie
in der menschlichen Gesellschaft als gehorsame und fromme Wesen
hinzustellen.

Die andern, meist Schüler der Staats-Gymnasien, waren weniger Heuchler,
sondern im allgemeinen freier, aber sie waren weder interessanter noch
aufgeweckter als jene. Sie liebten die Vergnügungen jeder Art, waren
grosse Freunde der Operette und des Turfs, waren an jedem Spieltisch zu
finden, ihr Vermögen auf Pferde und Karten verwettend.

Nach Verlauf eines Jahres war der junge Herzog dieser Gesellschaft müde
und überdrüssig. Ihren Ausschweifungen sich hinzugeben, die sie ohne
Unterscheidung, ohne fieberhafte Vorbereitung, ohne wirkliche Wallung
und Aufregung des Blutes und der Nerven durchmachten, erschien ihm mehr
als flach und geradezu gemein.

Nach und nach zog er sich daher von ihnen zurück und schloss sich den
Litteraten an, bei denen er mehr geistige Verwandtschaft zu finden und
sich wohler zu fühlen hoffte. Dies aber führte nur neue Enttäuschungen
mit sich, denn er war empört, ihre kleinlichen und rachsüchtigen Urteile
zu erkennen, ihre banale Unterhaltung und ihre widerlichen
Streitigkeiten zu hören, wonach der Wert eines Werkes einfach nach der
Zahl der Auflagen und dem Ertrag des Verkaufes bemessen wurde.

Er lernte zu gleicher Zeit die Freidenker wie die Prinzipienreiter des
Bürgerstandes kennen, Leute die alle Freiheit beanspruchten, um die
Meinungen der andern zu ersticken; habsüchtige, schamlose Puritaner,
deren Bildung er noch geringer schätzte als die des ersten besten
Eckenstehers.

Seine Menschenverachtung nahm immer mehr zu; er erkannte, dass die
Menschheit zum grossen Teil aus leeren Prahlhänsen und Dummköpfen
besteht, so dass er die Hoffnung aufgab, bei anderen wahre Seelengrösse
oder reinen Hass zu entdecken. Er verzichtete darauf, einer
Fassungskraft zu begegnen, die sich wie die seine in einer arbeitsamen
Abgeschlossenheit gefiel, oder in einem Schriftsteller oder Gelehrten
den scharf durcharbeiteten Geist zu finden, der sich dem seinen
anschliessen konnte.

Er fühlte sich nervös und mehr als unbehaglich, war von der Flachheit
der Ideen, die man gegenseitig austauschte, angewidert, und wurde wie
die Leute, von denen Pierre Nicole sagt, dass sie überall empfindlich
und gereizt seien. Es kam so weit, dass er sich fortwährend seine Haut
aufritzte. Geradezu unerträglich litt er bei der Lektüre patriotischer
oder sozialer Thorheiten, die jeden Morgen von den Zeitungen unter die
Leute gebracht und mit denen die ehrsamen Leser abgespeist wurden.

Er begann schon von einer abgeschiedenen Thebaïde, einer komfortablen
Wüstenei, einer unbeweglichen und angenehm durchwärmten Arche zu
träumen, wohinein er sich vor der wachsenden Flut des schon mehr
unmenschlichen Blödsinns zu flüchten gedachte.

Eine einzige Leidenschaft, das Weib, hätte ihn von dieser allgemeinen
Verachtung, welche ihn erdrückte, zurückhalten können, aber diese Saite
war ja leider auch verbraucht.

Hatte er doch an dieser Fleischestafel mit dem launenhaften Heisshunger
eines Menschen gelagert, der an krankhafter Esslust leidet, und dessen
Gaumen bald abgestumpft und übersättigt ist. Während der Zeit, in der er
mit den Junkern verkehrte, hatte er an ihren tollen Gelagen
teilgenommen, bei denen trunkene Dirnen sich zum Nachtisch die Kleider
lüften und mit dem Kopfe, wenn nicht unter, so doch auf dem Tische
liegen. Selbstredend war er hinter den Coulissen gewesen; er hatte es
mit Schauspielerinnen und Sängerinnen versucht und ausser der den Frauen
angeborenen Dummheit die rasende Eitelkeit elender Künstlerinnen zu
ertragen gehabt; er hatte mit galanten, ihrer Schönheit wegen berühmten
Frauenzimmern in Verbindung gestanden und gewaltiges Geld an gewisse
Agenturen bezahlt, wofür er sehr zweifelhafte Vergnügungen genossen, um
sich schliesslich übersättigt und dieses gleichförmigen Luxus, dieser
erkünstelten Zärtlichkeiten überdrüssig, in die untersten Schichten der
Gesellschaft zu stürzen. Hier hoffte er seine nimmersatte Gier durch den
Kontrast neu aufstacheln und seine schlummernde Sinnlichkeit durch die
aufreizende Unreinheit des Elends wieder anfachen zu können.

Doch was er auch versuchen mochte, ein ungeheurer Weltschmerz drückte
ihn nieder. Er gab dennoch den Kampf nicht auf. Er nahm seine letzte
Zuflucht zu den gefährlichen Liebkosungen der Virtuosinnen; seine
Gesundheit wurde schwach und seine Nerven zermürbten mehr und mehr. Sein
Nacken wurde empfindlich und seine Hand fing schon zu zittern an.
Allerdings hielt er sie noch gerade, sobald er einen schweren Gegenstand
ergriff, doch war sie kraftlos, sobald er etwas Leichtes, zum Beispiel
ein Glas zu Munde führen wollte.

Die Prognose der Ärzte beunruhigte ihn. Es war Zeit, diesem Leben
Einhalt zu thun und auf jene Experimente zu verzichten, die nur die
letzten Kräfte raubten. Während einiger Zeit verhielt er sich ruhig;
aber sein Gehirn erhitzte sich bald von neuem und rief ihn wieder zu den
Waffen. Wie die jungen Mädchen in der Reife ein Verlangen nach allen
möglichen aufreizenden Dingen empfinden, kam er dahin, sich ganz
absonderlich sinnliche Freuden und Genüsse auszumalen und sich solchen
hinzugeben. Dies aber war der Anfang vom Ende. Übersättigt und erschöpft
von allem verfielen seine überreizten Sinne einer Art Lethargie -- das
sichere Anzeichen eines herannahenden Unvermögens.

Er kam dann wieder von seinen Verirrungen ernüchtert, entsetzlich
ermattet zurück, ein Ende herbeisehnend, vor dem die Feigheit seines in
Sinnlichkeit versunkenen Charakters zurückschauderte.

Seine Idee, sich irgendwo fern von der Welt niederzulassen, sich
gleichsam in einem Winkel einzunisten und wie ein Kranker zu leben, der
die Strasse mit Stroh bedecken lässt, um den Lärm des unerbittlichen
Lebens zu dämpfen, wurde immer stärker in ihm.

Zudem war auch der Zeitpunkt gekommen, einen Entschluss zu fassen, denn
seine Vermögensverhältnisse erschreckten ihn. Den grössten Teil seines
Erbgutes hatte er thörichterweise längst vergeudet, und der Rest steckte
in Ländereien, die ihm lächerlich wenig einbrachten.

Er entschloss sich daher, Schloss Lourps zu verkaufen, wohin er doch
nicht mehr ging, und wo ihn keine Erinnerung und kein Bedauern fesselte;
er liquidierte ebenfalls seine andern Güter, kaufte sich Staatspapiere
und machte sich in solcher Weise ein jährliches Einkommen von 50,000
Franken. Er behielt ausserdem noch eine ansehnliche Summe zurück, die er
für den Kauf und die Einrichtung des Häuschens bestimmte, in welchem er
in völliger Stille und Zurückgezogenheit leben wollte.

Er suchte die Umgegend von Paris ab und entdeckte ein kleines Häuschen
hoch oben in Fontenay-aux-Roses, das billig zu verkaufen war, weil es an
einem entlegenen Platze ganz ohne Nachbarn in der Nähe der Feste lag.
Sein Traum erfüllte sich, denn in diesem Orte, der wenig von Parisern
heimgesucht ist, war er ziemlich sicher, die gewünschte
Zurückgezogenheit zu finden. Die Schwierigkeit der unzuverlässigen
Verbindung mittels Eisen- und Pferdebahn, die am Ende des Städtchens
stationiert waren, und die gingen und kamen, wie es ihnen passte,
beruhigte ihn sehr. Wenn er an diese neue Existenz dachte, die er sich
daselbst gründen wollte, empfand er eine grosse Freude, und dies um so
mehr, als die Wohnung ziemlich weit vom Seineufer entfernt lag, so dass
ihn der Menschenstrom selbst nicht erreichte, während er dennoch in der
Nähe der Hauptstadt verblieb, so dass ihm seine Zurückgezogenheit nicht
gerade fühlbar wurde.

Er schickte die Maurer in das neu erstandene Haus, und eines Tages, ohne
irgend jemand etwas von seinen Plänen zu verraten, verkaufte er sein
Mobiliar, entliess seine Diener und verschwand, ohne seine Adresse zu
hinterlassen.




                            ERSTES KAPITEL.


Mehr als zwei Monate vergingen noch, bevor sich Herzog Jean in die
stille Zurückgezogenheit seines Häuschens in Fontenay vergraben konnte.
Einkäufe aller Art nötigten ihn, noch eine Weile in Paris zu verbleiben
und die Stadt oft von einem Ende bis zum andern zu durchlaufen.

Lange hatte er nachgeforscht und gegrübelt, ehe er die neue Wohnung
endlich den Tapezierern überlassen konnte. --

Vormals, da er noch schöne Frauen zu sich kommen liess, hatte er ein
Boudoir nach seiner Angabe einrichten lassen, wo sich inmitten kleiner
geschnitzter Möbel aus hellem japanischen Kampferholz unter einem Zelt
von indischem Rosa-Atlas der nackte Körper beim künstlichen Wiederschein
des bauschigen Stoffes noch zarter färbte.

Jenes Gemach, dessen grosse Spiegel sich beständig reflektierten und so
eine ganze Reihe von Rosa-Boudoirs darstellten, war bei den Damen der
galanten Welt sehr berühmt gewesen; denn es machte ihnen grosses
Vergnügen, ihre Nacktheit in dieses sanfte Inkarnat zu tauchen, wie auch
den starken Duft der Möbel einzuatmen.

So hatte er unter anderem aus Hass und Verachtung seiner Kindheit unter
dem Plafond dieses Boudoirs einen kleinen Käfig aufgehängt, in dem ein
kleines Heimchen zirpte, wie er's oft in der Asche der hohen Kamine im
Schlosse Lourps gehört, während jener langen stillen Abende, die er bei
seiner Mutter zubringen musste; und die Erinnerung daran, wie an das
Alleinsein in seiner traurigen Jugend stieg in wirrem Durcheinander vor
ihm auf. Bei den Bewegungen des Weibes, welches er liebkoste, und dessen
Geschwätz oder Lachen seine Vision verscheuchte und ihn plötzlich in die
Wirklichkeit versetzte, -- in diesem so weltlichen Boudoir entstand ein
Kampf in seiner Seele, ein Bedürfnis, alle die erlittenen Trübsale
zu rächen, eine Wut, durch schändliche Gemeinheiten die
Familienerinnerungen zu besudeln, das rasende Verlangen, auszukeuchen
auf diesem Menschenleib, bis zum letzten Tropfen die wahnsinnigsten der
sinnlichen Verirrungen auszukosten.

Dann wieder einmal, wenn der Spleen ihn packte und wenn bei nassem
Herbstwetter der Widerwille gegen sein Heim und gegen den trüben
wolkenschweren Himmel draussen ihn erfasste, dann flüchtete er sich an
das verborgene Plätzchen, bewegte leise den Käfig und beobachtete, wie
derselbe sich rings herum unzählige Male wiederspiegelte, bis es seinen
trunkenen Augen endlich vorkam, als ob der Käfig sich nicht mehr
bewegte, dass aber das ganze Boudoir schwanke und sich drehe wie in
einem sanften rosa Walzer.

Ein anderes Mal, als Jean des Esseintes sich wieder durch seine
Sonderbarkeit auszeichnen wollte, hatte er ein Möblement nach seltsamem
Geschmack zusammengestellt. Er teilte seinen Salon in eine Reihe von
Nischen, die alle verschieden ausgeschmückt waren und die miteinander
vereinigt werden konnten. Es waltete hier eine tolle Übereinstimmung von
freundlichen und düstern, von zarten und krassen Farben. Dann liess er
sich in einer dieser Nischen nieder, deren Dekoration ihm am besten mit
der Eigenart des Werkes, welches er gerade las, zu harmonieren schien.

Schliesslich hatte er noch einen hohen Saal herrichten lassen, in dem er
seine Lieferanten empfing. Sie mussten sich nebeneinander in eine Art
von Kirchenstühlen setzen. Hier bestieg er eine hohe Kanzel, von der
herab er ihnen eine Predigt über die Eitelkeit und das Geckentum der
Welt hielt. Er forderte von hier aus seinen Schuhmacher und Schneider
feierlich auf, sich aufs genaueste nach seinem päpstlichen Schreiben
hinsichtlich des Schnittes zu richten, wobei er sie mit einem pekuniären
Kirchenbann bedrohte, so sie nicht die in seinem väterlichen
Ermahnungsschreiben und seinen Encykliken gegebenen Anweisungen
buchstäblich zur Ausführung brächten.

So erlangte er bald den Ruf eines höchst excentrischen Menschen, den er
dadurch zu krönen suchte, dass er sich Anzüge aus weissem Sammt
anfertigen liess; wie er auch Westen aus Goldbrokat trug und statt der
Krawatte einfach einen grossen Veilchenstrauss in den weiten Ausschnitt
seines Hemdes steckte. Dann gab er den Litteraten oft grossartige
Diners, unter anderm ein Trauerdiner nach dem Muster des achtzehnten
Jahrhunderts, um ein ganz unbedeutendes kleines Missgeschick, das ihm
zugestossen, klassisch zu feiern.

Der Esssaal war ganz schwarz ausgeschlagen. Er führte nach dem völlig
umgestalteten Garten hinaus, dessen Alleen zu diesem Zweck mit feinem
Kohlenstaub bestreut waren; das kleine mit Basaltstein umrandete
Wasserbecken war mit schwarzer Tinte gefüllt, die Gebüsche bildeten
Fichten und Cypressen. Die Mahlzeit wurde auf einem schwarzen Tischtuch
serviert, auf dessen Mitte sich Blumenkörbe, mit Veilchen und Skabiosen
gefüllt, befanden. In hohen Kandelabern brannten grünliche Flammen, und
Wachskerzen in Armleuchtern erhellten den Saal. Ein unsichtbares
Orchester spielte Trauermärsche, und die Gäste wurden von nackten
Negerinnen, bekleidet mit Pantoffeln und kleinen Strümpfen aus
Silbergewebe, die mit glänzenden Kügelchen besäet waren, bedient.

Man ass von Tellern mit schwarzem Rande: Schildkrötensuppe, russisches
Schwarzbrot, reife türkische Oliven, Kaviar, Seebarben (ein im Süden von
Frankreich sehr beliebtes Gericht), Wildpret in schwarzer Sauce, so
schwarz als wär's Lakritzensaft und Stiefelwichse, Trüffelpurée,
Schokoladenpudding, dem dann ganz dunkle Blutpfirsiche, blauschwarze
Trauben, Maulbeeren und schwarze Kirschen folgten. Man trank aus dunklen
Gläsern die Weine von Limagne und Roussillon, von Tenedos, Val de Peñas
und Porto und labte sich schliesslich nach dem Kaffee mit Nussschnaps,
Kwas, Porter und Stout.

Die Einladungen zu diesem Diner waren auf Papier mit breitem, schwarzem
Trauerrand geschrieben. -- --

Aber diese Extravaganzen und Tollheiten, in denen er früher seinen Ruhm
suchte, hatten sich erschöpft.

Heute gedachte er nur mit Verachtung jener kindischen Albernheiten und
veralteten Prahlereien, jener absurden Kleidung und seltsamen
Ausschmückungen seiner Wohnung. Jetzt beabsichtigte er, sich einfach ein
bequemes Heim zu seinem persönlichen Vergnügen zu schaffen und nicht das
Staunen anderer zu wecken. Er hatte jetzt nur vor, sich eine ruhige,
wenn auch barocke Wohnung einzurichten, die sich für seine künftige
einsame Lebensweise am besten eignen sollte.

                   *       *       *       *       *

Als das Haus in Fontenay von seinem Architekten schliesslich hergestellt
und nach seinen Wünschen und Plänen eingerichtet war, und als ihm nur
noch die innere Ausschmückung zu erledigen übrig blieb, da stellten sich
ihm die ersten Schwierigkeiten in den Weg.

Das was er wollte, waren nämlich Farben, welche beim Lampenlichte Stich
hielten. Ob sie bei Tage hart oder unschön, war ihm gleich, da er die
Nacht zum Tage zu machen gedachte, da er sich sagte, dass man dann erst
ganz allein sei, und der Geist erst wirklich bei der näheren Berührung
der Schatten der Nacht belebt und erregt werde. Er fand eine gewisse
Befriedigung darin, sich ganz allein in einem grossen, hell erleuchteten
Raume aufzuhalten, während alles um ihn herum wie ausgestorben war.

Sorgfältig überlegend wählte er die Farben.

Blau wird bei Licht ein ungewisses Grün; und wenn es Kobalt oder
Indigoblau ist, so wird es schwarz aussehen; ist es hell, so verändert
es sich in grau, und ist es blau wie der Türkis, so nimmt es eine trübe
eisige Färbung an, es sei denn, dass man es mit einer anderen Farbe
mischt; sonst kann man es kaum in einem Raum verwerten. Andererseits
nimmt das Eisengrau ebenfalls eine unfreundlich schwere Färbung an;
Perlgrau verliert seine Zartheit und verwandelt sich in schmutziges
Weiss; Braun wirkt trübe und erkaltend; und was Dunkelgrün, Kaisergrün
und Olivengrün anbelangt, so hat es denselben Nachteil wie Dunkelblau
und verschmilzt mit Schwarz; bleiben also nur noch die blassgrüneren
Farben, wie Pfauengrün, dann Zinnober, die Lackfarben, hier aber verjagt
das Licht das Blau und lässt das Gelb hervortreten, welches wieder einen
unnatürlich verschwommenen Ton annimmt.

Es war auch nicht daran zu denken, Lachsfarbe, Maisgelb oder Rosenrot zu
nehmen, denn diese weichen Farben standen im Widerspruch mit den
Gedanken seiner Abgeschiedenheit; unmöglich war ebenfalls Veilchenblau,
da es bei Licht verschwimmt und das Rot darin allein des Abends
hervortritt, doch was für ein Rot! Dick und klebrig! Es schien ihm
ausserdem überflüssig, zu dieser Farbe seine Zuflucht zu nehmen, denn
wenn man ein wenig Santonine einmischt, so erscheint es violett; diese
Farbe ist nicht leicht zur Wandbekleidung zu verwenden.

Er nahm daher von diesen Farben Abstand, und so blieben ihm nur noch
drei übrig: Orangegelb, Citronengelb und Rot.

Er zog das Orangegelb vor, indem er durch sein eigenes Beispiel die
Wahrheit einer Theorie bestätigte, welche er im Übrigen für
mathematische Richtigkeit erklärte: nämlich, dass eine Harmonie zwischen
der sinnlichen Natur eines Menschen, der wirklich Künstler ist, und der
Farbe existiert, welche sein Auge besonders lebhaft sieht.

Wenn man die grosse Menge beiseite lässt, deren grobe Netzhaut weder die
eigenartige Harmonie der Farben bemerkt, noch den geheimnisvollen Reiz
ihrer Abstufungen und ihrer Zusammenstellung kennt; wenn man gleichfalls
die Bürger-Philister beiseite lässt, welche unempfänglich für die Pracht
und den Sieg der starken kräftigen Nuancen sind, und um sich nur auf
diejenigen zu beschränken, deren Augen durch Litteratur und Kunst
verfeinert sind, so erscheint es zweifellos, dass das Auge desjenigen,
der Ideales träumt und der Illusionen bedarf, gewöhnlich eine Vorliebe
für Blau und dessen Abstufungen, sowie für die lila und perlgraue Farbe
habe, vorausgesetzt, dass diese Nuancen weich und verschwommen bleiben
und nicht die Grenze überschreiten, wo sie in ein bestimmtes Violett und
scharfes Grau übergehen.

Diejenigen aber, die frei und ungebunden leben, kräftige Sanguiniker,
starke energische Menschen sind, gefallen sich meistens in schimmernden
Farben, wie Rot und Gelb, wie sie auch die Zimbelschläge des Zinnobers
und der Chromfarben lieben, die sie blenden und berauschen.

Die geschwächten und nervösen Menschen dagegen, deren sinnlicher Appetit
nach Speisen sucht, welche scharf gewürzt sind, -- die Augen dieser
hektischen, überreizten Naturen lieben fast alle die krankhaft
aufregende Farbe mit täuschendem Glanze, mit scharfem, unruhigem
Wechsel: das Orangegelb.

Die Wahl, welche der Herzog Jean treffen würde, liess also kaum Zweifel
zu; dennoch aber entstanden neue Schwierigkeiten, denn wenn auch das Rot
und Gelb sich bei Lichte glänzend bewährten, so geschieht das nicht
immer bei ihrer Zusammenstellung. Das Orangegelb verschärft und
verwandelt sich oft in Dunkelrot oder gar in Feuerrot.

Bei Kerzenlicht versuchte er alle seine Farbenzusammenstellungen und
entdeckte eine, welche gleich zu bleiben und sich nicht den
Anforderungen zu entziehen schien, die er an sie stellte. Nachdem diese
Vorkehrungen beendet waren, bemühte er sich, so viel es eben möglich
war, für sein Arbeitszimmer die orientalischen Farben und Teppiche zu
vermeiden, die prahlend und gewöhnlich geworden sind, seit Parvenüs sie
sich in den grossen Modemagazinen zu herabgesetzten Preisen leicht
verschaffen können.

Nach reiflicher Überlegung entschloss er sich dazu, die Wände wie seine
Bücher mit Saffian-Leder mit breitgedrückten Narben oder mit satiniertem
Kap-Leder bekleiden zu lassen.

Als das Getäfel derartig geschmückt war, liess er die Leisten und
Gesimse mit dunkler Indigofarbe und einer blauen Lackfarbe bestreichen,
so, wie sie die Wagenbauer für das Äussere der Wagen verwenden; und der
etwas gewölbte Plafond, ebenfalls mit Saffian-Leder bezogen, öffnete
sich wie ein ungeheures rundes Fenster, eingefasst von orangegelbem
Leder: ein kreisförmiges Himmelszelt von königsblauer Seide, in dessen
Mitte silberne Seraphine mit ausgebreiteten Flügeln schwebten.

Er hatte richtig kalkuliert: Das Getäfel veränderte sein Blau nicht, es
wurde gehalten und erwärmt durch das Orangegelb, welches ebenfalls Farbe
hielt, unterstützt und belebt durch den kräftigen Zug der blauen Farben.

Was die Möbel anbetrifft, so hatte Herzog Jean keine allzu grosse Mühe,
da der einzige Luxus dieses Zimmers nur aus Büchern und seltenen Blumen
bestehen sollte; er begnügte sich damit, an den Wänden Bücher- und
Fachschränke aus Ebenholz aufzustellen, indem er sich für später
vorbehielt, die frei gebliebenen Zwischenräume mit einigen Bildern und
Zeichnungen zu schmücken. Dann liess er den getäfelten Fussboden mit
Fellen von wilden Tieren belegen. In der Nähe eines grossen massiven
Tisches aus der Mitte des 15. Jahrhunderts standen tiefe Lehnstühle und
ein altes Kirchenpult aus Schmiedeeisen -- eines jener antiken
Chorpulte, auf welches ehemals der Diakonus das Chorbuch gelegt, und auf
dem jetzt einer der schweren Folianten des ¤Glossarium mediae et infimae
latinitatis¤ von dem Gerichtsschreiber du Cange stand.

Die Fenster, mit Scheiben aus bläulichen Flaschenböden von rissigem
Schmelz und Goldrand, schnitten die Aussicht auf das Land ab und liessen
nur ein gedämpftes Licht eindringen; sie wurden ausserdem mit Vorhängen
aus alten Messgewändern verhängt, deren dunkles, fast rauchiges Gold
sich in einem matt rotgelben Gewebe verlor.

Und endlich noch befand sich auf dem Kamine, dessen Bekleidung ebenfalls
aus einem prachtvollen florentinischen Messgewand hergestellt war,
zwischen zwei Monstranzen aus vergoldetem Kupfer byzantischen Stils,
welche der alten Abtei Bois-de-Bievre entnommen waren, eine wunderbar
schöne Messtafel mit drei getrennten Fächern von ausserordentlicher
Zartheit; unter dem Glas ihres Rahmens sah man ferner auf Pergament in
entzückender Messbuchschrift kopiert und mit kostbarer Ausmalung
versehen drei Werke von Baudelaire: zur Rechten und Linken Sonette mit
dem Titel »der Tod der Verliebten«, »der Feind« -- und in der Mitte in
Prosa: »¤Any where out of the world¤«.




                            ZWEITES KAPITEL.


Nach dem Verkauf seiner Güter nahm Herzog Jean die alten verheirateten
Dienstleute zu sich, welche seine Mutter gepflegt und die zu gleicher
Zeit dem Amte als Verwalter und Kastellane in Schloss Lourps
vorgestanden hatten, das bis zur Feststellung des gerichtlichen Verkaufs
unbewohnt und leer geblieben war.

Er liess das Ehepaar nach Fontenay kommen. Sie waren an die Thätigkeit
der Krankenwärter, an die Regelmässigkeit, mit der von Stunde zu Stunde
die Arzeneien verabreicht wurden, wie an das starre Schweigen des
Klosterslebens gewöhnt. Ohne mit der Aussenwelt im geringsten zu
verkehren, verblieben sie stets in geschlossenen Zimmern hinter
verschlossenen Fenstern.

Dem Mann wurde die Reinigung der Zimmer und das Einholen übertragen, die
Frau mit dem Kochen beauftragt. Er überliess ihnen den ersten Stock des
Hauses, doch mussten sie dicke Filzschuhe tragen. Er liess Windfänge vor
den gut geölten Thüren anbringen und ihre Fussböden mit dicken Teppichen
belegen, so dass er ihre Schritte über seinem Kopfe nicht hörte.

Er verabredete ebenfalls mit ihnen eine gewisse Art zu klingeln und
bestimmte die Bedeutung der einzelnen Klingelzeichen nach ihrer Kürze
und Länge; bezeichnete auf seinem Schreibtisch den Platz, wo sie jeden
Monat das Rechnungsbuch hinlegen mussten -- kurz er richtete sich so
ein, dass er nicht oft genötigt war, sie zu sehen.

Ebensowenig wollte er, da die alte Dienerin manches Mal am Hause vorüber
gehen musste, um aus einem kleinen Schuppen Holz zu holen, dass ihn ihr
Schatten störe, welcher dann durch die Scheiben seiner Fenster fiel. Er
liess ihr daher ein besonderes Kostüm aus flandrischer Seide mit weisser
Mütze und niedergeschlagener breiter schwarzer Kapuze anfertigen, in der
Art, wie sie die Frauen des Beguinenklosters in Gent tragen.

Wenn der Schatten dieser Kopfbedeckung in der Dämmerung an seinen
Fenstern vorüberglitt, so gab er ihm das Gefühl, dass er sich in einem
Kloster befinde. Es erinnerte ihn an die stillen frommen Dörfer, die
toten und versteckten Stadtviertel einer thätigen und lebhaften Stadt.

Er regelte und stellte auch die Stunden der Mahlzeiten fest, die
übrigens wenig gewählt, vielmehr überaus einfach waren, denn die
Schwäche seines Magens erlaubte ihm nicht, verschiedene oder schwere
Gerichte zu geniessen.

Um fünf Uhr im Winter, beim Herannahen der Dunkelheit, nahm er ein
leichtes Frühstück ein, welches aus zwei Eiern, kaltem Fleisch und Thee
bestand. Um elf Uhr hielt er seine Hauptmahlzeit; manchmal trank er
etwas Kaffee, Thee oder Wein während der Nacht, und gegen fünf Uhr
morgens naschte er wohl noch ein paar leichte Sachen, worauf er sich
schlafen legte.

Er nahm diese Mahlzeiten, deren Anordnung und Reihenfolge ein für alle
Mal zu Anfang jeder Jahreszeit festgesetzt wurde, an einem Tisch in der
Mitte eines kleinen Zimmers ein, welches von seinem Arbeitszimmer durch
einen ganz mit dickem Stoff ausgeschlagenen Korridor getrennt und ganz
hermetisch verschlossen war, so dass weder Geruch noch Lärm in die
beiden andern Gemächer dringen konnte.

Dieses Esszimmer glich einer Schiffskajüte mit gewölbtem Plafond, im
Halbkreis mit Balken, Wänden und Fussböden aus hellem Fichtenholz
versehen, mit dem kleinen, runden, ins Holz eingelassenen Fenster, das
der Luftöffnung an den Seiten eines Schiffes nicht unähnlich war.

Gleich japanischen Schachteln, von denen die eine immer in die andere
hineinpasst, war dieser Raum vom Architekten in einen grösseren
eingeschaltet, der als eigentlicher Esssaal erbaut war.

Dieser hatte zwei Fenster, eines unsichtbar durch eine leichte
Bretterwand den Blicken entzogen, das aber durch eine Feder nach Wunsch
niedergelassen werden konnte, damit frische Luft durch die Öffnung
eindringe, um die Fichtenholzkajüte cirkuliere und sich hier verbreite.
Das andere sichtbare Fenster befand sich grade gegenüber dem runden
Kajütenfensterchen in der Holzbekleidung, jedoch zugesetzt durch ein
grosses Aquarium, welches den ganzen Raum zwischen dem kleinen runden
und dem wirklichen Fenster in der Mauer ausfüllte. Das Tageslicht drang
also durch das grosse Fenster, durch das Wasser und schliesslich durch
das runde Fenster in die Kajüte.

Wenn dann der Samowar auf dem Tische dampfte und die Sonne im Herbste
unterging, so rötete sich das Wasser im Aquarium trübe und gläsern und
warf einen leichtfeurigen Schimmer auf das helle Getäfel.

Nachmittags manchmal, wenn der Herzog Jean zufällig wach war und
aufstand, setzte er den Betrieb der Wasserröhren welche das Aquarium
leerten, in Bewegung, und liess es sich wieder von neuem mit frischem
Wasser füllen. Indem er dann einige Tropfen farbiger Essenz hineinthat,
erzeugte er grünliche und gelbliche, milchweisse oder silberne
Färbungen, wie die natürlichen Gewässer je nach der Farbe des Himmels,
der mehr oder minder starken Glut der Sonne, oder des nahenden Regens
erscheinen, mit einem Wort: wie es die Jahreszeit der Atmosphäre
verursacht.

Er bildete sich dann ein, in dem Zwischendeck einer Brigg zu sein; und
neugierig betrachtete er wunderbar gearbeitete Fische, die, aufgezogen
durch ein Uhrwerk, vor der Scheibe des runden Kajütenfensters
vorbeischwammen und in dem künstlichen Gras hängen blieben. Oder er
betrachtete, während er den Theergeruch einsog, mit dem man den Raum
besprengt hatte, bevor er ihn betrat, die an den Wänden
aufgehängten farbigen Stiche, welche -- wie in den Agenturen der
Schiffahrtsgesellschaften -- Dampfschiffe auf dem Weg nach Valparaiso
oder La Plata vorstellten. Oder er besah die eingerahmten Tabellen, auf
welchen die Reiseroute der Linie der Postdampfer der Compagnieen Lopez
und Valéry, die Frachtgelder, die Häfen des Postdienstes im Atlantischen
Meer verzeichnet waren.

Dann, wenn er müde war diese Fahrpläne zu Rate zu ziehen, liess er seine
Blicke über die Chronometer und Kompasse schweifen, über die
Winkelmesser und Zirkel, die Fernrohre und Karten, die zerstreut auf dem
Tisch lagen, auf dem sonst nur ein einziges Buch aufgestellt war,
gebunden in Seehundsleder: Arthur Gordon Pyms Abenteuer, welches
besonders für ihn auf streifiges Papier reinster Faser gedruckt war,
jedes Blatt sorgfältig ausgesucht und mit einer Schwalbe im
Wasserzeichen.

Da waren ausserdem Fischereigeräte, durch Lehm gezogene Netze,
aufgerollte braune Segel, ein kleiner schwarz gestrichener Anker aus
Kork, zu einem Haufen nahe der Thür vereinigt, welche durch einen
kleinen ausgepolsterten Flur in die Küche führte, und der ebenso wie der
Korridor den Esssaal mit dem Arbeitszimmer verband, um die Gerüche und
den Lärm aufzusaugen.

Auf diese Art verschaffte er sich ohne grosse Mühe sofort die
augenscheinlichsten Eindrücke einer Seereise. Besteht doch das Vergnügen
der Abwechslung im Grunde genommen einzig in der Erinnerung und fast
niemals in der Gegenwart, in dem Augenblicke selbst. Er kostete sonach
diese Abwechslung in vollen Zügen, mit aller Bequemlichkeit, ohne jede
Anstrengung und ohne die sonst unvermeidlichen Verdriesslichkeiten in
dieser erdachten Kajüte.

Bewegung schien ihm zudem überflüssig, da ihm die Einbildung leicht die
gewohnte Wirklichkeit des Lebens zu ersetzen vermochte.

Nach seiner Ansicht war es nämlich möglich, sich die Wünsche, die für
die schwierigsten gelten, im normalen Leben künstlich selbst zu
befriedigen und dies mittels Täuschung durch eine genaue Fälschung der
erwünschten Gegenstände zu thun. Ist es doch klar, dass jeder
Feinschmecker heutigen Tages entzückt ist, wenn er in einem wegen der
Vortrefflichkeit seines Kellers berühmten Restaurant die teuren Weine
schlürft, welche nach Pasteurs Methode aus leichten billigen Weinen
hergestellt sind. Falsch oder echt, diese Weine haben ganz dasselbe
Aroma, dieselbe Farbe, dieselbe Blume, und verursachen also auch
dasselbe Vergnügen, das man beim Kosten und Geniessen echter und reiner
Weine empfindet, die infolge starker Nachfrage schliesslich für Gold
kaum aufzutreiben sein möchten.

Es unterliegt nach alledem keinem Zweifel, dass sich diese berauschende
Abweichung, diese geschickte Lüge und Täuschung des Geistes in die Welt
des realen Verstandes übertragen lassen, und dass man mithin ebenso
leicht wie in der materiellen Welt eingebildete Wonnen geniessen kann,
die fast in allen Punkten den wirklichen gleichen. Kein Zweifel zum
Beispiel, dass man im Notfall dem störrisch langsamen Geiste nachhelfen,
beim Lesen einer fesselnd geschriebenen Reisebeschreibung ruhig am Kamin
verweilen und sich erfolgreich angenehmen Forschungen hingeben kann. Wie
man sich auch -- ohne Paris zu verlassen -- das wohlthuende Gefühl eines
Seebades suggerieren kann, da es ja genügt, sich nach Vigier zu begeben,
dessen Bäder mitten in der Seine liegen.

Wenn man dort das Wasser der Wanne salzen lässt und nach der Vorschrift
des Arzeneibuches schwefelsaures Sodasalz und Magnesia hinzufügt und ein
kleines Ende Kabeltau aus einer Seilerei mitnimmt und dann den Duft,
welchen dieses Tau noch bewahrt hat, einsaugt und dabei eifrig Joanne's
Handbuch liest, welches die Schönheiten des Strandes, an dem man sein
möchte, beschreibt; und wenn man sich dann schliesslich noch leise von
den Wellen schaukeln lässt, welche die Dampfschiffe, die an der
schwimmenden Badeanstalt vorbeifahren, in der Badezelle aufwerfen, wenn
man das Ächzen des Windes hört, der sich unter den Brücken fängt, und
dem dumpfen Lärm der Omnibusse lauscht, die wenige Schritte weiter über
Pont-Royal hinwegrollen -- ist da nicht die Illusion des Meeres
unleugbar da?

Es handelt sich eben nur darum, seinen Geist auf einen bestimmten Punkt
zu richten.

Da ist nicht eine ihrer Erfindungen, möge sie für noch so feinsinnig
oder noch so grossartig gelten, die das Genie des Menschen nicht zu
schaffen imstande wäre! Da ist kein Wald von Fontainebleau, kein
Mondschein, welchen nicht eine von elektrischem Licht überflutete
Dekoration hervorzuzaubern vermöchte; kein Wasserfall, welchen die
Wasserleitungskunst nicht täuschend nachahmen könnte, kein Felsen, der
nicht durch Papiermaché herzustellen wäre, keine Blume, die nicht durch
besonderen Taffet und zart bemaltes Papier genau so wiedergegeben werden
könnte!

Unzweifelhaft hat diese uralte Schwätzerin Natur die gutmütige
Bewunderung der wirklichen Künstler erschöpft, und der Augenblick ist
gekommen, sie verbessert zu ersetzen, so weit es sich eben durch die
Kunst ermöglichen lässt.

Und dann, um ehrlich zu sein: dasjenige ihrer Werke, welches fraglos als
das künstlichste gilt, diejenige ihrer Schöpfungen, deren Schönheit nach
Aller Ansicht die ursprünglichste und vollkommenste ist, das _Weib_! Hat
der Mensch nicht seinerseits ein ebenso künstliches Wesen voll von Leben
geschaffen, welches vom Gesichtspunkt der plastischen Schönheit aus ihr
vollkommen gleichwertig ist? Giebt es wohl hienieden ein Wesen, das, in
Freuden der Brunst empfangen und mit Schmerzen aus der Mutterschaft
hervorgegangen, an Form und Race strahlender und prächtiger sei, als
dasjenige der beiden Lokomotiven, die auf der Nordbahn ihren Dienst
verrichten?

Die eine, die Crampton, eine entzückende Blondine, mit scharfer Stimme,
von hohem, schlankem Wuchs, eingeschnürt in ein glänzendes
Kupferkorsett, geschmeidig -- nervös wie eine Katze -- eine schmucke
goldige Blondine, deren aussergewöhnliche Anmut nahezu erschreckt, wenn
sie ihre Stahlmuskeln steift und den Schweiss ihrer warmen Schenkel
dadurch erhöht, dass sie die ungeheure Rosette ihres zarten Rades in
Bewegung setzt und wie rasend an der Spitze des Schnellzuges vorwärts
stürmt!

Die andere, die Engerth, eine monumentale, dunkle Brünette mit dumpfen
rauhen Tönen, mit stämmigen Lenden, eingepresst in ihren gusseisernen
Panzer, ein unförmiges Wesen mit wilder Mähne schwarzen Rauches und mit
sechs niedrigen gepaarten Rädern; welche erdrückende Macht, wenn sie die
Erde erzittern macht und plump und langsam den schweren Güterzug hinter
sich drein schleppt!

Sicherlich giebt es unter den zarten blonden und den majestätischen
brünetten Schönheiten keine derartigen Typen zarter Schlankheit und
erschreckender Kraft; auch kann man mit Recht sagen: der Mensch hat, in
seiner Art, ebenso Gutes geschaffen wie Gott. --

Diese Betrachtungen kamen des Esseintes, wenn ihm der Wind das sanfte
Pfeifen der kleinen Eisenbahn zutrug, welche sich wie ein Kreisel
zwischen Paris und Sceaux hin und her bewegt.

Sein Haus war ungefähr zwanzig Minuten von der Station Fontenay
entfernt; aber die Höhe, auf welcher es stand, und seine einsame Lage
liessen nicht den Lärm des gemeinen Lebens bis zu ihm dringen.

Das Dorf selbst kannte er kaum. Durch seine Fenster hatte er eines
Nachts die stille Landschaft betrachtet, die sich vor ihm ausbreitete
und hinunterzog bis zum Fuss des Hügels, auf dessen Spitze die
Batterieen des Gehölzes von Verrières aufgepflanzt sind.

In der Dunkelheit rechts und links stiegen verworrene Massen stufenweise
auf, in der Ferne von anderen Batterieen und anderen Forts überragt,
deren hohe Böschungen im Mondlicht wie in Wasserfarben mit schimmerndem
Silber auf dunklem Himmelsgrund gemalt erschienen.

Zusammengeschrumpft im Schatten der Hügel erschien die Ebene in der
Mitte wie mit Mehl bestreut und mit weissem Cold-cream bestrichen. In
der warmen Luft, die leise die farblosen Gräser fächelte und würzigen
Duft verbreitete, schüttelten die wie mit Kreide übertünchten Bäume im
Mondlicht ihr fahles Laubwerk und vergrösserten ihre Stämme, deren
Schatten den Gipsboden mit schwarzen Streifen furchten, auf dem die
Kieselsteine wie Tellerscherben glänzten. Ihres verkünstelt geschminkten
Aussehens wegen missfiel dem Herzog Jean diese Landschaft nicht. Seit
dem Nachmittag, den er auf der Suche nach dem Hause im Dörfchen von
Fontenay zugebracht hatte, war er niemals mehr am Tage den Weg gegangen.
Das grüne Laub dieser Gegend flösste ihm ausserdem kein Interesse ein,
bot es doch nicht einmal den zarten melancholischen Reiz dar, welcher
der oft rührend kränklichen Vegetation entströmt, die notdürftig
zwischen dem Schutt des Weichbildes nahe den Wällen hervorschiesst.

Überdies waren ihm an jenem Nachmittage im Dörfchen einige dickbäuchige
Einwohner mit Backenbärten und Leute in Gehröcken mit Schnurrbärten
begegnet -- Köpfe, die ohne Zweifel der Obrigkeit oder dem Militär
angehörten; und seit dieser Begegnung hatte sein Widerwille gegen jedes
menschliche Gesicht noch mehr zugenommen.

Während der letzten Monate seines Aufenthaltes in Paris, als er alles
überwunden hatte, empört durch die allgemeine Heuchelei und vom
Weltschmerz niedergedrückt, war die Überreiztheit seiner Nerven derartig
gestiegen, dass sich der Anblick mancher Gegenstände oder Wesen seinem
Gehirne so tief einprägte, dass es mehrerer Tage bedurfte, um nur die
Spuren davon zu verwischen. Unangenehme Gesichter, die sein Blick auf
der Strasse streifte, waren ihm zur wahren Qual geworden.

So litt er entschieden beim Anblick gewisser Physiognomieen, deren
hausbackener unfreundlicher Typus ihm wie eine Beleidigung erschienen;
es wandelte ihn eine wahre Lust an, diejenigen zu ohrfeigen, welche da
langsamen Schrittes mit gelehrter Miene und gesenkten Augen über die
Strasse gingen, wie auch jene, die sich in den Hüften wiegen und sich
gar wohlgefällig in Spiegelscheiben zulächeln, oder jene anderen wieder,
die eine ganze Welt von Gedanken zu bewältigen scheinen, indem sie mit
der wichtigsten Miene den albernsten Klatsch und den haarsträubendsten
Blödsinn der Tagesblätter verschlingen und einfach wiederkäuen.

Er witterte bei allen eine so eingewurzelte Dummheit, einen solchen
Abscheu gegen seine eigenen Ideen, eine solche Verachtung der
Litteratur, der Kunst, kurz, was er verehrte, als wäre es ihnen erblich
angeboren oder in ihre beschränkten Krämerseelen eingeankert, die,
schliesslich nur auf Gaunerei und Geld erpicht, wie alle unbedeutenden
und schwachen Geister, nur für niedrige Zerstreuungen der gemeinen
Politik eingenommen sind, so dass er wütend nach Hause ging, um sich mit
seinen Büchern einzuschliessen.

Kurz, er hasste mit ganzer Kraft die neuen Generationen, diese Vertreter
moderner Flegelei, die das Bedürfnis haben, überall in den Speisesälen
und Kaffeehäusern laut zu schreien und unverschämt zu lachen, die uns
auf der Strasse wüst anrennen, ohne um Verzeihung zu bitten, oder einem
auch wohl einen Kinderwagen zwischen die Beine schieben, ohne sich zu
entschuldigen oder kaum den Hut zu lüften.




                            DRITTES KAPITEL.


Ein Teil der Büchergestelle, die an den Wänden seines orangegelben und
blauen Arbeitszimmers aufgestellt waren, enthielten ausschliesslich
lateinische Werke; doch nur solcher Autoren, die von den in der Sorbonne
gedrillten Fachgelehrten mit dem Sammelnamen »Dekadenten« abgethan
werden.

War doch die lateinische Sprache so, wie sie Mode war zu jener Zeit,
welche die Gelehrten hartnäckig als das grosse Jahrhundert zu bezeichnen
belieben, in der That wenig dazu angethan, ihn zu reizen. Jene lackierte
Sprache mit ihren berechneten, fast unveränderlichen Wendungen, ohne
irgend eine Geschmeidigkeit der Syntax, ohne Farbe, ohne
Unterscheidungen. Jene an allen Nähten abgetragene, von holperigen
Ausdrücken befreite, wenn auch zuweilen bilderreiche Sprache vermag
allenfalls die seichten Redensarten, die unbestimmten Gemeinplätze
amtlicher Perrückenstöcke und Laureat-Poeten auszudrücken, erzeugt aber
eine solche Langeweile, dass man sich beim Studium ihres Stils fast ins
grosse Jahrhundert des französischen Sonnengottes -- Ludwigs XIV. --
versetzt wähnen dürfte, wo man einzig einer gleichen Kraftlosigkeit und
Entmannung begegnet.

Da ist unter andern der sanfte Virgil, den Schulfüchse gern den Schwan
von Mantua nennen, wahrscheinlich darum, weil er nicht in dieser Stadt
geboren ist. Virgil kam ihm als einer der schrecklichsten Pedanten und
unausstehlich langweiligsten Schwätzer vor, den jemals das Altertum
erzeugt; was waren denn seine so sauber gewaschenen und herausgeputzten
Schäfer, die sich der Reihe nach ganze Töpfe voll gezierter, eiskalter
Verse über den Kopf schütten? Vergleicht er seinen Orpheus doch mit
einer weinenden Nachtigall! Sein Aristeus, der Sohn des Apollo, ist ein
jammernder Bienenzüchter, während sein Aeneas, eine überaus verwaschene
schmächtige Persönlichkeit, die mit steifen Gebärden wie ein
Schattenbild in dem fadenscheinigen, lose gebundenen und öligen Gedichte
umherwandelt. Alles dieses brachte ihn natürlich ausser sich.

Die langweiligen Albernheiten, die diese Gliederpuppen in den Coulissen
austauschen, würde er wie die unverschämten Entlehnungen, welche bei
Homer, Theokrit, Ennius und Lucrez gemacht sind, selbst nach dem
Plagiat, das uns Makrobius als fast wörtliche Abschrift eines Gedichtes
von Pisander nachweist, -- kurz, all die unaussprechliche Leere seiner
als klassisch geltenden Gesänge noch allenfalls ruhig hingenommen haben.
Wobei ihn aber wirklich die Gänsehaut überlief, das waren seine
sechsfüssigen Verse, dieses wahre Blech, wie eine leere Kanne klingend.

Jene starre Verskunst, der Meisterschmiede des Catull entnommen,
phantasiearm, einförmig, vollgestopft mit unnützen Wörtern und
Lückenbüssern, eine Anhäufung feststehender Wendungen und dem Homer
sklavisch nachgebildeter Epitheta, die schliesslich nichts bezeichnen
und nichts zeigen -- dieser ganze armselige Wortschwall klanglos platter
Vergleiche spannte ihn geradezu auf die Folter.

Es muss noch hinzugefügt werden, dass, wenn seine Bewunderung für Virgil
schon mehr als mässig war, der offene Unflat des Ovid noch geringere
Anziehungskraft für ihn hatte, wie auch sein Widerwille gegen die
ungeschlachte Grazie und das hohle Geschwätz des Horaz, jenes trostlosen
Tölpels, der sich mit übertüncht alten Clown-Zoten zierte, schon mehr
als grenzenlos war.

Auch Ciceros und Cäsars berühmter Lakonismus vermochte ihn wenig zu
begeistern, denn da zeigte sich eine Trockenheit des Redestils, eine
Armut des Gedächtnisses, eine unglaubliche Hartleibigkeit.

Somit fand er seine Rechnung weder hier noch dort, ebensowenig bei den
Lieblingsschriftstellern, die als Tonangebende falscher Gelehrsamkeit in
den Himmel gehoben wurden, wie bei den übrigen allen: Sallust, der
weniger farblos als die andern; Titus Livius, der sentimental und
schwülstig; Seneka, aufgedunsen und matt; Suetonius, lymphatisch und
fiebernd; Tacitus, der nervöseste, obgleich in seiner Kürze der
schärfste und der muskulöseste von Allen.

In der Poesie liessen ihn Juvenal trotz seiner zeitweilig gestiefelten
und gespornten Verse, Persius trotz seiner geheimnisvollen
Zuflüsterungen völlig kalt. Indem er Tibull und Properz, Quintil und
Plinius, Statius und Martial gern überging, vermochte ihm Terenz und
selbst Plautus, deren Kauderwälsch von neugebildeten Wörtern und
zusammengesetzten Diminutiven wimmelte, schon eher zu gefallen; aber die
niedrige Komik und das grobe Salz widerten ihn an.

Herzog Jean fing erst beim Lucan an sich für die lateinische Sprache zu
interessieren, denn da war sie schon reicher und ausdrucksvoller. Seine
sorgfältig gearbeiteten, mit Schmelz bedeckten und mit Juwelen gezierten
Verse fesselten ihn; aber diese ausschliessliche Pflege der leidigen
Form, dieser Klang hellschreiender Töne, dieser metallische Glanz
verdeckte ihm keineswegs die arge Gedankenleere, das Geschwollene und
Aufgeblasene.

Der Schriftsteller aber, welchen er wirklich gern hatte und der ihn für
immer vom Lesen der tönenden Schriften eines Lucan entfernte, war
Petronius.

Dieser war ihm ein scharfsichtiger Beobachter, ein zarter Analytiker,
ein vortrefflicher Maler; ruhig, ohne vorgefasste Meinung und ohne Hass
beschreibt er das tägliche Leben in Rom, die Sitten seiner Zeit als
munterer satirischer Erzähler.

Er zeichnet Thatsachen im richtigen Licht und Verhältnis, er stellt sie
in der bestimmten Form und Ordnung fest, enthüllt das Kleinleben des
Volkes, seine Erlebnisse, seine Rohheiten wie sein sinnliches Treiben.

Hier ist es ein Inspektor, der im Hôtel garni die Namen der kürzlich
angekommenen Reisenden zu wissen verlangt; da sind es verrufene Häuser,
in denen Männer um nackte Weiber herumschleichen, während man durch die
schlecht schliessenden Thüren der Kammern den Belustigungen der Paare
zusieht; dann wieder in den Villen des tollen Luxus und der unsinnigen
Pracht übermütigen Reichtums, wie in den armen Herbergen mit ihren
durchwühlten Gurtbetten voll Wanzen bewegt sich die Gesellschaft der
Zeit: Schurken wie Ascyltus und Eumolpus auf der Suche nach einem
unverhofften Fund; alte Knabenschänder im aufgeschürzten Kleide mit
weiss und rot bemalten Backen; sechzehnjährige Liederlinge, feist mit
gekräuseltem Haar; Weiber, die eine Beute ihrer hysterischen Anfälle
werden; Erbschaftsjäger, die ihre Knaben und Mädchen den Ausschweifungen
der Erblasser überliefern -- alle diese Typen folgen einander auf der
Strasse streitend, die Bäder besuchend, sich krumm und lahm schlagend,
wie solches wohl in einer Pantomime zu geschehen pflegt.

Und dies mit einer Frische erzählt, in schönstem Kolorit und kräftigem
Stil aller Mundarten, die Ausdrücke allen in Rom untergegangenen
Sprachen entlehnt, alle Grenzen und alle Fesseln des sogenannten grossen
Jahrhunderts überschreitend. Er lässt jeden seinen Jargon reden: die
Freigelassenen und jeglicher Bildung baren das Pöbellatein und gemeine
Kauderwälsch, die Fremden ihre barbarischen Mundarten, vermischt mit
Afrikanisch, Syrisch und Griechisch, und die pedantischen Dummköpfe, wie
jenen Agamemnon des Buches, seine gemachte Redeweise zum besten geben.
Diese Menschen sind alle mit einem Federstrich gezeichnet; sie lagern um
einen Tisch, tauschen den abgestandenen Ideenbrei Trunkener aus und
überbieten sich in der Verausgabung verschimmelter Grundsätze und
alberner Sticheleien, das Maul stets gegen Trimalchio gerichtet, der
sich in den Zähnen stochert, über die Gesundheit seines Innern und seine
Blähungen spricht, indem er die Gäste einladet, es sich bequem zu machen
und sich ja keinen Zwang anzuthun.

Dieser realistische Roman, dieses aus dem vollen Fleisch des römischen
Lebens geschnittene Stück, ohne ängstliche Sorge, wie man darüber
urteilen werde, voll von lebendiger Satire, ohne Schielen nach Sitte
noch Moral, diese Geschichte, ohne Intrigue, fast ohne Handlung, welche
dieses sodomitische Treiben darstellt und mit seltener Feinheit die
Freuden und Schmerzen der Liebeleien in farbenprächtiger Sprache malt,
ohne dass der Verfasser nur ein einziges Mal in den Vordergrund tritt --
sie packte den Herzog Jean, denn er ersah in der Verfeinerung des Stils,
in der Schärfe der Beobachtung, in der Festigkeit der Methode eine
eigentümliche Ähnlichkeit mit den wenigen modernen französischen
Romanen, die er erträglich fand.

Ernstlich bedauerte er, »Eustion« und »Albutia« nicht zu besitzen, jene
beiden Werke des Petronius, die auf immer verloren sind; aber der
Bücherliebhaber in ihm tröstete den Gelehrten, besass er doch die
prächtige Ausgabe in Oktav des »Satyricon« mit der Jahresziffer 1585 und
dem Drucker J. Dousa, Leyden.

Von Petronius ab leitete seine lateinische Sammlung in das zweite
Jahrhundert der christlichen Zeitrechnung über, zu dem schwülstigen
Phrasenhelden Fronto sowie zu den Attischen Nächten des Aulus Gellius,
seinem Schüler und Freund, den er ebenfalls überging, um Halt zu machen
bei Apulejus, von dem er eine erste Ausgabe in Folio aufbewahrte,
gedruckt zu Rom 1469.

Dieser Afrikaner machte ihm Vergnügen. Die lateinische Sprache zeigte
sich in seinen »Metamorphosen« in ihrem vollen Glanze.

Er öffnete nur noch selten Tertullians »Schutzrede der Christen« und die
»Abhandlung über die Geduld«; höchstens las er einige Seiten aus »De
cultu feminarum«, worin Tertullian die Frauen rügt, die sich mit
Kleinodien und kostbaren Stoffen putzen und ihnen den Gebrauch von
Schönheitsmitteln verbietet, weil sie zu täuschen versuchen, indem sie
die Natur zu verbessern und zu verschönern sich bemühen.

Diese Ideen, die den seinigen schnurstracks widersprachen, machten ihn
lächeln. Doch die Rolle, die Tertullian in seiner bischöflichen Residenz
Karthago spielte, schien ihn zu süssen Träumereien zu verleiten; mehr
als seine Werke zog ihn in Wirklichkeit aber der Mann selbst an.

Hatte er doch während der aufrührerischen Zeiten gelebt, heimgesucht von
schrecklichen Aufständen unter Caracalla, unter Macrin, unter dem
sonderbaren Hohenpriester Heliagabal, dessen Predigten und dogmatischen
Schriften, dessen Verteidigungsreden und Auszüge aus den Homilien der
Kirchenväter er verfasste, während das Kaiserreich in all seinen Fugen
krachte. Mit grösster Kaltblütigkeit lehrt er die fleischliche
Enthaltsamkeit, Genügsamkeit beim Mahl und Einfachheit der Kleidung,
während zur selben Zeit Heliagabal in Silberstaub und Goldsand
herumspazierte, auf dem Kopfe die dreifache päpstliche Krone trug, seine
Kleider mit kostbaren Steinen besetzte und, umgeben von Eunuchen, sich
mit weiblichen Handarbeiten beschäftigte, sich Kaiserin nennen liess und
jede Nacht den Kaiser, den er mit Vorliebe unter Barbieren, Köchen und
Zirkusleuten auswählte, wechselte.

Dieser Gegensatz entzückte den Herzog; denn die lateinische Litteratur,
unter Petronius zur höchsten Reife gelangt, fing an sich aufzulösen. Die
christliche Litteratur brach sich Bahn und brachte mit neuen Ideen nie
gebrauchte Ausdrücke und neue Satzbildungen, sowie bislang unbekannte
Zeit- und Eigenschaftswörter mit weit hergeholten Bedeutungen, abstrakte
Begriffe, die in der römischen Sprache selten angewendet und von denen
Tertullian als einer der ersten Gebrauch gemacht hatte.

Alles was nach dem Tode Tertullians von seinen Schülern, dem heiligen
Cyprianus, von Arnobius und dem unklaren Lactantius verfasst wurde, war
ohne Reiz für ihn. Jene unvollkommene schwerfällige Mache war ein
linkischer Rückschritt zum ciceronianisch hochtrabenden Ton. Ihr fehlte
jener besondere Duft des vierten wie der folgenden Jahrhunderte, jener
Duft des Christentums, der der heidnischen Sprache den Hautgout des
Wildprets verliehen hatte, der aber mit der Civilisation der alten Welt
gleichzeitig aufhörte.

Ein einziger Dichter, Commodian aus Gaza, vertrat in seiner Bibliothek
die Kunst des dritten Jahrhunderts.

Das »Carmen apologeticum«, im Jahre 259 geschrieben, ist eine Sammlung
von Sprüchen in den beliebten Hexametern, die hier manchmal gereimt sind
und schon an das Kirchenlatein späterer Zeiten erinnern.

Seine überspannt dunklen Verse, voll von Ausdrücken der Tagessprache,
von Wörtern ursprünglich verdrehter Bedeutung, fesselten ihn mehr als
der reife gesättigte Stil der Geschichtsschreiber: Ammianus Marcellinus
und Aurelian Victor, der berühmte Briefschreiber Symmachus und der
Kompilator und Grammatiker Macrobius; er zog sie sogar den wirklich
skandierten Versen jener buntscheckig herrlichen Sprache vor, wie sie
Claudius, Rutilius und Ausonius sprachen.

Waren jene doch damals die Meister der Kunst. Sie erfüllten das
untergehende Reich mit ihren Warnungen, der christliche Ausonius mit
seinem Cento nuptialis und seiner üppigen Dichtung von der Mosella;
Rutilius mit seinen Hymnen zum Ruhme Roms, seiner Verfluchung der Juden
und Mönche, der Reisebeschreibung von Italien nach Gallien, in der es
ihm gelingt, bestimmte Eindrücke des Gesehenen gut wiederzugeben:
Landschaften, die sich zitternd im Wasser spiegeln, aufsteigende Nebel,
schwere Wolken, die um die Berge brauen.

Endlich im fünften Jahrhundert Augustin, Bischof von Hippo. Diesen
kannte Herzog Jean nur zu gut, denn er ist ja der angesehenste
Schriftsteller der Kirche, der Gründer der christlichen Orthodoxie, der
den Katholiken als ein Orakel gilt, und vor dem sie sich alle beugen.
Diesen öffnete er nicht mehr, obgleich Augustin in seinen
»Bekenntnissen« den Widerwillen gegen das Irdische ebenfalls besungen
und in seiner »Gottesstadt« versucht hatte, das entsetzliche Elend des
Jahrhunderts durch Vertröstung auf eine bessere Zukunft zu besänftigen.

Die zweite Hälfte des fünften Jahrhunderts war gekommen, die
entsetzliche Zeit, in der die gewaltigsten Stösse die Erde
erschütterten.

Die Barbaren verwüsteten Gallien; Rom, der Plünderung der Westgoten
preisgegeben, fühlte sein Leben erstarren, sah seine äussersten Grenzen,
den Occident und den Orient, sich im Blute wälzend von Tag zu Tag mehr
erschöpfen und dem Untergange verfallen.

In dieser allgemeinen Auflösung, diesem Meuchelmorde der Cäsaren, welche
rasch aufeinander folgten, in diesem Lärm bluttriefenden Gemetzels,
welches sich von einem Ende Europas zum andern wälzte, ertönte ein
fürchterliches Hurrageschrei, das allen Unwillen und alles Geheul zum
Schweigen brachte.

An dem Ufer der Donau erschienen Tausende von Männern auf kleinen
Pferden, eingehüllt in weite Oberkleider von Rattenfell, scheussliche
Tartaren mit enormen Köpfen, platter Nase, das Kinn durch Schmarren und
Narben entstellt, bartlose, citronengelbe Gesichter stürzten sich
vorwärts im gestreckten Galopp, alle Reiche gleichsam in einen
Wirbelwind einhüllend und niederreissend.

Alles verschwand in den Staubwolken dieser wilden Reiter wie in Rauch
von Feuerbrünsten. Die Finsternis verbreitete sich, und die bestürzten
Völker erzitterten, wenn sie diesen entsetzlichen Staubwirbel mit dem
Getöse des Donners vorübersausen hörten. Jene Hunnenherde machte
Ost-Europa dem Erdboden gleich, stürzte sich auf Gallien, wo sie in den
Ebenen von Châlons durch den römischen General Aetius niedergeworfen und
im Sturm vernichtet wurde. Die mit Blut überschwemmten Wiesen kräuselten
sich wie ein Purpurmeer; zweihunderttausend Leichen versperrten den Weg
und brachen den Anlauf dieser aus der Richtung gekommenen Lawine, die
wie mit Donnerschlägen in Italien einfiel, wo die zerstörten Städte
gleich Heuschobern brannten.

Das weströmische Reich brach unter dem Stoss zusammen; sein mit dem Tode
ringendes Dasein, das es stumpfsinnig im Kot hinschleppte, erlosch; es
schien überdies das Ende der Welt nahe; die Städte, welche von Attila
vergessen, wurden durch Hungersnot und Pest dahingerafft, das Latein
schien unter den Ruinen der Welt mit zu versinken.

Jahre vergingen; die barbarischen Idiome fingen an sich zu regeln und
wirkliche Sprachen zu bilden. Das Latein, das während der allgemeinen
Zerrüttung in die Klöster geflüchtet war, verblieb dort, wie in den
Pfarrhäusern; hier und da erstanden einige Poeten frostig und träge: der
Afrikaner Dracontius mit seinem »Hexameron«; Claudius Mamertius mit
seinen liturgischen Poesien; Avitus von Wien. Dann die Biographen, wie
Ennodius, der die Wunder des heiligen Epiphanias erzählt, jenes
scharfsichtigen, verehrten Diplomaten, des biederen und umsichtigen
Seelsorgers; wie Eugippius, der uns das unvergleichliche Leben des
heiligen Severinus wieder vor Augen führt, diesen geheimnisvollen
Einsiedler und demütigen Asketen, der den trostlosen, vor Furcht und
Schmerz wahnsinnigen Völkern wie ein Engel der Barmherzigkeit erschien;
Schriftsteller wie Veranius du Gévaudan, der eine kleine Abhandlung über
die Enthaltsamkeit verfasste; wie Aurelian und Ferreolus, die die
kirchlichen Satzungen zusammengestellt; Geschichtsschreiber wie
Rotherius, berühmt durch ein Geschichtswerk, das aber verloren gegangen
ist.

Die Werke der nachfolgenden Jahrhunderte wurden in der Bibliothek des
Herzogs Jean spärlicher. Indessen war das sechste Jahrhundert noch durch
Fortunatus, Bischof von Poitiers, durch Boëthius, den alten Gregor von
Tours, und Jornandes vertreten.

Wenig entzückt von der Schwerfälligkeit der karolingischen Lateiner, wie
Eginhart und Alcuin, begnügte er sich als Sprachprobe des neunten
Jahrhunderts mit den Chroniken des Anonymus von St. Gallen, des Frechulf
und des Regino, mit dem Gedichte von der Belagerung von Paris, verfasst
von Abbo le Courbé, mit dem »Hortulus«, mit der Dichtung von Ermold le
Noir, die Thaten Ludwigs des Frommen preisend, und einigen nicht zu
klassificierenden moderneren Werken ohne Jahreszahl, Werken der
Geheimlehre, der Arzeneikunde, der Pflanzenkunde, einzelnen Bänden der
Kirchenväterkunde von Migne, welche nirgends mehr zu findende
christliche Poesieen enthielten, und mit der Blumenlehre der kleinen
lateinischen Poeten von Wernsdorff.

Mit dem Anfang des zehnten Jahrhunderts hörte seine lateinische
Bibliothek auf.

Die alten Ausgaben, die Herzog Jean sorgfältig gesammelt hatte, waren
hiermit erschöpft, und mit einem jähen Sprunge über Jahrhunderte hinweg
leiteten seine Bücher direkt zu der französischen Sprache des jetzigen
Jahrhunderts über.




                            VIERTES KAPITEL.


Eines Nachmittags hielt ein Wagen vor dem Hause in Fontenay. Da Herzog
Jean keine Besuche empfing und sich selbst der Briefträger nicht einmal
in dieser unbewohnten Gegend zeigte, weil er niemals einen Brief oder
eine Zeitung zu bestellen hatte, so zögerten anfänglich die beiden alten
Dienstboten, nicht wissend, ob sie öffnen durften. Auf das laute
Geklingel der Glocke, die mit aller Kraft gezogen wurde, wagten sie es
endlich, durch das kleine Schiebfenster, welches in der Thür angebracht
war, zu sehen; vor derselben stand ein Herr, dessen ganze Brust vom Hals
bis zum Leib mit einem ungeheuren goldenen Schild bedeckt war.

Sie benachrichtigten hierauf ihren Herrn, der am Frühstückstisch sass.

»Ganz richtig, führen Sie ihn herein,« sagte er -- denn er erinnerte
sich, dass er vor einiger Zeit einem Edelsteinhändler, der eine
schwierige Bestellung für ihn ausführen sollte, seine Adresse gegeben
hatte.

Der Herr grüsste und setzte ohne Umstände auf den Boden des Esszimmers
seinen Schild nieder, der sich bewegte, sich dann ein wenig erhob, unter
dem der kleine schlangenartige Kopf einer Schildkröte hervorlugte, um
sich plötzlich wieder erschrocken unter die Schale zurückzuziehen.

Diese Schildkröte war eine phantastische Idee des Herzogs Jean, die ihm
einige Zeit vor dem Verlassen von Paris gekommen war.

Eines Tages, da er einen orientalischen Teppich besah und die Reflexe
desselben bewunderte, die je nach dem Silberglanz, der über das Gewebe
lief, bald aladingelb, bald pflaumenblau leuchteten, sagte er sich, dass
es sich nicht übel ausnehmen müsse, etwas Bewegliches auf den Teppich zu
setzen, um den Farbenreiz durch einen dunklen Ton zu erhöhen.

Von dieser Idee ganz eingenommen, war er aufs Geratewohl durch die
Strassen geschlendert und bis zum Palais-Royal gekommen. Als er hier im
Schaufenster bei Chevet eine Schildkröte in einem Bassin bemerkte, da
schlug er sich vor die Stirn, wie jemand, dem plötzlich ein Gedanke
gekommen.

Er kaufte das Tier, setzte es dann auf den Teppich und sich davor. Lange
hatte er das Tier mit halbgeschlossenen Augen aufmerksam betrachtet.

Der Ton des harten Braunes des Rückenschildes verdunkelte die Reflexe
des Teppichs, ohne sie zu beleben; der vorherrschende Silberglanz
strahlte jetzt kaum und streifte mit seinem kalten zinkfarbigen Ton den
Rand dieser harten glanzlosen Schale.

Er biss sich auf den Finger, ein Mittel suchend, diese Missverbindung zu
versöhnen und die offenbare Scheidung der Töne zu verhindern, wobei er
schliesslich entdeckte, dass seine erste Idee, die darin bestand, die
Flammen des Gewebes mit einem darauf gesetzten beweglichen dunklen
Gegenstand zu schüren, falsch war. Im Grunde genommen war dieser Teppich
noch zu auffällig, zu lebhaft und zu neu. Die Farben waren noch nicht
genügend abgestumpft und gedämpft; es handelte sich darum, den Satz
umzukehren, die Töne abzuschwächen, sie durch den Kontrast eines
glänzenden Gegenstandes zu erlöschen, alles um sich zu erdrücken und
goldiges Licht auf das matt silberne zu werfen.

In dieser Weise dargestellt, war die Frage leichter zu entscheiden. Er
beschloss infolgedessen, den Panzer der Schildkröte mit einer Goldglasur
überziehen zu lassen.

Als das Tier von dem Praktikus, der es in Arbeit gehabt hatte, wieder
zurückkam, leuchtete es wie die Sonne.

Anfänglich war Herzog Jean ganz entzückt von der Wirkung; dann kam ihm
der Gedanke, dass dieses riesengrosse Schmuckstück bis jetzt nur
flüchtig entworfen, und dass es erst vollendet wäre, wenn es mit
eingelegten seltenen und kostbaren Steinen besetzt sein würde.

Er wählte aus einer japanischen Sammlung eine Zeichnung, die ein
Arrangement von Blumen vorstellte, die von einem dünnen Stengel wie
Raketen ausgingen. Er brachte das Muster zu einem Goldschmied, zeichnete
eine Einfassung darum, die das Bouquet in einen ovalen Rahmen
einschloss, und erklärte dem verdutzten Juwelenhändler, dass die Blätter
und die Kelche jeder der Blumen in Edelsteinen ausgeführt und in das
Schild des Tieres selbst eingelassen werden sollten.

Die Wahl der Edelsteine war nicht leicht: der Diamant ist zu gewöhnlich
geworden, seit die Kaufleute ihn am kleinen Finger tragen; die Smaragde
und die Rubinen des Orients sind weniger entwürdigt, aber sie erinnern
zu sehr an die grünen und roten Omnibus-Laternen. Was die Topase
anbelangt, geglüht oder roh, so sind es nur wohlfeile Steine, der
kleinen Bürgersfrau überaus wert, die ihre Schmucksachen noch mit
Wohlgefallen in ihren Leinenschrank verschliesst; anderseits hat der
Amethyst, obgleich ihm die Kirche den priesterlich-ernsten Charakter
bewahrt, in den roten Ohren und an den feisten Händen der
Schlächterfrauen, welche sich für einen bescheidenen Preis gern mit
schwerfälligem Schmuck behängen, an Wert sehr verloren. Dem Saphir
allein ist sein unverletztes Feuer nicht durch spekulative Ausnutzung
genommen. Seine Strahlen rieseln wie klares kaltes Wasser und haben
sozusagen seinen zurückhaltenden und hochmütigen Adel gegen jeden
Schmutz bewahrt. Unglücklicherweise funkeln seine frischen Farben nicht
bei Licht; das blaue Wasser geht in sich selbst zurück, scheint
einzuschlafen, um erst wieder beim Anblick des Tages aufzuwachen und zu
blitzen.

Schliesslich befriedigte nicht einer von diesen Steinen den Herzog Jean;
ausserdem waren sie zu civilisiert und zu bekannt. Er liess
wunderlichere und seltsamere Steine durch seine Finger gleiten, und
zuletzt suchte er eine Serie von wirklichen und künstlichen Steinen aus,
deren Mischung eine bezaubernde und überraschende Harmonie hervorbringen
sollte.

Er setzte in folgender Weise das Bouquet seiner Blumen zusammen: die
Blätter wurden von klarem bestimmten Grün gefasst mit dem Chrysoberill,
einem spargelgrünen Edelstein; grünem Chrysolith; dunkelgrünem Olivin.
Diese hoben sich von den Zweigen aus Almadin und Ouwarovit ab, einem
blauroten Stein, der in kaltem Glanze flimmert, wie etwa das Glimmen des
Weinsteins im Innern der Fässer.

Für die Blumen, die strahlenförmig vom Stengel ausgehen, benutzte er
bläuliche Aschfarbe; aber er vermied streng den orientalischen Türkis,
den man für Busennadeln und Ringe verwendet und der mit der alltäglichen
Perle und der abscheulichen Koralle das Entzücken des Kleinbürgertums
ist. Dagegen wählte er schliesslich die Türkise des Abendlandes, Steine,
die im eigentlichen Sinne des Wortes nur fossiles Elfenbein sind, von
einer kupferfarbigen Substanz durchdrungen, wie von schmachtendem Blau
erfüllt, undurchsichtig, schwefelhaltig und wie mit Galle gefärbt.

Als dies geschehen, machte er sich daran, die Kelche seiner aufgeblühten
Blumen mitten im Strausse einzufassen und für die Blumen, die
dem Stengel am nächsten standen, durchsichtige Steine mit
gläsern-krankhaftem Glanz, mit fieberhaft scharfem Strahl zu wählen.

Er setzte sie einzig und allein aus indischen Katzenaugen, Cymophanen
und saphirartigen Steinen zusammen.

Von diesen drei Steinen ging in der That ein geheimnisvoll-wunderlicher
Schimmer aus, der schmerzlich aus dem kalten Grunde trüben Wassers
herausgerissen schien: das Katzenauge von einem grünlichen Grau, von
schwachen Adern durchzogen, welche sich zu bewegen schienen und jeden
Augenblick den Platz wechselten, je nach dem darauf fallenden Lichte;
der Cymophan mit dem moirierten Azurblau, das über die milchweisse
Farbe hinläuft, die im Innern lebt; der Saphirin, der auf
dunkelbraun-schokoladefarbigem Grunde phosphorbläuliche Feuer entzündet.

Der Juwelenhändler machte sich Notizen betreffs der Stellen, in welche
die Steine eingesetzt werden sollten.

»Und die Einfassung der Schale der Schildkröte?« fragte er schliesslich.

Herzog Jean hatte zuerst an einige Opale und Hydrophane, -- eine Art
Opal, welcher Wasser einsaugt und dadurch durchsichtiger und
farbenspielender wird, -- gedacht; aber die Verwendbarkeit dieser
interessanten Steine ist wegen der Unbestimmtheit ihrer Farben und des
Zweifelhaften ihres Feuers zu schwierig. Der Opal hat eine geradezu
rheumatische Empfindlichkeit. Das Spiel seiner Strahlen verändert sich
je nach der Feuchtigkeit, der Wärme oder Kälte; und was den Hydrophan
anbelangt, so blitzt er nur im Wasser und scheint seine Glut zu
entzünden, wenn man ihn anfeuchtet.

Zuletzt entschloss er sich zu den Steinen, deren Reflexe sich
abwechseln: zu dem Hiazinth von Compostella, einem rötlich-gelben
Edelstein; Aquamarin, meergrün; Ballas-Rubin, blassrot;
Südermannlands-Rubin, rotgelb. Ihr schwaches Schimmern genügte, um die
dunklen Schatten des Rückenschildes zu erhellen und das Blühen der
Edelsteine nicht zu beeinträchtigen, welche sie mit einer schmalen
Guirlande von unbestimmter Leuchtkraft umgaben. --

Und nun setzte sich Herzog Jean in eine Ecke seines Esszimmers und
betrachtete mit Wohlgefallen die im Schatten goldglänzende Schildkröte.

Er fühlte sich vollkommen glücklich; seine Blicke berauschten sich an
dem hellen Glanz der Blumenkronen auf goldenem Grund. Dann aber -- ganz
gegen seine Gewohnheit -- stellte sich eine gewisse Esslust bei ihm ein.
Er tunkte seine gerösteten Brotschnitte, die mit einer ganz besonderen
Butter bestrichen waren, in eine Tasse Thee, eine treffliche Mischung
von Si-a-Fayoune, Mo-you-tann und Khansky, gelben Theesorten, die von
China nach Russland durch besondere Karawanen geschickt werden, wodurch
sie den famosen Kameelduft angenommen haben.

Der Herzog trank diese duftige Flüssigkeit aus dem feinsten chinesischen
Porzellan, das man wegen seiner Durchsichtigkeit als Eierschalen
bezeichnet. Zu diesen entzückenden Tassen benutzte er nur Bestecke aus
altem vergoldeten Silber, das die Vergoldung schon etwas verloren hatte,
so dass das Silber unter dem Gold ein wenig zum Vorschein kam und ihm so
die Färbung vormaliger Zartheit ganz diskret wiedergab.

Nachdem er einen letzten Schluck genommen, ging er in sein Arbeitszimmer
zurück und liess sich durch den Diener die Schildkröte bringen, die in
ihrer hartnäckigen Unbeweglichkeit verharrte.

Der Schnee fiel in dichten Flocken. Bei dem Licht der Lampen bildeten
sich Eisblumen hinter den bläulichen Scheiben, und der Reif, der in den
Flaschenböden der mit Gold besprenkelten Fenster glänzte, glich
geschmolzenem Zucker.

Ein tiefes Schweigen hüllte das Häuschen wie in Finsternis erstarrt ein.

Herzog Jean träumte; die brennenden Holzscheite im Kamin erfüllten mit
ihrer wärmenden Ausströmung das Gemach; er öffnete halb das Fenster.

Wie ein hoher Vorhang verkehrten Hermelins hob sich der Himmel vor ihm
schwarz mit weissen Tüpfchen ab. Ein eiskalter Wind wehte, der den
Schneeflug beschleunigte. Der heraldische Vorhang des Himmels kehrte
sich bald um und wurde ein wirklich weisser Hermelin, nun wieder schwarz
getupft.

Er schloss das Fenster wieder. Der schroffe Wechsel von grosser Hitze
und der Kälte des Winters hatte ihn gepackt; er zog sich ans Feuer
zurück. Es kam ihm der Gedanke, ein geistiges Getränk zu geniessen, das
ihn wieder erwärmte.

Er ging ins Esszimmer, wo ein Wandschrank in der Mauer angebracht war,
in dem sich eine Reihe kleiner Tonnen dicht nebeneinander auf kleinen
Blöcken von Sandelholz befanden, die alle mit kleinen silbernen Hähnchen
am unteren Ende versehen waren.

Er nannte diese Sammlung von Likören seine Mundorgel.

Eine Röhre konnte alle Hähne vereinigen. Wenn das Instrument richtig
gestellt war, brauchte er nur auf den Knopf, der in dem Holzwerk
verborgen war, zu drücken, um alle Hähne auf einmal aufzudrehen, worauf
sich die winzigen Becher, die unter ihnen standen, mit Likör füllten.

Diese Orgel, auf die bezeichneten Stimmen Flöte, Waldhorn, Vox Divina u.
s. w. gestellt, war stets zu seiner Benutzung bereit. Herzog Jean trank
von diesem und jenem Likör einige Tropfen, spielte sich innere
Symphonieen vor, und es gelang ihm, seinem Gaumen ähnliche Genüsse zu
verschaffen, wie solche die Musik dem Ohre bereitet. Ausserdem stimmte
jeder Likör seiner Ansicht nach mit dem Ton eines Instrumentes überein.

Der trockene Curaçao zum Beispiel mit der Klarinette, deren Töne spitz
und weich sind; der Kornbranntwein mit der Hoboe, deren Klang näselt;
der Pfefferminz und Anisette mit der Flöte, süss und scharf, schrill und
sanft zugleich; das Kirschwasser mit der Trompete; Gin und Whisky
erschraken den Gaumen durch ihren schrillen Schall, wie Klapphorn und
Posaune das Ohr heftig mitnehmen, während der Weinträberschnaps
gleichsam den betäubenden Lärm der Tuba verursacht, und der russische
Raky und der Mastic der Mundhaut die Schläge der Zimbel und der Pauke
mitteilen.

Er meinte auch, dass diese Vergleiche sich auf
Quartett-Saiteninstrumente übertragen lassen, indem unter dem
Gaumengewölbe die Geige den alten Cognac vorstellt, berauschend und
zart, scharf und spröde, während die Bratsche kräftiger, voller, dumpfer
den Rum simuliert; der Magenbitter zerreissend, melancholisch und
schmeichelnd wie ein Violoncell erklingt, die Bassgeige dagegen schwer,
stark und düster wie ein scharfer alter Bitter wirkt. Man könnte selbst
-- ein Quintett bildend -- die Harfe hinzufügen, die mit einer gleichen
Wahrscheinlichkeit die mächtige Kraft und ihre silbernen Klänge, frei
und zart wie der Kümmel wiedergäbe.

Diese Voraussetzungen einmal angenommen, war er so weit gekommen,
infolge rastloser Versuche auf seiner Zunge stille Melodieen zu spielen,
stumme Trauermärsche mit grossem Gepränge aufzuführen, Soli von
Pfefferminz, Duette zwischen Bittern und Rum zu hören.

Es gelang ihm so, in seine Kinnbacken wirkliche Musikstücke den Wünschen
des Komponisten gemäss zu übertragen, Takt für Takt seine Gedanken,
seine Wirkungen, seine Nüancen wiedergebend und durch nahe Verbindungen
oder Kontraste der Liköre, durch geschickte Mischungen Accorde
erzeugend.

Früher komponierte er seine Melodieen selbst und führte seine Idyllen
mit dem gutmütigen Johannisbeerlikör auf, der ihm den perlenden Gesang
der Nachtigall in der Kehle trillern machte, oder er sang mit dem
sanften Kakao-Chouva die süsslichen Schäferlieder, wie: die Romanzen von
Estella und die »Ach! ich sage Ihnen, Mama« aus der alten Zeit.

Aber heute Abend hatte der Herzog durchaus keine Lust, der Musik zu
fröhnen; er begnügte sich damit, einen einzigen Ton auf der Klaviatur
seiner Orgel anzuschlagen; er nahm seinen kleinen Becher, den er zuvor
einfach mit echtem irländischen Whisky gefüllt hatte und machte es sich
in seinem Sessel bequem, ganz langsam diesen aus Hafer und Gerste
gegohrenen Saft schlürfend, der seinen Mund mit einem starken
Kreosotgeruch erfüllte.

Nach und nach beim Trinken folgten seine Gedanken wieder dem belebten
Eindruck seines Gaumens; er erweckte so durch eine fatale Ähnlichkeit
von Gerüchen eine seit Jahren verwischte Erinnerung.

Dieser scharfe Karbolduft erinnerte ihn an den gleichen Geruch, der zu
einer Zeit, da die Zahnärzte an seinem Zahnfleisch herumarbeiteten,
seinen Mund erfüllt hatte.

Einmal auf diesen Weg gebracht, erging er sich zuerst in Träumereien
über all die Praktikusse, die er kennen gelernt hatte, er sammelte sich
und konzentrierte seine Erinnerung auf einen, dessen seltsame
Erscheinung ihm besonders im Gedächtnis verblieben.

Es war vor drei Jahren, als er mitten in der Nacht von einem rasenden
Zahnschmerz befallen wurde; er wickelte sich den Kopf ein, stiess in
Verzweiflung gegen alle Möbel und rannte wie ein Wahnsinniger im Zimmer
umher.

Es war ein schon plombierter Backenzahn und keine Heilung möglich; die
Zange des Zahnarztes allein konnte dem Übel abhelfen.

Fieberhaft erwartete er den Tag, entschlossen, die schrecklichsten
Operationen zu erdulden, wenn sie nur seinem Leiden ein Ende machen
würden.

Sich fortwährend den Mund zuhaltend, fragte er sich, was er thun solle.
Die Zahnärzte, die ihn gewöhnlich behandelten, waren reiche Leute, die
man nicht so nach seinem Gefallen sprechen konnte; da mussten erst mit
ihnen die Besuche und die Stunden der Konsultationen ordentlich
verabredet werden. Das war jedoch unmöglich. »Ich kann es nicht länger
hinausschieben,« sagte er sich; und er entschloss sich, zu dem ersten
besten zu gehen, zu einem Zahnausreisser gewöhnlichen Schlages, einem
jener Leute mit eiserner Faust, welche mit einer Geschwindigkeit
ohnegleichen die hartnäckigsten Zahnstümpfe zu entfernen wissen. Diese
sind vom frühen Morgen an zu sprechen und bei ihnen braucht man nicht zu
warten.

Endlich schlug es sieben Uhr. Er lief aus dem Hause, sich des Namens
eines bekannten Technikers erinnernd, der sich »Volkszahnarzt« nannte
und an der Ecke eines Quais wohnte. Er durchrannte die Strassen und biss
verzweiflungsvoll in sein Taschentuch, um die Thränen zurückzuhalten.

Er war eben vor dem Hause angelangt, das man schon von weitem an dem
grossen schwarzen Holzschilde erkennen konnte, auf dem mit enorm grossen
Buchstaben der Name »Gatonax« gemalt war; in zwei kleinen Glaskästen sah
man Zähne in Zahnfleisch aus rosa Wachs sorgfältig aufgereiht und durch
eine mechanische Feder aus Draht miteinander verbunden. Er keuchte, der
Schweiss trat ihm auf die Stirn und eine wahnsinnige Angst befiel ihn,
ein Schauer durchrieselte seine Haut, worauf sich urplötzlich eine
Linderung fühlbar machte: er litt nicht mehr, der Zahn that nicht mehr
weh.

Wie verdummt blieb er auf dem Trottoir stehen; schliesslich aber stemmte
er sich gegen die Angst und kletterte eine dunkle Treppe bis zum dritten
Stock hinauf. Da stand er vor einer Thür; ein Porzellanschild mit
himmelblauen Buchstaben: es war derselbe Name wie unten an der Thür.

Er zog die Klingel; doch entsetzt durch die Blutauswürfe, die er auf den
Treppenstufen bemerkte, wollte er jetzt umkehren, entschlossen, sein
ganzes Leben lang Zahnschmerz zu erdulden, als ein Schrei das
Treppenhaus erfüllte, der den Entsetzten auf seinen Platz bannte. Im
selben Augenblick öffnete sich die Thür und eine alte Frau bat ihn
einzutreten.

Die Scham überwand die Furcht. Man führte ihn in das Esszimmer, eine
andere Thür ward zugeschlagen, und ein grosser vierschrötiger Mann im
schwarzen Gehrock und schwarzen Beinkleidern trat ein und forderte ihn
auf, ihm in ein anderes Zimmer zu folgen.

Seine Empfindungen wurden von diesem Augenblicke ab undeutlich. Er
erinnerte sich, sich auf einen Sessel neben dem Fenster niedergesetzt
und etwas gestammelt zu haben, während er den Finger auf seinen Zahn
legte: »Schon mal plombiert ... fürchte, es ist nichts zu machen ...«

Der Mann hob schnell die Auseinandersetzung auf, indem er dem Herzog
seinen enormen Zeigefinger in den Mund schob; dann etwas in seinen
gewichsten und spitz gedrehten Schnurrbart brummend nahm er ein
Instrument vom Tisch, womit er die grosse Szene begann.

Herzog Jean hatte sich krampfhaft an die Lehne des Sessels geklammert
und gefühlt, wie etwas Kaltes seine Backe berührte; hierauf hatte er vor
den Augen nur Funken gesehen; er wurde von entsetzlichsten Schmerzen
erfasst, und so brüllte er, mit den Füssen strampelnd, wie ein wildes
Tier.

Man hörte ein Knacken, der Backenzahn war beim Herausziehen abgebrochen;
ihm war, als ob man ihm den Kopf abrisse oder den Schädel einschlüge. Er
hatte aus Leibeskräften geheult und sich wütend gegen den Mann gewehrt,
der sich von neuem auf ihn stürzte, als ob er mit seinem Arm ihm in den
Leib dringen wolle.

Der Arzt war nach der zweiten Operation einen Schritt zurückgetreten,
hatte den Herzog wieder in den Sitz zurückfallen lassen, worauf er an
das Fenster ging, schwer Atem holte und am Ende seiner Zange einen
blauen Zahnstumpf hielt, an dem etwas Rotes hing.

Wie vernichtet hatte Herzog Jean eine ganze Schale voll Blut
ausgebrochen, mit einer heftigen Bewegung den Zahnstumpf verweigert,
welchen ihm die alte Frau, in ein Stück Zeitungspapier gewickelt,
darreichte und war davongestürzt, nachdem er zwei Franken gezahlt hatte.

Auf der Strasse war er ganz heiter, wie um zehn Jahre jünger, sich für
alles und jedes interessierend. -- -- --

»Brr!« murmelte er jetzt, ganz erschreckt von dem Gang, den seine
Gedanken genommen hatten.

Er stand auf, um diese Vision zu zerstören, und um in die Wirklichkeit
zurückzukehren, fing er an, sich wieder mit der Schildkröte zu
beschäftigen.

Sie rührte sich noch immer nicht, er befühlte sie, sie war tot. Sie war
an eine ruhige Existenz, an ein demütiges Leben, das sie unter ihrer
ärmlichen Schale zubrachte, gewöhnt; sie hatte den glänzenden Luxus, den
man ihr aufdrang, den goldglänzenden Überzug, mit dem man sie bekleidet,
die Edelsteine, mit denen man ihr den Rücken gepflastert, nicht
vertragen können.




                            FÜNFTES KAPITEL.


Zur selben Zeit, da sich sein Wunsch verschärfte, sich einem
hassenswerten Zeitalter von unwürdigen Stockfischen zu entziehen, machte
sich das Bedürfnis, keine Bilder mehr zu sehen, welche das menschliche
Antlitz darstellten, Bilder solcher Personen, die in Paris nur zwischen
ihren vier Wänden herumkrauchen, oder auf den Strassen auf der Suche
nach Geld lungern, immer gewaltsamer geltend.

Nachdem er sich mit dem Leben und Treiben seiner Zeit abgefunden, hatte
er sich vorgenommen, keine Larven, die ihm nur Widerwillen oder Bedauern
einflössten, in seine Zelle einzuführen; er wünschte Gemälde, welche
zarte und köstliche Phantasieen alter Zeit und klassischer Verderbtheit
vorstellten, die unsern Tagen und Sitten fern liegen.

Er brauchte zum Ergötzen seines Geistes wie zur Freude seiner Augen
einige Gemälde, die ihn in eine unbekannte Welt einführen, ihm die
Spuren neuer Ideen enthüllen und sein Nervensystem durch hysterische
Sensationen erschüttern sollten.

Da gab es einen Künstler vor allen, der ihn zu grosser Begeisterung
hinriss: Gustav Moreau.

Zwei seiner Meisterwerke befanden sich in seinem Besitz; und während der
Nacht sass er oft träumend vor einem derselben, dem Gemälde der Salome:

Ein Thron, dem Hochaltar einer Kathedrale gleich, stand unter gewaltigen
Wölbungen, die aus niedrigen Säulen emporwachsen, ähnlich römischen
Pfeilern, glasiert mit bunten Ziegeln, in Mosaik gefasst und mit
Lasursteinen und Sardonyxen eingelegt: ein Palast, einer Basilika
ähnlich, in muhammedanisch-byzantinischer Architektur aufgeführt.

In der Mitte des Tabernakels, welches den Altar überragte, zu dem einige
Stufen in halbrunder Form hinanführten, sass der Tetrarch Herodes, auf
dem Kopfe die Tiara, die Beine emporgezogen und die Hände auf den Knieen
ruhend.

Sein Gesicht war gelb wie Pergament, alterzerstört und voller Falten;
sein langer Bart wallte wie eine weisse Wolke über das Edelgestein, mit
dem sein aus Goldstoff gefertigtes und die Brust bedeckendes Gewand
besäet war.

Um diese unbewegliche Statue, die in der eigentümlichen Stellung des
Hindu-Gottes wie erstarrt dasass, brannten Spezereien, die leichte
Rauchwolken verbreiteten und den Glanz der Edelsteine, die in den
Thronhimmel eingefügt waren, weckten. Der Dampf stieg höher und
verbreitete sich unter den Bogengängen, wo der bläuliche Rauch sich mit
dem Goldstaube der hellen Sonnenstrahlen mischte, die durch die Kuppel
fielen.

In dieser heissen, von Wohlgerüchen geschwängerten Luft des Tempels
steht Salome, den linken Arm gebieterisch ausgestreckt, den rechten
gebogen, eine grosse Lotusblume in Gesichtshöhe haltend; sie nähert sich
langsam auf den Fussspitzen nach den Klängen einer Guitarre, deren
Saiten eine am Boden hockende Frau schlägt.

Das Gesicht andächtig, feierlich, beginnt sie fast erhaben ihren
wollüstigen Tanz, der die schlummernden Sinne des alten Herodes wecken
soll. Ihr Busen wogt und bei der Berührung der im Kreise wirbelnden
Halskette richten sich ihre Brüste in die Höhe. Auf der feuchten Haut
blitzen die Diamanten, ihre Armbänder, ihre Gürtel, ihre Ringe warfen
strahlende Funken über ihr prunkhaftes, mit Perlen benähtes, mit Gold
und Silber gesticktes Gewand.

Es ist ein zarter Panzer aus feiner Goldarbeit, dessen Maschen je ein
Edelstein ziert, deren Feuer sich schlangenartig kreuzt über der matten,
theerosen-zarten Haut, wie glänzende Insekten mit strahlenden
Flügeldecken, rot marmoriert, hochgelb punktiert, stahlblau gefleckt,
pfauengrün getigert.

Die Augen, denjenigen einer Nachtwandlerin ähnlich, sind starr auf einen
Punkt gerichtet und sehen weder den Tetrarchen, der erbebt, noch ihre
Mutter, die entsetzliche Herodias, welche sie beobachtet, noch den
Eunuchen, der am Fusse des Thrones mit dem Säbel in der Hand unbeweglich
dasteht, sein schreckliches Gesicht bis an die Backen verhüllt, seine
Brust wie ein vertrockneter Kürbis unter der gelbbunten Tunika
hervorhängend.

Dieses Urbild der Salome verfolgte seit Jahren den Herzog Jean. Wie oft
hatte er in der alten Bibel, von Peter Variquet, dem Gottesgelehrten der
Universität Löwen, übersetzt, das Evangelium des heiligen Matthäus
gelesen, der in kurzen, naiven Sätzen die Enthauptung des Vorgängers
Christi erzählt. Wie oft war er nicht in tiefes Nachdenken versunken
beim Lesen jener Zeilen:

»Am Jahrestagfeste des Herodes tanzte die Tochter der Herodias und
gefiel dem Herodes sehr.

Da versprach er ihr und schwur's mit einem Eide, ihr alles zu geben, was
sie erbitten würde.

Und sie, von ihrer Mutter verleitet, sagte: Gieb mir das Haupt Johannes
des Täufers auf einer Schüssel.

Der König aber wurde betrübt; doch um des Eides und derer willen, die
mit ihm am Tische sassen, befahl er, dass es ihr überbracht würde.

Und er schickte alsbald hin und liess Johannes im Kerker enthaupten.

Und man brachte sein Haupt auf einer Schüssel und gab's dem Mägdelein;
und diese überreichte es ihrer Mutter.«

Aber weder Matthäus, noch Markus, noch Lukas verbreiten sich über den
berauschenden Zauber, über die moralische Versunkenheit der Tänzerin.
Sie bleibt verwischt, geheimnisvoll und verloren in dem fernen Nebel der
Jahrhunderte, unfassbar für die realen, alltäglichen Geister, nur den
erschütterten und geschärften Gehirnen zugängig, die durch
Nervenkrankheit hellsehend geworden; spröde auch gegenüber dem Maler des
Fleisches, Rubens, der sie in eine flanderische Schlächtersfrau
verwandelte; unverständlich allen Schriftstellern, die niemals die
aufregende Begeisterung der Tänzerin, die raffinierte Geistesgrösse der
Mörderin darzustellen vermochten.

In dem Werk von Gustav Moreau, in seinem Entwurfe frei von aller
Tradition, sah Herzog Jean endlich diese übermenschliche und seltsame
Salome verkörpert. Sie war nicht allein die Tänzerin, welche durch
wollüstige Windungen ihrer Hüften einem geschwächten Greise den Schrei
frivoler Begier entlockt, indem sie sich den Willen eines Königs durch
die Bewegungen ihres Leibes und das Zittern ihrer Schenkel unterwirft;
sie wurde sozusagen die sinnbildliche Gottheit unzerstörbarer Wollust,
die Göttin der unsterblichen Hysterie; jenes einfache Sinnentier,
ungeheuer, gefühllos, unempfindlich, alles, was sich ihr nähert, sie
berührt und sie sieht, vergiftend.

Ein unwiderstehlicher Zauber ging von diesem Bilde aus. Aber das
Aquarell, betitelt »Die Erscheinung«, wirkte vielleicht noch
aufregender.

Auf diesem Gemälde hob sich der Palast des Herodes wie eine Alhambra,
auf schlanken regenbogenfarbigen Säulen von maurischen Kacheln, wie mit
silbernem Mörtel und goldenem Cement zusammengefügt, ab; Arabesken
gingen von Lasursteinen aus, schlängelten sich um Kuppeln und auf den
mit Perlmutter eingelegten Arbeiten entlang, die in regenbogenfarbige,
prismatische Strahlen ausliefen.

Hier war der Mord vollzogen; der Henker stand jetzt unbeweglich, die
Hände auf den Knauf seines langen mit Blut befleckten Schwertes
stützend.

Das abgeschlagene Haupt des Heiligen hatte sich in der Schüssel, die auf
den Steinplatten stand, in die Höhe gerichtet, fahl, den bleichen Mund
offen, den Hals karmoisinrot, triefend von Blut. Eine Musivarbeit umgab
den Kopf, von dem ein leuchtender Glorienschein seine Lichtstrahlen auf
die Säulenhalle warf, die schreckliche Erhebung des Kopfes beleuchtend,
die gläsernen Augäpfel entzündend, die sozusagen fest auf der Tänzerin
haften.

Mit einer Gebärde des Entsetzens stösst Salome die schreckliche Vision
zurück, die sie unbeweglich auf den Fussspitzen festhält. Mit
weitgeöffneten Augen, die Hand krampfhaft ihren Busen umklammernd,
starrt sie die Erscheinung an.

Sie ist fast nackt; in der Aufregung des Tanzes haben sich die Schleier
gelöst, die Goldstoffe sind herabgefallen; sie ist nur noch mit dem
Goldschmuck und den durchsichtigen Juwelen behangen.

Der schreckliche Kopf strahlt, immer noch blutend, kleine dunkelpurpurne
Kiesel an den Spitzen des Bartes und Haares ansetzend. Sichtbar ist er
für Salome allein. Sie streift mit ihrem düstern Blick weder die
Herodias, die an ihren endlich gestillten Hass denkt, noch den
Tetrarchen, der, etwas vorgebeugt, die Hände auf den Knieen, keuchend
dasitzt und wahnsinnig bethört ist durch die Nacktheit dieses jungen
Körpers, der von wild aufregenden Wohlgerüchen, von Weihrauch und
Myrrhen umduftet ist. --

So wie der alte König blieb auch Herzog Jean zermalmt und vernichtet,
vom Schwindel ergriffen vor dieser Tänzerin, die weniger majestätisch,
weniger hochmütig, aber verwirrender als die Salome des Ölgemäldes auf
ihn wirkte.

Verloren in diese seine Betrachtungen versuchte der Herzog dem Ursprung
dieses grossen Künstlers, dieses mystischen Heiden, dieses Illuminaten,
der sich so völlig von der Welt abzusondern vermochte, um mitten in
Paris grausame Visionen, feenhafte Apotheosen der vergangenen Zeitalter
erstrahlen zu sehen, auf die Spur zu kommen.

Mantegna und Jacopo de Barbarj, hie und da verworrene Verbindung mit
Vinci, Farbenfieber à la Delacroix; aber der Einfluss dieser seiner
Meister blieb im ganzen genommen unmerklich. Ohne wirkliche Anlehnung
blieb Moreau in der Kunst seiner Zeit einzig. Er stieg bis zu den
ethnographischen Quellen hinauf, zu den Entstehungen der Götterlehre,
deren blutige Rätsel er verglich und entwickelte; er vereinigte die
Legenden des äussersten Orients, die sich danach mit dem Glauben der
andern Völker zu einer einzigen verschmolzen.

Er rechtfertigte somit seine architektonischen Verschmelzungen, sein
verschwenderisch unerwartetes Gemisch von Stoffen, seine unheimlich
sinnbildlichen Darstellungen, verschärft durch die aufregende
Deutlichkeit einer modernen Nervosität.

Es war in seinen Werken ein eigentümlicher Zauber, ein Reiz, der einen
bis ins tiefste Innere bewegt, wie in einigen Dichtungen von Baudelaire;
man bleibt erstaunt, träumerisch und bestürzt von dieser Kunst, die die
Grenzen der Malerei überschreitet und der Dichtung ihre zartesten
Gestaltungen entlehnt. Diese zwei Bilder der Salome, für welche Herzog
Jean eine Bewunderung ohne Grenzen hegte, lebten unter seinen Augen, an
den Wänden seines Arbeitszimmers.

Aber darauf beschränkten sich keineswegs seine Bilderankäufe.

Obgleich er den ersten und einzigen Stock seines Hauses, den er selbst
nicht bewohnte, geopfert hatte, hatte das Erdgeschoss allein schon eine
ganze Reihe Bilder verlangt.

Das Erdgeschoss war folgendermassen eingeteilt: Ein Ankleidezimmer, das
mit dem Schlafzimmer in Verbindung stand, befand sich in einem Flügel
des Hauses; von dem Schlafzimmer ging man in das Bibliothekzimmer, von
dort ins Esszimmer, welches den anderen Flügel bildete.

Diese Zimmer, welche die eine Vorderseite der Wohnung darstellten,
dehnten sich in gerader Linie aus und die Fenster sahen auf das Thal von
Aunay hinaus.

Die andere Seite der Behausung bestand aus vier, den ersteren ganz
gleichen Zimmern. Die Küche, auf der entsprechenden Seite, stand mit dem
Esszimmer in Verbindung; dann folgte ein grosser Hausflur, der als
Eingang in das Bibliothekzimmer diente; eine Art Boudoir in Verbindung
mit dem Schlafzimmer.

Diese letzteren Zimmer gingen nach der entgegengesetzten Seite des
Thales hinaus und sahen auf den Turm von Croy und Châtillon.

Die Treppe war an einem der Flügel des Hauses von aussen angebracht;
Herzog Jean hörte dadurch die Tritte seiner Dienstboten weniger
deutlich.

Er hatte das Boudoir mit einem lebhaft roten Stoff ausschlagen lassen,
und an allen Wänden des Raumes hingen in schwarzen Ebenholzrahmen
Kupferstiche von Johann von Luyken, einem alten holländischen
Kupferstecher, der in Frankreich fast unbekannt war.

Er besass von diesem phantastischen, unheimlichen und grausamen Künstler
die Serie seiner »Religionsverfolgungen«, wahrhaft entsetzliche Blätter,
die die Martern des religiösen Wahnsinns vorstellten, Bilder, auf denen
der Anblick unheimlicher menschlicher Qualen geboten wurde: Körper auf
Kohlenglut gebraten, der Schädelhaut beraubte Köpfe, von Nägeln
durchbohrt, tiefe Einschnitte von Sägen herrührend, Eingeweide aus dem
Leibe gerissen und auf Knäule gerollt, langsam mit Zangen losgelöste
Fingernägel, ausgestochene Augäpfel, Augenlider, die mittels spitzer
Instrumente umgekehrt waren, verrenkte Glieder, mit Sorgfalt gebrochen,
blossgelegte Knochen, langsam mit der Klinge des Messers abgeschabt.

Diese Werke, abscheuliche Phantasiegebilde, die nach verbranntem
Menschenfleisch rochen, Blut schwitzten und erfüllt waren vom Schrei des
Entsetzens und der Verfluchung, liessen dem Herzog Jean, den sie mit
verhaltenem Atem in dieses rote Kabinett bannten, geradezu die Gänsehaut
überlaufen.

Aber ausser dem Schauder, den sie ihm bereiteten, ausser der gewaltigen
Begabung dieses Künstlers, dem ausserordentlichen Leben seiner Figuren
entdeckt man bei seinem erstaunlichen, seltenen Talent zur Gruppierung,
die er mit einer an Callot erinnernden Geschicklichkeit und Schärfe zur
Ausführung bringt, wunderbare Fähigkeiten zur Wiedergabe gewisser
Zeitstadien: z. B. seine Architekturen, Kostüme und Sitten zur Zeit der
Makkabäer, dann während der Christenverfolgung zu Rom; in Spanien, unter
der Herrschaft der Inquisition; in Frankreich im Mittelalter, sowie zur
Zeit der Pariser Bluthochzeit und der Dragonaden, die alle mit
peinlicher Sorgfalt aufgefasst und mit ausserordentlicher Kunst
wiedergegeben sind.

Diese Kupferstiche waren treffliche Quellen für mancherlei Aufschlüsse;
man konnte sie stundenlang betrachten, ohne zu ermüden; sie führten zum
Nachdenken und halfen dem Herzog Jean oft die Zeit töten, wenn er keinen
Sinn zum Lesen hatte.

Auch das Leben von Luyken hatte einen gewissen Reiz für ihn. Eifriger
Calvinist, verstockter Sektierer, vernarrt in Hymnen und Gebete, stellte
er religiöse Poesien zusammen, die er gleichsam illustrierte. Er schrieb
die Psalme in Verse um, vertiefte sich in die Bibel, von der er entzückt
und gleichzeitig erschüttert wurde.

Dabei die Welt verachtend überliess Luyken all seinen Besitz den Armen
und lebte von trockenem Brot; schliesslich hatte er sich mit einer
alten, durch ihn fanatisierten Dienerin eingeschifft. Er fuhr aufs
Geratewohl hinaus, lief mit seinem Schiff hier und dort an und predigte
überall das Evangelium, versuchte selbst ohne Essen zu leben, bis er
beinahe verrückt geworden. --

In dem grösseren Raum nebenan, in der mit Cedernholz in
Cigarrenkistenfarbe bekleideten Vorhalle hingen andere Kupferstiche,
andere Zeichnungen übereinander.

Die »Todes-Komödie« von Bresdin. In einer unmöglichen Landschaft, mit
Bäumen, Dickicht und Gehölz bedeckt, welche die Formen von Dämonen und
Gespenstern angenommen und zwischen welchen sich Vögel mit Rattenköpfen
mischten, auf einem Boden, der mit Rippen, Wirbelknochen und Schädeln
besäet war, richteten sich knorrige, gespaltene Weiden in die Höhe, von
Skeletten überragt, die die Arme in der Luft bewegen; ein Strauch stimmt
einen Siegesgesang an, während Christus in den mit Wölkchen bedeckten
Himmel flieht, ein Einsiedler im Hintergrunde einer Grotte, den Kopf in
den Händen vergraben, nachdenkend sitzt, und ein Bettler, durch
Entbehrungen und Hunger abgezehrt, ausgestreckt auf dem Rücken, die
Füsse in einem Pfuhl, der Entkräftung erliegt.

Der »Gute Samariter« von demselben Künstler, als grosse Federzeichnung
auf Stein abgezogen. Ein wunderlicher Wirrwarr von Palmenbäumen,
Ebereschen und Eichen, die nebeneinander wachsen, ohne Rücksicht auf
Jahreszeit und Klima; ein Stück Urwald, übersäet mit Affen, Eulen,
Nachtfaltern und bucklig-alten Baumstümpfen, so missgestaltet wie die
Wurzeln des Alrauns.

Aber obgleich Herzog Jean die Feinheit der Details und die hohen
Schönheiten dieses Kupferstiches schätzte, so hielt er sich doch noch
öfter vor den Zeichnungen auf, die den Raum schmückten.

Es waren in ihren Leisten aus rohem Birnbaumholz mit schmalem Goldrand
unbegreifliche Erscheinungen von Odilon Redon. Das Haupt eines
Merowingers auf einer Schale; das eines bärtigen Mannes, ein Mittelding
zwischen einem chinesischen Priester und einem Volksredner, der mit
seinem Finger eine kolossale Kanonenkugel berührt; dann eine
abscheuliche Spinne, die in der Mitte ihres Körpers ein menschliches
Angesicht trägt. Ferner Kohlenzeichnungen, die den Schrecken des
Träumers darstellen, der von Verdauungsqualen gepeinigt wird.

Dann wieder ein grosser Würfel, aus dem ein halbgeschlossenes trauriges
Auge blinzelt; dort dürre unfruchtbare Landschaften, kalcinierte Ebenen,
Umwälzungen des Erdbodens, vulkanische Aufruhre, vom Sturm gepeitschte
Wolken und unbeweglich fahle Himmel; ein unnatürlicher Blumenreichtum
entfaltet sich auf Felsen; überall erratische Blöcke, schmutzige
Eisgruben, Gestalten, deren affenartiger Typus und dicke Backenknochen,
deren hervorstehende Augenbrauen, schiefe Stirn und eingedrückte Schädel
an die Köpfe unserer Vorfahren erinnern.

Diese Zeichnungen waren ohne Beispiele in der Kunst, sie überschritten
die Grenzen der Malerei und führten wunderlich phantastische Neuerungen
ein, Gebilde der Krankheit und des Fieberwahns.

Diese Gesichter, diese masslos vergrösserten und missgestalteten wie
durch eine Karaffe gesehenen Körper riefen bei Herzog Jean Erinnerungen
an Typhus wach, Erinnerungen, die ihm von fieberhaften Nächten und
schrecklichen Visionen seiner Kindheit geblieben waren.

Erfasst von einem unbeschreiblichen, durch diese Zeichnungen erzeugten
Unbehagen, wie er es empfand bei gewissen »Sprichwörtern« Goyas, an die
sie erinnerten, oder wie beim Schluss einer Lektüre von Edgar Poë, von
dem Odilon Redon die Fata Morgana der Sinnestäuschungen und die
Wirkungen der Furcht in verschiedenartiger Kunst ererbt zu haben schien,
rieb er sich die Augen und betrachtete eine strahlende Figur, betitelt
die »Schwermut«, die vor der Sonnenscheibe in einer gedrückten, trüben
Stellung auf einem Felsen sitzt.

Wie durch Zauber verschwinden diese Schatten, eine sanfte Traurigkeit,
eine kraftlose Verzweiflung bemächtigt sich seiner Gedanken und er
stellt lange Betrachtungen vor diesem Werke an.

Ausser dieser Sammlung von Zeichnungen von Redon, die fast alle Wände
des Vorzimmers zierten, hatte Herzog Jean in seinem Schlafzimmer eine
sonderbare Skizze von Theocopuli: einen Christus. Es war ein Bild in
unnatürlichen Farbentönen, von übertriebenen Linien und grausamer
Färbung, ein Bild der zweiten Periode dieses Künstlers, als er die Idee
aufgegeben hatte, nicht mehr Tizian ähnlich zu sein.

Diese unheimliche Malerei, die in Wachsfarbe und Leichengrün ausgeführt
zu sein schien, entsprach nach des Herzogs Ansicht einer gewissen
Übereinstimmung mit dem Mobiliar.

Seiner Meinung nach gab es nur zwei Arten, um ein Schlafzimmer
einzurichten: entweder ein Alkoven, der Ort nächtlicher Ergötzung, oder
ein Plätzchen der Ruhe und Einsamkeit, eine Zufluchtsstätte des
Gedankens, eine Art Betzimmer.

Nachdem er die Frage von allen Seiten beleuchtet hatte, folgerte er,
dass das zu erreichende Ziel sich darin zusammenfassen liesse: mit
freundlichen Gegenständen eine traurige Sache zu schaffen, oder
vielmehr, wenn man dem Schlafgemach auch den Charakter der Hässlichkeit
lässt, doch dem Ganzen eine Art von Eleganz und Vornehmheit
aufzudrücken. Durch die Optik des Theaters, dessen gemeiner Flitterkram
wie kostbare und teure Gewebe aussieht, die absolut entgegengesetzte
Wirkung zu erzielen, indem man sich prächtiger Stoffe bedient, um ihnen
den Anstrich der Dürftigkeit zu verleihen; mit einem Wort eine
Karthäuserklause herzustellen, die aussah wie eine wirkliche.

Er verfuhr in folgender Weise: um die ockerartige Mauerfarbe, das
vorgeschriebene geistliche Gelb, nachzuahmen, liess er die Wände mit
safrangelber Seide bekleiden. Um aber die Schokoladenfarbe der Panele
wiederzugeben, liess er sie mit violettfarbenen Holzleisten, die mit
Amarantfarbe dunkel gebeizt waren, bekleiden. Die Wirkung war frappant;
sie konnte von weitem an die düstere Starrheit des Vorbildes erinnern.
Der Plafond wurde in Gelbweiss tapeziert, das den Kalk ersetzte, ohne
dessen grellen Schein zu haben. Die kalten Steine der Zelle gelangen in
der Nachbildung ziemlich gut dank einem Teppich, dessen Muster rote
Fliesen vorstellte, mit weisslichen Stellen in der Wolle, welche die
Abnutzung durch Sandalen und die Reibung durch Stiefel darstellen
sollten.

Er möblierte dieses Gemach mit einem kleinen eisernen Bett, einer Art
Mönchsbett, aus antikem Eisen geschmiedet und poliert, am Fussende mit
reich aufgetragenen Verzierungen versehen.

Die Stelle eines Nachttisches vertrat ein Betstuhl, dessen Inneres ein
Nachtgeschirr enthalten konnte und dessen Aussenseite eine Kirchenagenda
trug. Gegenüber an der Mauer liess er einen Kirchenstuhl anbringen, der
von einem durchbrochenen Altarhimmel überragt wurde, verziert mit
vorspringenden Stützen. Die hohen Kirchenleuchter ersetzte er durch
Lichter aus reinem Wachs, die er in einem besonderen Geschäft kaufte,
das nur Kirchenartikel führte, denn er hegte eine grosse Abneigung gegen
Petroleum oder Stearin, kurz gegen alle und jede moderne Beleuchtung, da
sie ihm zu grell und unzart erschien. --

Des Morgens in seinem Bett, ehe er einschlief, den Kopf auf dem
Kopfkissen, seine Umgebung betrachtend, stellte er sich leicht vor, dass
er sich hundert Meilen von Paris befinde, weit weg von der Welt, im
Innern eines Klosters.

Und im Grunde genommen war die Täuschung leicht, da er ein Leben führte,
das dem eines Mönches fast gleichkam. Er hatte sich auf diese Weise die
Vorteile der Abgeschlossenheit verschafft. Wie er seine Zelle zu einem
warmen, angenehmen Zimmer gemacht, hatte er sein Leben regelmässig und
bequem gestaltet, umgeben von Wohlbehagen, beschäftigt und dennoch frei.
--

Vom Leben abgenutzt, von dem er nichts mehr erwartete, ward er einem
Einsiedler gleich, reif für die Einsamkeit. Niedergedrückt wie ein Mönch
und voll unendlicher Müdigkeit, war er beseelt von dem Bedürfnis nach
Ruhe, von dem Wunsche, nichts mehr gemein zu haben mit den Profanen, die
bei ihm für Utilitarier und Dummköpfe galten.




                           SECHSTES KAPITEL.


Tief in seinen bequemen Lehnsessel vergraben, die Füsse auf den
vergoldeten Kugeln der Feuerböcke, die Pantoffel fast brennend von den
Holzscheiten, die knisternd lebhafte Flammen ausstrahlten, legte Herzog
Jean den alten Quartanten, in welchem er las, auf einen Tisch, dehnte
sich, zündete sich eine Cigarette an und verfiel dann in köstliche
Träumereien, mit verhängten Zügeln die Spur der Erinnerung verfolgend,
die ihm seit Monaten entfallen und jetzt plötzlich wieder, durch das
Beifallen eines Namens, hervorgerufen wurde.

Mit wunderbarer Deutlichkeit sah er nämlich die Verlegenheit seines
Kameraden d'Aigurande vor Augen, als derselbe in einer Versammlung
standhafter Junggesellen die letzten Vorbereitungen zu einer Heirat
offen gestehen musste. Man protestierte laut dagegen, man malte ihm die
Abscheulichkeit eines Zusammenschlafens in demselben Bette aus. Nichts
half; vollständig in ihrem Banne glaubte er an die Intelligenz seiner
künftigen Frau und behauptete sogar bei ihr aussergewöhnliche
Eigenschaften von Hingebung und Zärtlichkeit erkannt zu haben.

Herzog Jean war es, der von all den jungen Leuten allein den Freund in
seinem Entschluss ermutigte, und dies von dem Augenblick ab, als er in
Erfahrung gebracht hatte, seine Braut wünsche an der Ecke eines neuen
Boulevards eine der modernen Wohnungen in Rotundenform zu beziehen.

Überzeugt von der unbarmherzigen Macht kleiner Misèren, die unheilvoller
für starke Naturen sind als grosse, sowie sich auf die Thatsache
stützend, dass d'Aigurande kein Vermögen besass und die Mitgift seiner
Frau so gut wie Null war, sah er in diesem einfachen Wunsch eine
unendliche Aussicht für lächerliche Unannehmlichkeiten.

D'Aigurande kaufte Möbel von runder Form, Spiegeltische, die, hinten
ausgehöhlt, einen Kreis bildeten, die Gardinenstützen in Bogenform,
Teppiche in Halbmondform, kurz ein ganzes Mobiliar, wie es eben auf
Bestellung angefertigt wird.

Er bezahlte das Doppelte dafür. Als später seine Frau für ihre Toilette
zu knapp bei Geld und endlich der Rotundenwohnung überdrüssig war und
eine viereckige Etage beziehen wollte, da passte eben keins der Möbel
mehr. Nach und nach wurde dieses lästige Mobiliar eine Quelle endlosen
Verdrusses. Das frühere gute Einvernehmen, das schon durch das
gemeinschaftliche Leben etwas locker geworden war, schrumpfte von Woche
zu Woche mehr zusammen; sie gerieten in Zorn, warfen sich gegenseitig
vor, nicht in einem Salon bleiben zu können, wo die Kanapees und
Spiegeltische nicht einmal die Wände berührten und bei der geringsten
Bewegung, trotz aller Keile, die man darunter gelegt, wackelten. Auch
fehlte das nötige Geld für die Ausbesserungen. Alles wurde ein
Gegenstand des Streites und der Bitterkeit, von den Schubladen an, die
sich in den nicht ordentlich feststehenden Möbeln gezogen hatten, bis zu
den Spitzbübereien des Dienstmädchens, das von der Unachtsamkeit und den
Zwistigkeiten profitierte, um die Kasse zu erleichtern. Mit einem Wort:
das Leben wurde ihnen unerträglich. Er amüsierte sich ausserhalb des
Hauses; sie suchte daheim durch Übertretung des Ehegebotes das Vergessen
ihrer trüben und langweiligen Existenz zu ermöglichen.

»Mein Schlachtplan war richtig,« hatte sich damals der Herzog gesagt,
der dies mit der Befriedigung eines Strategen vernahm, dessen Manöver
gelungen waren. --

Er dachte jetzt vor seinem Feuer sitzend an die Trümmer dieses ehelichen
Heims, deren Veranlassung sein guter Rat gewesen war. Er warf neue
Scheite Holz in den Kamin und nahm flugs seine Träumereien wieder auf.

Andere Erinnerungen kamen ihm jetzt, die derselben Gedankenreihe
angehörten.

Es war schon einige Jahre her, als er eines Abends in der Rue de Rivoli
einem Laufburschen von ungefähr sechzehn Jahren begegnete, einem
blassen, verschmitzt aussehenden Jungen, verführerisch wie ein Mädchen.
Derselbe sog mühevoll an einer Cigarette, deren Papier geplatzt war.
Schimpfend rieb er gewöhnliche Küchenstreichhölzer an seiner Hose ab,
die nicht fangen wollten, bis ihm keins mehr übrig blieb. Jetzt bemerkte
er den Herzog, der ihn beobachtete. Er näherte sich ihm und an den Rand
seiner Mütze greifend bat er ihn um Feuer. Herr des Esseintes reichte
ihm einige duftige Cigaretten von Dubêque, knüpfte dann eine
Unterhaltung mit ihm an und veranlasste ihn, seine Geschichte zu
erzählen.

Diese war äusserst einfach. Der Junge hiess Auguste Langlois und war bei
einem Papparbeiter in der Lehre; er hatte seine Mutter früh verloren und
wurde von seinem Vater oft nach Noten geprügelt.

Herzog Jean hörte ihn nachdenklich an: »Komm, wir wollen etwas zusammen
trinken,« sagte er und führte ihn in eine Wirtschaft, wo er ihm starken
Punsch vorsetzen liess. Der Junge trank, ohne ein Wort zu sprechen. --
»Möchtest Du Dich heute Abend amüsieren?« fragte der Herzog. Dann hatte
er den Kleinen zu Madame Laura, einer Dame geführt, die in der Rue
Mosnier in der dritten Etage eine Auswahl von Blumenmacherinnen wie eine
Reihe roter Zimmer, die mit runden Spiegeln, Kanapees, etc. etc.
ausgestattet waren, hielt.

Dort hatte Auguste ganz verdutzt seine Mütze zwischen seinen Fingern
drehend ein kleines Bataillon Frauenzimmer gesehen, die alle wie aus
einem Munde riefen:

»Ach, der hübsche Junge!«

»Aber sag mal, Kleiner, Du hast noch nicht das richtige Alter,« fügte
eine stattliche Brünette mit gebogener Nase und grossen dunklen Augen
hinzu, die bei Madame Laura die unvermeidliche Rolle der schönen Jüdin
vertrat.

Herzog Jean schien dort zu Hause zu sein und unterhielt sich leise mit
der Wirtin.

»Sei doch nicht bange, Dummkopf,« rief er dem Jungen zu. »Triff Deine
Wahl, ich bezahle.« Und er gab dem Kleinen einen leichten Stoss, so dass
er auf den Divan zwischen zwei der Schönen fiel.

Auf ein Zeichen der Wirtin rückten diese etwas zusammen, hüllten die
Kniee des Jungen mit ihren Röcken ein und hielten ihm ihre entblössten
Schultern, die stark nach einem betäubenden Puder rochen, unter die
Nase. Der arme Kleine rührte sich nicht mehr; sein Kopf wurde ganz heiss
und rot, der Mund trocken; die Augen niederschlagend wagte er nur
verstohlen einige neugierige Blicke.

Wanda, die schöne Jüdin, küsste ihn und gab ihm gute Ratschläge, empfahl
ihm, seinem Vater und seiner Mutter zu gehorchen und zur selben Zeit
glitten ihre Hände langsam über den Jungen hin, dessen veränderte
Gesichtszüge konvulsivisch zuckten.

»Es ist also nicht Deinetwegen, dass Du heute Abend kommst?« fragte
Madame Laura den Herzog. »Aber zum Teufel, wo hast Du nur den Schlingel
aufgetrieben?« fing sie wieder an, als Auguste mit der Schönen in einem
Nebenzimmer verschwunden war.

»Auf der Strasse, meine Beste.«

»Du bist doch nicht betrunken?« murmelte die alte Wirtin. Und nach
einiger Überlegung fügte sie mit einem mütterlichen Lächeln hinzu: »Du
liederlicher Strick, Dir steht nach frischer Ware der Sinn!«

Herzog Jean zuckte mit den Achseln. »Du irrst Dich gehörig! ja
vollständig,« entgegnete er. »Die Wahrheit ist, dass ich einfach
versuche, mir einen Mörder zu bilden. Folge einmal aufmerksam meiner
Beweisführung. Dieser Junge ist noch rein, doch hat er das Alter
erreicht, wo das Blut zu wallen anfängt; er würde hinter den jungen
Mädchen in seinem Viertel herlaufen, sich amüsieren und doch noch
rechtschaffen bleiben, um schliesslich sein bescheidenes Teil an einem
momentanen Glück zu geniessen, wie es den Armen eben beschieden ist. --
So aber, wo ich ihn hierher führe, in die Mitte Eures Paradieses, das er
gar nicht ahnt und das ihm notgedrungen im Gedächtnis verbleibt, und
indem ich ihm alle vierzehn Tage eine solch unverhoffte Wonne zuteil
werden lasse, wird er sich an den Genuss des Fleisches gewöhnen. Es wird
ihm systematisch zum Bedürfnis werden! Nehmen wir selbst an, dass er
drei Monate braucht, bis der Genuss ihm absolut notwendig geworden --
und mit den langen Zwischenräumen, die ich mache, laufe ich keine
Gefahr, ihn zu übersättigen -- nun, am Ende dieser drei Monate werde ich
die kleine Rente, die ich Dir einzahlen werde, aufheben, und dann wird
er stehlen wie ein Rabe, um hierher kommen zu können; er wird alle Hebel
in Bewegung setzen, um sich auf diesem Divan und unter diesem Gas wälzen
zu können.

Die Sache zum äussersten getrieben: er wird, wie ich hoffe, eines Tages
seinem Herrn, der ihn dabei betrifft, wie er dessen Geldschrank öffnet,
einfach den Hals umdrehen, und so ist, wie Du siehst, mein schöner Zweck
erreicht. Ich werde im Verhältnis meiner Mittel eben dazu beigetragen
haben, einen Schurken mehr zu schaffen, ein Nahrungsmittel der edlen
Justitia, was mir als Feind dieser verabscheuten Gesellschaft, die uns
brandschatzt, gerade recht ist.« --

Die Frauenzimmer sahen ihn mit grossen Augen an.

»Da bist Du ja!« fing er wieder an, als er Auguste in den Salon
zurückkommen sah, der sich rot und verlegen hinter der schönen Jüdin zu
verstecken suchte.

»Nun, mein Junge, es ist schon spät, sag diesen netten Damen gefälligst
Adieu.«

Und auf der Treppe teilte er ihm mit, dass er alle vierzehn Tage, ohne
dass es ihn einen Heller koste, zu Madame Laura gehen könne; dann auf
der Strasse angelangt, sah er den ganz betäubten Jungen einen Augenblick
lang an, und schloss:

»Wir werden uns wohl nicht wieder sehen; geh schnell heim zu Deinem
Vater, dessen Hand ihm unthätig juckt und behalte das gewissermassen
schöne evangelische Wort: >Thue den andern das, was Du nicht willst, das
sie Dir thun< wohl im Gedächtnis. Mit dieser Lebensregel wirst Du weit
kommen. -- Gute Nacht! Vor allen Dingen sei nicht undankbar, lass so
bald wie möglich von Dir hören, das heisst auf dem Wege der
hochlöblichen Gerichtszeitung.« -- -- -- --

»Der kleine Judas!« murmelte Herzog Jean vor sich, das Feuer schürend;
-- »sich sagen zu müssen, dass ich seinen Namen noch niemals unter
Vermischtes gelesen habe! -- Es sei denn, dass er schon mit dem Gericht
zu thun gehabt hätte, seit ich in Fontenay bin, wo ich keine Zeitungen
mehr lese.«

Er stand auf und ging ein paarmal im Zimmer auf und ab.

»Es wäre trotz alledem schade,« sagte er sich, »denn indem ich so
handelte, machte ich das weltliche Gleichnis wahr, die Allegorie der
allgemeinen Lehre, die nach nichts Geringerem strebt, als alle Menschen
in einen >Langlois< zu verwandeln, und sich den Kopf zerbricht, statt
endlich den Elenden aus Mitleid die Augen auszustechen, um sie ihnen
ganz und mit Gewalt zu öffnen, damit sie um sich herum nur unverdiente
und mildere Schicksale sehen, verfeinerte und schärfere Genüsse wittern,
die ihnen darum um so ersehnter und begehrenswerter erscheinen. --«

»Und die Thatsache ist,« fuhr der Herzog in seiner Schlussfolgerung
fort, »die Thatsache ist die, dass der Schmerz eine Wirkung der
Erziehung ist, dass er sich erweitert und schärft, je nachdem die Ideen
entstehen: je mehr man sich also befleissigt, den Verstand und das
Nervensystem der armen Teufel zu verfeinern, desto mehr wird man die
gewaltig lebenskräftigen Keime des moralischen Leidens und Hasses in
ihnen anfachen und entwickeln.« -- --

Die Lampen kohlten. Er zog sie auf und sah nach der Uhr: drei Uhr
Morgens. -- Er zündete sich eine Cigarette an und vertiefte sich von
neuem in die durch seine Träumereien unterbrochene Lektüre des
lateinischen Gedichts »De laude castitatis«, das unter der Regierung des
Gondebald von Avitus, des Erzbischofes von Wien, geschrieben worden ist.




                           SIEBENTES KAPITEL.


Seit jener Nacht, in der er ohne augenscheinliche Ursache die
melancholische Erinnerung an Auguste Langlois wachgerufen, lebte sein
ganzes früheres Leben wieder in ihm auf.

Er war unfähig, ein Wort der Bücher zu verstehen, die er zu Rate zog;
selbst seine Augen lasen nicht mehr; es war ihm, als wenn sein Geist,
von Litteratur und Kunst übersättigt, sich weigerte, mehr in sich
aufzunehmen.

Er lebte nur noch in sich selbst, nährte sich von seinem eigenen Mark,
gleich Tieren während des Winterschlafes; denn die Einsamkeit hatte wie
ein Schlaftrunk auf sein Gehirn gewirkt. Nachdem diese ihn anfangs
entkräftet und hingehalten hatte, brachte sie schliesslich eine
Empfindungslosigkeit mit unbestimmten Träumereien in ihm hervor; sie
vernichtete seine Absichten, brach seinen Willen, führte ihm eine Reihe
von Träumen vor, die er passiv ertrug, ohne auch nur zu versuchen, sich
ihnen zu entziehen.

Die verworrene und ungeregelte Lektüre, das künstliche Denken, dem er
sich seit seiner Zurückgezogenheit hingegeben hatte, glich einem Damm,
mit dem er seine alten Erinnerungen umgab; dieser Damm war plötzlich
gewaltsam durchbrochen, die Flut setzte sich in Bewegung, riss Gegenwart
und Zukunft mit sich, um alles gleichsam unter Wasser zu setzen und
seinen Geist mit einer unendlichen Traurigkeit zu erfüllen, auf der
unbedeutende Ereignisse seines Lebens und alberne Nichtigkeiten wie
Strandgut umherschwammen.

Das Buch, welches er in der Hand hielt, fiel oft achtlos auf den Boden;
er liess sich gehen, liess voll Widerwillen und Scham die Jahre seines
vergangenen Lebens an sich vorüberziehen.

Was war das für eine Epoche!

Er versetzte sich in die Zeit der vornehmen Abendgesellschaften, der
Rennen, des Spiels, seiner Liebeleien. Er erinnerte sich der Gesichter,
der Mienen, der nichtssagenden Worte, welche ihn mit der Hartnäckigkeit
jener trivialen Melodieen verfolgten, die man wohl gegen seinen Willen
summt, die sich aber schliesslich mit einem Mal und ohne dass man daran
denkt wieder verlieren. Diese Periode war von kurzer Dauer. Es trat
darauf Gedächtnisruhe ein; er versenkte sich aufs neue in seine
lateinischen Studien, um die Rückblicke selbst bis zum Eindruck zu
verwischen.

Doch der Reigen war eröffnet, fast unmittelbar folgte eine zweite Phase,
nämlich die Erinnerungen seiner Kindheit, besonders diejenigen der
Jahre, welche er bei den Jesuiten zugebracht hatte.

Diese Erinnerungen waren die entferntesten und doch klarsten seines
Gedächtnisses, ihm scharf und tief eingegraben: der schattige Park, die
langen Alleen, die Blumenbeete, die Bänke -- alle die kleinen
Einzelheiten stiegen in seiner Einsamkeit vor ihm auf. Er sah die Gärten
sich beleben, hörte das Geschrei der Schüler, das Lachen der Lehrer, die
sich während der Erholungsstunden unter die Schüler mischten und sich,
den hochgeschürzten Priesterrock zwischen den Knieen haltend, dem
Ballspiel hingaben oder auch mit den jungen Leuten ganz ungezwungen wie
Kameraden unter den Bäumen plauderten.

Die Jesuiten erlangten durch diese Methode einen wirklichen Einfluss auf
das Kind, brachten es dahin, die geistigen Gaben, welche sie
kultivierten, gewissermassen zu kneten, sie in eine bestimmte Richtung
zu lenken, sie gleichsam mit besondern Ideen zu pfropfen, ihre
Gedankenzunahme durch eine eindringlich einschmeichelnde Methode zu
fördern, indem sie sich bemühten, ihren Schülern später, beim Eintritt
in die Welt, zu folgen und sie zu unterstützen, indem sie ihnen
liebevolle Briefe sandten, wie sie der Dominikaner Lacordaire an seine
ehemaligen Zöglinge zu schreiben verstand.

Herzog Jean gab sich von dem Erziehungs-Verfahren Rechenschaft, welches
er, wie er sich einbildete, ohne Resultat hatte über sich ergehen
lassen; sein Charakter, der allen Ratschlägen gegenüber rebellisch,
spitzfindig, argwöhnisch und zum Widerspruch geneigt war, hatte ihn
verhindert, durch ihre Zucht gebildet, ihren Lehren unterworfen zu
werden. Einmal dem Kollegium entwachsen, hatte sein Skepticismus nur
noch zugenommen; sein Weg durch eine legitimistisch-unduldsame und
beschränkte Welt, die Unterhaltung mit unwissenden Kirchenvorstehern und
niedrigen Geistlichen, deren Ungeschicktheit den Schleier zerrissen, der
so kunstgerecht von den Jesuiten gewebt war, bestärkten nur noch seinen
unabhängigen Geist und vermehrten sein Misstrauen gegen jeden Glauben.

Er erachtete sich im ganzen genommen frei von jedem Band, von jedem
Zwang; er hatte einfach, anders als alle andern, die im Lyceum oder in
weltlichen Pensionaten erzogen waren, der Anstalt und seinen Lehrern ein
vortreffliches Andenken bewahrt; und jetzt, wo er mit sich zu Rate ging,
kam er dahin, sich zu fragen, ob der Same, bislang auf unfruchtbaren
Boden gefallen, nicht anfinge aufzugehen.

Und wirklich, seit einigen Tagen befand er sich in einem
unbeschreiblichen Seelenzustand. Während eines Augenblickes glaubte er
sich instinktmässig der Religion zugeführt; bei der geringsten
Beweisführung aber verflog seine Hinneigung zum Glauben; trotzdem blieb
er voll Unruhe und Verwirrung.

Er wusste indessen wohl, indem er in sich ging, dass er niemals den
Geist der wahrhaft christlichen Demütigung und Reue haben würde; er
wusste, dass der Augenblick, von dem der Pater Lacordaire spricht,
dieser Augenblick der Gnade, »wo der letzte Lichtstrahl in die Seele
dringt und die dort zerstreuten Wahrheiten in einem gemeinsamen Centrum
wieder fixiert«, für ihn niemals kommen würde; er fühlte nicht das
Bedürfnis der Demütigung und des Gebetes, ohne welches nach der Wahrheit
der Priester keine Bekehrung möglich ist; er empfand nicht den Wunsch,
Gott anzuflehen, dessen Barmherzigkeit ihm am wenigsten wahrscheinlich
schien; und doch brachte es die Sympathie, die er für seine ehemaligen
Lehrer bewahrte, dahin, ihn für sie und ihre Doktrinen zu interessieren.
Diese unnachahmliche Sprache der Überzeugung, diese begeisternden
Stimmen höherer Intelligenz fielen ihm wieder ein und hatten zur Folge,
dass er an seinem Geist und seinen Kräften zweifelte. In seiner
Einsamkeit, ohne neue Nahrung, ohne frisch empfundene Eindrücke, ohne
Erneuerung der Gedanken und Austausch von Empfindungen, die von aussen
kommen, in dieser unnatürlichen Verbannung, in der er eigensinnig
verharrte, stellten sich alle Streitfragen, die er während seines
Aufenthaltes in Paris vergessen hatte, von neuem wie aufregende Rätsel
vor seinem Geist dar.

Die Lektüre der lateinischen Werke, die ihm sonst angenehm war, Werke
meist von Bischöfen und Mönchen verfasst, hatte ohne Zweifel zu dieser
Krisis beigetragen. Eingehüllt in eine Klosteratmosphäre, in einen Duft
von Weihrauch, der ihm den Kopf benahm, hatten sich die Nerven
aufgeregt; durch eine Ideenverbindung hatten diese Bücher die
Erinnerungen an seine Jugendzeit bei den Jesuiten wieder ans Licht
gefördert.

»Die Sache ist klar,« sagte sich der Herzog Jean, indem er vernünftig
nachzudenken und dem Gang dieser Einführung des Jesuitenelementes in
Fontenay zu folgen versuchte -- »ich habe seit meiner Kindheit, und ohne
es je gewusst zu haben, diesen Stoff, der noch nicht gegärt hatte, in
mir selbst; diese Vorliebe, die ich immer für alle religiösen Sachen
gehabt habe, ist vielleicht ein Beweis dafür.«

Dennoch versuchte er sich vom Gegenteil zu überzeugen; unzufrieden,
nicht mehr unumschränkter Herr über sich selbst zu sein, holte er Gründe
herbei. Er hatte sich notgedrungen der Geistlichkeit zuwenden müssen, da
die Kirche allein die verlorengegangene Kunst und Form der Jahrhunderte
gesammelt hatte; sie hat selbst bis zu den gewöhnlichen modernen
Erzeugnissen herab die Formen der Goldschmiedekunst bewahrt, den Zauber
der schlanken Kelche und der Hostiengefässe in ihrer edlen Rundung auf
uns gebracht, sie hat sogar in dem modernen Aluminium, in unedlen
Metallen, in farbigem Glas die Grazie der mittelalterlichen Formen
beibehalten.

Die meisten der kostbaren Gegenstände, welche im Museum von Cluny
klassifiziert und wie durch Wunder der gemeinen Raubgier der
Sansculotten entgangen sind, stammen aus den alten Abteien Frankreichs
her. Ebenso wie die Kirche im Mittelalter die Philosophie, die
Geschichte und Sprache vor dem Verfall geschützt hat, so hat sie auch
die plastische Kunst hinübergerettet.

Bis zu unsern Tagen haben sich jene wunderbaren Muster von Geweben und
Goldschmiedekunst erhalten, welche die Fabrikanten kirchlicher
Gegenstände verhunzen, ohne ganz auf die ursprüngliche entzückende Form
verzichten zu können. Es war daher durchaus nicht überraschend, dass er
hinter antiken Nippsachen hergejagt, dass er mit Hilfe zahlreicher
Sammler die Reliquien bei den Antiquitätenhändlern in Paris und den
Trödlern auf dem Lande aufgestöbert hatte.

Aber vergebens berief er sich auf diese Gründe; es gelang ihm nicht,
sich vollständig zu beruhigen. Gewiss, indem er alles kurz
zusammenfasste, beharrte er dabei, die Religion als eine herrliche
Legende, als eine grossartige Betrügerei zu betrachten, und doch trotz
all seiner Auslegungen fing sein Skepticismus an zu wanken.

Die seltsame Thatsache bestand: er war jetzt weniger sicher als in
seiner Kindheit, wo die Fürsorge der Jesuiten unmittelbar auf ihn
gewirkt, als er in ihren Händen, ohne Familienbande, ohne Einfluss von
aussen her, ihnen sozusagen mit Körper und Geist angehörte. Sie hatten
ihm ebenfalls einen gewissen Geschmack für das Wunderbare eingeflösst,
der sich langsam und unbemerkt in seiner Seele verzweigt hatte und der
jetzt in der Einsamkeit aufblühte.

Beim Prüfen dieser seiner Gedanken, beim Suchen, ihre Fäden zu
verbinden, die Quellen und Ursachen zu entdecken, kam er zu der
Überzeugung, dass seine Handlungsweise während seines gesellschaftlichen
Lebens von seiner Erziehung herrührte. Waren nicht seine Neigungen für
das Verkünstelte, sein Verlangen nach dem Excentrischen die Resultate
besonderer Studien und Raffiniertheit? Gewissermassen theologische
Forschungen? Es waren im Grunde Erregungen und Begeisterungen zum
Idealen, zum unbekannten Weltall, zu einer fern ersehnten
Glückseligkeit, wie jene, die uns die heilige Schrift verspricht.

Er hielt plötzlich an und brach den Faden seiner Betrachtungen ab.

»Mir scheint,« murmelte er verdriesslich, »dass ich noch mehr getroffen
bin, als ich glaubte, da ich mich selbst mit Worten, wie ein Kasuist,
bekämpfe.«

Er verblieb nachdenklich, von einer unbestimmten Furcht bewegt.

»Ach! ich werde stumpfsinnig,« sagte sich der herzogliche Einsiedler;
»die Furcht vor dieser Krankheit wird, wenn das so weitergeht,
schliesslich die Krankheit selbst herbeiführen.«

Es gelang ihm, diesen Einfluss etwas abzuschütteln; seine Erinnerungen
liessen nach, aber andere krankhafte Symptome machten sich bemerkbar;
jetzt waren es die Gegenstände der Streitigkeiten allein, die ihn
heimsuchten. Der Park, die Lehrer, die Jesuiten waren entschwunden. Er
war gänzlich vom Abstrakten beherrscht; gegen seinen Willen dachte er an
die widersprechenden Auslegungen der Glaubenssätze, an die verloren
gegangenen Lossagungen von den Klostergelübden, die Pater Labbe in dem
Werk über die Konzilien erwähnt. Brocken von diesen Kirchenspaltungen,
Überbleibsel dieser Ketzereien, die während mehrerer Jahrhunderte die
Kirchen des Westens und des Ostens trennten, fielen ihm wieder ein. Hier
war es Nestorius, der der Jungfrau Maria den Titel Muttergottes streitig
machte, weil im Mysterium der Inkarnation nicht Gott, sondern nur die
menschliche Kreatur vorhanden war, die sie in ihrem Leibe getragen habe;
da war es Eutyches, der da erklärte, dass das Bildnis Christi nicht
demjenigen der andern Menschen gleichen könnte, da die Gottheit, in
seinem Körper domizilierend, die Form ganz und gar verändert habe; dann
waren es wieder andere Zänker, welche behaupteten, dass der Erlöser gar
keinen Körper gehabt, dass dieser Ausdruck der heiligen Schrift nur
bildlich zu nehmen sei; während Tertullian sich in seinem berühmten,
beinahe materialistischen Axiom äussert: »Nichts, das ist, ist
unverkörpert; alles was ist, hat einen Körper, der ihm eigen;« und
schliesslich diese alte, während langer Jahre erörterte Frage: »Ist
Christus allein ans Kreuz geschlagen, oder hat die Dreieinigkeit, eins
in drei Personen, in ihrer dreifachen Persönlichkeit am Kreuze Golgathas
gelitten?«

Alles das trieb ihn an, drängte ihn -- und mechanisch wie eine einmal
gelernte Aufgabe stellte er sich selber Fragen und suchte sich dieselben
zu beantworten. --

Während einiger Tage war es in seinem Gehirn wie ein Wimmeln von
Paradoxen, wie ein Flug von Haarspaltereien. Dann verwischte sich aber
die abstrakte Seite und eine ganz plastische folgte ihr unter der
Wirkung der Gustav Moreauschen Bilder, die an den Wänden aufgehängt
waren.

Er sah eine ganze Prozession von Prälaten an sich vorüber ziehen:
Archimandriten, Patriarchen, die ihre goldbekleideten Arme emporheben,
um die knieende Menge zu segnen, und ihre weissen Bärte beim Lesen und
Gebeteleiern schütteln; er sah ganze Züge schweigender Büsser in die
dunklen Totengrüfte hinabsteigen, dann wieder sich unermessliche Dome
erheben, in denen weiss gekleidete Mönche von der Kanzel herunter
donnerten.

Nach und nach verschwanden schliesslich diese Gesichte. Er sah von der
Höhe seines Geistes herab das Panorama der Kirche wie ihren erblichen
Einfluss auf die Menschheit seit Jahrhunderten; er stellte sie sich
verzweifelnd und grossartig vor, dem Menschen das Schreckliche des
Lebens und die Unfreundlichkeit des Schicksals darthuend, Geduld, Reue
und Aufopferung predigend, versuchend die Schmerzen zu heilen durch den
Hinweis auf die blutenden Wunden Christi, göttliche Vorrechte
versichernd, den Betrübten den besten Teil des Paradieses versprechend,
die menschliche Kreatur zum Leiden ermahnend, damit der Mensch Gott
seine Trübsale und Sünden, seine Missgeschicke und seine Sorgen als
Sühnopfer darbringe.

Hier fasste Herzog Jean wieder Fuss. Gewiss war er durch dieses
Geständnis der sozialen Schändlichkeit befriedigt, wieder aber empörte
ihn das unbestimmte Heilmittel der Hoffnung auf ein besseres Leben.

Schopenhauer war ehrlicher, seine Doktrinen und die der Kirche gingen
von einem gemeinschaftlichen Standpunkt aus; er stützte sich ebenfalls
auf die Ungerechtigkeit und Schändlichkeit der Welt, er stiess auch mit
seiner »Nachfolge Jesu Christi« den schmerzlichen Ruf aus: »Es ist
wirklich ein Elend, auf der Welt zu sein!« Er predigte auch die
Erbärmlichkeit der Existenz, die Vorteile der Zurückgezogenheit, warnte
die Menschheit, dass, was sie auch thun möge und nach welcher Seite sie
sich auch drehe, sie immer nur unglücklich bleibe: arm wegen der Leiden,
die aus den Entbehrungen hervorgehen, reich im Verhältnis zu der
unbesiegbaren Langenweile, welche der Überfluss erzeugt; aber er pries
kein Universalmittel an, vertröstete mit keinem Köder, um dem
unvermeidlichen Übel abzuhelfen.

Er unterstützt nicht das empörende System der Erbsünde; versucht nicht
zu beweisen, dass derjenige ein allgütiger Gott sei, der die Spitzbuben
beschützt, der den Dummköpfen hilft, die Kindheit vernichtet, das Alter
verdummt und die Unschuldigen bestraft; er rühmt nicht die Wohlthaten
einer Vorsehung, die diese nutzlose, unverständliche, ungerechte und
alberne Abscheulichkeit, das physische Leiden, erfunden hat; er versucht
keineswegs zu rechtfertigen, wie die Kirche die Notwendigkeit der Qualen
und Prüfungen. Ruft er doch in seiner empörten Barmherzigkeit aus: »Wenn
ein Gott diese Welt gemacht hat, so möchte ich nicht dieser Gott sein;
das menschliche Elend würde mir das Herz brechen!«

Ach! er allein hatte das Richtige getroffen! Was waren alle die
evangelischen Quacksalber neben seinen Abhandlungen von geistiger
Gesundheitspflege? Er beabsichtigte nichts zu heilen, bot dem Kranken
keine Entschädigung, keine Hoffnung an; aber seine Theorie des
Pessimismus war im Grunde genommen die grosse Trösterin der auserwählten
Geister, aller erhabenen Seelen. Sie offenbarte die Gesellschaft so wie
sie ist und hob die angeborene Dummheit der Frauen hervor.

Diese Betrachtungen erleichterten den Herzog von einer schweren Last.
Dieser grosse Deutsche bannte seinen Gedankenschauer und brachte ihn
durch die Berührungspunkte seiner beiden Doktrinen dahin, dass er diesen
ebenso poetischen wie rührenden Katholizismus, in dem er erzogen war und
von dem er in seiner Jugend die Essenz in allen Poren eingesogen hatte,
nicht zu vergessen vermochte.

Diese Rückgänge zur Gläubigkeit quälten ihn, besonders seit sich
Verschlimmerungen seiner Gesundheit zeigten; sie trafen mit den neu
hinzugetretenen nervösen Störungen zusammen.

Seit seiner jüngsten Kindheit war er von unerklärlichen Abneigungen
gemartert worden, von Schauern, welche ihm den Rücken kalt
hinunterliefen, ihm die Zähne zusammenpressten, wenn er zum Beispiel
nasse Wäsche sah, die von einem Mädchen ausgewrungen wurde. Diese
Wirkungen waren verblieben; noch heute litt er ganz besonders, wenn er
einen Stoff zerreissen oder mit dem Finger auf Kreide reiben hörte, oder
wenn er moirierte Seide anfasste.

Die Ausschweifungen seines Junggesellenlebens, die übertriebenen
Anstrengungen seines Gehirns hatten sein ursprüngliches Nervenleiden
ausserordentlich verschlimmert und das schon von seinen Vorfahren arg
verbrauchte gesunde Blut nur noch verringert. In Paris hatte er bereits
Kuren der Kaltwasserheilkunst durchmachen müssen, vornehmlich gegen das
Zittern der Hände und gegen die entsetzlichen Schmerzen der Neuralgie,
die ihm das Gesicht zerrissen, die Schläfen wie mit Hammerschlägen
bearbeiteten, ihm die Augenlider wie mit Nadeln zerstachen und ihm
Übelkeit erzeugten, die er nicht anders zu bekämpfen vermochte, als
dadurch, dass er sich im Dunkeln auf den Rücken legte.

Diese Zufälle waren infolge seines geregelteren, ruhigeren Lebens
langsam verschwunden. Jetzt machten sie sich aber von neuem in anderer
Form geltend, indem sie den ganzen Körper durchliefen; die Schmerzen
gingen vom Schädel zum Leib, ihm denselben gleichsam mit einem glühenden
Eisen durchbohrend. Dann folgte ein nervös trockner Husten, der zu einer
bestimmten Stunde anfing, eine immer gleiche Anzahl von Minuten währte,
ihn aufweckte und ihn im Bett fast erstickte. Sein Appetit hörte
ebenfalls auf. Nach jedem Versuch zum Essen konnte er kein zugeknöpftes
Beinkleid, keine fest zugemachte Weste mehr ertragen.

Er enthielt sich aller geistigen Getränke, des Kaffees und Thees, trank
nur noch Milch, nahm seine Zuflucht wieder zu den kalten Abwaschungen,
stopfte sich voll Assa foetida, Baldrian und Chinin, wollte selbst das
Haus verlassen, um ein wenig im Freien zu spazieren, als eben die
Regentage eintraten, die das Land schweigend und eintönig machten. Als
letztes Mittel verzichtete er vorläufig auf jede Lektüre und, von
Langeweile verzehrt, entschloss er sich, um sein müssiges Dasein zu
ändern, ein Projekt auszuführen, welches er aus Bequemlichkeit und Hass
gegen jede Störung fortwährend aufgeschoben, seitdem er sich in Fontenay
niedergelassen hatte.

Da er sich nicht mehr an den bezaubernden Wirkungen des Stils zu
berauschen vermochte, sich nicht mehr an den entzückenden Überraschungen
des schönen Pathos aufregen konnte, beschloss er die Ausstattung seiner
Wohnung zu vollenden, sich seltene Treibhausblumen anzuschaffen, um sich
auf diese Weise eine materielle Beschäftigung zuzugestehen, die ihn
zerstreuen, seine Nerven erholen, sein Gehirn ausruhen lassen würde. Er
hoffte, dass der Anblick ihrer seltsamen und prachtvollen Schattierungen
ihn etwas entschädigen würde für die wahrhaft wunderlichen Farben des
Stils, welchen seine litterarische Diät ihn momentan vergessen oder
verlieren liess.




                            ACHTES KAPITEL.


Von jeher hatte der Herzog für Blumen geschwärmt.

Seit langem schon verachtete er die gewöhnlichen Pflanzen, denen man
wohl in den flachen Körben auf den Pariser Märkten in angefeuchteten
Töpfen unter den grünen Zelttüchern und roten Schirmen begegnet.

Wie sich sein litterarischer Geschmack und sein Kunsturteil verfeinert
und sich sein Überdruss an allgemein verbreiteten Ideen verstärkt hatte,
so hatte sich auch seine Zärtlichkeit für Blumen von jedem Bodensatz und
jeder Hefe losgemacht und geklärt.

Er verglich den Laden eines Gärtners mit einem Mikrokosmus, wo alle
Klassen der Gesellschaft vertreten sind: jämmerliche, elende und
erbärmliche Blumen, die sich nur auf den Fensterbrettern der Dachkammern
wohl befinden, deren Wurzel oft in Milchtöpfe und alte Schalen gesteckt
wird, wie zum Beispiel der Goldlack; anspruchsvolle und dumm
gefallsüchtige Blumen, wie sie von jungen Mädchen auf Porzellantöpfe,
wie zum Beispiel die Rose, gemalt werden; schliesslich die Blumen hohen
Geschlechtes, wie die Orchideen, zart und reizend, zitternd und
fröstelnd, exotische Blumen, die, nach Paris verbannt, warmen
Glaspalästen gezüchtet werden, Prinzessinnen des Pflanzenreichs, die,
für sich lebend, nichts gemein haben mit den Pflanzen der Strasse und
dem bürgerlichen Blumenflor.

Nichtsdestoweniger fühlte er ein gewisses Mitleid mit den niederen
Blumen, die durch die Ausströmungen der Kloaken und Dünste aller Art in
den ärmlichen Vierteln entkräftet werden; seine wirkliche Augenfreude
waren die vornehmen und seltenen Pflanzen von weit her, die mit grösster
Sorgfalt durch künstliche Ofenwärme erhalten werden.

Dieser entschiedene Vorzug für die Treibhausblume hatte sich ebenfalls
durch den Einfluss seiner allgemeinen Ideen modifiziert. Damals in Paris
hatte seine natürliche Vorliebe für das Künstliche ihn dahin geführt,
die wirkliche Blume gegen ihr treu nachgeahmtes Bild aufzugeben, das
dank den Wundern des Gummis, des Drahtes, des Taffets, des Papiers und
des Sammets sein buntes Scheinleben führte.

Er besass eine wunderbare Sammlung künstlicher tropischer Pflanzen, von
den Händen tüchtiger Arbeiter angefertigt.

Diese bewunderungswürdige Kunst hatte ihn lange bezaubert, aber er
träumte jetzt von der Zusammenstellung einer andern Flora.

Er machte sich daher daran, die Treibhäuser der Avenue de Châtillon und
des Dorfes d'Aunay zu besuchen, kam todmüde nach Hause, die Börse leer,
aber entzückt über die Tollheiten der Pflanzenwelt, die er gesehen
hatte.

Er dachte nur noch an die Sorten, die er erworben, ruhelos verfolgt von
dem Gedanken an die prachtvollen und seltsamen Blumenbeete.

Zwei Tage später kamen mehrere Wagen. Mit der Liste in der Hand rief der
Herzog seine Einkäufe auf und prüfte einen nach dem andern.

Die Gärtner hoben von ihrem Karren eine Sammlung von Caladien, die an
gedunsenen haarigen Stielen enorme schildförmige Blätter trugen. Alle
hatten einen Zug von Verwandtschaft miteinander, ohne sich indessen
gleich zu sein.

Es waren darunter ganz ungewöhnliche rosenfarbige, solche wie die
Virginale, die aus Wachstuch oder englischem Pflaster geschnitten zu
sein schien; ganz weisse, wie der Alban, den man aus einer
durchsichtigen Schweinsblase hergestellt glaubte; einige, besonders
Madame Mame, sahen aus wie Zink, auf dem kleine Stückchen gestanzten
Metalls glänzen, in kaisergrüner Farbe, wie mit Tropfen Ölfarbe, rotem
Bleioxyd oder Bleiweiss bespritzt; andere, wie der Bosporus, glichen
täuschend gestreiftem Kattun, rot und myrtengrün gesprenkelt; wieder
andere, wie die Aurora Borealis, breiteten ihre fleischfarbenen Blätter
aus, mit purpurroten Rändern und violetten Fäserchen, ein
aufgeschwollenes Blatt, das rötlichen Wein und Blut schwitzte.

Die Gärtner brachten neue Varietäten, die einer künstlichen Haut, von
roten Adern durchzogen glichen; und die Mehrzahl, wie zerfressen von
Aussatz, spannten ihr bleiches Fleisch aus, gefleckt mit Ausschlag und
behaftet mit Flechten; andere hatten den hellen rosa Ton von sich
schliessenden Wunden, oder die bräunliche Färbung des sich bildenden
Schorfes; noch andere waren wie von Ätzmitteln verbrüht und von
Brandwunden zerstört; wieder andere zeigten eine haarige Haut wie von
Geschwüren ausgehöhlt und vom Krebs zerfressen; noch andere schienen mit
Verband belegt, mit quecksilberhaltiger schwarzer Schmiere und grüner
Belladonnasalbe bestrichen, mit dem gelben Glimmer des Jodpulvers
gesprenkelt.

»Potztausend!« rief er entzückt aus.

Eine neue Pflanze von gleichartigem Modell wie das des Caladium, die
Alocasia Metallica begeisterte ihn noch mehr. Diese war wie mit einer
Schicht grüner Bronze überstrichen, über welche silberne Reflexe
hinliefen; es war ein Meisterwerk der Unnatürlichkeit, man möchte sagen,
es gliche einem Stück Ofenrohr, von einem Töpfer aus grünem Eisen
gefertigt.

Die Leute luden dann rautenförmige, flaschengrüne Blattpflanzen ab, in
deren Mitte ein Stäbchen aufstieg, an dessen Ende ein grosses Herzass
schwankte, gelackt wie die spanische Pfefferschote. Wie um die
alltäglichen Erscheinungen der Pflanzen zu verhöhnen, sprang aus der
Mitte von scharfem Rot ein fleischiger, faseriger, weiss und gelber
Schwanz hervor, aufrecht bei den einen, bei den anderen geringelt wie
der Schwanz eines Schweines.

Es war das Anthurium, eine Arumart, kürzlich von Kolumbia nach
Frankreich eingeführt; sie bildete einen Teil dieser Familie, zu welcher
auch ein Amorphophallus gehörte; eine Pflanze aus Kochinchina mit
fischstecherartig geschnittenen Blättern, mit langen schwarzen, mit
Narben bedeckten Stielen, gleich vernarbten Gliedern eines Negers.

Herzog Jean frohlockte.

Man hob einen neuen Schub von Ungeheuern vom Wagen: Echinopsen, deren in
Watte gehüllte Blüten das hässliche Rosa eines verstümmelten Gliedes
hatten; Nidularium, in Säbelscheiden eine gähnende Öffnung zeigend;
Tillandsia Lindeni, schartige Messer von dicker roter Farbe
hervorsteckend; Cypripedium, mit wirrigen, zerrissenen Rändern, eine
wahnsinnige Hervorbringung der Natur. Sie glichen einer kleinen Schale,
einem Holzschuh, über welchem sich eine menschliche Zunge aufschürzte
mit ausgestrecktem Zungenband, wie man sie wohl in Werken, die Hals- und
Mundkrankheiten behandeln, abgebildet findet. Zwei kleine Flügelchen,
rot wie Ebereschen, die einer Kindermühle entnommen zu sein schienen,
vervollständigten dieses lächerliche Gesamtbild.

Er konnte seine Augen nicht abwenden von dieser unglaublichen aus Indien
kommenden Orchidee. Die Gärtner, durch die Zögerung gelangweilt, fingen
jetzt selbst an, mit lauter Stimme die an den Töpfen steckenden Zettel
vorzulesen.

Herzog Jean setzte seine Betrachtungen fort; er hörte nahezu bestürzt
die rauhen Namen der grünen Pflanzen ankündigen: Encephalartos Horridus,
eine riesenhaft eiserne Artischocke, rostfarbig gezeichnet, so, wie man
sie auf die Thüren der Schlossmauern steckt, um das Übersteigen zu
verhindern; Cocos Micania, eine Art Palme, zackig und schlank, allseitig
von hohen Blättern gleich indianischen Rudern umgeben; Zamia Lehmanni,
eine ungeheure Ananas, wie ein gewaltiger Chesterkäse in Heideland
gepflanzt und auf seiner Spitze mit widerhakigen Wurfspiessen besät;
Cibotium Spectabile, alle Gattungen durch seine wahnsinnige Form
überbietend: aus einem palmigen Blätterwerk schiesst der enorme Schwanz
eines Orang-Utang heraus, ein haarig brauner Schwanz, am Ende wie zu
einem Bischofsstab abgerundet.

Aber der Herzog beachtete sie kaum und wartete nur mit Ungeduld die
Serie von Pflanzen ab, welche ihn vor allen bezauberten, die
vegetabilischen leichenfressenden Kobolde, die fleischverzehrenden
Pflanzen, Gobe-Mouche, der Fliegenfänger der Antillen, mit dem faserigen
Rand, eine Verdauungsflüssigkeit absondernd, mit gebogenen Stacheln
versehen, die sich übereinander krümmen, ein Gitter über dem Insekt
bildend, welches er einschliesst; die Drosera des Torflandes, mit
drüsenartigen Haaren besetzt; die Sarracena, der Cephalothus, seine
gefrässigen Hörnchen öffnend, fähig, wirkliches Fleisch zu verdauen und
aufzuzehren; schliesslich noch Nepenthes, dessen Phantasieen alle
Grenzen der excentrischen Form überschreiten.

Er wurde nicht müde, den Topf in seinen Händen zu drehen und umzudrehen,
aus dem diese Extravaganz der Flora hervorkam. Die Pflanze erinnerte an
den Gummibaum, von dem sie auch die länglichen Blätter hatte, mit ihrem
dunklen metallischen Grün; aber am Ende dieses Blattes hing ein grüner
Bindfaden, der sich einer Nabelschnur vergleichen lässt, eine grünliche
Urne tragend, violett marmoriert, eine Art deutsche Porzellanpfeife oder
sonderbares Vogelnest, welches sich ruhig hin und her wiegte, ein mit
Haaren besetztes Inneres zeigend.

»Diese hat es weit gebracht,« murmelte der Herzog.

Er musste sich seinem Entzücken entreissen, denn die Gärtner, die es
eilig hatten, leerten den Boden ihrer Karren und stellten knollige
Begonien und schwarze Krebsblumen auf die Erde.

Der Herzog bemerkte, dass noch ein Name auf der Liste blieb. Der
Cattleya von Neu-Granada; man bezeichnete ihm eine geflügelte Glocke von
verwischtem, fast verblasstem Lilablau; er ging näher und steckte seine
Nase hinein, doch prallte er erschrocken zurück; sie strömte nämlich
einen Geruch von lackiertem Tannenholz aus, wie der von
Spielzeugschachteln, die ihm die Schrecken eines Neujahrstages
wachriefen.

Er dachte, dass es gut wäre, ihr zu misstrauen, bedauerte fast, zwischen
den geruchlosen Pflanzen, die er besass, diese Orchidee zugelassen zu
haben, die so unangenehme Erinnerungen erweckte.

Als er allein war, betrachtete er diese Menge von Gewächsen, die sein
Vorzimmer füllte; sie mischten sich miteinander, kreuzten ihre Degen,
ihre langen Dolche, ihre eisernen Lanzen, sie bildeten eine grüne
Gewehrpyramide, über welcher, gleich barbarischen Lanzenfähnlein, Blumen
von blendendem, hartem Ton schwebten.

Die Luft in dem Raum verdünnte sich; bald darauf, im Dunkel eines
Winkels und nahe dem Fussboden, schlängelte sich ein weisses, sanftes
Licht.

Er trat hinzu und bemerkte, dass es die Rhizomorphen waren, welche beim
Atmen gleichsam einen Nachtlampenschimmer ausstrahlen.

»Diese Pflanzen sind geradezu erstaunlich,« sagte er zu sich; dann trat
er zurück und warf einen Blick auf den Haufen: sein Zweck war erreicht.
Keine einzige machte den Eindruck des Natürlichen; Stoff, Papier,
Porzellan, Metall, sie schienen der Natur vom Menschen geliehen zu sein,
um solche Extravaganzen hervorzubringen.

»Es ist wahr,« fuhr Herzog Jean fort, »dass in den meisten Fällen die
Natur allein unfähig ist, solche ungesunden, verdorbenen Gattungen zu
erzeugen; sie liefert den ersten Stoff, den Keim und den Boden, die
Nährmutter und die wesentlichen Bestandteile der Pflanze, die der Mensch
aufzieht, modelliert, malt und schnitzt je nach seinem Gefallen.

So eigensinnig, so verworren, so beschränkt sie auch ist, sie hat sich
schliesslich ergeben und ihr Meister hat es dahin gebracht, durch
chemische Gegenwirkungen die Substanzen der Erde zu verändern, lang
gereifte Zusammenstellungen, langsam vorbereitete Kreuzungen anzuwenden,
sich geschickter Ableger, methodischer Pfropfreiser zu bedienen, und er
bildet jetzt auf demselben Zweig Blumen verschiedener Farbe, erfindet
für sie neue Nüancen und ändert nach seinem Willen die hundertjährige
Form ihrer Pflanzen; er schleift die Blöcke ab, vollendet die Entwürfe,
zeichnet sie mit seinem Stempel, drückt ihnen sein Kunstsiegel auf.

Kein Zweifel,« meinte er, seine Betrachtungen zusammenfassend, »der
Mensch kann in wenigen Jahren eine Zuchtwahl herbeiführen, die die faule
Natur nur nach Jahrhunderten hervorzubringen vermag; heutzutage sind
entschieden die Gärtner allein die wahren Künstler.«

Er fühlte sich etwas angegriffen und erstickte fast in der Atmosphäre
der eingeschlossenen Pflanzen; die Wege, die er seit ein paar Tagen
gemacht, hatten ihn ermüdet; der Wechsel der freien Luft und der
lauwarmen Temperatur seiner Wohnung, die Unbeweglichkeit eines
zurückgezogenen Lebens und die Bewegung eines freien Daseins waren zu
schroff gewesen. Er verliess sein Vorzimmer und legte sich aufs Bett;
aber mit einem einzigen Gegenstand beschäftigt, wie durch eine
Federkraft in Bewegung gesetzt, fuhr der Geist, obgleich eingeschläfert,
fort, seine Kette abzuwickeln; und es dauerte nicht lange, bis er der
düstern Macht des Alps verfiel.

Er befand sich in einer Allee mitten im Gehölz. Es dämmerte; er ging an
der Seite einer Frau, die er nie gekannt, noch je gesehen hatte. Sie war
mager, hatte flachsgelbes Haar, ein Bulldoggengesicht voller
Sommersprossen, schiefe Zähne, die unter der Stumpfnase hervorstanden.
Sie trug eine grosse weisse Schürze, ein Tuch aus Büffelleder über die
Brust geschlagen, halbhohe preussische Soldatenstiefel und eine schwarze
Haube mit Rüschen verziert.

Sie schien eine Fremde und sah aus wie eine dem Jahrmarkt entlaufene
Gauklerin.

Er fragte sich, wer dieses Weib sein möge, das er schon seit langem in
seiner Intimität fühlte; er suchte vergeblich nach ihrem Ursprung, ihrem
Namen, ihrem Gewerbe, ihrem Recht, neben ihm zu sein; ihm kam keine
Erinnerung an diese unerklärliche Bekanntschaft, die doch zweifellos
war.

Er forschte noch immer in seinem Gedächtnis, als plötzlich vor ihnen
eine seltsame Figur zu Pferde erschien, die plötzlich herantrabte und
sich dann im Sattel herumdrehte.

Jetzt erstarrte sein Blut vor Schreck in den Adern, wie gebannt blieb er
an seinem Platz. Dieses doppelsinnige Gesicht, ohne Geschlecht, war
grün, mit entsetzlichen Augen von kaltem, klarem Blau, die unter
violetten Augenlidern hervorsahen; Ausschlag umgab den Mund;
aussergewöhnlich magere Arme, wie die eines Skelettes, nackt bis zum
Ellbogen, steckten aus zerrissenen Ärmeln hervor, zitternd vor Fieber,
und fleischlose Lenden klapperten in übergrossen Reiterstiefeln.

Der entsetzliche Blick dieser Augen heftete sich auf Herzog Jean,
durchdrang ihn, erstarrte ihn bis zum Mark; die Frau mit dem
Bulldoggengesicht klammerte sich in wahnsinniger Angst an ihn, stiess
ein Todesgeheul aus, den Kopf auf den steifen Hals hintenüber geworfen.

Und sogleich begriff er den Sinn dieser furchtbaren Erscheinung. Er
hatte das Bildnis der Lustseuche vor sich.

Ausser sich und von Furcht getrieben warf er sich in einen Querweg,
erreichte laufend einen Pavillon, der zwischen Ebenholzbäumen stand;
dort sank er in einem Korridor auf einen Stuhl nieder.

Nach einigen Minuten, als er anfing wieder zu Atem zu kommen, vernahm er
ein Schluchzen neben sich, er richtete den Kopf in die Höhe ... die Frau
mit dem Bulldoggenkopf stand vor ihm; und jämmerlich grotesk weinte sie
heisse Thränen, jammernd, dass sie während der Flucht ihre Zähne
verloren habe, indem sie aus der Tasche ihrer grossen weissen Schürze
Thonpfeifen hervorzog, die sie zerbrach, und die Stücke der weissen
Röhren in die Löcher ihres Zahnfleisches steckte.

Teufel, jetzt wird sie ganz verrückt, dachte der Herzog, die
Pfeifenrohrstücke werden niemals festsitzen, -- und in der That, sie
fielen auch alle eines nach dem andern wieder aus.

Im selben Augenblick vernahm er den Galopp eines Pferdes. Ein
furchtbarer Schreck erfasste den Herzog; fast brachen seine Kniee unter
ihm zusammen; der Galopp kam näher; die Verzweiflung trieb ihn wie mit
einem Peitschenhieb in die Höhe. Er warf sich auf das Weib, das auf den
zerbrochenen Thonstücken herumtrampelte, sie anflehend, ruhig zu sein,
sie beide nicht zu verraten durch den Lärm ihrer Stiefel. Sie schlug mit
Händen und Füssen um sich, er schleifte sie bis zum Ende des Korridors,
sie fast erwürgend, um sie am Schreien zu hindern; plötzlich bemerkte er
eine Wirtshausthür mit grünem Laden, ohne Klinke; er stiess sie auf,
nahm einen Anlauf, blieb aber plötzlich stehen.

Vor sich, mitten in einer weiten Lichtung, sah er riesige, weisse
Pierrots bei hellem Mondschein Bocksprünge machen.

Thränen der Entmutigung stiegen ihm in die Augen; niemals, nein niemals
würde er die Schwelle der Thür überschreiten können.

Ich würde zertreten werden, dachte er, -- und wie um seine Befürchtungen
zu rechtfertigen, vervielfältigte sich die Zahl der ungeheuren
Hanswurste; ihre Sprünge nahmen jetzt den ganzen Horizont und den ganzen
Himmel ein, gegen welchen sie abwechselnd bald mit ihren Köpfen, bald
mit ihren Füssen stiessen.

Jetzt hielt das Pferd an. Es war da, ... hinter einem runden Fenster in
dem Korridor; mehr tot als lebendig drehte sich der Herzog um und sah
durch das Fensterchen hindurch die steifen graden Ohren, die gelben
Zähne, die Nasenlöcher, aus denen Dampf strömte, der nach Phenol roch.

Er sank nieder, auf ferneren Kampf wie auf die Flucht verzichtend; er
schloss die Augen und machte sich auf alles gefasst, ersehnte selbst,
nur um zu endigen, den Gnadenstoss. Ein Jahrhundert, das zweifellos nur
eine Minute dauerte, verging; zitternd und schaudernd öffnete er wieder
die Augen. -- Alles war verschwunden; ohne Übergang, wie durch einen
Aussichtswechsel, wie durch einen Dekorationstrick sah er eine
abscheuliche Landschaft von Gestein in der Ferne verschwinden, eine
wüste, bleiche, durchwühlte, tote Landschaft; diese schaurige Gegend war
von einem ruhigen weissen Licht erhellt, das an die Strahlen des in Öl
aufgelösten Phosphors erinnerte.

Auf dem Boden bewegte sich etwas, das sich als ein sehr blasses, nacktes
Weib erwies, dessen Beine mit grünen Strümpfen bekleidet waren.

Er betrachtete sie neugierig; wie mit heissem Eisen gebrannte
Pferdehaare kräuselte sich ihr Haar, an der Spitze gespalten; Urnen von
Nepenthes hingen an ihren Ohren; wie gekochtes Kalbfleisch glänzte das
Innere ihrer weit geöffneten Nasenlöcher. Mit verzückten Augen rief sie
ihn leise.

Er hatte nicht Zeit zu antworten, denn schon veränderte sich das
Aussehen dieses Weibes; Flammen schossen aus ihren Augen; ihre Lippen
färbten sich mit wildem feurigen Rot.

Eine plötzliche Erkenntnis überkam ihn: das ist die Blume, sagte er
sich.

Er entdeckte auf der Haut des Körpers schwarzbraune, kupferrote Flecke;
er schreckte verstört zurück, aber das Auge des Weibes zog ihn
zauberisch an und langsam trat er näher, versuchend, nicht weiter zu
gehen, niedersinkend, und sich dennoch wieder aufraffend, um sich ihr zu
nähern. Schon berührte er sie fast, als plötzlich schwarze
Amorphophallen von allen Seiten hervorsprangen und sich auf den Leib des
Weibes losstürzten, der sich hob und senkte wie ein wildbewegtes Meer.
Er schob sie beiseite, stiess sie zurück, einen grenzenlosen Widerwillen
empfindend, während er zwischen seinen Fingern diese warmen aber festen
Stengel wimmeln sah; dann waren die abscheulichen Pflanzen plötzlich
wieder verschwunden und zwei Arme suchten ihn zu umschlingen; die Angst
machte sein Herz heftig schlagen, denn die Augen, die schrecklichen
Augen des Weibes hatten einen kalten grausamen, entsetzlichen Ausdruck
angenommen. Er machte eine übermenschliche Anstrengung, um sich ihrer
Umarmung zu entwinden, aber mit unwiderstehlicher Gewalt hielt sie ihn
zurück, erfasste ihn, und mit irrem Blick sah er unter dem hochgehobenen
Schenkel das wilde Nidularium sich klaffend und blutend entfalten.

Er streifte mit seinem Körper die scheussliche Wunde dieser Pflanze; er
fühlte sich dem Tode nahe ... da fuhr er plötzlich aus dem Schlafe auf,
halb erstickt, eiskalt, fast wahnsinnig vor Angst, und erleichtert
aufatmend seufzte er:

»Gott sei Dank, dass es nur ein Traum!«




                            NEUNTES KAPITEL.


Dieses Alpdrücken wiederholte sich; er fürchtete sich vor dem
Einschlafen. Er blieb stundenlang auf seinem Bett ausgestreckt, bald in
anhaltender Schlaflosigkeit und fieberhafter Aufregung, bald in
schrecklichen Träumen, in denen er den Boden unter den Füssen verlor,
eine Treppe hinunterstürzte oder in einen Abgrund fiel, ohne sich
festhalten zu können.

Das während einiger Tage eingelullte Nervenleiden gewann wieder die
Oberhand und trat heftiger und eigensinniger unter neuen Formen auf.

Jetzt belästigten ihn die Decken; er erstickte unter ihnen, hatte ein
Kribbeln im ganzen Körper, Hitze im Blut. Ein Prickeln peinigte ihn am
ganzen Leibe. Zu diesen Symptomen kam bald ein dumpfer Schmerz in den
Kinnbacken hinzu und das Gefühl, als wenn seine Schläfen in einen
Schraubstock gepresst würden.

Seine Befürchtungen wuchsen; unglücklicherweise fehlten die Mittel,
diese hartnäckige Krankheit zu bezwingen.

Ohne Erfolg hatte er Kaltwasserapparate in seinem Ankleidezimmer
herrichten zu lassen versucht. Die Unmöglichkeit, das Wasser auf die
Höhe, auf der sein Haus lag, hinaufzuleiten, die Schwierigkeit, es sich
in genügender Quantität zu verschaffen in einem Dorf, wo die Brunnen
sparsamkeitshalber nur zu gewissen Stunden im Betrieb waren, verhinderte
die Benutzung; da er sich nicht durch den Wasserstrahl peitschen lassen
konnte, der, kräftig auf die Wirbelsäule gerichtet, mächtig genug war,
um die Schlaflosigkeit zu bekämpfen und die Ruhe herbeizuführen, musste
er sich mit kurzen Abwaschungen in seiner Badewanne oder mit einfachen
Übergiessungen begnügen, worauf er sich von seinem Diener mit
Pferdehaarhandschuhen frottieren liess.

Aber dieses schwache Mittel hemmte das Vorschreiten des Nervenleidens
keineswegs; höchstens empfand er während einiger Stunden etwas
Erleichterung, übrigens teuer genug bezahlt durch die Rückfälle, die
sich immer heftiger erneuerten.

Seine Unzufriedenheit nahm mehr und mehr zu; die Freude, einen seltenen
Blumenflor zu besitzen, war verflogen; er war schon gegen ihre Farben
und Formen abgestumpft; denn trotz aller Sorgfalt, mit der er sie
pflegte, verwelkten die meisten seiner Pflanzen. Er liess sie daher aus
seinen Zimmern entfernen.

Jetzt ärgerte ihn wieder bei seiner Reizbarkeit der leere Raum, den sie
vorher eingenommen hatten.

Um sich zu zerstreuen und die endlosen Stunden zu töten, nahm er
Zuflucht zu seinen Kupferstichen und ordnete seine Goyas. Die ersten
Drucke der »Capriccios«, an ihrem rötlichen Ton erkennbar, früher einmal
mit schwerem Gelde erstanden, heiterten ihn auf. Er vertiefte sich in
sie, den Phantasieen des Künstlers folgend, verliebt in seine
phantastischen Scenen, seine auf Katzen reitenden Hexen, seine Weiber,
die da versuchen, einem Gehängten die Zähne auszureissen, seine Räuber,
seine Dämonen und Zwerge.

Dann durchblätterte er alle andern Serien seiner Radierungen und
Aquatintazeichnungen, seine unheimlichen »Sprichwörter«, seine wilden
Kriegs-Skizzen, seinen Kupferstich des Garot, von dem er einen
wunderbaren Künstlerabdruck auf dickem Papier von sichtbaren
Wasserstreifen durchzogen, besonders gern hatte.

Das wilde Feuer, das herbe, stürmische Talent von Goya fesselte ihn;
aber die allgemeine Bewunderung, die seine Werke erlangt hatten,
brachten ihn trotzdem etwas von ihm ab, und er hatte daher davon
abgesehen, sie einrahmen zu lassen, aus Furcht, dass, wenn er sie zur
Schau stellte, der erste beste Einfaltspinsel es für nötig hielte,
Dummheiten darüber loszulassen oder vor Entzücken ausser sich zu
geraten.

Es ging ihm ebenso mit seinen Rembrandts, die er dann und wann mit
heimlichem Entzücken betrachtete; denn wie die schönste Arie der Welt
unausstehlich wird, sobald sie der Pöbel summt und die Strassenorgel
sich ihrer bemächtigt, so wird das Kunstwerk, das den unselbständigen
Künstler zur Nachahmung reizt, das die Dummköpfe loben und das sich
nicht damit begnügt, die Begeisterung von wenigen zu erregen, ebenfalls
für die Kenner entweiht, banal, ja widerwärtig.

Dieses Schwanken in seiner Bewunderung war übrigens mit sein grösster
Kummer; äusserliche Erfolge hatten ihm Bilder und Bücher, die ihm
ehemals teuer waren, für immer verleidet; infolge des Beifalls der
Stimmenmehrheit entdeckte er zuletzt Mängel, die gar nicht da waren, er
wies sie zurück, indem er sich fragte, ob sein Scharfsinn sich nicht
abstumpfe und ihn betrüge.

Er schloss seine Mappen und verfiel wieder einmal seinen schwankenden
Gefühlen und unfruchtbaren Grübeleien. Um den Lauf seiner Gedanken zu
ändern, nahm er besänftigende Lektüre zur Hand, versuchte sich das
Gehirn abzukühlen. Er las die Romane von Dickens, an denen sich die
Genesenden und die Unglücklichen entzücken.

Aber diese Bücher brachten die entgegengesetzten Wirkungen hervor, als
er erwartet hatte: er sah nur keusch Liebende, steif gekleidete
Heldinnen, die nur beim Sternenlicht lieben und sich begnügen, die Augen
zu senken, zu erröten oder vor Glück zu weinen, indem sie sich die Hände
drücken. Diese übertriebene Keuschheit führte ihn der entgegengesetzten
Übertreibung zu; so dass er von einem Extrem ins andere fiel, sich
mächtig bewegter Scenen erinnerte, an die sexuellen Beziehungen zwischen
Mann und Weib und an ihre Küsse dachte.

Er unterbrach seine Lektüre und grübelte weiter über die Prüderie
Englands. Er wurde von einer seltsamen Aufregung befallen. Die
Zeugungsunfähigkeit seines Gehirns und seines Körpers, die er für eine
permanente gehalten hatte, verschwand. Die Einsamkeit wirkte belebend
auf seine Nerven. Die sinnliche Seite, seit Monaten ganz unempfindlich,
war zuerst wieder durch die entnervende fromme Lektüre angeregt, dann
durch die englische Ziererei zu einer Nervenkrisis gesteigert und stand
jetzt in voller Blüte da; durch die Erregtheit seiner Sinne in die
Vergangenheit zurückgeführt, watete er im Schmutz seiner alten
Erinnerungen herum. --

Er stand auf und öffnete schwermütig eine kleine vergoldete Dose, deren
Deckel mit glitzernden Steinen besetzt war.

Sie war voll von violetten Bonbons; er nahm einen heraus und ihn mit den
Fingerspitzen leicht berührend, dachte er an die seltsamen
Eigentümlichkeiten dieses Bonbons. Damals, als er sich seiner Impotenz
klar ward, als er noch ohne Bitterkeit, ohne Bedauern, ohne neues
Verlangen an das Weib dachte, legte er einen dieser Bonbons auf die
Zunge, liess ihn zergehen, und plötzlich stiegen mit einer unendlichen
Sanftheit verwischte Rückerinnerungen an wollüstige Ausschweifungen in
ihm auf.

Diese Bonbons, von Siraudin erfunden und mit dem lächerlichen Namen
»Perles de Pyrénées« bezeichnet, enthielten einen Tropfen Sarcanthusöl.
Sie drangen in die Schleimhäute ein und erinnerten ihn an die Wollust
aromatischer Küsse.

Gewöhnlich lächelte er beim Einatmen dieses verliebten Aromas, das ihm
ein Teilchen Nacktheit vor das geistige Auge führte und für einen
Augenblick wieder das Verlangen nach dem noch vor kurzem angebeteten
Geruch bestimmter Frauen in ihm rege machte.

Jetzt wirkten sie nicht mehr heimlich und leise, sie beschränkten sich
nicht mehr darauf, das Bild ferner und konfuser Ausschweifungen
anzufachen -- im Gegenteil, die Schleier zerrissen, und vor seinen Augen
entstand die verkörperte, zudringliche, brutale Wirklichkeit.

An der Spitze der Fata morgana ehemaliger Geliebten, welche der Genuss
dieses Bonbons in klaren Zügen zu zeichnen half, befand sich eine mit
grossen weissen Zähnen, mit einer Haut wie von rosa Atlas, die Nase wie
gemeisselt, mit kleinen Mäuseaugen und kurz abgeschnittenem blonden
Haar.

Sie hiess Miss Urania, war Amerikanerin und eine der berühmtesten
Akrobatinnen des Cirkus, deren schön proportionierter Körper, kräftige
Schenkel und Muskeln von Stahl und Eisen Aufsehen erregte.

Herzog Jean hatte sie während langer Abende aufmerksam beobachtet; die
ersten Male war sie ihm wie sie wirklich war erschienen, das heisst
kräftig und hübsch, aber der Wunsch, sich ihr zu nähern, packte ihn
nicht; sie besass nichts, was sie der Lüsternheit eines blasierten
Menschen begehrlich machen konnte, und doch ging er wieder nach dem
Cirkus hin, angelockt, ohne zu wissen wovon, getrieben von einem schwer
zu erklärenden Gefühl.

Während er ihre Bewegungen verfolgte, machte er eine sonderbare
Beobachtung; in dem Masse, wie er ihre Geschmeidigkeit und ihre Kraft
bewunderte, sah er eine Geschlechtsveränderung mit ihr vorgehen: ihre
zierlichen und weiblichen Bewegungen verwischten sich mehr und mehr,
während sich die gewandten und kräftigen Reize des Mannes dafür
vordrängten; kurz, nachdem sie sich zuerst als Weib gezeigt, dann für
eine kurze Zeit geschlechtslos gewesen war, schien sie vollständig Mann
geworden zu sein. »Diese Akrobatin könnte sich, wie sich ein kräftiger
Kerl in ein zartes Mädchen verliebt, auch in einen Schwächling, wie ich
es bin, verlieben,« sagte sich der Herzog; und indem er sich betrachtete
und Vergleiche zog, wurde es ihm klar, dass er immer femininer wurde;
und er sehnte sich nach dem Besitz dieser Frau und begehrte sie, wie
sich ein bleichsüchtiges junges Mädchen wohl nach einem robusten Manne
sehnt, dessen Liebkosungen sie zu erdrücken drohen.

Dieser Austausch des Geschlechtes zwischen der Akrobatin und ihm
begeisterte ihn. »Wir sind für einander bestimmt,« überzeugte er sich
selbst.

Eines schönen Abends entschloss er sich, die Logenschliesserin
abzuschicken. Aber Miss Urania hielt es für angemessen, ihm nicht eher
Gehör zu schenken, bis er ihr den üblichen Hof gemacht; doch zeigte sie
sich wenig grausam, denn durch Hörensagen wusste sie, dass der Herzog
des Esseintes reich war und dass sein Name genügte, um eine Frau in Mode
zu bringen.

Aber sobald seine Wünsche Erhörung gefunden hatten, übertraf seine
Enttäuschung alle bisherige Erfahrung. Er hatte sich die Akrobatin dumm
und roh wie einen Jahrmarktsringer vorgestellt, ihre Dummheit war aber
unglücklicherweise nur weiblich. Gewiss, es fehlte ihr an Erziehung und
an Takt, sie hatte weder Verstand noch Geist und sie bewies bei Tisch
einen tierischen Eifer, anderseits aber waren alle kindlichen Gefühle
des Weibes in ihr vorhanden; sie schwatzte auch und kokettierte wie alle
von ihren Albernheiten eingenommenen Frauenzimmer.

Dabei bewahrte sie im Bett eine puritanische Zurückhaltung und zeigte
keine jener athletischen Roheiten, die er ersehnte, aber auch
gleichzeitig fürchtete. Sie war nicht, wie er es einen Augenblick
gehofft, den Aufregungen ihres Geschlechts unterworfen. Doch wenn er den
Mangel ihrer Sinnlichkeit recht untersucht hätte, so würde er eine
Neigung zu einem zarten, schmächtigen Wesen, zu einem ihm ganz
entgegengesetzten Temperamente, einem mageren Clown, entdeckt haben.

Unglücklicherweise trat der junge Herzog wieder in die einen Moment
vergessene Männerrolle zurück; seine Eindrücke von weiblicher Natur, von
Schwäche, verschwanden; die Illusion war nicht mehr möglich. Miss Urania
war eine ganz gewöhnliche Maitresse, die in keiner Weise den neugierigen
Erwartungen des Gehirns entsprach, die sie anfangs hervorgerufen hatte.

Obgleich der Reiz ihrer weichen, frischen Haut, ihrer prächtigen
Schönheit den Herzog zuerst überrascht und bei ihr zurückgehalten hatte,
suchte er dieses Verhältnis schnell wieder zu lösen und den Bruch zu
beschleunigen, denn seine frühzeitige Impotenz verschlimmerte sich noch
bei den eisigen Liebkosungen, bei dem gezierten Wesen dieses Mädchens.

Und doch war sie die erste, die vor ihm stehen blieb bei dem
ununterbrochenen Vorbeimarsch dieser wollüstigen Bilder; wenn sie sich
aber schliesslich seinem Gedächtnis doch fester eingeprägt hatte als
eine Menge anderer, deren Reize weniger trügerisch und deren Genüsse
weniger beschränkt gewesen waren, so lag das an dem gesunden und
kräftigen Geruch ihres weiblichen Körpers; dieser Überfluss an
Gesundheit war das Gegenteil der Blutarmut, die man mit Parfüms
auffrischte, deren feinen Geruch er in dem zarten Siraudin-Bonbon
wiederfand.

Er gedachte seiner andern Geliebten. Sie drängten sich wie eine Herde in
seinem Gehirn zusammen, doch alle überragte ein Weib, dessen
eigentümlicher Reiz ihn während mehrerer Monate aussergewöhnlich
gefesselt hatte.

Es war eine kleine, magere Brünette mit schwarzen Augen und
pomadisierten Haaren, die auf dem Kopfe wie mit einem Pinsel angeklebt
waren, mit einem Scheitel auf der linken Seite, der ihr das Aussehen
eines Jungen gab.

Er hatte sie in einem Café-Konzert kennen gelernt, wo sie
Bauchredner-Vorstellungen gab.

Zum Erstaunen der Zuschauer, die sich fast unbehaglich bei diesen
Ausführungen fühlten, liess sie abwechselnd Kinder aus Pappe sprechen,
die wie Orgelpfeifen auf Stühlen aufgestellt waren.

Herzog Jean war bezaubert gewesen; eine Menge von Ideen keimten in ihm
auf. Zuerst beeilte er sich, die Bauchrednerin mit Haufen von Banknoten
zu bändigen, da sie ihm gerade wegen des Kontrastes, den sie zu der
Amerikanerin bildete, gefiel. Diese kleine Brünette brannte wie ein
Krater; aber trotz all ihrer angewandten künstlichen Mittel erschöpfte
sich der Herzog in wenigen Stunden; er fuhr indessen fort, sich
willfährig von ihr ausziehen zu lassen, denn mehr als die Geliebte zog
ihn das Phänomen an.

Endlich waren die Pläne, die er gemacht hatte, gereift.

Er liess eines Abends eine Sphinx aus schwarzem Marmor bringen, in der
klassischen Stellung liegend, mit ausgestreckten Tatzen, mit steifem,
geradem Kopf, und eine Chimäre aus buntem Thon, mit gesträubter Mähne,
wilde Blicke werfend, mit den Strähnen ihres Schweifes ihre
geschwollenen Seiten fächelnd. Er stellte die beiden Tiere in seinem
Zimmer auf und löschte die Lampen aus. Die glühenden Kohlen im Kamin
glommen weiter und vergrösserten alle Gegenstände, die wie im Schatten
verschwanden.

Dann streckte er sich auf dem Sofa aus, nahe seiner Geliebten, deren
unbewegliches Gesicht von dem Schein der Glut erleuchtet wurde, und
wartete.

Mit seltsamen Tönen und Ausdrücken, welche er sie lange und geduldig
vorher hatte einüben lassen, belebte sie, ohne die Lippen zu bewegen,
ohne sie nur anzusehen, die beiden Ungeheuer.

Und in der Stille der Nacht begann jetzt der wunderbare Dialog zwischen
der Chimäre und der Sphinx, vorgetragen mit tiefen, rauhen Kehllauten,
dann in scharfer, feiner Stimme:

»Hier, Chimäre, halte still.«

»Nie und nimmer.«

Gewiegt von der entzückenden Prosa Flauberts, hörte er schwer atmend das
schreckliche Duett, und ein Schauder durchflog ihn vom Nacken bis zur
Zehe, als die Chimäre die feierlichen und zauberhaften Worte ausspricht:

»Ich suche neue Wohlgerüche, prächtigere Blumen, unbekannte Genüsse.« --

Ach! es war ihm, als ob diese Stimme zu ihm selbst, geheimnisvoll, wie
in einer Beschwörung, sprach.

Das ganze Elend seiner eigenen nutzlosen Anstrengungen strömte ihm zum
Herzen zurück. Sanft umfasste er das schweigende Weib wie ein
ungetröstetes Kind; nicht einmal das verdriessliche Gesicht der
Komödiantin beachtete er, die genötigt war, eine Scene zu spielen und
ihr Handwerk noch während ihrer Mussestunden auszuüben.

Ihr Verhältnis dauerte fort, doch bald verschlimmerte sich die Schwäche
des Herzogs; die Aufwallungen seines Gehirns schmolzen nicht mehr das
Eis seines Körpers; die Nerven gehorchten nicht mehr seinem Willen; die
leidenschaftlichen Thorheiten der Greise beherrschten ihn. Da er sich
mehr und mehr bei seiner Geliebten schwach werden fühlte, nahm er seine
Zuflucht zu dem wirksamsten Hilfsmittel der alten und unbeständigen
Aufreizung, zu der Furcht.

Während er seine Maitresse in seinen Armen hielt, erscholl hinter der
Thür eine rauhe Säuferstimme: »Wirst du gleich öffnen? Ich weiss sehr
gut, dass du mit einem reichen Gimpel zusammen bist, na warte nur, du
Schlange!«

Wie die Wüstlinge in der Gefahr einen Reiz empfinden und im Freien, auf
den Böschungen, im Garten der Tuilerieen, im Wald oder auf einer Bank
ihre Sinnlichkeit befriedigen, so fand der Herzog vorübergehend seine
Kräfte wieder und stürzte sich auf die Bauchrednerin, deren Stimme
hinter der Thür tobte, und empfand unerhörte Genüsse in diesem
Herumstossen, in dieser Angst des Mannes, der sich in Gefahr befindet.

Unglücklicherweise waren diese Freuden von kurzer Dauer, denn trotz der
enormen Summen, die er der Bauchrednerin bezahlte, verabschiedete ihn
diese schliesslich und gab sich noch demselben Abend einem strammen
Burschen hin, dessen Ansprüche weniger kompliziert, dessen Lenden aber
kräftiger waren.

Diese Komödiantin hatte er wirklich bedauert und bei der Erinnerung an
ihre Geschicklichkeit schienen ihm die andern Frauen anmutlos.

Eines Tages, da er allein in der Avenue de Latour-Maubourg spazieren
ging, in seine Betrachtungen und seinen Widerwillen gegen das weibliche
Geschlecht vertieft, wurde er nahe bei der Esplanade des Invalides von
einem jungen Menschen angeredet, der ihn bat, ihm den kürzesten Weg nach
der Rue de Babylone zu zeigen.

Herzog Jean bezeichnete ihm den Weg, welchen er einzuschlagen hatte, und
da auch er die Esplanade entlang ging, so schritten sie zusammen weiter.

»Sie glauben, dass es, wenn ich links gehen würde, ein Umweg wäre,« fuhr
der junge Mann zu fragen fort, »man hatte mir gesagt, die Avenue in
schräger Richtung zu verfolgen« ... seine Stimme klang leise und
schüchtern, fast bittend.

Der Herzog betrachtete ihn näher. Er schien aus dem Gymnasium gekommen
zu sein, war ärmlich gekleidet, trug eine kurze Jacke aus Cheviot, eine
schwarze enge Hose, niedergeschlagenen Kragen und eine lose dunkelblaue
Krawatte mit weissen Punkten.

In der Hand hielt er ein Schulbuch und hatte auf dem Kopf einen runden
braunen Hut mit glattem Rand.

Sein Gesicht war beunruhigend; blass und müde, doch ziemlich regelmässig
und von langem, schwarzem Haar umrahmt; er hatte grosse feuchte Augen
mit blauen Rändern, um die Nase herum einige Sommersprossen und einen
kleinen Mund mit starken Lippen, die in der Mitte wie eine Kirsche
gespalten waren.

Sie sahen sich eine Weile an, gerade ins Gesicht, dann schlug der junge
Mensch die Augen nieder und kam näher; sein Arm streifte bald den des
Herzogs, der seinen Schritt mässigte und nachdenklich den wiegenden Gang
des Jünglings betrachtete.

Und aus dieser zufälligen Begegnung war eine Freundschaft entstanden,
die sich Monate lang hinzog.

Der Herzog dachte mit Schaudern an sie zurück, niemals hatte er einen
anziehenderen und herrischeren Pakt ertragen, niemals hatte er solche
Gefahren gekannt und niemals noch sich so schmerzhaft befriedigt
gefühlt.

Unter allen Erinnerungen, die ihn in seiner Einsamkeit bestürmten,
beherrschte dieses Liebesverhältnis alle andern. --

Jetzt erwachte er aus seinen Träumereien, gebrochen, vernichtet,
sterbend, und schnell alle Lichte und Lampen anzündend, hoffte er in
dieser Flut von Licht weniger deutlich das dumpfe, unaufhörliche,
unausstehliche Klopfen der Pulsadern zu vernehmen.




                            ZEHNTES KAPITEL.


Während dieser seltsamen Krankheit, die blutarme Menschen hinwegrafft,
traten plötzlich kurze Pausen der Krisen ein. Ohne dass er sich ihren
Grund zu erklären vermochte, wachte der Herzog eines Tages ganz kräftig
auf. Da war nichts mehr von aufreibendem Husten zu spüren, keine
stechenden Schmerzen mehr im Nacken, nur ein unbeschreibliches Gefühl
von Wohlbehagen, eine Leichtigkeit des Hirns, dessen Gedanken sich
erhellten.

Dieser Zustand währte mehrere Tage; dann plötzlich zeigten sich eines
Nachmittags wiederum Hallucinationen des Geruchssinnes.

Sein Zimmer duftete wie von Backwerk und Parfüm; er sah nach, ob nicht
ein geöffnetes Flacon umherstand; doch nirgends war ein solches zu
finden. Er lief durch alle seine Gemächer: der Geruch dauerte fort.

Er klingelte seinem Diener:

»Riechen Sie nichts?« fragte er.

Der alte Mann erklärte, dass er keinen Blumengeruch bemerke: es konnte
kein Zweifel mehr bestehen, das Nervenleiden zeigte sich wieder unter
einer neuen Sinnestäuschung.

Gelangweilt von der Hartnäckigkeit dieses eingebildeten Aromas,
beschloss er, sich in wirkliche Parfüms zu tauchen, hoffend, dass diese
Nasenhomöopathie ihn heilen, oder wenigstens die Verfolgung des lästigen
Geruches aufhören würde.

Er begab sich in sein Ankleidezimmer. Dort standen nahe bei einem
antiken Taufbecken, das ihm als Waschgefäss diente, unter einem breiten
Spiegel von getriebenem Eisen Flaschen in allen Grössen und allen Formen
auf Etageren aus Elfenbein übereinander.

Er stellte sie auf einen Tisch und teilte sie in zwei Serien: die eine
mit einfachen Parfüms, Extrakten und Spiritussen, die andere mit
zusammengesetzten Parfüms, die man mit dem allgemeinen Ausdruck
»Bouquets« bezeichnet.

Er drückte sich in seinen Sessel und sammelte sich.

Er war schon seit Jahren in der Wissenschaft des Riechens geübt und war
überzeugt, dass man durch den Geruch die gleichen Genüsse empfinden
könne wie durch das Gehör und das Gesicht, indem jeder Sinn infolge
einer natürlichen Neigung und Angewöhnung genugsam empfindlich sei, neue
Eindrücke aufzunehmen, sie zu verzehnfachen und zu verarbeiten.

In der Kunst der Parfümbereitung hatte ihn eine Seite vor allem
angezogen, nämlich die der künstlichen Genauigkeit.

Das Parfüm stammt fast niemals von den Blumen, deren Namen es trägt; der
Fabrikant, der es wagen würde, nur einzig der Natur ihre Elemente zu
entlehnen, würde doch nur ein unechtes Werk schaffen, ohne
Natürlichkeit.

Mit Ausnahme des unnachahmlichen Jasmin, welcher keine Fälschung
zulässt, sind alle Blumengerüche genau durch Verbindungen mit
aromatischem Weingeist und Spiritus darstellbar.

Nach und nach hatten sich die geheimen Operationen dieser so arg
vernachlässigten Kunst vor dem Herzog erschlossen, der ihren geheimen
Wegen nachging.

Um dies zu erreichen, hatte er zuerst die Grammatik durchgearbeitet, die
Syntax der Gerüche erlernt, wie auch die Regeln, die sie regieren,
ergründet. Mit dieser Sprache einmal vertraut, musste er die Werke der
Meister wie Atkinson und Lubin, Chardin und Violet, Legrand und Piesse
vergleichen, die Konstruktion ihrer Sätze zerlegen, das Verhältnis ihrer
Worte und die Aufstellung ihrer Satzgefüge abwägen.

Die klassische Parfümerie war ziemlich einförmig, fast farblos, vor
langer Zeit von Chemikern in eine gleichmässige Form gegossen.

Ihre Geschichte folgte Schritt für Schritt der Sprache unserer Zeit.

Der parfümierte Stil Ludwigs XIII., aus teuren Bestandteilen
zusammengesetzt, aus Iris, Moschus, Zibeth-Puder, Myrtenwasser, schon
damals unter dem Namen »Eau des Anges« bekannt, war kaum genügend, um
die ungezwungenen Reize, die etwas rohen Färbungen jener Zeit
auszudrücken, welche uns gewisse Sonette von Saint-Armand aufbewahrt
haben.

Später, mit der Myrrhe, dem Oliban, einer Art Weihrauch, wurden die
mystischen Wohlgerüche kräftig und streng; die pomphafte Art des grossen
Jahrhunderts, die weitschweifigen Feinheiten der Redekunst, der breite,
getragene Stil Bossuets und der Kanzelredner fanden ihren Niederschlag.
Noch später fanden die erschlafften, kunstvollen Reize der französischen
Gesellschaft unter Ludwig XV. leichter ihren Dolmetscher in dem
Frangipan und dem Maréchale, die gleichsam die Synthese dieser Epoche
selbst gaben. Dann, nach der Langeweile und Gleichgültigkeit des ersten
Kaiserreichs, in dem man die Eaux de Cologne sowie die Präparationen von
Rosmarin missbrauchte, stürzte sich die Parfümerie hinter Victor Hugo
und Gautier her in das Land der Sonne; sie schuf orientalische
Wohlgerüche, scharfwürzige Bouquets, entdeckte neue Zusammenstellungen,
bis jetzt nicht gewagte Gegensätze, wählte aus und nahm wieder alte
Nüancen auf, welche sie komplizierte, verfeinerte und passend
zusammensetzte. Sie verwarf schliesslich energisch diese freiwillige
Abgelebtheit, zu welcher sie Malesherbes, Boileau, Andrieux,
Baour-Lormian herabgesetzt hatten, diese niedrigen Destillateure ihrer
Gedichte.

Aber auch seit der Periode von 1830 war diese Sprache nicht stehen
geblieben. Sie hatte sich noch weiter fortentwickelt und, sich nach dem
Gang des Jahrhunderts formend, war sie gleichlaufend mit den andern
Künsten vorgeschritten, hatte sich auch den Wünschen der Kunstfreunde
und Künstler gefügt, sich auf die Chinesen und Japaner gestürzt,
duftende Stammbücher erfunden, Blumensträusse von Takéoka nachgeahmt,
durch Mischungen von Lavendel und Goldlack den Geruch des Rondeletia,
durch eine Verbindung von Patschuli und Kampfer den sonderbaren Duft der
chinesischen Tinte, durch die Zusammensetzung von Citrone, Levkoje und
Pommeranzblütessenz die Ausströmung des japanesischen Hovénia erhalten.

Der Herzog studierte und analysierte die Seele dieser Fluida, machte die
Exegese dieser Texte; er gefiel sich zu seiner eigenen Befriedigung
darin, die Rolle eines Psychologen zu spielen, das Räderwerk auseinander
zu nehmen und wieder zusammenzustellen, die Stücke abzuschrauben, die
die Struktur einer zusammengesetzten Ausströmung bildeten, und bei
dieser Ausübung hatte sein Geruchssinn die Sicherheit eines fast
unfehlbaren Prüfsteins erlangt.

Wie ein Weinhändler das Gewächs an einem Tropfen, den er schlürft,
erkennt, wie ein Hopfenhändler an dem Geruch des Sackes den genauen Wert
der Ware bestimmen kann, wie ein chinesischer Kaufmann sofort die
Herkunft des Thees, der ihm vorgehalten wird, anzugeben vermag und sagen
kann, auf welchen Pachtungen des Berges Bohées, in welchen
buddhistischen Klöstern er gezogen ist, und selbst den Zeitpunkt, an dem
seine Blätter gepflückt, und den Grad des Dörrens zu bezeichnen weiss,
sowie den Einfluss, dem er in der Nähe der Pflaumenblüte, der Aglaia,
der duftenden Olea, aller dieser Wohlgerüche ausgesetzt gewesen ist, die
dazu dienen, seine Natur zu verändern, eine unvermutete Steigerung
hervorzurufen und in seinem trockenen Geruch einen Duft ferner frischer
Blumen zu erzeugen -- ebenso konnte der Herzog auch, wenn er nur ein
Tröpfchen Parfüm einatmete, gleich die Dosis seiner Mischung hernennen,
die Psychologie seiner Mixtur erklären und den Künstler erkennen, der
das Aroma hergestellt und ihm die persönliche Marke seines Stils
aufgedrückt hatte.

Es versteht sich von selbst, dass er die Sammlung aller von den
Parfümeuren angewendeten Produkte besass; er hatte selbst das echte
Mekkabalsamkraut, dieses seltene Kraut, das nur in gewissen Teilen des
steinigen Arabiens wächst und dessen Monopol dem Sultan gehört. --

Und nun sass Herzog Jean in seinem Ankleidezimmer und sann darauf, ein
neues Bouquet zu erfinden, er war von dem Augenblick des Zögerns
erfasst, den die Schriftsteller nur zu gut kennen, wenn sie nach Monaten
der Ruhe ein neues Werk beginnen.

Ebenso wie Balzac, der von dem unabweislichen Bedürfnis verfolgt war,
erst viel Papier zu bekritzeln, ehe er imstande war zu schreiben, so
erkannte Herzog Jean die Notwendigkeit, sich erst durch einige leichtere
Arbeiten in Gang zu bringen.

Er fing an, die Flaschen mit Mandeln und Vanille zu wägen, um Heliotrop
herzustellen, dann besann er sich anders und entschloss sich, mit der
Riecherbse zu beginnen.

Die Formel, das Verfahren waren ihm entfallen; er tastete. Im
allgemeinen herrscht bei dem Duft dieser Blume die Orange vor; er
versuchte mehrere Zusammensetzungen und erreichte schliesslich den
richtigen Ton, indem er der Orange die Tuberose und die Rose hinzufügte,
welche er mit einem Tropfen Vanille verband.

Die Ungewissheiten verschwanden; ein leichtes Fieber erfasste ihn, er
fühlte sich zur Arbeit angeregt und beschloss, weiter zu gehen und einen
fulminanten Satz loszulassen, dessen stolzes Geprassel das Geflüster
dieses arglistigen Parfüms niederwerfen würde, der noch immer im Zimmer
lastete.

Er experimentierte mit dem Amber, dem Tonkin-Moschus, dem Patschuli, dem
schärfsten aller vegetabilischen Parfüms, dessen Blume einen Geruch von
Schimmel und Rost ausströmt.

Aber was er auch versuchte, die Liebeleien des XVIII. Jahrhunderts
verfolgten ihn; die Reifröcke und seidenen Garnierungen schwebten vor
seinen Augen, die Erinnerungen der Venusse von Boucher, aus vollem
Fleisch, ohne Knochen, in üppigster Gestalt, liessen sich an seinen
Wänden nieder; der Rückblick auf den Roman Thermidor, auf die
entzückende Rosette mit hochgeschürztem Rock peinigte ihn.

Wütend stand er auf, und um sich frei zu machen, sog er mit aller Kraft
die reine Essenz des Spika-Nard ein, der den Orientalen so teuer und den
Europäern so unangenehm ist wegen seines zu starken Geruchs von
Baldrian. Er war fast betäubt von der Heftigkeit der Erschütterung.

Wie durch einen Hammerschlag zermalmt verschwand das Filigran des zarten
Duftes.

Früher hatte er sich gern in Akkorden von Düften gewiegt; er gebrauchte
ähnliche Effekte wie die der Poeten, wendete gewissermassen die
vortreffliche Anordnung der Stücke von Baudelaire an, wie zum Beispiel
in »L'Irréparable« und »Le Balcon«, wo der letzte der fünf Verse, welche
die Strophe bilden, das Echo des ersten ist und wie ein Refrain
zurückkommt und die Seele in die Unendlichkeit von Schwermut und
Sehnsucht taucht.

Er verlor sich in den Träumen, welche diese duftenden Stanzen in ihm
hervorriefen; ihn verlangte, in einer wunderbaren und wechselnden
Landschaft herumzustreichen, und deshalb fing er mit einem vollen und
stattlichen Satz an, der plötzlich einen Durchblick auf eine grossartige
Landschaft eröffnete.

Mit seinen Vaporisateuren spritzte er im Zimmer eine Essenz, aus
Ambrosia, Mitcham-Lavendel, Riecherbse und Bouquet gebildet, umher, eine
Essenz, die, wenn sie von einem Künstler destilliert, den Namen
verdient, den man ihr zuerkannt hat: »Extrait de Pré fleuri«; in diese
blühende Wiese führte er dann eine genaue Fusion von Tuberose,
Orangeblüte und Mandel ein; und alsbald entstand künstlicher Flieder und
der Wind schien leise durch blühende Linden zu streichen, ihre zarten
Ausströmungen auf den Boden niederdrückend, welche dem Extrakt der
englischen Tilia ähneln.

Dann liess er durch einen Ventilator die duftenden Wellen entfliehen,
nur die Landschaft beibehaltend, die er erneute und deren Dosis er
verstärkte, um ihre Rückkehr zu erzwingen.

Bald stiegen Hüttenwerke gen Himmel auf.

Ein starker Geruch von Fabriken, von chemischen Produkten verbreitete
sich, und doch hauchte die Natur noch in dieser verpesteten Luft ihre
süssen Düfte aus.

Der Herzog bearbeitete und wärmte zwischen seinen Fingern eine
Storax-Kugel, und ein höchst eigentümlicher Geruch verbreitete sich im
Zimmer, ein Geruch, widerlich und köstlich zugleich, dem entzückenden
Geruch der Jonquille und dem hässlichen Gestank der Guttapercha und dem
Steinkohlenöl ähnlich.

Er desinfizierte sich die Hände, legte sein Harz in einen hermetisch
verschlossenen Kasten, und die Fabriken verschwanden. Dann schleuderte
er zwischen die wieder belebten Linden und Wiesen einige Tropfen New
Mown Hay, und mitten in der zauberhaften Landschaft, ihres Flieders
beraubt, stiegen Heugarben empor, eine neue Jahreszeit suggerierend und
ihre feinen Ausströmungen aushauchend.

Endlich, als er diesen Anblick genügend genossen, versprengte er eiligst
noch einige exotische Parfüms, leerte seine Vaporisateure, verflüchtete
seine konzentrierten Spritsorten, liess all den Balsamen die Zügel
schiessen, und in dem heissen aufregenden Dunst des Raumes entwickelte
sich eine wahnsinnig sublimierte Temperatur, die seinen Atem
beschleunigte.

Plötzlich empfand er einen heftigen Schmerz. Es war ihm, als wenn man
ihm mit einem Instrument die Schläfen durchbohre. Er öffnete die Augen
und befand sich in der Mitte seines Ankleidezimmers, vor seinem Tisch
sitzend; mühevoll erhob er sich und schleppte sich zum Fenster, das er
halb öffnete. Ein Luftstoss klärte die erstickende Atmosphäre, die ihn
einhüllte; er ging im Zimmer auf und ab, die Augen gegen den Plafond
gerichtet, wo Krabben und salzgepuderte Algen auf einem gekörnten Grund
hell wie der Sand des Meeresufers im Relief aufstiegen. Eine gleiche
Dekoration schmückte auch die Fussgesimse, die, mit japanesisch
wassergrüner, etwas zerdrückter Kreppseide die Wände einfassend, das
Gekräusel eines Flusses, von Wind bewegt, nachahmten, und in diesem
leicht fliessenden Wasser schwamm das Blatt einer Rose, um welches ein
Schwarm kleiner Fische wirbelte, mit leichten Federstrichen gezeichnet.

Aber seine Augenlider blieben schwer; das Hin- und Hergehen ermüdete
ihn, er lehnte sich auf die Fensterbrüstung; allmählich verschwand seine
Betäubung. Sorgsam korkte er die Fläschchen wieder zu und benutzte diese
Gelegenheit, um die Unordnung in seiner reichen Schminksammlung zu
beseitigen. Er hatte seit seiner Ankunft in Fontenay nicht daran
gerührt, und er verwunderte sich fast, diese Kollektion jetzt
wiederzusehen, die früher von so vielen Frauen besichtigt und bewundert
worden war.

Die Kruken und Fläschchen häuften sich auf- und übereinander. Hier war
es ein Porzellantopf, Schnouda enthaltend, diesen wunderbaren weissen
Creme, der, wenn er auf der Wange aufgerieben, unter dem Einfluss der
Luft in zartes Rosa, dann in ein so echtes Inkarnat übergeht, dass er
die wirklich genaue Täuschung einer durch Blutwallung geröteten Haut
hervorbringt. Dort sind es mit Perlmutter eingelegte Lackkasten, die
japanesisches Gold und athenisches Grün einschliessen, die Farbe des
Flügels einer spanischen Fliege, Gold und Grün, das sich in ein tiefes
Purpur verwandelt, sobald man es anfeuchtet. Nahe den vollen Kruken mit
Pasten von Lambertsnuss, Serkis des Harems, Emulsinen der Kaschmirlilie,
Waschwasser von Erdbeeren und Holunder für den Teint und bei den kleinen
Flaschen, die mit einer Auflösung von chinesischer Tinte und Rosenwasser
zum Gebrauch der Augen bestimmt waren, lagen Utensilien aus Elfenbein,
Perlmutter und Silber durcheinander mit Bürsten aus Luzern für das
Zahnfleisch: Pinsel, Scheren, Wischer, Schminkläppchen und Puderquasten,
Rückenkratzer und Schönheitspflästerchen.

Er betrachtete all diese Toilettengeräte, die er auf die Bitte einer
seiner Geliebten gekauft hatte, die unter dem Einfluss gewisser Gerüche,
gewisser Balsame vor Entzücken verging.

Er grübelte über die Erinnerungen nach und es fiel ihm ein Nachmittag
ein, den er mit dieser Frau, aus Langeweile und Neugier, in Pantin bei
ihrer Schwester zugebracht hatte und der in ihm eine ganze Welt
vergessener Ideen und alter Parfüms wachrief.

Er flüchtete in sein Arbeitszimmer zurück und öffnete das Fenster weit,
glücklich, sich in der frischen Luft zu baden. Aber plötzlich war es
ihm, als wenn der Wind ihm einen unbestimmten Geruch von
Bergamottenessenz entgegentrieb, mit welchem sich der Jasminsprit, die
Cassie und das Rosenwasser verband.

Er atmete schwer auf.

Der Geruch wechselte und veränderte sich, ohne zu verschwinden. Ein
unbestimmter Duft von Tolutinktur, von Perubalsam, von Safran,
verschmolzen mit einigen Tropfen Amber und Moschus, stieg jetzt aus der
schlafenden Stadt empor, von dem Fusse der Anhöhe her, und plötzlich
vollzog sich eine Metamorphose, die getrennten Gerüche verbanden sich
und von neuem verbreitete sich der Frangipan, dessen Geruch die Elemente
und die Analyse herbeigeführt hatten, über das Thal Fontenay bis zum
Festungswerk hinauf. Sie erschütterten seine erschöpften und
angegriffenen Nerven noch mehr, so dass er ohnmächtig an der
Fensterbrüstung niedersank.




                            ELFTES KAPITEL.


Die erschrockenen Dienstboten beeilten sich, einen Arzt aus Fontenay
herbeizuholen, der absolut nichts von dem Zustand des Herzogs verstand.

Er brummte einige medizinische Ausdrücke, fühlte den Puls, besah die
Zunge des Kranken, versuchte, allerdings vergebens, ihn zum Sprechen zu
bringen, verordnete lindernde Mittel und grosse Ruhe und versprach, den
andern Tag wieder zu kommen.

Auf ein verneinendes Zeichen des Herzogs, der Kraft genug fand, den
Eifer seiner Dienstboten zu missbilligen und diesen lästigen
Eindringling zu verabschieden, ging dieser fort und machte sich daran,
im ganzen Dorf von den Excentrizitäten dieses Hauses zu erzählen, dessen
Einrichtung ihn geradezu mit Verwunderung erfüllt und ihn verblüfft
hatte.

Zum grössten Erstaunen der beiden alten Diener, die nicht mehr das
Dienstzimmer zu verlassen wagten, erholte sich ihr Herr in einigen Tagen
wieder. Sie überraschten ihn, wie er an die Scheiben trommelte und den
Himmel mit ungeduldiger Miene betrachtete.

Eines Nachmittags klingelte der Herzog mehrere Male hintereinander und
befahl dem eintretenden Diener, seine Koffer für eine längere Reise
fertig zu machen.

Während das alte Ehepaar auf seine Angaben hin die als notwendig
mitzunehmenden Gegenstände wählte, durchschritt er fieberhaft erregt die
Kabine seines Esszimmers, studierte die Abfahrtszeiten der Packetboote,
durcheilte hastig sein Arbeitszimmer, wobei er ungeduldig die Wolken mit
zufriedener Miene beobachtete.

Das Wetter war schon seit einer Woche abscheulich, dicke Nebel lagerten
über der Erde. Starke Regengüsse hatten das Thal in einen schwarzen See
verwandelt.

An jenem Tage war der Himmel heller geworden.

Der Regen stürzte nicht mehr wie den Tag vorher in Strömen herab,
sondern fiel unablässig fein und durchdringend und schien mit seinen
unzähligen Fäden die Erde mit dem Himmel zu verbinden.

Das Licht trübte sich; ein fahler Tag beleuchtete das Dorf, und in
dieser Trostlosigkeit der Natur verschwammen alle Farben und nur die
Dächer glänzten in diesem Grau in Grau.

»Welch ein Wetter!« seufzte der alte Diener, der die Kleidungsstücke,
die sein Herr verlangt hatte, auf einen Stuhl legte.

Statt jeder Antwort rieb sich der Herzog die Hände und setzte sich vor
einen Schrank mit bunten Scheiben, in dem ein Stoss von seidenen Socken
in Fächerform aufgehäuft lag. Er war über die Nüancen unschlüssig. Seine
Wahl fiel in anbetracht der Trostlosigkeit des Tages und des düsteren
Graus seines Anzuges, sowie im Hinblick auf sein Ziel auf ein Paar in
mattgrüner Seide. Er zog ein Paar Halbstiefel darüber und den mausgrauen
karrierten Anzug an, setzte sich einen kleinen runden Hut auf und hüllte
sich in einen dunkelblauen Wettermantel. Von seinem Diener gefolgt, der
unter dem Gewicht eines Koffers, einer Reisetasche, einer Hutschachtel
und einer Reisedecke, in welche Schirme und Spazierstöcke gewickelt
waren, fast zusammenbrach, kam er auf dem Bahnhof an.

Hier erklärte er dem Diener, dass er nicht das Datum seiner Rückkehr
bestimmen könne, er würde in einem Jahr, in einem Monat, in einer Woche,
vielleicht noch früher zurückkommen, befahl, dass nichts in seiner
Wohnung geändert würde, händigte ihm die nötige Summe, die zum Unterhalt
des Hauses während seiner Abwesenheit nötig war, ein und stieg in den
Waggon, den alten Diener ganz verstört mit schlotternden Armen und
offenem Mund auf dem Perron zurücklassend.

Er war in seinem Coupé allein. Eine verschwommene, schmutzige
Landschaft, wie durch das trübe Wasser eines Aquariums gesehen, flog in
grösster Eile an dem vom Regen gepeitschten Zug vorbei. In Nachdenken
versunken, schloss der Herzog die Augen.

Das Schweigen, das ihm bisher wie eine Entschädigung für die
Albernheiten, die er jahrelang über sich hatte ergehen lassen müssen,
erschienen war, drückte ihn plötzlich mit unerträglicher Schwere.

Eines Morgens nämlich war er aufgewacht, erregt, wie ein Gefangener, der
in einer Zelle eingeschlossen ist; seine entnervten Lippen murmelten
unzusammenhängende Worte, Thränen stiegen ihm in die Augen, ihm war es,
als sollte er ersticken.

Das Verlangen, ein menschliches Gesicht zu sehen, mit einem andern Wesen
zu sprechen, sich in das flutende Leben zu stürzen, verzehrte ihn. Es
kam sogar dahin, dass er seine Dienstboten unter einem Vorwand zu sich
kommen liess und in Gespräche verwickelte. Aber die Unterhaltung war
unmöglich; denn die alten Leute waren durch jahrelanges Schweigen und
durch die Gewohnheit der Krankenpflege fast stumm geworden; dann
verhinderte auch die Entfernung, in welcher sie der Herzog immer von
sich gehalten, jedes Plaudern.

Übrigens besassen sie nur ein träges Gehirn und waren fast unfähig,
anders als einsilbig auf die Fragen, die man an sie richtete, zu
antworten.

Er konnte also auf sie nicht rechnen.

Die Lektüre von Dickens, welche er unlängst gepflegt, um seine Nerven zu
beruhigen und die nur die entgegengesetzte Wirkung hervorgebracht hatte,
begann langsam in einer unerwarteten Weise zu wirken.

Er vertiefte sich in das englische Leben. Seine Betrachtungen
vermischten sich mit den Eindrücken aus der Lektüre.

So hoffte er durch eine Reise den erschlaffenden Ausschweifungen seines
Geistes zu entgehen.

Er hielt es nicht länger aus; eines Tages entschloss er sich plötzlich,
dem allen ein Ende zu machen. Seine Eile war so gross, dass er lange vor
der anberaumten Zeit schon die Flucht ergriff.

Er wollte sich der Gegenwart entziehen und sich herumgestossen fühlen in
dem Strassenlärm und in dem Getöse der Welt.

»Ich atme auf,« murmelte er, als der Zug seine Bewegungen einstellte und
in der Pariser Bahnhofshalle anhielt.

Auf dem Boulevard d'Enfer rief er einen Kutscher an, ganz vergnügt, mit
seinen Koffern und Decken so ins Gewühl geraten zu sein. Durch ein
reichliches Trinkgeld verständigte er sich mit dem Mann in nussbraunem
Beinkleid und roter Weste:

»Auf Zeit,« sagte er, »zunächst nach der Rue de Rivoli zu >Galignani's
Messenger<!«

Er beabsichtigte, vor seiner Abreise einen Führer durch London zu
kaufen.

Der Wagen schwankte schwerfällig durch den entsetzlichen Schmutz
vorwärts.

Der Regen schlug schräg in den Wagen, so dass der Herzog die Fenster
schliessen musste.

Bei dem monotonen Geräusch des auf seine Koffer und den Lederschutz
niederströmenden Regens, der sich wie ein Sack geschüttelter Erbsen
anhörte, träumte der Herzog von seiner Reise; dies war schon ein
Vorspiel von England, das ihm Paris bei diesem schauderhaften Wetter
bot. Das regnerische, riesengrosse, weite London, das unablässig im
Seenebel lag, entrollte sich vor seinen Augen. Lange Reihen Docks
breiteten sich unabsehbar vor ihm aus, besät mit Hebemaschinen,
Schiffswinden und Ballen; allerwärts wimmelt es von Menschen, die hier
an Masten hängen, dort rittlings auf Raaen sitzen.

Alles das lebte und bewegte sich an den Ufern in den riesigen Docks, die
von dem grünlichen Wasser der Themse bespült werden, in einem Wald von
Masten und Balken.

Es bereitete dem Herzog ein Gruseln, dass er sich in eine Welt von
Kaufleuten stürzen sollte, in diesen Nebel, in diese atemlose
Thätigkeit, dieses unbarmherzige Räderwerk, das Millionen Enterbter
zermalmt.

Dann verschwand diese Vision plötzlich durch einen Stoss des Wagens, der
ihn auf seinen Sitz zurückprallen liess.

Er sah durch das Fenster; es war Nacht geworden. Die Gasflammen
blinzelten mitten in einem gelblichen Hofe durch den Nebel,
Lichtstreifen schwammen auf den Pfützen.

Er versuchte sich zurechtzufinden; er erblickte das Carrousel.
Plötzlich, aus seinen Träumen aufgescheucht, fiel ihm ein höchst
trivialer Umstand ein: sein Diener hatte beim Kofferpacken eine
Zahnbürste vergessen.

Er unterwarf die Liste der eingepackten Gegenstände einer Musterung,
alle lagen geordnet in seiner Reisetasche, nur die Bürste fehlte, und
sein Ärger darüber dauerte fort, bis ihm das Halten des Wagens ein Ende
machte.

Er befand sich in der Rue de Rivoli, vor »Galignani's Messenger«. Neben
einer Thür von mattem Glas, die mit Zeitungsausschnitten und Telegrammen
beklebt war, hingen zwei grosse Glaskasten mit Albums und Büchern. Er
trat näher, angezogen von den buntfarbigen Büchereinbänden, die in allen
Formen und Grössen dort ausgestellt waren. Alles hatte einen
kaufmännisch antiparisischen Anstrich, die Einbände waren gröber, aber
weniger geschmacklos als die schlechten französischen.

Dann öffnete er die Thür und trat in ein grosses Bibliothekzimmer, das
mit Menschen angefüllt war. Fremde sassen umher und entfalteten Karten
und radebrechten in unbekannten Sprachen.

Ein Kommis brachte ihm eine ganze Kollektion von Reisehandbüchern. Er
setzte sich nieder und sah sich die Bücher, deren biegsamer Pappband
sich unter dem Druck seiner Finger bog, durch. Er durchblätterte sie und
blieb bei einer Seite des Baedeker stehen, auf welcher die Museen
Londons beschrieben sind.

Er interessierte sich für die kurzen und graziösen Details des Führers;
seine Aufmerksamkeit ging von der alten englischen Malerei zu der neuen
über, die ihn mehr reizte. Er erinnerte sich einiger Bilder, die er in
internationalen Ausstellungen gesehen hatte, und hoffte, dass er sie
vielleicht in London wiederfinden würde, wie die Gemälde von Millais:
»die Krankenwache der heiligen Agnes«, mit jenem seltsamen
grünlich-silbernen Mondlicht, dann Bilder von Watts, von eigentümlichem
Farbengemisch, die von einem kranken Gustav Moreau entworfen und von
einem blutarmen Michel-Angelo ausgeführt sein konnten.

Unter anderm erinnerte er sich einer »Denunziation des Kain« und einer
»Ida«.

Alle diese Gemälde traten vor sein Gedächtnis. Der Kommis, erstaunt,
diesen Käufer so in Gedanken verloren am Tische sitzen zu sehen, fragte
ihn endlich, ob er schon eine Wahl getroffen habe.

Der Herzog starrte ihn ganz verdutzt an, entschuldigte sich, kaufte
einen Baedeker und ging hinaus.

Die feuchte Luft machte ihn schaudern, der Wind blies von der Seite her
und peitschte den Regen unter die Arkaden.

»Fahrt ein paar Schritte weiter!« rief er dem Kutscher zu, indem er ihm
mit dem Finger einen Laden am Ende des Bogenganges bezeichnete, der die
Ecke der Rue de Rivoli und der Rue Castiglione bildete und, von innen
erhellt, mit seinen weisslichen Scheiben einer riesigen Nachtlampe
glich, die in dem Missbehagen dieses Nebels und in dem Elend dieses
abscheulichen Wetters den Spaziergänger lockte.

Es war die »Bodega«.

Der Herzog ging in einen grossen Saal, der sich zu einem langen Gang
formte und von gusseisernen Pfeilern getragen war. An den Seitenwänden
lagerten hohe Fässer, die mit königlichen Wappen bemalt waren und in
farbigen Aufschriften den Namen ihres Inhalts bezeichneten.

In dem freigelassenen Raume zwischen den Fässern, unter den summenden
Flammen einer abscheulich hässlichen, eisengrau bemalten Gaskrone
standen Tische mit Körben voll trockenen oder salzigen Gebäcks, mit
Tellern, auf welchen Brötchen gehäuft lagen, die mit scharfer,
senfhaltiger Butter bestrichen oder mit altem Holländerkäse belegt
waren.

Ein Dunst von Alkohol schlug dem Herzog entgegen, als er in dem Saal
Platz nahm.

Der Saal war mit Menschen angefüllt; um ihn herum wimmelte es von
Engländern: blasse Geistliche von lächerlichem Aussehen, vom Kopf bis zu
den Füssen in Schwarz gekleidet, mit weichen Hüten, geschnürten Schuhen,
in endlosen Röcken, die auf der Brust mit kleinen Knöpfen besetzt waren,
mit glattem Kinn, runden Brillen und glattem, fettigem Haar;
aufgedunsene Weingesichter früherer Schweinehändler und
Bulldoggengesichter mit Ohren wie Tomaten, blauroten Backen und Nase,
blöden, blutunterlaufenen Augen und Bärten, die ihnen ein Pavian-Ansehen
gaben.

Eine eigentümliche Erschlaffung befiel den Herzog in dieser
Wachtstubenatmosphäre; betäubt von dem Geschwätz der um ihn
herumsitzenden Engländer träumte er, und aus dem purpurnen Inhalt seines
mit Portwein gefüllten Glases stiegen die Dickens'schen Typen herauf,
die so gern tranken, und bevölkerten so den Raum mit neuen imaginären
Gestalten.

Er sah hier die weissen Haare und den feuerroten Teint Wickfields; dort
das phlegmatische und schlaue Gesicht mit dem unversöhnlichen Blick
Tulkinghorns, des unheimlichen Sachwalters von Bleak-House.

Ganz klar und bestimmt sonderten sich jetzt alle diese Figuren in seiner
Erinnerung ab und liessen sich mit ihren Bewegungen in der Bodega
nieder; sein Gedächtnis, durch die kürzliche Lektüre aufgefrischt,
vergegenwärtigte ihm alles in den klarsten Farben.

Die Stadt, in der der Romanschreiber gelebt, das hell erleuchtete Haus,
schön durchwärmt, gut versorgt und verschlossen, wo der Wein sorgsam
eingeschenkt wurde von der kleinen Dorrit, Dora Copperfield und der
Schwester des Tom Pinch, erschienen ihm eine wohlige Arche in einer
Sündflut von Schmutz.

Er faulenzte in diesem erträumten London, glücklich, in Sicherheit zu
sein.

Sein Glas war leer. Trotz des dichten Dunstes, der in dem grossen Raum
herrschte, erhöht durch den Rauch von Cigarren und Pfeifen, empfand er
ein leichtes Frösteln.

Er bestellte ein Glas Amontillado. Dieser herbe, helle Wein zerstörte
die sanften Geschichten des englischen Dichters sehr bald und die
aufregend rauhen Phantasieen des Edgar Poë tauchten wieder vor ihm auf.
Plötzlich bemerkte er, dass er beinahe ganz allein in dem grossen Saal
war, die Dinerstunde war nahe; er zahlte und erhob sich hastig von
seinem Sitz und gewann ganz betäubt die Thür.

Als er hinaustrat, schlug ihm der Regen heftig ins Gesicht, die Flammen
der Strassenlaternen flackerten ängstlich hin und her.

Der Herzog betrachtete die Arkaden der Rue de Rivoli, die mit Wasser
überschwemmt sich im Schatten verloren, und es war ihm, als wenn er sich
im düstern Tunnel unter der Themse befand; doch eine gewisse Leere im
Magen, die sich sehr fühlbar machte, rief ihn in die Wirklichkeit
zurück.

Er ging zu seinem Wagen und befahl dem Kutscher nach einem englischen
Restaurant in der Rue d'Amsterdam, nahe dem Bahnhof, zu fahren. Er sah
nach der Uhr: es war gerade sieben. Er hatte also noch Zeit zu speisen;
der Zug ging erst um acht Uhr fünfzig Minuten, und an seinen Fingern
zählend, berechnete er ungefähr die Stunden der Überfahrt von Dieppe
nach Newhaven und sagte sich:

»Morgen Mittag um halb eins werde ich in London sein.«

Der Fiaker hielt vor dem Restaurant still; wiederum stieg der Herzog aus
und schritt in einen langen schmucklosen Saal.

Zahlreiche Bierpumpen waren auf dem Schenktisch aufgestellt, daneben
lagen Schinken, so stark geräuchert, dass sie wie alte Violinen
aussahen, Hummern wie mit rotem Bleioxyd gefärbt, marinierte Makrelen,
die in einer trüben Sauce schwammen.

Er nahm in einer der leeren Nischen Platz und rief einen jungen Mann in
schwarzem Anzug, der sich verbeugte und ihm etwas in einem
unverständlichen Kauderwelsch erzählte.

Während man den Tisch deckte, musterte der Herzog seine Nachbarn. Es
waren wie in der Bodega Söhne Albions, mit den bekannten Fayence-Augen,
mit karmoisinrotem Teint, die mit bedächtiger und anmassender Miene
auswärtige Zeitungen lasen.

Damen ohne Herrenbegleitung speisten miteinander, robuste Engländerinnen
mit männlichen Zügen und Zähnen so breit und gross wie Klaviertasten,
mit vorstehenden Backenknochen, langen Händen und noch längeren Füssen.

Sie fielen mit wahrem Heisshunger über die gebrachten Gerichte her, die
mit überraschender Geschwindigkeit verschwanden.

Da er schon seit langem keinen Appetit mehr verspürt, war er von der
Gefrässigkeit dieser Frauenzimmer ganz verblüfft, fühlte aber, dass
seine Esslust dadurch angeregt wurde.

Er bestellte eine Oxtailsuppe und ass mit nicht geringem Behagen diese
kräftige Brühe. Darauf wählte er einen Haddock, eine Art geräucherten
Stockfisch, der ihm sehr schmackhaft schien, und da er die anderen so
einhauen sah, so ass auch er noch ein Roastbeef mit Kartoffeln und trank
zwei Glas Ale dazu, das ihn durch seinen herben, eigentümlichen
Geschmack reizte.

Sein Hunger war bald gestillt, doch verarbeitete er noch ein Stück
Stiltonkäse und beendete sein Diner mit einer Rhabarbertorte und der
Abwechslung wegen befriedigte er seinen Durst noch mit einem Glas
Porter.

Er atmete auf; seit Jahren hatte er nicht soviel gegessen und getrunken,
diese Veränderung in seinen Gewohnheiten, diese Wahl unvermuteter,
schwerer Nahrung hatte seinen Magen seiner schwerfälligen Ruhe entzogen.
Er drückte sich tiefer in seinen Stuhl, zündete eine Cigarette an und
machte sich daran, eine Tasse Kaffee, in den er Gin goss, zu schlürfen.

Der Regen fiel noch immer in Strömen vom Himmel, er hörte ihn auf das
Glasdach prasseln, das den Hintergrund des Saales überdeckte, und wie in
Wasserfällen aus den Dachrinnen stürzen. Niemand rührte sich im Saal,
alle Gäste waren froh, hier im Trockenen und vor ihren gefüllten Gläsern
zu sitzen.

Die Zungen lösten sich, und da fast alle diese Engländer beim Sprechen
die Augen in die Höhe hoben, schloss der Herzog daraus, dass sie sich
über das schlechte Wetter unterhielten. Nicht einer lachte. Fast alle
waren in grauen, gelb und rosa gesprenkelten Cheviot gekleidet.

Er warf einen entzückten Blick auf seinen Anzug, der in Farbe und
Schnitt wenig von dem der andern abstach, und es war ihm eine
Befriedigung, in ihrer Mitte durchaus nicht aufzufallen.

Da schreckte er plötzlich auf.

»Und die Stunde der Abfahrt?« ...

Er zog rasch seine Uhr, sie zeigte jetzt sieben Uhr fünfzig Minuten.

»Ich habe also noch eine halbe Stunde Zeit hier zu bleiben,« murmelte er
und überdachte nochmals den Plan, den er gemacht hatte.

In seinem zurückgezogenen Leben hatten ihn nur zwei Länder angezogen:
Holland und England.

Er hatte den ersten seiner Wünsche befriedigt; eines schönen Tages, als
er es nicht mehr aushalten konnte, hatte er Paris verlassen und die
Städte der Niederlande eine nach der andern besichtigt.

Im ganzen genommen hatte er nur Enttäuschungen auf dieser Reise erlebt.
Hatte er sich doch ein Holland nach den Werken von Teniers und Steen,
von Rembrandt und Ostade vorgestellt; er hoffte Kirmesse, beständige
Schmausereien auf dem Lande und die von den alten Meistern so gepriesene
patriarchalische Gutmütigkeit und joviale Liederlichkeit zu finden.

Zwar hatten ihn Haarlem und Amsterdam bezaubert mit dem noch
ungehobelten Benehmen des Volkes auf dem Lande. Aber von der
ungezügelten Fröhlichkeit und der harmlosen Völlerei hatte er keine Spur
bemerkt. Kurz, er musste zugeben, dass ihn die holländische Schule des
Louvre genasführt hatte. Sie war ihm nur ein Sprungbrett zu seinen
Träumen gewesen.

Von alledem war nichts zu sehen; Holland war ein Land wie alle anderen.

Er sah von neuem nach der Uhr: es fehlten noch zehn Minuten bis zur
Abfahrt des Zuges. Es war die höchste Zeit, die Rechnung zu begleichen
und hinüberzugehen.

Er verspürte plötzlich eine ausserordentliche Schwere im Magen wie im
ganzen Körper.

»Mut!« murmelte er, und noch schnell ein Glas Brandy hinunterstürzend,
verlangte er seine Rechnung.

Ein Individuum in schwarzem Frack und einer Serviette unter dem Arm, mit
spitzem, kahlem Schädel, steifem grauen Backenbart trat heran, einen
Bleistift hinter dem Ohr, und ein Bein vor das andere stellend, zog er
ein Notizbuch aus seiner Tasche und, ohne sein Papier anzusehen, die
Augen auf die Gaskrone gerichtet, schrieb er alles auf und berechnete
die Zeche.

»Hier,« sagte er, das Blatt aus seinem Buche reissend und es dem Herzog
überreichend, der ihn neugierig ansah.

»Welch seltsamer John Bull,« dachte er.

In diesem Augenblick öffnete sich die Thür der Kneipe, Leute kamen
herein, die einen Geruch wie von durchnässten Pudeln mitbrachten. Eine
süsse und wohlige Erschlaffung bemächtigte sich des Herzogs Jean; er
fühlte sich unfähig, seine Beine zu bewegen, ja selbst die Hand
auszustrecken, um sich eine Cigarre anzuzünden.

»Vorwärts, es ist die höchste Zeit!« sagte er sich, ohne sich zu rühren.

Wozu war es nötig, in grösster Eile fortzustürzen, wenn man so bequem
und so prächtig auf einem Stuhl reisen konnte?

War er nicht eigentlich schon in London, dessen Geruch, dessen
Atmosphäre, dessen Einwohner, dessen Futter, dessen Geräte ihn umgaben?

Was konnte er denn erhoffen, wenn nicht neue Enttäuschungen, wie in
Holland?

Er hatte gerade noch so viel Zeit, um nach dem Bahnhof gegenüber zu
laufen, doch ein gewaltiger Widerwille gegen die Reise erfasste ihn und
ein unabweisliches Bedürfnis, ruhig zu sitzen, drängte sich ihm mit
Gewalt auf.

Nachdenklich liess er einige Minuten verstreichen, sich auf diese Weise
den Rückweg abschneidend, und sagte sich: »Jetzt würde ich mich in die
Billetausgabe stürzen, mich mit meinem Gepäck herumstossen müssen; wie
verdriesslich!« --

Dann wiederholte er sich von neuem: »Im ganzen genommen habe ich gesehen
und empfunden, was ich sehen und empfinden wollte. Ich bin mit
englischem Leben seit meiner Abreise von Fontenay übersättigt und müsste
wahnsinnig sein, wenn ich durch Umherirren meine Eindrücke zerstören
sollte.«

»Sieh da,« fuhr er in seinem Monolog fort, seine Uhr ansehend, »die Zeit
ist da heimzukehren!«

Jetzt stand er wirklich auf, ging hinaus und befahl seinem Kutscher, ihn
nach dem Bahnhof von Sceaux zurückzufahren, und er kam wieder in
Fontenay an mit seinen Koffern, Paketen, Reisedecken, Regenschirmen und
Spazierstöcken und empfand die körperliche Abgehetztheit, die moralische
Ermüdung eines Menschen, der nach einer langen, gefahrvollen Reise
endlich wieder zu Hause anlangt.




                           ZWOELFTES KAPITEL.


Während der Tage, die seiner Rückkehr folgten, betrachtete Herzog Jean
mit Wohlgefallen seine Bücher, und bei dem Gedanken, dass er sich lange
Zeit von ihnen hatte trennen können, empfand er eine ebenso wirkliche
Befriedigung, wie er sie genossen, wenn er sie nach einer ernstlichen
Reise wiedergefunden hätte. Unter dem Impuls dieses Gefühls schienen ihm
die Gegenstände neu, denn er nahm an ihnen Schönheiten wahr, die er
vergessen, seitdem er sie erworben hatte.

Alles: Bücher, Nippsachen, Möbel, nahm in seinen Augen einen neuen Reiz
an. Sein Bett schien ihm weicher im Vergleich zu dem Lager, das er in
London eingenommen haben würde; der diskrete, schweigsame Dienst des
alten Ehepaares entzückte ihn, da er sich von dem Gedanken an die
lärmende Redseligkeit der Hotelkellner ermüdet fühlte.

Er schöpfte frische Lebenskraft aus dem Bad der Gewohnheit.

Aber seine Bücher beschäftigten ihn hauptsächlich. Er prüfte sie,
ordnete sie von neuem auf den Gestellen, sah genau nach, ob seit seiner
Ankunft in Fontenay die Hitze und Feuchtigkeit ihre Einbände nicht
beschädigt und ihr kostbares Papier nicht zerfressen hatte.

Er fing an, seine ganze lateinische Bibliothek umzuordnen, dann stellte
er die Werke von Archelaus, Albert le Grand, Lulle, Arnold de Villanova,
welche die Kabbala und geheimen Wissenschaften behandelten, in neuer
Ordnung auf. Dann sah er seine modernen Bücher nacheinander durch und
stellte mit Vergnügen fest, dass alle trocken und unversehrt geblieben
waren.

Diese Sammlung hatte ihn bedeutende Summen gekostet. Denn er hatte sich
die von ihm bevorzugten Verfasser in besonderen Luxus-Ausgaben
angeschafft. In seiner Pariser Zeit hatte er für sich allein bestimmte
Bücher herstellen lassen. Er liess von England und Amerika neue
Buchstaben für die Anfertigung von Werken dieses Jahrhunderts kommen;
oder wendete sich an ein Geschäft in Lille, das einen ganzen Satz
gotischer Typen besass.

Er hatte es ebenso mit seinem Papier gemacht, denn er war eines Tages
der silbernen Chinas, der perlmutternen und goldenen Japans überdrüssig
geworden, wie auch der weissen Wathmans, der dunkelbraunen
Holländischen, der Turkeys und Seychal-Mills in Gemsfarben. Ebenso
befriedigte ihn nicht mehr das mit Maschinen angefertigte Papier.
Deshalb hatte er besonders gestreiftes Papier in den alten Fabriken von
Vire bestellt, wo man sich noch der Stampfe bediente, die man früher
anwendete, um Hanf zu verarbeiten.

Um ein wenig Abwechselung in seine Sammlungen zu bringen, hatte er sich
verschiedentlich Ripspapier aus London schicken lassen; auch bereitete
ihm ein Lübecker Fabrikant ein Pressbalkenpapier, bläulich, kräftig,
etwas spröde, in dessen Stoff die Fasern durch Goldkörnerchen, wie sie
in dem Danziger Goldwasser flimmern, ersetzt waren.

Dadurch hatte er sich Bücher einzig in ihrer Art verschafft. Sie waren
in ungebräuchlichem Formate, die er von Künstlern in antiker Seide,
geprägtem Ochsen- und Coy-Leder artistisch einbinden liess. Auch besass
er kostbare Einbände aus moirierter Seide und Taffet und einige sogar
mit oxydiertem Silberbeschlag und hellem Email ausgelegt.

So hatte er sich von dem bekannten alten Geschäft Le Clere die Werke von
Baudelaire in grossem Format wie Messbücher mit grossen steilen
Buchstaben auf sehr feinem japanischen Filzpapier drucken lassen.

Der Herzog hatte dieses unvergleichliche Werk aus seinem Bücherschrank
herausgezogen; er befühlte es andächtig und las gewisse Stellen wieder
durch, die ihm in diesem einfachen aber unschätzbaren Rahmen
ergreifender als gewöhnlich erschienen.

Seine Bewunderung für diesen Schriftsteller war grenzenlos. Seiner
Meinung nach hatte man sich bis jetzt in der Litteratur darauf
beschränkt, das Äussere der Seele zu erforschen. Baudelaire war weiter
gegangen; er war bis zum Grund der unerschöpflichen Mine hinabgestiegen,
hatte sich weit in die verlassenen und unbekannten Gänge hineingewagt,
war in den Distrikten der Seele angelangt, wo sich die widernatürliche
Vegetation der Gedanken verzweigt.

Zu einer Zeit, wo die Litteratur fast ausschliesslich den Lebensschmerz
dem Unglück einer verkannten Liebe oder den Eifersüchteleien des
Ehebruchs zuschrieb, hatte Baudelaire diese kindischen Krankheiten
überwunden und die unheilbareren, tieferen Schäden untersucht, die durch
Übersättigung und Enttäuschung die Gegenwart martern, die Vergangenheit
anwidern und die Zukunft erschrecken und beunruhigen.

Und je mehr der Herzog wieder Baudelaire durchlas, desto mehr erkannte
er einen unendlichen Zauber in diesem Schriftsteller, der in einer Zeit,
wo Verse nur dazu dienten, die äusseren Erscheinungen von Wesen und
Sachen wiederzugeben, es dahin gebracht hatte, das Unaussprechliche
auszudrücken, dank einer kräftigen und vollen Sprache, die mehr als jede
andere diese wunderbare Macht besass, mit einer seltenen Gesundheit von
Ausdrücken krankhafte Zustände der flüchtigsten und zitterndsten Art,
der erschöpften Geister und traurigen Seelen festzustellen.

Ausser Baudelaire waren die französischen Bücher in seiner Bibliothek
ziemlich beschränkt. Er war gänzlich unempfänglich für die Werke, vor
denen es zum guten Ton gehört, in Entzücken zu geraten.

»Der herzhafte Humor von Rabelais« und »die gesunde Komik Molières«
brachten ihn nicht zum Lachen und seine Antipathie gegen diese Possen
ging sogar so weit, dass er sich nicht scheute, sie mit Jahrmarktstand
zu vergleichen.

Von den alten Dichtern las er nur Villon, dessen melancholische Balladen
ihn rührten; hier und da einige Sachen von Aubigné, die durch die
unglaubliche Heftigkeit ihrer Ausfälle und durch ihre Flüche sein Blut
in Wallung brachten.

Von den Prosaisten beschäftigten ihn Voltaire und Rousseau sehr wenig,
noch weniger Diderot, dessen so sehr gerühmte »Salons« ihm ganz
besonders mit moralischen Abgeschmacktheiten und einfältigen
Bestrebungen angefüllt schienen; aus Hass gegen all diesen Plunder
vertiefte er sich fast ausschliesslich in die Lektüre der christlichen
Beredsamkeit, wie Bourdaloue und Bossuet, deren kräftige und
bilderreiche Sprache ihm imponierte. Aber vorzugsweise erquickte er sich
an den ernsten und markigen Sätzen, welche Nicole und besonders Pascal
aufbauten, dessen strenger Pessimismus und schmerzliche Zerknirschung
ihm zu Herzen gingen.

Diese wenigen Bücher ausgenommen, fing die französische Litteratur in
seiner Bibliothek erst mit dem neunzehnten Jahrhundert an.

Sie teilte sich in zwei Gruppen: die eine bestand aus der gewöhnlichen,
profanen, die andere aus der Kirchen-Litteratur.

Aus der Menge seichter Schwätzer, die die Kirchenlitteratur auf ihrem
Gewissen hatte, ragte besonders Lacordaire hervor, einer der wenigen
wirklichen Schriftsteller, den die Kirche seit Jahren hervorgebracht
hatte.

Höchstens waren noch einige Seiten seines Schülers, des Abtes Peyreyve,
lesbar. Dieser hatte eine rührende Biographie seines Lehrers
hinterlassen, einige liebenswürdige Briefe geschrieben, Artikel in
klangvoller Rednersprache verfasst und Lobreden gehalten, in denen aber
ein schwülstiger Ton zu sehr vorherrschte.

In Wahrheit aber hatte der Abt Peyreyve weder die Erregung noch die
flammende Begeisterung eines Lacordaire.

Der im allgemeinen abgedroschene bischöfliche, von den Prälaten
gehandhabte Stil war wieder etwas männlicher geworden. Dies zeigte sich
besonders bei dem Grafen de Falloux.

Unter dem Schein der Mässigung schwitzte dieser Akademiker geradezu
Galle. Seine im Parlament 1848 gehaltenen Reden waren dagegen
weitschweifig und matt, aber seine in dem »Correspondent«
veröffentlichten und seitdem in Sammlungen vereinigten Artikel waren
beissend und scharf und von einer übertriebenen Höflichkeit in ihrer
Form.

Er war ein gefährlicher Polemiker wegen seiner Hinterhalte, ein schlauer
Logiker, seitwärts gehend und unvermutet treffend.

Etwas geschraubter, gezwungener, ernster war Ozanam, der geliebte
Schutzredner der Kirche, der Glaubensrichter der christlichen Sprache.

Obgleich Herzog Jean schwer zu überraschen war, war er dennoch erstaunt
über die Dreistigkeit dieses Schriftstellers, der von den unerklärlichen
Absichten Gottes redete, als ob er die Beweise der unwahrscheinlichen
Behauptungen, die er vorbrachte, hätte beibringen können.

Ein Buch, das sein Interesse in hohem Grade zu erwecken vermocht hatte,
war: »Der Mensch« von Ernest Hello.

Dieser war die absolute Antithese seiner religiösen Mitbrüder. Fast
isoliert in der gottesfürchtigen Gruppe, die seine Art abschreckte,
hatte Ernest Hello schliesslich den grossen Verbindungsweg, der von der
Erde zum Himmel führt, verlassen. Ohne Zweifel angewidert von der
langweiligen Einförmigkeit der Strasse und von dem Gewühl dieser
Schriftpilger, die im Gänsemarsch seit Jahrhunderten hintereinander
dieselbe Chaussee gingen, einer in des andern Fussstapfen tretend, an
denselben Orten anhaltend, um dieselben Gemeinplätze über die Religion,
die Kirchenväter, über ihre gleichen Überzeugungen und ihre gleichen
Meister auszutauschen, war er durch die Seitenpfade gegangen und war in
der düstern Waldlichtung von Paschalis gemündet, wo er lange gehalten
hatte, um Atem zu schöpfen. Dann hatte Hello seinen Weg fortgesetzt und
war weiter als der Jansenist vorgedrungen, den er übrigens verspottete.

Gewunden und geziert, pedantisch und verwickelt, wie Hello war,
erinnerte er den Herzog durch die eindringlichen Spitzfindigkeiten
seiner Analyse an die forschenden, kritischen Studien einiger
Psychologen des vergangenen und dieses Jahrhunderts.

In diesem eigentümlich gebildeten Geist existierten wundersame
Gedankenverbindungen, unvermutete Annäherungen und Widersprüche. Ihm
imponierte Hellos seltsame Art, von der Etymologie der Wörter auf
geistreiche Beziehungen zu kommen, die manchmal etwas dünn wurden, aber
fast immer blendend waren. --

Zwei Werke von Barbey d'Aurévilly reizten den Herzog ganz besonders: »Le
Prêtre marié« und »Les Diaboliques«. In diesen eigentümlichen Büchern
hatte der Verfasser beständig zwischen den beiden Extremen der
katholischen Religion laviert, die sich vereinigen: Mysticismus und
Sadismus.

In diesen zwei Büchern, die der Herzog wieder durchblätterte, hatte
Barbey jede Klugheit verloren, seinem Pferde die Zügel schiessen lassen
und war in gestrecktem Galopp auf Wegen davon geritten, die er bis zu
ihrem äussersten Ende verfolgte.

Der ganze Schrecken des Mittelalters schwebte über diesem
unwahrscheinlichen Buch des »verheirateten Priesters«; die Magie
vermischte sich mit der Religion, und unbarmherziger und grausamer als
der Teufel quälte der Gott der Erbsünde die unschuldige Calixte, seine
Verstossene, die er mit einem roten Kreuz auf der Stirne gezeichnet, wie
er ehemals von seinem Engel die Häuser der Abtrünnigen, die er verderben
wollte, hatte zeichnen lassen.

Nach diesen mystischen Abschweifungen hatte der Schriftsteller eine
Periode der Ruhe gehabt; dann aber war ein schrecklicher Rückfall
eingetreten.

In dem »verheirateten Priester« wurde das Lob Christi von Barbey
d'Aurévilly gesungen; in »Les Diaboliques« hatte sich der Verfasser dem
Teufel ergeben, den er pries; und jetzt erschien der Sadismus, dieser
Bastard des Katholizismus, den die Religion in allen Formen mit
Exorcismen und Scheiterhaufen durch alle Jahrhunderte verfolgt hat.

Mit Barbey d'Aurévilly nahm die Serie der religiösen Schriftsteller ein
Ende. Eigentlich gehörte dieser Paria in jeder Hinsicht mehr zur
weltlichen Litteratur als zu jener andern, bei der er einen Platz
beanspruchte, den man ihm verweigerte. Seine Sprache war die des wilden
Romantismus, voll gewundener Wendungen und übertriebener Vergleiche, und
eigentlich erschien d'Aurévilly wie ein Zuchthengst unter diesen
Wallachen, die die ultramontanen Ställe füllen.

Dem Herzog kamen diese Betrachtungen beim gelegentlichen Wiederlesen
einiger Stellen dieses Schriftstellers, und wenn er diesen nervösen,
abwechslungsreichen Stil mit der lymphatischen und unbeweglichen Art
seiner Mitbrüder verglich, gedachte er ebenfalls der Fortentwickelung
der Sprache, die uns Darwin so klar dargestellt hat.

Mittlerweile kündigte der silberne Ton einer Glocke, die auf den Ton der
Angelusglocke abgestimmt war, dem Herzog an, dass das Frühstück
aufgetragen sei.

Er liess seine Bücher liegen, trocknete sich die Stirn und ging nach dem
Esszimmer, indem er sich sagte, dass von all den Büchern, die er soeben
geordnet hatte, die Werke von Barbey d'Aurévilly noch die einzigen
waren, bei denen Gedanken und Stil an den Hautgoût der decadenten
lateinischen Schriftsteller der alten Zeit, die ihm so sympathisch
waren, erinnerten.




                          DREIZEHNTES KAPITEL.


Das Wetter war in diesem Jahre ganz ungewöhnlich: nach den Stosswinden
und Nebeln lag ein weissglühender Himmel über der Gegend ausgebreitet.

In zwei Tagen war ohne jeden Übergang der feuchten Kälte und den
Regengüssen eine brennende Hitze, eine Luft von entsetzlicher Schwere
gefolgt. Wie mit Feuerhaken geschürt strahlte die Sonne, gleich der
Öffnung eines Backofens, ein fast weisses Licht aus, das das Auge
blendete; ein heisser Staub erhob sich von den kalkigen Chausseen und
verdorrte die Bäume und den Rasen. Die Sonne, die auf die weiss
getünchten Mauern, die Zinkdächer und die Fensterscheiben niederbrannte,
blendete förmlich. Die Glut einer Giesserei lag auf dem Hause des
Herzogs Jean.

Halb nackt öffnete er ein Fenster, eine Welle heisser Luft schlug ihm
ins Gesicht; in dem Esssaal, in den er sich flüchtete, war es glühend.

Er setzte sich ganz verzweifelt nieder, denn die Überreizung, die ihn
aufrecht hielt, solange er beim Ordnen seiner Bücher seinen Träumen
nachgehangen hatte, war jetzt vorüber.

Wie alle nervösen Leute wurde er durch die Hitze sehr angegriffen. Die
Bleichsucht, durch die Kälte zurückgehalten, machte sich wieder
bemerkbar und schwächte den ohnedies schon matten Körper noch mehr durch
übermässigen Schweiss.

Das Hemd auf dem nassen Rücken klebend, die Beine und Arme kraftlos, die
Stirn mit Schweiss bedeckt, der in salzigen Tropfen die Backen
hinablief, lag der Herzog wie gebrochen in seinem Sessel. Der Anblick
des Fleisches, das auf dem Tische stand, widerte ihn in diesem
Augenblick an und er befahl, es fortzutragen; er bestellte sich Eier und
versuchte Stückchen Brot, ins weiche Gelbe getunkt, hinunter zu würgen;
aber sie blieben ihm in der Kehle sitzen. Die Neigung zum Erbrechen kam.
Er trank einige Tropfen Wein, die ihm wie Feuer im Magen brannten.

Er wischte sich das Gesicht ab; der Schweiss, noch eben warm, floss kalt
an den Schläfen entlang. Er sog einige Stückchen Eis langsam auf, um die
Übelkeit zu vertreiben. Doch vergeblich.

Eine grenzenlose Mattigkeit drückte ihn nieder; er meinte zu ersticken
und stand auf.

Noch nie hatte er sich so beunruhigt, so zerrüttet, so elend gefühlt.
Dabei quollen seine Augen, er sah die Gegenstände doppelt und um sich
selbst drehend. Bald verschwand ihm das Gefühl für die richtigen
Entfernungen, sein Glas schien ihm eine Meile von ihm zu stehen. Er
verhehlte sich nicht, dass er der Spielball seiner sensationellen
Täuschungen war, und unfähig, dagegen zu reagieren, legte er sich auf
das Sofa im Salon.

Da aber wiegte ihn ein Schwanken, wie das Schwanken eines Schiffes, und
die Übelkeit wurde stärker; er stand wieder auf und entschloss sich,
durch ein Verdauungsmittel die Eier, die ihn nahezu erstickten,
hinunterzubringen.

Er ging nach dem Esszimmer zurück und verglich sich in dieser Kabine
melancholisch mit einem Seereisenden. Er kam sich wie ein von
Seekrankheit befallener Passagier vor.

Schwankenden Schrittes wendete er sich dann zu dem Wandschrank, prüfte
seine Mundorgel, doch öffnete er sie nicht, sondern nahm von dem oberen
Brett eine Flasche mit Benediktiner, die er ihrer Form wegen
aufbewahrte.

Aber für den Augenblick war ihm alles gleichgültig; mit mattem Auge
betrachtete er die dickbäuchige dunkelgrüne Flasche, die sonst in ihm
die Vorstellung eines mittelalterlichen Klosters wachgerufen hätte: mit
ihrem antiken Mönchsbauch, ihrem Kopf und Hals, mit einer
Pergament-Kapuze versehen, ihrem roten Wachssiegel mit den drei
silbernen Bischofshüten am Halse, gesiegelt wie eine Bulle, und einer
Etikette, auf deren gelblichem Papier in Mönchslatein stand: »Liquor
Monachorum Benedictinorum Abbatiae Fiscanensis«.

Diese klösterliche Hülle barg einen safrangelben Likör von entzückender
Zartheit.

Er trank einige Tropfen von diesem Likör und fühlte während eines
Augenblicks etwas Erleichterung, aber bald brannte das Feuer wieder von
neuem in seinen Eingeweiden.

Er warf verzweifelt seine Serviette hin und begab sich wieder in sein
Arbeitszimmer, wo er langsam auf und ab ging.

Es war ihm, als sei er unter einer Luftglocke, in der ihm die Luft nach
und nach entzogen wurde, und eine wonnige grausame Schwäche bemächtigte
sich seiner, vom Rückenmark durch alle Glieder gehend. Er sträubte sich
dagegen, und da er es nicht mehr aushalten konnte, flüchtete er sich,
vielleicht zum ersten Mal seit seiner Ankunft in Fontenay, in seinen
Garten und suchte Schutz unter einem Baum, der einen runden Schatten
warf.

Auf dem Rasen sitzend, sah er mit stumpfer Miene auf die viereckigen
Gartenbeete, auf denen seine alten Dienstboten Gemüse gepflanzt hatten.

Er sah sie wohl an, aber erst nach Verlauf einer Stunde bemerkte er sie,
denn ein gräulicher Nebel schwebte vor seinen Augen und liess ihn nichts
unterscheiden, ähnlich wie auf dem Meeresgrund, wo man nur unbestimmte
Bilder gewahrt.

Schliesslich fand er sein geistiges Gleichgewicht wieder und unterschied
deutlich Zwiebeln vom Kohl, sowie etwas weiter ein Feld mit Kopfsalat
und im Hintergrunde die ganze Hecke entlang eine Reihe weisser Lilien,
die unbeweglich in der schweren Luft ihren Duft ausströmten.

Er durchstöberte den Garten, sich für die in der Hitze verwelkten
Pflanzen und den heissen Erdboden interessierend, der in dem glühenden
Staub der Luft dampfte. Dann bemerkte er oberhalb der Hecke, die den
tiefer gelegenen Garten von der erhöhten Strasse, die nach dem Vorwerke
führte, trennte, einige Jungen, die sich in vollem Sonnenbrand im Staube
wälzten.

Er konzentrirte seine Aufmerksamkeit eben auf sie, als ein anderer,
kleinerer erschien; er sah schmutzig aus, hatte Haar wie Seegras und war
voll von Sand; zwei grüne Blasen hatte er unter der Nase, widerliche
Lippen, weiss beschmiert mit weichem Käse, der auf Brot gestrichen und
mit gehackten Zwiebeln bestreut war.

Der Herzog sog den Geruch davon ein; ein krankhaftes Gelüst bemächtigte
sich seiner. Die schmutzigen Brotschnitte liessen ihm das Wasser in den
Mund treten. Es schien ihm, als wenn sein Magen, der jede Nahrung
verweigerte, dies abscheuliche Essen verdauen würde und sich sein Gaumen
wie an einem Leckerbissen daran laben könne.

Er sprang auf, lief nach der Küche, befahl, aus dem Dorf einen Laib
Brot, weissen Käse und Zwiebeln zu holen, bestimmte, wie man ihm die
Brotschnitte bereiten solle, genau wie die, an denen der Junge
herumwürgte, und ging zu seinem Baum zurück, unter dem er sich wieder
niederliess.

Jetzt schlugen sich die Jungen. Sie entrissen sich Stücke Brot, die sie
sich in die Backen stopften, wobei sie sich die Finger ableckten. Es
hagelte dabei Fusstritte, Faustschläge, und die Schwächsten, die zur
Erde geworfen wurden, schlugen mit den Beinen um sich und heulten.

Dieses Schauspiel belebte den Herzog; das Interesse, das er an dem Kampf
nahm, wendete seine Gedanken von seinem Übel ab; bei der Erbitterung der
Bengel dachte er an das grausame Gesetz vom Kampf ums Dasein, und
obgleich diese Jungen nur aus niedrigem Stande waren, konnte er sich
doch nicht erwehren, sich für ihr Los zu interessieren und zu glauben,
dass es besser für sie gewesen wäre, wenn ihre Mütter sie nicht in die
Welt gesetzt hätten.

»Welcher Wahnsinn,« dachte der Herzog, »Kinder zu zeugen!«

Der Diener unterbrach die wohlgemeinten Betrachtungen, über welche der
Herzog nachgrübelte, und überreichte ihm auf einem silbernen Teller das
gewünschte Käsebrot.

Eine Übelkeit überkam ihn; er hatte nicht den Mut, dieses Butterbrot zu
essen, denn die krankhafte Überreizung seines Magens war vergangen. Ein
Gefühl entsetzlicher Zerrüttung befiel ihn von neuem; er musste
aufstehen. Die Sonne drehte sich und nahm nach und nach seinen Platz
ein, die Hitze wurde noch drückender und lästiger. -- »Werfen Sie das
Butterbrot jenen Jungen hin,« sagte der Herzog zu dem alten Diener,
»mögen die sich darum schlagen; mögen sich die Schwächeren verkrüppeln
und keinen Teil an den Leckerbissen haben; mögen sie obendrein von ihren
Eltern tüchtig durchgeprügelt werden, wenn sie mit zerrissenen Hosen und
blauen Augen nach Hause kommen; das wird ihnen einen Vorgeschmack von
dem Leben, das ihrer wartet, geben!«

Mit diesen Worten ging er langsam seinem Hause zu und sank halb
ohnmächtig auf einem Sessel nieder.

»Ich muss indessen versuchen, etwas zu essen,« murmelte er, und er
tunkte einen Zwieback in einen alten Constantia, von dem er noch einige
Flaschen im Keller hatte.

Dieser Wein in der Farbe leicht angebrannter Zwiebelschale, die Mitte
zwischen Malaga und Portwein haltend, doch mit einem besonders zuckrigen
Bouquet und einem Nachgeschmack von Weintrauben hatte ihn oft gestärkt
und manchmal sogar seinem durch gezwungenes Fasten geschwächten Magen
neue Kraft eingeflösst. Aber diese Herzstärkung, sonst treu und
zuverlässig, verfehlte heut ihre Wirkung.

Nun hoffte er, dass ein linderndes Mittel die glühenden Eisen, die ihm
gleichsam den Magen zerrissen, vielleicht abkühlen würde, und er nahm
seine Zuflucht zu dem Nalifka, einem russischen Likör in einer
mattgolden glasierten Flasche. Aber dieser ölige und himbeerartige Saft
war ebenfalls wirkungslos.

Leider! Die Zeit war fern, wo der Herzog sich noch einer guten
Gesundheit erfreute, wo er in voller Hundstagshitze auf seinem Besitztum
einen Schlitten bestieg und da, eingewickelt in Pelze, die er bis zur
Brust hinaufzog, zu frösteln versuchte und sich sagte, indem er sich mit
den Zähnen zu klappern bemühte: »Ah! dieser Wind ist eisig, man erfriert
fast, man erstarrt wirklich!« bis es ihm fast gelang, sich zu
überzeugen, dass es recht bitterlich kalt sei!

Unglücklicherweise wirkten diese Mittel nicht mehr, seit seine Leiden
thatsächlich überhandgenommen hatten.

Dabei blieb ihm nicht einmal die Zuflucht, zur Opiumtinktur zu greifen;
denn anstatt ihn zu beruhigen, regte ihn dies schmerzstillende Mittel
derartig auf, dass es ihm die Ruhe raubte.

Früher hatte er sich mit Opium und Haschisch Visionen erzeugen wollen,
aber diese beiden Substanzen hatten Erbrechen und heftige nervöse
Aufregungen herbeigeführt, er hatte sofort darauf verzichtet und ohne
Hilfe dieser derben Reizmittel von seinem Gehirn allein verlangt, ihn
weit von dem Leben ab ins Reich der Träume zu führen.

»Welch ein Tag!« seufzte der Herzog, sich den Hals trocknend und
fühlend, dass das, was ihm noch an Kräften geblieben war, sich in neuem
Schweiss auflöste. Eine fieberhafte Erregung verhinderte ihn still zu
sitzen. Von neuem irrte er durch alle Zimmer, alle Sitze nacheinander
versuchend.

Des Kampfes müde sank er endlich vor seinem Schreibtisch nieder. Den
Ellbogen auf die Platte gestützt, bewegte er mechanisch, ohne an etwas
zu denken, einen Sternhöhenmesser, der anstatt eines Briefbeschwerers
auf einem Haufen Bücher und Notizen stand.

Er hatte dieses Instrument aus graviertem, vergoldetem Kupfer, aus
Deutschland stammend und im siebzehnten Jahrhundert gearbeitet, bei
einem Trödler in Paris gekauft nach einem Besuch des Cluny-Museum, wo er
lange in Entzücken vor einem wunderbaren Astrolabium aus geschnitztem
Elfenbein gestanden hatte, dessen kabbalistische Art ihn geradezu
bezauberte.

Dieser Briefbeschwerer rief einen ganzen Schwarm Erinnerungen in ihm
wach. Der Anblick dieser Seltenheit liess ihn vergessen, wo er sich
befand, seine Gedanken schweiften zurück zu dem Trödler in Paris, der
ihm das Instrument verkauft hatte.

Er sah sich im Geist wieder im Museum vor dem Astrolabium aus Elfenbein,
während seine Augen fortfuhren, den Sternhöhenmesser aus Kupfer vor sich
auf dem Tische zu betrachten, ohne ihn zu sehen.




                          VIERZEHNTES KAPITEL.


Einige Tage lang war sein Zustand erträglich, dank der Mittel, die er
seinem Magen anbot. Aber eines Morgens wollte er die marinierten
Gerichte nicht mehr annehmen, und der Herzog fragte sich beunruhigt, ob
seine grosse Schwäche nicht noch zunehmen und ihn nötigen würde, das
Bett zu hüten.

Es fiel ihm plötzlich ein, dass einer seiner Freunde es mit Hilfe eines
gewissen Nahrungsmittels erreicht hatte, seiner Blutarmut Einhalt zu
thun und sich das bisschen Kraft zu erhalten.

Er schickte schnell seinen Diener nach Paris, um sich dieses kostbare
Mittel zu verschaffen; nach dem Prospekt, den der Fabrikant beigelegt
hatte, unterrichtete er selbst seine Köchin, wie das Rindfleisch in
kleine Stücke zu schneiden und zuzubereiten sei.

Den durch diese Prozedur gewonnenen Saft nahm er löffelweise ein.

Durch diese Kur wurde das Nervenleiden aufgehalten und der Herzog sagte
sich:

»Das hätten wir immerhin erreicht; vielleicht dass die Temperatur sich
ändert und der Himmel etwas Asche auf diese abscheuliche Sonne wirft,
die mich völlig erschöpft, und dass ich mich ohne grosse Schwierigkeit
bis zur ersten Kälte durchschlagen werde.«

In dieser Erschlaffung und müssigen Langeweile, in die er versunken,
ärgerte ihn seine Bibliothek, deren Ordnung unvollendet geblieben war;
da er nicht mehr aus seinem Lehnstuhl aufstehen konnte, hatte er
unaufhörlich seine profanen Bücher vor sich, die wie Kraut und Rüben in
den Fächern standen und lagen. Die Unordnung verletzte ihn um so mehr,
da sie zu der sorgfältigen Ordnung der religiösen Bibliothek in
schreiendem Widerspruch stand.

Er versuchte dieser Verwirrung ein wenig abzuhelfen, aber nachdem er
zehn Minuten gearbeitet, war er wie in Schweiss gebadet; die Anstrengung
erschöpfte ihn. Wie gebrochen legte er sich aufs Sofa und klingelte
seinem Diener.

Auf seine Angabe hin machte sich der alte Mann ans Werk, ihm einzeln die
Bücher zuzutragen, die er prüfte und deren Platz er bezeichnete.

Diese Arbeit war von kurzer Dauer, denn die Bibliothek des Herzogs Jean
schloss nur eine ausserordentlich kleine Zahl moderner weltlicher Werke
ein.

Er war nämlich zu dem Resultat gelangt, dass er nicht mehr ein Buch
entdecken könne, das seinen geheimen Wünschen entsprach; und seine
Bewunderung liess sogar für diejenigen Bücher nach, die dazu beigetragen
hatten, seinen Geist zu schärfen und ihn so argwöhnisch und so
wählerisch zu machen.

In der Kunst waren seine Ideen von dem eigentlich selbständigen
Standpunkt ausgegangen: für ihn existierten keine Schulen, das
Temperament des Schriftstellers allein war für ihn massgebend. Die
Arbeit seines Gehirns interessierte ihn, welches Thema er sich auch
gestellt haben mochte.

Leider war in Wahrheit diese Schätzung, eines La Palisse würdig, beinahe
undurchführbar, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil jeder, wenn er
es auch wünscht, sich von allen Vorurteilen loszumachen, und sich jeder
Parteinahme zu enthalten sucht, sich aber doch mit Vorzug zu den Werken
hingezogen fühlt, die mit seinem Temperament am meisten übereinstimmen.

Dieser Prozess der Auswahl hatte sich langsam in ihm vollzogen; er hatte
vor kurzem noch den grossen Balzac angebetet, aber zur selben Zeit, als
sein Organismus aus dem Gleichgewicht geriet und seine Nerven die
Herrschaft übernahmen, hatten sich auch seine Neigungen modifiziert und
seine Bewunderungen vermindert.

Seit kurzem sogar, und obwohl er sich Rechenschaft von seiner
Ungerechtigkeit gegen den trefflichen Verfasser der »menschlichen
Komödie« ablegte, war er dahin gekommen, seine Werke nicht mehr zu
öffnen. Andere Wünsche bewegten ihn jetzt, die kaum definierbar waren.

Er sah bei einiger Prüfung zwar ein, dass ein Werk, das ihn anziehen
sollte, den Stempel der Seltsamkeit tragen müsse, wie zum Beispiel Edgar
Poës Kunst; aber er wagte sich häufig noch weiter vor auf diesem Wege.

Er wollte durchaus ein Kunstwerk, das für sich Bedeutung hatte. Er
wollte ihm folgen, wie gestützt und getragen von einem freundlichen
Helfer, in eine Sphäre, in der ihm die erhabenen Empfindungen eine
ungeahnte Sensation einflössten, bei denen er lange nach der Ursache
forschen konnte.

Er entfernte sich mehr und mehr von der Wirklichkeit und besonders von
der heutigen Gesellschaft, gegen die er einen wachsenden Abscheu
empfand. Dieser Hass hatte notgedrungen auf seinen litterarischen und
künstlerischen Geschmack gewirkt, und er wandte sich soviel wie möglich
von den Bildern und Büchern ab, deren in der Stoffwahl eng begrenzte
Themata sich auf das moderne Leben beschränkten.

Somit verlor er die Fähigkeit, die Schönheit, unter welcher Form sie
sich auch darbot, gleichgültig zu bewundern und zog bei Flaubert »die
Versuchung des heiligen Antonius« der »sentimentalen Erziehung«, bei
Goncourt »die Faustina« der »Germinie Lacerteux«, bei Zola »die Schuld
des Abtes Mouret« dem »Assommoir« vor.

Dieser Gesichtspunkt schien ihm logisch. Diese weniger unmittelbar
wirkenden, aber so mächtigen, so menschlichen Werke liessen ihn tiefer
in den Schacht des Temperamentes dieser Meister eindringen, die mit
aufrichtiger Ungezwungenheit die geheimnisvollsten Erregungen ihres
Wesens offenbarten.

Und so trat er in vollständige Ideenübereinstimmung zu ihren Verfassern,
weil sie sich wohl in einer gleichen Geistesverfassung wie er befunden
haben mochten.

Bei Flaubert waren es die feierlichen, ungeheuren Gemälde, grossartiger
Prunk in barbarisch prachtvoller Umrahmung, auf welchen entzückend
zarte, geheimnisvolle und stolze Wesen Leben annahmen: Frauen in
höchster Vollendung ihrer Schönheit, mit kranken Seelen, in ihrem Innern
schreckliche Verwüstungen und wahnsinnige Wünsche.

Das ganze Temperament des grossen Künstlers zeigte sich in den
unvergleichlichen Seiten der »Versuchung des heiligen Antonius« und in
»Salambo«, wo er weit ab von unserm armseligen Leben den Glanz der alten
Zeiten heraufbeschwor mit ihren mystischen Gebeten, ihrem Verfall und
ihren Grausamkeiten.

Bei Edmond de Goncourt war es das Heimweh nach dem vorigen Jahrhundert,
eine Rückkehr zu der Eleganz einer für immer verschwundenen
Gesellschaft; der begeisterte Lobgesang auf das Meer, das sich an den
Hafendämmen bricht. Die Wüsten, die sich in endloser Ferne unter dem
heissen Himmel verlieren, existierten nicht in seinem Heimweh-Werk, das
sich in einen königlichen Park oder in ein Boudoir zurückzog, das durch
die wollüstigen Ausströmungen eines Weibes mit müdem Lächeln, lüsternem
Mund und sinnenden Augen erwärmt wird. Die Seele, mit denen Goncourt
seine Menschen belebte, war nicht die Seele, die Flaubert seinen
Geschöpfen eingab.

Obgleich sie unter uns gelebt hatte, obgleich sie ganz Leben und Körper
unserer Zeit, war die Faustina dennoch durch erbliche Einflüsse ein
Wesen des vergangenen Jahrhunderts, von dem sie die Würze der Seele, die
geistige Müdigkeit und die sinnliche Ausschweifung hatte.

Dieses Buch von Goncourt war eins der Lieblingsbücher des Herzogs. Sein
Verlangen, über einem Werke träumen zu können, wurde in diesem Werke
gestillt, wo man überall zwischen den Zeilen lesen konnte.

Es war nicht die Sprache Flauberts, diese Sprache unnachahmlicher
Pracht, sondern es war ein durchsichtig-krankhaft-nervöser Stil, ein
Stil, der fähig war, die komplizierten Nüancen einer Epoche
auszudrücken, welche an und für sich schon ausserordentlich verwickelt
waren.

In Paris war das in der Litteraturgeschichte beinahe Unglaubliche
geschehen: die mit dem Tode ringende Gesellschaft des achtzehnten
Jahrhunderts, das Maler, Bildhauer, Musiker, Architekten in Fülle
hervorgebracht hatte, die von seinem Stil durchdrungen und seinen
Doktrinen erfüllt waren, hatte nicht einen wirklichen Schriftsteller
gehabt, der seine morbide Grazie darzustellen verstand. Man hatte das
Auftreten Goncourts abwarten müssen, dessen Kunst aus Erinnerungen
bestand, aus wieder aufgefrischten Klagen über den leidigen Anblick des
geistigen Elends und des niedrigen Trachtens seiner Zeit, damit er,
nicht nur in seinen Geschichtsbüchern, sondern auch in seinem
Heimweh-Werk, wie die »Faustina«, die Seele dieser Epoche wieder
auferwecken, ihre nervösen Zartheiten in dieser Künstlerin verkörpern
konnte.

Bei Zola war das Heimweh nach dem Jenseits anders geartet.

In ihm war nicht der Wunsch nach Auswanderung in verschwundene Regionen,
nicht das Bedürfnis, in vergangene Zeiten zu flüchten. Sein mächtiges
zielbewusstes Temperament, verliebt in die Üppigkeiten des Lebens, in
die sanguinischen Kräfte und moralische Gesundheit, liess ihn sich von
den künstlichen Reizen und der geschminkten Blutarmut des vergangenen
Jahrhunderts fern halten, wie auch von der hierarischen Feierlichkeit,
der brutalen Grausamkeit und den verweichlichten, zweideutigen
Träumereien des alten Orients.

An dem Tage, an dem auch er von diesem Heimweh, von dem Bedürfnis und
Sehnen erfasst worden war, das im Grunde die Poesie selbst ist, da hatte
er sich in ein ideales Gefilde gestürzt, wo der Saft in voller Sonne
schäumte; er hatte von der phantastischen Brunst des Himmels, von dem
berauschenden Entzücken der Erde, von dem befruchtenden Regen des
Blütenstaubes, der in die lechzenden Organe der Blumen fällt, geträumt.
So war er zu einem riesenhaften Pantheismus gekommen, hatte, gegen
seinen Willen vielleicht, mit diesem paradiesischen Milieu, in das er
seinen Adam und seine Eva stellte, eine wunderbare indische Dichtung
geschaffen, in einem Stil, dessen kühne, roh aufgetragene Farbe einen
seltsamen Glanz, wie die der indischen Malerei hatte, indem er die Hymne
der Fleischeslust anstimmte, das belebte und lebende Sinnliche feierte
und durch das Betonen des Fortpflanzungsdranges der menschlichen Kreatur
die verbotene Frucht der Liebe, ihre instinktiven Liebkosungen, ihre
natürliche Stellung offenbarte.

Mit Baudelaire waren diese drei Meister in der französischen modernen
profanen Litteratur diejenigen, die den Geist des Herzogs am meisten
gefesselt hatten; aber dadurch, dass er sie zu oft gelesen, war er von
diesen Werken übersättigt.

Er kannte sie auswendig, und um sich noch wieder in sie versenken zu
können, hatte er sich bemüht, sie zu vergessen und sie einige Zeit in
ihren Fächern ruhen zu lassen.

Deshalb öffnete er sie auch kaum, als der Diener sie ihm jetzt hinhielt.
Er begnügte sich, den Platz zu bezeichnen, den sie einnehmen sollten,
nur beachtend, dass sie auch richtig und gut geordnet wurden.

Der Diener brachte ihm einen neuen Stoss Bücher. Es waren dies zwar
weniger bedeutende Werke, zu welchen er aber doch nach und nach eine
Neigung gefasst hatte.

Gerade ihre Unvollkommenheiten gefielen ihm, vorausgesetzt, dass sie
nicht unselbständig waren; und vielleicht enthält die Behauptung eine
Dosis Wahrheit, welche meint, dass uns der Schriftsteller zweiten
Ranges, der wohl eine Individualität darstellt, aber seiner
Selbständigkeit noch nicht bewusst geworden ist, einen noch kräftigeren
Trank zumutet, als der Künstler derselben Zeit, der wirklich gross und
wirklich vollkommen ist.

Daher wendete er sich notgedrungen von den Meistern ab und den
Schriftstellern zu, die ihm dadurch noch teurer wurden, dass sie das
Publikum, das sie nicht verstand, verachtete.

Einer von ihnen, Paul Verlaine, hatte mit einem Band Verse »Poèmes
Saturniens« debütiert, einem ziemlich schwachen Werk, in dem sich die
Nachahmungen von Leconte de Lisle und romantische Rhetorik berührten,
aber in dem schon in gewissen Teilen, wie in dem Sonett: »Rêve familier«
die wirkliche Persönlichkeit des Poeten durchschimmerte.

Beim Studium seiner frühen Gedichte erkannte der Herzog unter seinen
unselbständigen Versuchen ein Talent, das schon von Baudelaire tief
durchdrungen war, dessen Einfluss sich später noch mehr geltend machte,
ohne dass er ein erdrückender geworden wäre.

Seine späteren Bücher, die »Bonne Chanson«, die »Fêtes galantes«, die
»Romances sans paroles«, schliesslich sein letzter Band »Sagesse«
enthielten Gedichte, in denen sich der originelle Schriftsteller
offenbarte und sich von dem grossen Haufen seiner Kollegen glänzend
abhob.

Im Gegensatz zu Verlaine, der direkt von Baudelaire abstammte und
besonders durch die psychologische Seite, durch die köstliche Färbung
des Gedankens, durch die gelehrte Quintessenz des Gefühls mit ihm
verwandt war, näherte sich Théodore Hannon besonders dem Meister in der
plastischen Form, in der äusserlichen Erscheinung der Wesen und Dinge.

Seine entzückende Korruption stimmte merkwürdig mit den Neigungen des
Herzogs überein, der bei Nebel und Regentagen sich in den von dem Poeten
erdachten Schmollwinkel einschloss und seine Augen an dem Schillern
seiner Stoffe, an dem Funkeln seiner Edelsteine, an der ausschliesslich
materiellen Pracht berauschte, die zu den Aufreizungen des Gehirns
beitrugen.

Mit Ausnahme dieses Poeten und Stéphane Mallarmé's, die er seinem Diener
beiseite zu legen befahl, um sie abseits aufzustellen, fühlte sich der
Herzog nur wenig von den Dichtern angezogen.

Trotz ihrer prächtigen Form, trotz der imposanten Wendung seiner Verse,
die sich mit solchem Glanz ausbreiteten, dass die Hexameter von Hugo
sogar im Vergleich düster und klanglos schienen, konnte ihn Leconte de
Lisle jetzt nicht mehr befriedigen.

Das Altertum, das Flaubert so wunderbar wieder belebt hatte, blieb unter
seinen Händen leblos und kalt. Es war kein Blut in diesen Versen, alles
war nur Aussenseite; nichts atmete in diesen öden Gedichten, deren
kaltblütige Mythologieen ihn schliesslich erstarrten.

Auch an Gautiers Werken fand er kein Interesse mehr, nachdem er ihn
lange gern gehabt hatte; seine Bewunderung für einen so
unvergleichlichen Maler, wie dieser Mann es war, war von Tag zu Tag mehr
verschwunden, und jetzt war er erstaunter als entzückt über diese
indifferenten Beschreibungen.

Zweifellos liebte der Herzog die Werke dieser beiden Poeten, wie er
seltene und kostbare Steine liebte, aber keine der Variationen dieser
vollkommenen Instrumentisten konnte ihn mehr entzücken, denn keine war
dem Träumen zugänglich, keine zeigte, wenigstens nicht für ihn, einen
jener lebhaften Durchblicke, die ihm erlaubten, den langsamen Flug der
Stunden zu beschleunigen.

Er ging hungrig von diesen Büchern weg; ähnlich erging es ihm bei Victor
Hugo.

Die psychologischen Labyrinthe Stendhals, die analytischen Irrgänge
Durantys lockten ihn, aber ihre farblose, steife Sprache, gut genug für
die gewöhnlichen Theaterstücke, stiess ihn andrerseits ab.

Um sich an einem Werk zu erfreuen, das nach seinem Geschmack einen
prägnanten Stil mit einer scharfsinnig-katzenhaften Beweisführung
verband, musste er auf Edgar Poë zurückgreifen, für den seine Liebe nur
gewachsen war, seitdem er sich öfter mit ihm beschäftigt hatte.

Mehr als jeder andere entsprach gerade dieser durch eine geistige
Verwandtschaft den Träumereien des Herzogs.

Dem Tod, den alle Dramatiker so sehr gemissbraucht hatten, hatte er ein
anderes Aussehen gegeben; es war eigentlich weniger der wirkliche
Todeskampf eines Sterbenden, den er beschrieb, sondern der moralische
Todeskampf des Überlebenden, der vor dem elenden Bett von grässlichen
Hirngebilden, welche der Schmerz und die Ermüdung erzeugt, erfasst wird.
Mit grausamem Zauber hob er besonders die Handlungen des Entsetzens, den
Zusammenbruch des Willens hervor, begründete sie kaltblütig, schnürte
nach und nach die Kehle des keuchenden erstickenden Lesers vor diesem
künstlich zurecht gemachten Alpdrücken des heissen Fiebers zu. Von
erblichem Nervenleiden krampfhaft verzerrt, halb wahnsinnig von dem
moralischen Veitstanz lebten seine Kreaturen nur durch die Nerven; seine
Frauengestalten, wie Morella, Ligeia, besassen eine ungeheure
Gelehrsamkeit, durchdrungen von dem Nebel der deutschen Philosophie und
den kabbalistischen Geheimnissen des alten Orients, und alle hatten sie
Knabenbrüste und waren geschlechtslos.

Baudelaire und Poë, diese beiden Geister, die man oft zusammengestellt
hatte wegen ihrer poetischen Berührungspunkte, ihrer gleichen Neigung in
dem Vorwurfe geistiger Krankheiten, waren vollständig verschieden durch
ihre Auffassungen vom Gemüt, das in ihren Werken einen so grossen Platz
einnahm. Baudelaire mit seiner gierigen Liebe, deren grausame Lust an
die Verfolgungen einer Inquisition erinnert; Poë mit seinen keuschen
ätherischen Leidenschaften, in denen keine Sinnlichkeit lebte, in denen
das Gehirn allein Geltung hatte, ohne Zusammenhang mit den Organen, die,
wenn sie überhaupt vorhanden waren, nur kalt und jungfräulich blieben.

Diese Klinik, in der der geistreiche Chirurg in einer bedrückenden
Atmosphäre Gehirne zerlegte, war für den Herzog eine Quelle
unermüdlichen Nachdenkens; aber seitdem sein Nervenleiden zugenommen
hatte, gab es Tage, wo diese Lektüre ihn vollständig niederwarf, Tage,
wo er mit zitternden Händen ängstlich lauschend dasass und sich, wie der
verzweifelte Usher, von einer unsinnigen Todesangst, einem dumpfen
Schrecken erfasst fühlte.

Notgedrungen musste er sich schonen und diese fürchterlichen Reizmittel
vermeiden. Ebenso vermochte er nicht mehr ungestraft sein rotes
Vorzimmer zu besichtigen und sich an dem Anblick der Unheimlichkeiten
Odilon Redons und den Martern Jan Luykens zu berauschen.

Und doch schien ihm, wenn er in dieser Geistesverfassung war, jede
Litteratur ungeniessbar nach diesem amerikanischen Poeten.

Er wendete sich dann wohl zu Villiers de l'Isle-Adam, in dessen
zerfahrenem Werke er wohl noch Anreizendes fand, das ihn jedoch nicht
mehr wirklich packte, mit Ausnahme allerdings seiner Claire Lenoir,
einem wahrhaft beunruhigenden Scheusal.

Es existierte wohl kein anderes Buch in Frankreich in diesem Stil des
ernsten und zugleich herben Spottes, ausser der Novelle von Charles
Cros: »la science de l'amour«. Diese konnte noch durch ihren stichelnden
Humor und ihre kalt spasshaften Beobachtungen auffallen, aber das
Vergnügen war nur relativ, denn die Ausführung liess alles zu wünschen
übrig.

»Mein Gott! mein Gott! giebt es doch wenig Bücher, die man zweimal lesen
kann,« seufzte der Herzog, seinem Diener zusehend, der vom Schemel
herunterstieg, indem er zur Seite ging, damit der Herzog alle Fächer
überblicken konnte.

Herzog Jean nickte Genehmigung mit dem Kopfe. Es blieben nur noch zwei
dünne Einbände auf dem Tische. Eine Handbewegung verabschiedete den
alten Diener. Er ergriff eines der Bücher, das in Eselshaut gebunden
war, eingehüllt in eine Schutzdecke aus altem chinesischen Seidenstoff,
der verblasst war und den Reiz verblasster Stoffe hatte, wie sie
Mallarmé in einem entzückenden Gedichte rühmte.

Das Buch bestand aus nur neun Seiten und enthielt Auszüge aus Mallarmés
ersten beiden Büchern. Sie waren auf Pergament gedruckt und unter dem
Titel: »Einige Verse von Mallarmé« vereinigt. Sie waren von einem
geschickten Kalligraphen in goldenen und farbigen Buchstaben mit der
Hand im Stil der alten Handschriften gemalt.

Einige dieser Stücke interessierten ihn, aber besonders ein Bruchstück
der Herodias wusste ihn in gewissen Stunden wie durch einen Zauber zu
bannen.

Wie oft hatte er sich nicht des Abends unter der Lampe, die mit ihrem
gedämpften Licht das stille Zimmer beleuchtete, hingerissen gefühlt von
dieser Herodias, die in dem Bilde Gustav Moreaus, das jetzt im Schatten
hing, nur noch die undeutlichen Umrisse ihres Körpers durch ihren Behang
von Edelsteinen durchblicken liess.

Die Dunkelheit unterdrückte das Leben, dämpfte die Reflexe und den
goldigen Hintergrund, warf Schatten auf den Tempel, bedeckte die
Nebenpersonen, begrub sie in ihren toten Farben, und nun das Weisse des
Bildes verschwand, liess sie das Weib aus ihrem Juwelenbehang noch
leuchtender heraustreten und sie noch nackter erscheinen.

Unwillkürlich hob er zu ihr das Auge empor, erkannte sie in ihren
unvergesslichen Umrissen und sie wurde wieder lebendig und rief auf
ihren Lippen die seltsamen und süssen Verse wach, die ihr Mallarmé
eingiebt.

Er liebte diese Verse, wie er die Werke dieses Dichters liebte, der im
Jahrhundert des allgemeinen Wahlrechts und in einer Zeit der Geldgier
abseits vom litterarischen Wege lebte, geschützt durch seine Verachtung
vor der ihn umgebenden Dummheit. Er gefiel sich, fern von dem Treiben
der Welt in dem wechselnden Spiel des Verstandes, in den Visionen des
Gehirns, indem er noch mit den schon an sich gekünstelten Gedanken
jonglierte und ihnen byzantinische Lichterchen aufsetzte.

Von allen Formen der Litteratur war die des Gedichtes in Prosa
diejenige, die der Herzog am meisten liebte. Von einem Genie gehandhabt,
musste sie in ihrem kleinen Raum die Gewalt eines Romans, dessen
zergliederte Längen und beschreibende unnütze Wiederholungen sie
wegliess, einschliessen.

Schon oft hatte der Herzog über das grosse Problem nachgegrübelt, einen
Roman in wenige Sätze zusammengedrängt zu schreiben, die die
kondensierte Last von hunderten von Seiten enthielten. Dann würden die
gewählten Worte an ihrem richtigen Platze stehen, so, dass man keines
umstellen könnte.

Der auf diese Weise abgefasste Roman, in eine oder zwei Seiten
zusammengedrängt, würde eine Gedankenübereinstimmung zwischen dem
Dichter und dem idealen Leser, eine geistige Zusammenarbeit zwischen
wenigen auserwählten Personen, die in der Welt zerstreut sind, ein nur
wenigen Feinsinnigen zugänglicher Genuss werden.

Mit einem Wort, das Gedicht in Prosa stellte für den Herzog den Extrakt
der Litteratur, das Rückgrat der Kunst vor.

Dieser auf ein Minimum kondensierte Extrakt existierte schon bei
Baudelaire und ebenfalls in den Gedichten von Mallarmé, den er mit
tiefem Entzücken in sich sog.

Als er dieses letzte Buch zuklappte, sagte sich der Herzog, dass sich
jetzt wohl seine Bibliothek nie mehr vermehren würde.




                          FÜNFZEHNTES KAPITEL.


Die nervöse Verdauungsschwäche zeigte sich von neuem. Das neue Mittel
brachte eine solche Reizung in seinem Magen hervor, dass der Herzog so
schnell wie möglich mit seinem Gebrauch aufhören musste.

Die Krankheit nahm ihren gewöhnlichen Verlauf; unbekannte Erscheinungen
begleiteten sie. Nach den Alpdrücken, den Geruchseinbildungen,
Gesichtsstörungen, dem harten, hartnäckigen Husten, dem Klopfen der
Pulsadern und des Herzens, dem kalten Schweiss traten Täuschungen des
Gehörs ein, Verschlimmerungen, die sich nur in der letzten Periode des
Übels zu zeigen pflegen.

Von einem hitzigen Fieber verzehrt, hörte der Herzog plötzlich ein
Wasserrauschen, das Summen von Bienenschwärmen; dann verschmolzen diese
Geräusche zu einem einzigen zusammen, das dem Schnarren einer Drehbank
ähnelte. Dieses Schnarren wurde nach und nach schwächer und löste sich
in hellen Glockenklängen auf.

Bald fühlte er sein fieberndes Hirn wie emporgetragen in musikalischen
Wellen, eingehüllt in den mystischen Taumel seiner Kindheit.

Die bei den Jesuiten erlernten Gesänge fielen ihm wieder ein, durch sie
wieder das Pensionat und die Kapelle, in dem sie erklangen.

Bei den Patern wurden die religiösen Feierlichkeiten mit grosser Pracht
ausgeführt; ein vortrefflicher Organist und ein ausgezeichneter
Chorknabengesang machten diese religiösen Übungen zu einem
künstlerischen Genuss, der dem Kultus zu gute kam.

Der Organist war in die alten Meister verliebt und bei hohen Festtagen
spielte er Messen von Palestrina und Orlando Lasso, Psalmen von
Marcello, Oratorien von Händel, Motetten von Sebastian Bach und trug
gerne des Paters Lambilottes weiche und leichte Kompositionen vor, wie
auch die »Laudi spirituali« des sechzehnten Jahrhunderts, deren
priesterliche Weihe den jungen Herzog oft entzückt hatte.

Besonders aber empfand er eine unbeschreibliche Wonne beim Hören des
einstimmigen Kirchengesangs, den der Organist beibehalten hatte.

Die jetzt für veraltet und altertümelnd geltende Liturgie war das Wort
und der Geist der antiken Kirche, die Seele des Mittelalters; es war das
ewig gesungene Gebet, nach den Begeisterungen der Seele harmonisiert,
eine beständige Hymne, die seit Jahrhunderten zu dem Allerhöchsten
hinaufgesandt wurde.

Diese traditionelle Melodie war die einzige, die sich mit ihrem
mächtigen Gleichklang, ihren feierlich massiven Harmonieen den
Quadersteinen der alten Basiliken anpasste und die römischen Gewölbe
ausfüllte.

Wie oft war der Herzog nicht ergriffen und niedergedrückt gewesen von
dem unwiderstehlichen Hauch, als der »Christus factus est« des
gregorianischen Gesanges zu dem Kirchenschiff emporstieg, dessen Pfeiler
unter den schwebenden Wolken des Weihrauchkessels zu zittern schienen;
oder wenn die einförmige Melodie des »De profundis« klagend ertönte,
traurig wie ein Schluchzen, durchdringend wie der verzweifelte Ruf der
Menschheit, die ihr sterbliches Schicksal beweint, die rührende
Barmherzigkeit ihres Erlösers anfleht!

Im Vergleich zu diesem prachtvollen Gesang, den kein Einzelner, sondern
der Genius der Kirche geschaffen, unpersönlich, namenlos wie die Orgel
selbst, deren Erfinder unbekannt ist, schien ihm jede religiöse Musik
profan.

Dagegen war in allen den Werken Jomellis und Porporas, Carissimis und
Durantes, in den bewundernswürdigsten geistigen Schöpfungen von Händel
und Bach keine Verzichtleistung auf einen öffentlichen Erfolg, keine
Aufopferung einer Kunstwirkung, keine Entsagung des menschlichen Stolzes
zu finden.

Höchstens in der imposanten Hochamtsmusik von Lesueur bestätigte sich
der religiöse Stil ernst und streng und näherte sich der erhabenen
Majestät des alten Chorals.

Übrigens waren die Ideen des Herzogs in absolutem Widerspruch mit den
Theorieen, die er in Bezug auf alle andern Künste bekannte. Was die
religiöse Musik anbelangte, so billigte er eigentlich nur die
klösterliche Musik des Mittelalters, diese abgezehrte Musik, die
instinktmässig auf die Nerven wirkt. Dann gestand er auch selbst zu,
dass er unfähig war, die Schliche zu verstehen, die die Meister der
Gegenwart in der katholischen Kunst eingeführt hatten; auch hatte er die
Musik nicht mit derselben Leidenschaft studiert, mit der er sich zur
Malerei und zu den litterarischen Wissenschaften hingezogen fühlte.

Er spielte wie der erste beste Klavier, war nach längerem Studium
imstande, eine Partitur zu entziffern, aber er verstand nichts von der
Harmonie und der nötigen Technik, um wirklich eine Feinheit zu schätzen
und mit Sachverständnis zu geniessen.

Mit der profanen Orchestermusik konnte er sich nicht befreunden, weil
man sie nicht bei sich allein hören kann, wie man ein Buch zu lesen
pflegt. Um sie zu geniessen, hätte er sich unter dieses immer gleiche
Publikum mischen müssen, das die Theater füllt und den Winter-Cirkus
belagert, wo man in einer Waschhausatmosphäre einen Menschen bewundert,
welcher in der Luft herumfuchtelt und aus Wagner herausgerissene
Episoden zur ungeheuren Freude eines unwissenden Haufens grausam zu Tode
hetzt.

Er hatte nicht den Mut gehabt, sich in dieses Volksbad zu tauchen, um
Berlioz zu hören, von dem ihn indessen einige Bruchstücke durch ihre
leidenschaftliche Begeisterung und ihr schwungvolles Feuer gefangen
genommen hatten; und er sah auch ein, dass keine Scene, ja selbst nicht
mal ein Satz einer Oper des wunderbaren Wagner aus ihrem Gefüge
ungestraft losgelöst werden durfte.

Und deshalb war der Herzog auch der Meinung, dass von diesem Haufen von
Musikfreunden, die des Sonntags ausser sich gerieten, kaum zwanzig die
Partitur kannten, die man verhunzte.

Die bekanntere, leichtere Musik und die unabhängigen Stücke der alten
Opern fesselten ihn sehr wenig; die leichten Piècen von Auber und
Boïeldieu, Adam und Flotow und die Banalitäten eines Ambroise Thomas und
Bazin widerten ihn in gleichem Masse an, wie die veralteten Zierereien
und die pöbelhaften Reize der Italiener.

Er hatte sich deshalb von der Musik fern zu halten entschlossen und seit
den Jahren dieser seiner Enthaltung erinnerte er sich nur gewisser
Kammermusik-Soiréen, in denen er Beethoven und besonders Schumann und
Schubert gehört hatte, die seine Nerven derart zermürbt hatten wie die
innigsten und qualvollsten Dichtungen Edgar Poës.

Gewisse Partieen für Violoncello von Schumann hatten ihn ganz atemlos
gelassen; es waren besonders die Lieder von Schubert, die ihn vor
Entzücken ausser sich gebracht hatten.

Diese Musik drang in sein tiefstes Inneres und machte sein Herz erbeben
wie von vergessenen Leiden alter Melancholie; und er fühlte sich ganz
betäubt, plötzlich so viel wirres Elend und unbestimmten Schmerz zu
empfinden.

Diese Musik der Verzweiflung, die aus dem Tiefsten des Seins aufschrie,
entsetzte und entzückte ihn zugleich. Niemals hatte er »des Mädchens
Klage« hören können, ohne dass ihm nicht nervöse Thränen in die Augen
stiegen, denn es war in diesem Klagelied mehr als Betrübnis, etwas
Entrissenes, das ihm das Herz zerwühlte, wie das Sterben eines Lieben in
einer düsteren, öden Landschaft.

Und immer wieder, wenn ihm diese entzückend traurigen Klagen über die
Lippen kamen, riefen sie in ihm diese einsame Landschaft wach, in der
geräuschlos in der Ferne vom Leben abgehetzte Menschen in der Dämmerung
verschwanden. Er fühlte sich dann in dieser trostlosen Natur so allein,
durch Herzeleid und Widerwillen verbittert, von einer namenlosen
Melancholie erdrückt, von einer tödlichen Herzensangst erfasst, deren
geheimnisvolle Macht jeden Trost, jedes Mitleid, jede Ruhe ausschloss.

Gleich einem Totengeläute verfolgte ihn dieser verzweiflungsvolle
Gesang, jetzt, wo er durch Fieber vernichtet darniederlag, von toller
Angst erregt, die zu beschwichtigen ihm um so weniger gelang, als er
deren Ursache nicht erkannte.

Er überliess sich schliesslich dem Spiel der Wellen. Des Kampfes müde,
liess er sich von dem Strom der Angst hin und her werfen, der sich in
klagenden Tönen durch seinen schmerzenden Kopf und stechende Schläfe
ergoss.

Eines Morgens hörte aber dieses Singen und Klingen auf; der Herzog war
wieder seiner mächtig und ersuchte den Diener, ihm einen Spiegel zu
bringen. Vor Entsetzen glitt ihm dieser fast aus der Hand; er erkannte
sich kaum wieder.

Sein Gesicht hatte eine Erdfarbe angenommen, die Lippen waren
aufgedunsen und trocken, die Zunge welk, die Haut runzelig. Sein Haar
und Bart, seit seiner Krankheit nicht geschnitten, erhöhten noch das
Entsetzliche seines eingefallenen Gesichtes mit den hohlen,
verschwommenen Augen, die im Fieberglanz in seinem borstigen Schädel
brannten.

Mehr als seine Schwäche, als seine Erbrechungen, die jeden Versuch von
Nahrung zurückwiesen, mehr als dieser Marasmus, in dem er steckte,
erschreckte ihn diese Veränderung seines Äussern.

Er glaubte sich verloren; doch trotz der Ermattung, die ihn
niederdrückte, richtete ihn die Energie eines gehetzten Menschen
plötzlich auf und gab ihm die Kraft, einen Brief an seinen Arzt in Paris
zu schreiben und seinem Diener zu befehlen, denselben auf der Stelle
aufzusuchen und ihn um jeden Preis sofort herzuschaffen.

Sein vollständiges Sichgehenlassen ging in plötzliche Hoffnung über;
denn dieser Arzt war ein berühmter Spezialist, ein Doktor, bekannt durch
seine Kuren nervöser Krankheiten.

»Er hat sicher schon eigensinnigere und gefährlichere Fälle als den
meinen behandelt,« sagte sich der Herzog; »er wird mich zweifellos in
einigen Tagen wieder auf die Beine bringen.«

Dann aber folgte diesem Vertrauen eine vollständige Hoffnungslosigkeit.

»So gelehrt, so geschickt sie auch sein mögen, von Nervenleiden
verstehen die Ärzte nichts, ja sie kennen nicht einmal ihren Ursprung.
Wie alle anderen wird auch dieser mir das ewige Zinkoxyd, Chinarinde,
Bromkali und Baldrian verschreiben.«

»Aber wer weiss,« fuhr er dann fort, sich an eine letzte Hoffnung
klammernd, »wenn mir diese Mittel bis jetzt nicht geholfen haben, so
kommt es vielleicht daher, dass ich sie nicht in richtiger Dosis
gebraucht habe.«

Trotz alledem aber gab ihm die Erwartung einer möglichen Linderung schon
neuen Lebensmut.

Dann befiel ihn die neue Befürchtung, ob sich der Arzt in Paris befände
und sich hierher bemühen würde. Und wieder überwältigte ihn die Furcht,
dass der Diener ihn nicht antreffen könnte.

Er fühlte aufs neue seine Kräfte schwinden, er ging von einer Sekunde
zur andern von tollster Hoffnung zur wahnsinnigsten Angst über,
übertrieb die Aussichten plötzlicher Heilung, wie die Befürchtungen
einer nahen Gefahr. So verflossen die Stunden und der Augenblick kam, wo
es zu Ende war mit seiner Kraft, wo er an dem Kommen des Arztes
verzweifelte und sich wütend sagte, dass er sicherlich gerettet würde,
wenn ihm rechtzeitig beigestanden worden wäre. Dann wieder verflog sein
Zorn gegen den Diener und den Arzt, die er beschuldigte, ihn sterben zu
lassen, und schliesslich raste er gegen sich selbst und warf sich vor,
so lange gewartet zu haben, um Hilfe zu holen, und bildete sich ein,
dass er jetzt geheilt sein würde, wenn er nur einen Tag früher kräftige
Arzeneien und vernünftige Pflege gehabt hätte.

Nach und nach besänftigte sich dieser Wechsel von Beunruhigungen und
neuen Hoffnungen, die sich in seinem leeren Hirn jagten. Diese
Widersprüche rieben ihn vollends auf. Er verfiel in einen Schlaf der
Ermattung, den unzusammenhängende Träume durchzogen, in eine Art von
Ohnmacht, die von bewusstlosem Erwachen unterbrochen wurde. Er hatte den
Begriff seiner Wünsche und Befürchtungen derart verloren, dass er ganz
apathisch war und kein Erstaunen und keine Freude empfand, als der Arzt
plötzlich ins Zimmer trat.

Der Diener hatte ihn jedenfalls von der Lebensweise des Herzogs
unterrichtet und auch von den verschiedenen Symptomen, die er selbst
beobachtet hatte seit dem Tage, als er seinen Herrn nahe dem Fenster,
von der Heftigkeit der Parfüms ohnmächtig, aufgehoben hatte; denn der
Arzt stellte nur wenige Fragen an den Kranken, dessen Verhältnisse er
übrigens seit Jahren kannte. Er untersuchte ihn, klopfte und horchte an
ihm herum und prüfte aufmerksam den Urin, in welchem ihm gewisse weisse
Streifen eine der ausgesprochensten Ursachen des Nervenleidens
offenbarten.

Er schrieb ein Rezept, und ohne noch etwas hinzuzufügen, ging er fort,
seine baldige Rückkehr zusagend.

Dieser Besuch tröstete den Herzog, den jedoch das Schweigen sehr
befremdete, und er beschwor seinen Diener, ihm nicht länger die Wahrheit
vorzuenthalten. Dieser bestätigte ihm, dass der Arzt keinerlei
Beunruhigung an den Tag gelegt hätte, und so misstrauisch auch Herzog
Jean war, er fand kein Anzeichen, welches eine Lüge auf dem ruhigen
Gesicht des alten Mannes verriet.

Bald heiterten sich seine Gedanken auf; überdies waren seine Leiden
verstummt und zu der Schwäche, die er in allen Gliedern verspürte,
gesellte sich eine gewisse Sanftheit, eine gewisse Wohligkeit, leise und
unbestimmt. Und endlich war er ganz zufrieden, nicht mit Arzeneien und
Flaschen überbürdet zu sein. Ein schwaches Lächeln glitt um seine
blassen Lippen, als der Diener ein mit Pepton gemischtes Klystier
brachte und ihm bedeutete, dass er dasselbe dreimal in vierundzwanzig
Stunden wiederholen müsse.

Es müsste köstlich sein, dachte er, wenn man bei voller Gesundheit
dieses einfache Mittel fortsetzen könnte! Welch eine Ersparnis an Zeit,
welch eine radikale Erlösung der Abneigung, welche das Fleisch den
Leuten ohne Appetit einflösst! Welch endgültige Befreiung des
Überdrusses, der immer aus der notgedrungen beschränkten Wahl der
Speisen sich ergiebt! Welch energische Verwahrung gegen die gemeine
Sünde der Gefrässigkeit!

Einige Tage darauf brachte der Diener ein Klystier, dessen Farbe und
Geruch anders war als das von Pepton.

»Aber das ist ja nicht dasselbe!« rief der Herzog aus, der sehr
aufgeregt war über die in das Instrument gegossene Flüssigkeit.

Er verlangte wie in einem Restaurant die Karte, und das Rezept des
Arztes entfaltend las er:

                       Leberthran      20  Gramm
                       Kraftbouillon  200  Gramm
                       Burgunderwein  200  Gramm
                       Eigelb           1  Gramm.

Aber er brauchte bald nicht mehr über die nährenden Flüssigkeiten
nachzudenken, denn es gelang dem Arzt, nach und nach die Erbrechungen zu
bezwingen und ihm auf gewöhnlichem Wege einen süsslichen Punsch mit
Fleischpulver gemischt beizubringen, dessen unbestimmtes Aroma von Kakao
seinem Mund zusagte.

Wochen vergingen, und sein Magen entschloss sich endlich wieder zu
arbeiten; zu gewissen Zeiten kam die Übelkeit noch wieder, die indessen
durch das Ingwerbier und durch eine Arzenei von der Riviera
eingeschränkt wurde.

Schliesslich kräftigten sich auch nach und nach die Organe wieder, und
mit Hilfe der Pepsine konnte er wirkliches Fleisch verdauen. Die Kräfte
nahmen zu, und bald konnte der Herzog schon in seinem Zimmer aufrecht
stehen und versuchen zu gehen, sich auf einen Stock stützend und an den
Ecken der Möbel festhaltend. Anstatt sich dieses Erfolges zu freuen,
vergass er seine vergangenen Leiden, wurde gereizt über die Länge der
Rekonvalescenz und warf dem Arzt vor, dass er seine Genesung
hinauszögere.

Endlich war er so weit wieder hergestellt, dass er während ganzer
Nachmittage aufbleiben konnte und ohne Hilfe in seinem Zimmer
umherzugehen vermochte.

Jetzt ärgerte ihn sein Arbeitszimmer; Fehler, an die er sich durch die
Länge der Zeit gewöhnt hatte, fielen ihm in die Augen, als er nach
langer Zwischenzeit wieder dorthin kam.

Die Farben, die gewählt waren, um bei Licht gesehen zu werden,
erschienen ihm bei Tageslicht unharmonisch. Er dachte daran, sie zu
ändern und stellte stundenlang künstliche Farbenharmonieen zusammen.

Es ist kein Zweifel, ich bin auf dem Wege der Besserung, dachte er, die
Rückkehr zu seinen früheren Beschäftigungen und alten Liebhabereien
wahrnehmend.

Eines Morgens, während er seine orange-gelben und blauen Wände
betrachtete und dabei von den idealen Wandbekleidungen träumte, die aus
griechischen Kirchenstolas, russischen Messgewändern in Goldstoff,
Chormänteln aus Brokat, mit slavonischen Buchstaben gemustert, aus
Edelsteinen des Ural und aus Reihen Perlen gebildet waren, trat der Arzt
ins Zimmer, und die Blicke seines Kranken beobachtend, erkundigte er
sich nach seinem Befinden.

Der Herzog teilte ihm seine unausführbaren Wünsche mit und fing an, neue
Farbenmischungen vor ihm zu entwickeln, von Paarungen und Auflösungen
der Nüancen zu sprechen, als ihm der Arzt einen energischen Dämpfer
aufsetzte und ihm in einer keinen Widerspruch duldenden Weise erklärte,
dass er jedenfalls nicht in dieser Wohnung seine Pläne zur Ausführung
bringen werde.

Und ohne ihm die Zeit zu einer Entgegnung zu lassen, setzte er ihm
auseinander, dass er zuerst zum wichtigsten geschritten sei, indem er
die Verdauungsfunktionen wieder hergestellt habe, und dass er jetzt das
Nervenleiden selbst in Behandlung nehmen müsse, das keineswegs geheilt
sei und Jahre der Schonung und Pflege erfordere.

Er fügte hinzu, dass, bevor er irgend ein Mittel versuchen oder eine
Kaltwasserkur anfangen könne, was ausserdem in Fontenay unmöglich sei,
er diese Zurückgezogenheit aufgeben, nach Paris zurückkehren, in das
allgemeine Leben wieder eintreten und endlich versuchen müsse, sich wie
jeder andere Mensch zu zerstreuen.

»Aber die Vergnügungen der Anderen zerstreuen mich nicht!« rief der
Herzog empört aus.

Ohne sich in Diskussion einzulassen, versicherte der Arzt einfach, dass
die gänzliche Lebensveränderung in seinen Augen eine Lebensfrage wäre.

»Das heisst also der Tod oder die Galeerenstrafe!« rief der Herzog
erbittert aus.

Der Arzt, von allen Vorurteilen eines Weltmannes durchdrungen, lächelte
und schritt ohne zu antworten der Thür zu.




                          SECHZEHNTES KAPITEL.


Der Herzog hatte sich in seinem Schlafzimmer eingeschlossen und sich die
Ohren verstopft, um nicht die Hammerschläge zu hören, die vom Zunageln
der Packkisten, die die beiden alten Diener fertig machten,
herüberhallten. Jeder Schlag traf sein Herz und schlug ihm eine tiefe
Wunde ins volle Fleisch.

Der Ausspruch des Arztes verwirklichte sich. Die Furcht, nochmals die
Schmerzen, die er ertragen hatte, durchmachen zu müssen und die Angst
vor einem grässlichen Todeskampf hatten mächtiger auf den Herzog
gewirkt, als der Hass der niederträchtigen Existenz, zu welcher ihn das
Urteil des Arztes verdammte.

»Und doch giebt es Leute,« murmelte er, »die zurückgezogen leben, ohne
mit jemand zu sprechen, die sich fern von der Welt verzehren, so wie die
Zuchthäusler und die Trappisten, und nichts beweist, dass diese
Unglücklichen, wie auch die Weisen wahnsinnig oder schwindsüchtig
werden.«

Er hatte diese Beispiele dem Doktor ohne Erfolg angeführt. Dieser hatte
ihm in trocknem Ton wiederholt, der keine Einrede zuliess, dass seine
Ansicht, die übrigens durch die Ansicht aller Krankheitsbeschreiber des
Nervenleidens bestätigt wurde, dass allein Zerstreuung, Vergnügen,
Freude auf die Krankheit Einfluss haben könnte, die richtige wäre.
Ungeduldig gemacht durch die Gegenklagen seines Kranken, hatte er ein
für allemal erklärt, dass er sich weigere, seine Behandlung
fortzusetzen, wenn er nicht einwillige, die Luft zu wechseln und nach
den neuen Vorschriften der Gesundheitslehre zu leben.

Herzog Jean hatte sich nach Paris begeben und andere Specialisten zu
Rate gezogen, ihnen unparteiisch seinen Fall vorgelegt, und nachdem alle
ohne Zögern die Verschreibungen ihres Fachgenossen gebilligt, hatte er
eine leere Wohnung in einem neuen Hause gemietet, war nach Fontenay
zurückgekehrt und hatte, ausser sich vor Wut, den alten Dienern
befohlen, die Koffer zu packen.

Tief in seinen Sessel gedrückt, grübelte er jetzt über die Wandlung
nach, die seine Pläne umstürzte, die die Neigungen seines jetzigen
Lebens zerstörte, seine zukünftigen Projekte begrub. Er musste diesen
Hafen, der ihn schützte, verlassen, wieder von neuem in den Sturm von
Albernheiten hinaustreten, der ihn früher niedergeworfen hatte!

Die Ärzte sprachen von Vergnügungen, Zerstreuungen; ja aber mit wem und
womit sollte er sich denn erheitern und zerstreuen?

Hatte er sich nicht selbst aus der Gesellschaft gestossen? Kannte er
einen Menschen, der es versuchen möchte, so wie er sich in Betrachtungen
zu verbannen, sich in Träumereien zu verlieren? Kannte er auch nur einen
Menschen, der imstande war, den Scharfsinn eines Satzes, die Feinheit
einer Malerei, die Quintessenz eines Gedankens zu schätzen, einen
Menschen, dessen Seele fein genug war, einen Mallarmé zu verstehen,
einen Verlaine zu lieben?

Wo, wann und in welcher Gesellschaft sollte er suchen, einen
Geistesgenossen zu finden, einen Geist, abgesondert von allen
Gemeinplätzen, der das Schweigen wie eine Wohlthat, den Undank wie eine
Erleichterung, das Misstrauen wie einen Schutz, wie einen Hafen segnete?
In der Welt, in der er vor seiner Abreise nach Fontenay gelebt hatte? --
Die meisten dieser Junker, mit denen er verkehrt, hatten sich seit jener
Zeit noch mehr in den Salons verdummt, waren noch mehr an den
Spieltischen versumpft, an den Küssen der Dirnen noch mehr verliedert.
Die meisten mochten sogar verheiratet sein.

»Welch hübscher Wechsel, welch schöner Tausch war doch diese von der
sonst so prüden Gesellschaft angenommene Gewohnheit!« träumte der Herzog
vor sich hin.

War denn nicht auch der alte Adel in Fäulnis geraten? War die
Aristokratie nicht dem Stumpfsinn und der Versumpfung anheimgefallen?
Sie erlosch in der Herabgekommenheit ihrer Nachkommen, deren Fähigkeiten
bei jeder Generation schwächer wurden und deren Gorilla-Instinkte eines
Stallknechtes und Jockeys würdig waren.

Die Klöster waren in Apotheken und Likörfabriken verwandelt. Sie
verkauften Rezepte oder machten sie selbst: der Orden der Cistercienser
zum Beispiel Schokolade; Trappisten Nudeln und aromatische
Weingeistarnika; die Dominikanermönche fabrizierten gegen den
Schlagfluss wirkende Elixiere; die Jünger des heiligen Benedikt
Benediktiner-Likör; die Mönche des heiligen Bruno Chartreuse.

Der Handel hatte die Klöster überschwemmt: statt der Chorbücher standen
grosse Handels-Register auf den Kirchenpulten. Dem Aussatze gleich
zerstörte die Gier die Kirche, sie beugte die Mönche über die Inventuren
und Rechnungen, verwandelte die Kirchenväter in Zuckerbäcker und
Quacksalber, die Laienbrüder und Klosterdiener in gewöhnliche Packer und
Krukenverschliesser.

Und dennoch waren es nur noch die Geistlichen, bei denen der Herzog
Verbindungen erhoffen konnte, die bis auf einen gewissen Grad seinem
Geschmack gleichkamen. In der Gesellschaft der Stiftsherren, im
allgemeinen gelehrt und wohlerzogen, würde er einige angenehme und
interessante Abende verbringen können. Aber dazu war es nötig, dass er
ihren Glauben teilte, dass er nicht zwischen skeptischen Ideen und
Überzeugungssprüngen schwankte, die von Zeit zu Zeit, durch die
Erinnerungen seiner Kindheit unterstützt, auftauchten.

Er hätte identische Meinungen hegen müssen und nicht, wie er es gern in
den Augenblicken der Erregung that, einen mit etwas Magie gesalzenen
Katholizismus anerkennen dürfen.

Dieser besondere Klerikalismus, dieser verderbte und künstlich
lasterhafte Mystizismus, auf welchen er in gewissen Stunden lossteuerte,
konnte sogar mit einem Priester nicht besprochen werden, der ihn nicht
begriffen und ihn sofort mit Entsetzen verbannt haben würde.

Zum zwanzigsten Mal erregte ihn dies unlösliche Rätsel. Er hätte
gewünscht, dass dieser argwöhnische Zustand, gegen den er vergeblich in
Fontenay gekämpft hatte, ein Ende nähme, jetzt, wo er aus sich
herausgehen sollte; er hätte sich zwingen mögen, den wahren Glauben zu
besitzen, sich ihn tief einzuprägen, sobald er ihn halten würde, ihn mit
Klammern in seiner Seele zu befestigen, ihn endlich in Sicherheit zu
bringen vor allen Grübeleien, die ihn schwankend machten.

»Könnte man doch jedes Grübeln aufgeben!« murmelte der Herzog mit einem
schmerzlichen Seufzer; »man müsste die Augen schliessen können, sich
durch die Strömung forttreiben lassen und diese verfluchten Entdeckungen
vergessen können, die das religiöse Gebäude seit zwei Jahrhunderten von
oben bis unten erschüttert haben.«

»Und noch dazu sind es nicht einmal die Ungläubigen, noch die
Physiologen,« seufzte er, »die den Katholizismus niederreissen; es sind
die Priester selbst, deren ungeschickte Werke die hartnäckigsten
Überzeugungen ausrotten können.

Hatte sich nicht ein Doktor der Theologie, ein Predigerbruder, der
hochwürdige Pater Rouard de Card, erdreistet, in einer Broschüre: >Die
Fälschungen der sakramentalen Substanzen< unumstösslich zu beweisen,
dass der grösste Teil der Messen aus dem Grunde nicht gültig war, weil
die dem Kultus dienenden Stoffe durch die Verkäufer gefälscht waren?«

Seit Jahren waren die heiligen Öle mit Hühnerfett, das Wachs mit
verkalkten Knochen, das Weihrauch mit gewöhnlichem und altem Benzoeharz
verfälscht worden.

Aber was noch schlimmer, war, dass Substanzen, die dem heiligen Opfer
unentbehrlich waren, verfälscht wurden; der Wein durch mannigfaltiges
Verschneiden, durch unerlaubte Einführung von Fernambukoholz,
Attichbeeren, Alkohol, Alaun, Salicylsäure, Bleiglätte; das Brot, dies
Brot des heiligen Abendmahls, das aus dem feinsten Weizen geknetet
werden soll, durch Erbsenmehl, Pottasche und Pfeifenerde.

Ja man war noch weiter gegangen, man hatte gewagt, das Korn vollständig
wegzulassen und schamlose Händler fabrizierten fast alle Hostien aus
Kartoffelmehl!

Ach! die Zeit war fern, wo Radegonde, Königin von Frankreich, selbst das
für den Altar bestimmte Brot bereitete, wo nach den Gebräuchen von Cluny
drei Priester oder drei Diakonen, nüchtern, mit weissem Chorhemd und
Achseltüchern bekleidet, sich das Gesicht und die Hände wuschen und den
Weizen Korn für Korn aussuchten, ihn unter dem Mühlstein zermalmten, den
Teig in kaltem reinen Wasser kneteten und ihn selbst auf einem hellen
Feuer backten und Psalme dabei sangen!

Diese Betrachtungen verdüsterten noch mehr die Aussicht auf sein
künftiges Leben und färbten seinen Horizont noch drohender und dunkler.

Wahrlich, ihm blieb keine Rhede, kein Ufer offen! Was würde aus ihm
werden in diesem Paris, wo er weder Familie noch Freunde besass? Kein
Band verknüpfte ihn mehr mit dem Faubourg Saint-Germain, das vor
Altersschwäche zitterte, sich im Staub des Verfalls abbröckelte und in
einer neuen Gesellschaft wie eine zerbrochene, leere Schale dalag!

Und welch eine Verbindung konnte zwischen ihm und der bürgerlichen
Klasse existieren, die nach und nach emporgestiegen war, die Vorteil aus
allen Missgeschicken zog, um sich zu bereichern?

Nach der Aristokratie der Geburt war es jetzt die Geldaristokratie, der
Despotismus des Handels mit feilen und engherzigen Ideen, eitlen und
schurkischen Instinkten.

Gemeiner, ruchloser als der entartete Adel und die gesunkene
Geistlichkeit war das Bürgertum, das ihnen ihre eitlen Prahlereien, ihre
einfältige Ruhmredigkeit entlehnte, die es durch seinen Mangel an
Lebensart erniedrigte, während es ihre Fehler in heuchlerische Laster
verwandelte. Und wie herrisch und tückisch, wie niedrig und feige schoss
es mitleidslos auf seinen ewigen und doch unentbehrlichen Geprellten,
den Pöbel, seine Kartätschen ab, dem es selbst den Maulkorb abgenommen
und entmündigt hatte, um den alten Ständen den Garaus zu machen.

Das war jetzt eine abgemachte Thatsache. Nun, wo seine Arbeit gethan,
hatte man gesundheitshalber den Pöbel bis aufs Blut geschröpft; und der
nun beruhigte Bürger herrschte vergnügt durch die Macht des Geldes und
die Ansteckung seiner Dummheit.

Die Folge seiner Erhebung war die Vernichtung aller Intelligenz, die
Verneinung aller Rechtschaffenheit, der Tod jeder Kunst. So lagen die
verächtlichen Künstler auf den Knieen und küssten inbrünstig die Füsse
der hohen Pferdehändler und gemeinen Satrapen, deren Almosen sie
ernährte!

Es war über die Malerei eine Sintflut von kraftlosen Albernheiten, in
der eine Völlerei glatten Stils und feiger Ideen herrschte,
hereingebrochen. Denn der Geschäftsintrigant will Rechtschaffenheit; der
Freibeuter will Tugend; wer nach einer Mitgift für seinen Sohn jagt,
sträubt sich, sie für seine Tochter zu zahlen; der Anhänger Voltaires
sucht keusche Liebe; wer die Geistlichkeit der Notzucht beschuldigt,
treibt sich dumm und heuchlerisch in den unordentlichen Zimmern der
Dirnen herum.

Es war die grosse Galeere Amerikas, die nach Europa verschlagen war. Es
war die ungeheure und unerhörte Anmassung des Geldmenschen und
Emporkömmlings, die wie eine gemeine Sonne über die götzendienerische
Stadt strahlte, die im Staube vor dem ruchlosen Tabernakel der
Bankhäuser zotige Gesänge ausstösst.

»Stürze doch zusammen, Gesellschaft! Stirb doch, alte Welt!« rief der
Herzog empört über das gemeine Schauspiel, das er heraufbeschwor; dieser
Schrei brach den Alp, der ihn bedrückte.

»Ach!« seufzte er, »und sich sagen zu müssen, dass dies alles kein Traum
ist! Dass ich wieder in das schändlich gemeine Gewühl des Jahrhunderts
hineingeworfen werde!« Um sich zu beschwichtigen, rief er die tröstenden
Lebensregeln Schopenhauers zu Hilfe; er wiederholte sich den
schmerzlichen Grundsatz Pascals: »Die Seele sieht nichts, was sie nicht
betrübt, wenn sie daran denkt.« Aber die Worte hallten in seinem Gehirn
wider wie Laute ohne Sinn; sein Verdruss zersplitterte sie, entzog ihnen
jede Bedeutung, jede beruhigende Wirkung, jede wirkliche und sanfte
Kraft.

Er sah schliesslich ein, dass die Beweisgründe des Pessimismus
ohnmächtig waren ihn zu erleichtern, dass der unmögliche Glaube an ein
zukünftiges Leben allein beruhigend wirken würde.

Ein Wutausbruch fegte gleich einem Orkan seine Versuche der Entsagung
und der Gleichgültigkeit hinweg. Er konnte es sich nicht mehr verhehlen,
es gab nichts, garnichts mehr. Alles war vernichtet!

Würde der schreckliche Gott der Schöpfung und der blasse Losgenagelte
von Golgatha nicht einmal wirklich zeigen, dass er existierte, nicht die
Sintfluten wieder erneuern, die Flammenregen wieder anzünden, die einst
die verdammten und toten Städte verzehrt hatten!?

Würde dieser Schlamm fortfahren zu fliessen und mit seinem Pesthauch die
alte Welt vergiften, wo nur noch Saaten von Frevelthaten und Ernten von
Schande aufgingen!? -- -- --

Plötzlich ging die Thür auf. In der Ferne, von den Thürpfosten umrahmt,
sah man kräftige Männer in Arbeitstracht, die grosse Kisten und Möbel
auf den breiten Nacken hinaustrugen. Dann schloss sich die Thür wieder
hinter dem alten Diener, der Packete mit Büchern geholt hatte.

Der Herzog fiel vernichtet auf einen Stuhl.

»In zwei Tagen werde ich in Paris sein,« murmelte er, »nun ist alles zu
Ende! Wie eine Springflut steigen die Wogen der menschlichen
Mittelmässigkeit bis zum Himmel und sie werden den Zufluchtsort
verschlingen, dessen Dämme ich wider meinen Willen öffnen muss. Ach! Mir
fehlt der Mut!

Jesus Christus habe Mitleid mit dem Christen, der zweifelt, mit dem
Ungläubigen, der glauben möchte, dem Sklaven des Lebens, der allein
hinaussteuert in die Nacht unter einen Himmel, an dem keine tröstenden
Sterne alter Hoffnungen mehr leuchten.«




                     Anmerkungen zur Transkription


Offensichtliche Fehler wurden stillscheigend korrigert. Weitere
Änderungen, teilweise unter Verwendung anderer Ausgaben und des
französischen Originals, sind hier aufgeführt (vorher/nachher):

   [S. 70]:
   ... spärlicher. Indessen war das sechzehnte Jahrhundert ...
   ... spärlicher. Indessen war das sechste Jahrhundert ...

   [S. 133]:
   ... der ihn den Kopf benahm, hatten sich die Nerven ...
   ... der ihm den Kopf benahm, hatten sich die Nerven ...

   [S. 149]:
   ... glaubte; einige, besonders Madame Mama, sahen ...
   ... glaubte; einige, besonders Madame Mame, sahen ...

   [S. 154]:
   ... Haaren besetztes Innere zeigend. ...
   ... Haaren besetztes Inneres zeigend. ...

   [S. 156]:
   ... ist, solche ungesunden, verdorbene Gattungen zu ...
   ... ist, solche ungesunden, verdorbenen Gattungen zu ...

   [S. 193]:
   ... Früher hatte er sich gern in Ackorde von ...
   ... Früher hatte er sich gern in Akkorden von ...

   [S. 209]: (mehrfache Fälle)
   ... Seite des Bädecker stehen, auf welcher die Museen ...
   ... Seite des Baedeker stehen, auf welcher die Museen ...

   [S. 260]:
   ... diesen öden Gedichten, dessen kaltblütige Mythologieen ...
   ... diesen öden Gedichten, deren kaltblütige Mythologieen ...

   [S. 296]:
   ... seine Mangel an Lebensart erniedrigte, während es ...
   ... seinen Mangel an Lebensart erniedrigte, während es ...








*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK GEGEN DEN STRICH ***


    

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Project Gutenberg™ is synonymous with the free distribution of
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Volunteers and financial support to provide volunteers with the
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Sections 3 and 4 and the Foundation information page at www.gutenberg.org.

Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation

The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non-profit
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state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
Revenue Service. The Foundation’s EIN or federal tax identification
number is 64-6221541. Contributions to the Project Gutenberg Literary
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The Foundation’s business office is located at 809 North 1500 West,
Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887. Email contact links and up
to date contact information can be found at the Foundation’s website
and official page at www.gutenberg.org/contact

Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation

Project Gutenberg™ depends upon and cannot survive without widespread
public support and donations to carry out its mission of
increasing the number of public domain and licensed works that can be
freely distributed in machine-readable form accessible by the widest
array of equipment including outdated equipment. Many small donations
($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
status with the IRS.

The Foundation is committed to complying with the laws regulating
charities and charitable donations in all 50 states of the United
States. Compliance requirements are not uniform and it takes a
considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
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where we have not received written confirmation of compliance. To SEND
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While we cannot and do not solicit contributions from states where we
have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
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approach us with offers to donate.

International donations are gratefully accepted, but we cannot make
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Please check the Project Gutenberg web pages for current donation
methods and addresses. Donations are accepted in a number of other
ways including checks, online payments and credit card donations. To
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Section 5. General Information About Project Gutenberg™ electronic works

Professor Michael S. Hart was the originator of the Project
Gutenberg™ concept of a library of electronic works that could be
freely shared with anyone. For forty years, he produced and
distributed Project Gutenberg™ eBooks with only a loose network of
volunteer support.

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