Gadamer, Hans-Georg
- Lebensdaten
- 1900 – 2002
- Geburtsort
- Marburg an der Lahn
- Sterbeort
- Heidelberg
- Beruf/Funktion
- Philosoph ; Hochschullehrer
- Konfession
- evangelisch-lutherisch
- Normdaten
- GND: 118537032 | OGND | VIAF: 108229357
- Namensvarianten
-
- Gadamer, Hans-Georg
- Gadamā, Hansu-Georuku
- Gadamer, Chans-Georg
- Gadamer, G.-G.
- Gadamer, Gans-Georg
- Gadamer, Georg
- Gadamer, H. G.
- Gadamer, H.-G.
- Gadamer, Hans G.
- Gadamer, Hans Georg
- Gādamā, Hansu Georuku
- Gādāmir, Hāns Giʾyūrg
- Gkantamer, Chans-Gkeornk
- Ġādāmīr, Hāns Ġiyūrġ
- Ġādāmīr, Hānz Ǧūrǧ
- Hadamer, Hans-Heorg
- Han si-Ge ao er ge Jia da mo er
- Hansi-Geao'erge Jiadamo'er
- Hansi-Geaoerge-Jiadamoer
- Jia da mo er
- Jiadamo'er
- Jiadamoer, Hansi Geaoerge
- Jiadamoer, Hansi-Geaoerge
- Kadamŏ, Hansŭ-Keorŭk'ŭ
- ガダマー, ハンス=ゲオルグ
- ハンス=ゲオルグ・ガダマー
- 伽达默尔
- Cadamŏ, Hansŭ-Ceorŭk'ŭ
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- Karl Löwith (1897–1973)
- Martin Heidegger (1889–1976)
- Nicolai Hartmann (1882–1950)
- Papst Johannes Paul II. (1920–2005)
- Paul Natorp (1854–1924)
- Richard Hönigswald (1875–1947)
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- Werner Krauss (1900–1976)
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Gadamer, Hans-Georg
1900 – 2002
Philosoph
Mit seinem Hauptwerk „Wahrheit und Methode“ (1960) wurde Hans-Georg Gadamer zum Begründer der philosophischen Hermeneutik, einer einflussreichen Strömung der Nachkriegsphilosophie. In einer zunehmend naturwissenschaftlich-technisch orientierten Welt lag ihm daran, an Wahrheitsquellen zu erinnern, die sich ihr nicht fügen und auf unserer sprachlichen Welterfahrung beruhen, so etwa die Bildung und die Kunst, die Geschichte und die Geisteswissenschaften, das Gespräch und die Philosophie.
Lebensdaten
Geboren am 11. Februar 1900 in Marburg an der Lahn Gestorben am 13. März 2002 in Heidelberg Grabstätte Friedhof Ziegelhausen Köpfel in Heidelberg-Ziegelhausen Konfession evangelisch-lutherisch -
Autor/in
→Jean Grondin (Montréal, Kanada)
-
Zitierweise
Grondin, Jean, „Gadamer, Hans-Georg“ in: NDB-online, veröffentlicht am 01.07.2023, URL: https://www.deutsche-biographie.de/118537032.html#dbocontent
Jugend und Studium
Gadamer besuchte seit 1907 das Gymnasium zum Heiligen Geist in Breslau (heute Wrocław, Polen). Nach dem Abitur 1918 immatrikulierte er sich an der dortigen Universität für Germanistik, wandte sich aber zunehmend der Philosophie zu. Seine Lehrer waren überwiegend Neukantianer, so etwa Richard Hönigswald (1875–1947), dessen „Einführung in die wissenschaftliche Philosophie“ Gadamer 1919 besuchte und von der er eine sorgfältige Nachschrift erstellte.
Mit der Berufung seines Vaters als Professor für Pharmazeutische Chemie an die Universität Marburg an der Lahn 1919 wechselte auch Gadamer dorthin. Marburg galt als Hochburg des Neukantianismus, bei dessen Repräsentanten, dem Platonforscher Paul Natorp (1854–1924), Gadamer 1922 mit der Dissertation „Das Wesen der Lust nach den platonischen Dialogen“ (ungedruckt) zum Dr. phil. promoviert wurde. Prägend für ihn wurden auch Natorps Nachfolger Nicolai Hartmann (1882–1950), dem Gadamer persönlich nahestand, sowie der Kreis um den Dichter Stefan George (1868–1933) mit seiner feierlichen Hochhaltung des dichterischen Worts.
1922 erkrankte Gadamer an Kinderlähmung und verbrachte mehrere Monate in Quarantäne. Während der Isolationszeit las er den sog. Natorp-Bericht, ein Manuskript, das Martin Heidegger (1889–1976) im Zusammenhang mit seiner Bewerbung um ein Extraordinariat in Marburg an Natorp gesandt hatte. Begeistert von Heideggers Anschauungen, ging Gadamer im Sommersemester 1923 an die Universität Freiburg im Breisgau, wo er Heideggers Vorlesung über die Hermeneutik der Faktizität hörte und dessen Seminar über die aristotelische Ethik besuchte – zwei Themenkreise, die Gadamers Denken anhaltend beschäftigten. Auch persönlich kamen sich beide nahe; so verbrachte Gadamer mit seiner Ehefrau im Sommer 1923 mehrere Wochen bei Heidegger in dessen Hütte in Todtnauberg.
Nachdem Heidegger das Extraordinariat in Marburg erhalten hatte, folgte ihm Gadamer Ende 1923 als Hilfsassistent in der Hoffnung dorthin, sich mit einer Arbeit über Aristoteles habilitieren zu können. Als Heidegger – enttäuscht von Gadamers Leistung – dessen Habilitationsvorhaben 1925 ablehnte, absolvierte Gadamer bis 1927 ein Studium der Klassischen Philologie. Von Gadamers Fortschritten überzeugt, bot ihm Heidegger die Habilitation an, sodass sich Gadamer 1929 mit einer Arbeit über „Platos dialektische Ethik“ (1931) habilitierte.
NS-Zeit
Während der NS-Zeit verhielt sich Gadamer unauffällig, was seinem vorsichtigen, abwägenden und abwartenden Naturell entsprach. Er verdankte es später seinen jüdischen Freunden in Marburg, dem Taufpaten seiner Tochter Karl Löwith (1897–1973), Jacob Klein (1899–1978) und Erich Frank (1883–1949), ihn vor Entscheidungen bewahrt zu haben, die ihn politisch kompromittiert hätten. Ein einziges belastendes Dokument gibt es aus der frühen Zeit des NS-Regimes: Gadamers Unterschrift steht unter dem „Bekenntnis der Professoren an den deutschen Universitäten und Hochschulen zu Adolf Hitler und dem nationalsozialistischen Staat“ vor der Volksabstimmung des 11. November 1933. Gadamer machte später geltend, dass wohl mangelnde Opposition bei einer öffentlichen Anfrage während einer Dozentenversammlung als Unterschrift verwertet worden sei. Es zeigt, dass sich Gadamer bei der NS-Machtübernahme zwar nicht kompromittierte, etwa mit einem Parteibeitritt oder einer direkten Stellungnahme, aber auch, dass er offenen Widerstand als sinnlos ansah.
Ohne Mitglied der NSDAP geworden zu sein, wurde Gadamer 1937 zum außerordentlichen Professor in Marburg ernannt und 1939 als Nachfolger Arnold Gehlens (1904–1976) zum ordentlichen Professor für Philosophie an die Universität Leipzig berufen. Hier bewies er Zivilcourage, als er sich im Oktober 1943 erfolgreich für seinen ehemaligen Kollegen Werner Krauss (1900–1976) einsetzte, der wegen seiner Nähe zur Widerstandsbewegung „Rote Kapelle“ zum Tode verurteilt worden war. Mut zeigte Gadamer auch, als er 1943 einen Beitrag zur Festschrift für Karl Jaspers (1883–1969) beisteuerte, die nicht erscheinen konnte, weil dessen Frau Jüdin war. In Leipzig hatte Gadamer Kontakt zu dem zurückgetretenen Bürgermeister von Leipzig, Carl Goerdeler (1884–1945), der eine der profiliertesten Figuren des Widerstands war, der zum gescheiterten Attentat vom 20. Juli 1944 führte. Gadamer hatte in dieser Zeit eine Beziehung zu einer Studentin, Käte Lekebusch (1921–2006), die am Tag nach diesem Attentat nach einer abfälligen Bemerkung über Adolf Hitler (1889–1945) denunziert und vor dem Volksgerichtshof des Hochverrats angeklagt wurde, im April 1945 aber aus einem Berliner Gefängnis fliehen konnte. 1950 wurde sie Gadamers Ehefrau.
Hauptwerk und später Ruhm
Auch weil er als politisch unbelastet galt, wurde Gadamer Anfang 1946 zum Rektor der Universität Leipzig gewählt. Im Sommer 1947 nahm er einen Ruf nach Frankfurt am Main an und wechselte 1949 als Nachfolger von Jaspers nach Heidelberg, wo er sich auf die Konzeption eines großen Opus konzentrierte, das er „Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik“ nannte und das auf Anregung des Verlegers Hans Georg Siebeck (1911–1990) 1960 unter dem Titel „Wahrheit und Methode“ erschien. Das Werk lieferte eine Rechtfertigung des Wahrheitsanspruchs der Geisteswissenschaften, die sie vom Vorbild der naturwissenschaftlichen Erkenntnisweise löste, sie an die Bildungstradition des Humanismus erinnerte und in die Nähe der darstellungsorientierten Wahrheitserfahrung der Kunst rückte. Seine hermeneutische Theorie sah in der Zugehörigkeit des Interpreten zur Wirkungsgeschichte, in der er steht, eine fruchtbare Verstehensbedingung. Sie gipfelte in einer am Vollzug der dialogischen Verständigung orientierten, universalen Philosophie der Sprachlichkeit.
Das öffentliche Interesse an Gadamers Philosophie steigerte sich Ende der 1960er Jahre durch die Debatte über Ideologiekritik mit Jürgen Habermas (geb. 1929). Während Habermas Anstoß an Gadamers Ehrenrettung der Tradition und der Autorität nahm, die er als konservativ brandmarkte, bemängelte Gadamer an Habermas‘ Position die Ideologiekritik an der Ideologiekritik und die vermeintliche Naivität des Sozialtheoretikers, der sich die Kompetenz eines Gesellschaftstherapeuten anmaße.
Nach seiner Emeritierung 1968 setzte Gadamer als inzwischen sehr renommierter Philosoph seine Vorlesungen in Heidelberg fort, unternahm zahlreiche Vortragsreisen und erhielt Gastprofessuren u. a. in Kanada, den USA und Italien. Zudem intensivierte er seine Publikationstätigkeit: Neben seinen „Kleinen Schriften“ (4 Bde., 1967–1977) erschienen die Studie „Hegels Dialektik“ (1971), seine Celan-Interpretation „Wer bin Ich und wer bist Du?“ (1973) sowie Werke zu unserem von der Wissenschaft geprägten Zeitalter und zur Ästhetik wie „Vernunft im Zeitalter der Wissenschaft“ (1976) und „Die Aktualität des Schönen“ (1977). Außerdem legte er 1977 in seiner Autobiografie „Philosophische Lehrjahre“ Zeugnis vom Werden seines philosophischen Denkens ab und widmete seinem größten Lehrer mit „Heideggers Wege“ (1983) eine eingehende Studie. Gadamers Begegnung mit Jacques Derrida (1930–2004) in Paris 1981 eröffnete eine Konfrontation zwischen Hermeneutik und Dekonstruktion, die heute zur Wirkungsgeschichte beider Auffassungen gehört. 1983 begegnete Gadamer Papst Johannes Paul II. (1920–2005) anlässlich der Castelgandolfo-Gespräche.
Seine letzten Lebensjahre widmete Gadamer der Arbeit an seinen „Gesammelten Werken“ (10 Bde., 1985–1995). Er nahm von 1989 bis 2001 in Heidelberg an jährlichen Sommertagungen mit nordamerikanischen Schülern über sein Werk teil. Sein 100. Geburtstag am 11. Februar 2000 wurde zum Anlass für einen letzten Festakt in Heidelberg, an dem der Bundespräsident und zahlreiche Prominenz teilnahmen. Zu diesem Anlass publizierte Gadamer sein letztes Buch „Hermeneutische Wege“ (2000). Der Erforschung von Gadamers Denken und der Verbreitung seines Werks dient die 2021 gegründete Hans-Georg Gadamer-Gesellschaft für hermeneutische Philosophie in Heidelberg, die den Gadamer-Preis für philosophische Leistungen vergibt.
1941 | ordentliches Mitglied der Sächsischen Akademie der Wissenschaften, Leipzig |
1951 | ordentliches Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften |
1962–1968 | Präsident der Allgemeinen Gesellschaft für Philosophie in Deutschland |
1971 | Mitglied des Ordens Pour le mérite für die Wissenschaften und Künste (weiterführende Informationen) |
1971 | Reuchlin-Preis der Stadt Pforzheim |
1979 | Hegel-Preis der Stadt Stuttgart |
1979 | Sigmund Freund-Preis für wissenschaftliche Prosa der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, Darmstadt |
1986 | Karl Jaspers-Preis der Stadt Heidelberg, der Heidelberger Akademie der Wissenschaften und der Universität Heidelberg |
1987 | Hanns Martin Schleyer-Preis der Daimler-Benz AG |
1993 | Großkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland |
1995 | Antonio-Feltrinelli-Preis der Accademia Nazionale dei Lincei, Rom |
2001–2007 | Gadamer-Stiftungsprofessur, Universität Heidelberg |
zahlreiche Ehrendoktorwürden, u. a. Catholic University of America (Washington DC, 1979), McMaster University (Hamilton, Kanada, 1981), Boston College (1988), Universität Tübingen (1988), Universität Leipzig (1993), Universität Bamberg (1994), Universität Wrocław (1996), Universität Prag (1997), Universität Marburg (1999) | |
2021 | Hans-Georg Gadamer-Gesellschaft für hermeneutische Philosophie |
2022 | Gadamer-Preis der Hans-Georg Gadamer-Gesellschaft für hermeneutische Philosophie |
Nachlass:
Deutsches Literaturarchiv, Marbach am Neckar. (Briefwechsel, Manuskripte, Vorlesungen)
Platos dialektische Ethik, 1931, 19682. (Habilitationsschrift)
Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, 1960, 41975, 51986 als Bd. 1 der Gesammelten Werke.
Karl-Otto Apel/Claus von Bormann/Rüdiger Bubner/Hans-Georg Gadamer/Hans Joachim Giegel/Jürgen Habermas, Hermeneutik und Ideologiekritik, 1971.
Wer bin Ich und wer bist Du? Ein Kommentar zu Paul Celans Gedichtfolge „Atemkristall“, 1973.
Vernunft im Zeitalter der Wissenschaft, 1975.
Philosophische Lehrjahre. Eine Rückschau, 1977, 31991.
Die Aktualität des Schönen. Kunst als Spiel, Symbol und Fest, 1977, 22012.
Hans-Georg Gadamer/Jürgen Habermas, Das Erbe Hegels. Zwei Reden aus Anlaß des Hegel-Preises, 1979.
Heideggers Wege. Wege zum Spätwerk, 1983.
Lob der Theorie. Reden und Aufsätze, 1983.
Das Erbe Europas. Beiträge, 1989, 31995.
Über die Verborgenheit der Gesundheit. Aufsätze und Vorträge, 1993, 32010.
Hermeneutik, Ästhetik, Praktische Philosophie. Hans-Georg Gadamer im Gespräch, hg. v. Carsten Dutt, 1993, 32000.
Hermeneutische Entwürfe. Vorträge und Aufsätze, 2000.
Werkausgaben:
Gesammelte Werke, 10 Bde., 1985–1995.
Mitherausgeberschaft:
Philosophische Rundschau. Eine Zeitschrift für philosophische Kritik 1-20, 1953–1974.
Bibliografie:
Etsuro Makita, Gadamer-Bibliographie. (Onlineressource)
Hermeneutik und Dialektik, 2 Bde., hg. v. Rüdiger Bubner/Konrad Cramer/Reiner Wiehl, 1970.
Jean Grondin, Einführung in die philosophische Hermeneutik, 1991, 32012.
Lewis Edwin Hahn (Hg.), The Philosophy of Hans-Georg Gadamer, 1997.
Jean Grondin, Hans-Georg Gadamer. Eine Biographie, 1999, 22013.
Kai Hammermeister, Hans-Georg Gadamer, 1999, 22006.
Udo Tietz, Hans-Georg Gadamer zur Einführung, 1999, 42020.
Jean Grondin, Einführung zu Gadamer, 2000.
Ulrich Arnswald/Jens Kertscher/Jeff Malpas (Hg.), Gadamer’s Century. Essays in Honor of Hans-Georg Gadamer, 2002.
Michael Hofer/Mirko Wischke (Hg.), Gadamer verstehen – Understanding Gadamer, 2003.
Carsten Dutt (Hg.), Gadamers philosophische Hermeneutik und die Literaturwissenschaft. Marbacher Kolloquium zum 50. Jahrestag der Publikation von „Wahrheit und Methode“, 2012.
Theodore George/Gert-Jan van der Heiden (Hg.), The Gadamerian Mind, 2022.
Cynthia R. Nielsen/Greg Lynch (Hg.), Gadamer’s Truth and Method. A Polyphonic Commentary, 2022.
Dokumentarfilm:
Geboren 1900, ARTE 2000, Buch und Regie: Christoph Weinert.