Geschichte der Deutschen Fotothek
2024 feierte die Deutsche Fotothek ihr 100jähriges Bestehen. In zwölf Ausstellungen in Dresden und andernorts sowie in zahlreichen Veranstaltungen blickten wir ein Jubiläumsjahr lang zurück auf eine wechselvolle Geschichte und auf das, was unser Profil als Archiv der Fotografen heute ausmacht: ein zentraler Ort zu sein für die Bewahrung, Erforschung und Vermittlung des fotografischen Erbes.
100 Jahre Deutsche Fotothek sind 100 Jahre Entwicklung und Veränderung: Institutionsnamen und Standorte wechseln, Erwerbungs- und Sammlungsprofile werden geschärft, Funktionen und Aufgaben unterliegen dem Wandel der Zeit, und plötzlich ersetzt das Pixel das Korn.
Begonnen hat die Geschichte der heutigen Deutschen Fotothek am 18. Mai 1924 in Chemnitz Mit dem in der Satzung formulierten Ziel der „planmäßigen Förderung des Steh- und Laufbildes und der ergänzenden Hilfsmittel in der Erziehungs- und Bildungsarbeit jeder Art, gemeinsam mit amtlichen und privaten Stellen sowie mit den Herstellern“ wurde an diesem Tag der Sächsische Landesverband zur Förderung des Bild- und Filmwesens gegründet. In ihm schlossen sich Lehrer:innen aller Schulgattungen zusammen, um das fotografische Bild für Zwecke der Bildung und des Unterrichts nutzbar zu machen.
Vereinzelt hatte die Diaprojektion bereits Ende des 19. Jahrhunderts Einzug in den Unterricht gehalten, insgesamt aber war die Verbreitung wegen unausgereifter Projektionstechnik und nicht selten mangels Stromversorgung noch gering. Zudem war ihr Einsatz nicht unumstritten, diente sie doch bis dahin vorwiegend Unterhaltungszwecken. Erst in den 1920er Jahren formierte sich eine regelrechte Lichtbildbewegung in den Schulen. Nahezu zeitgleich ergingen 1924/25 in verschiedenen deutschen Ländern Erlasse, in denen die Verwendung des Lichtbilds im Unterricht empfohlen, wenn nicht gar angeordnet wurde. In der Folge etablierte sich ein dichtes Netz von Einrichtungen, das 1939 auf 23 Landesbildstellen und rund 800 Kreis- und Stadtbildstellen angewachsen war.
Der Sächsische Landesverband, eine der ersten Gründungen dieser Art in Deutschland, war als Verein organisiert, dessen Vorstandsvorsitz der Pädagoge Fritz Schimmer übernahm. Schimmer bemühte sich aktiv um enge Abstimmung mit dem Ministerium für Volksbildung, das im Oktober 1924 die Einrichtung einer mit staatlichem Budget ausgestatten Geschäftsstelle anordnete. Am 6. November 1924 wurde eine entsprechende Vereinbarung zwischen Landesverband und Ministerium unterzeichnet – damit war die Sächsische Landesbildstelle und spätere Deutsche Fotothek gegründet.
Der Verein fungierte weiterhin als rechtlicher Träger, während die Sächsische Landesbildstelle fortan das operative Geschäft übernahm. 1925 nach Dresden verlegt und zunächst in der Nähe des Japanischen Palais, in der Großen Meißner Strasse 15, angesiedelt, ab 1926 in der Zirkusstrasse 38, war sie für das Ministerium beratend „in allen Fragen der Verwendung des stehenden und laufenden Lichtbildes“ tätig, koordinierte die Einrichtung von Bezirksbildstellen und kümmerte sich um die Weiterbildung der Lehrerschaft in der praktischen Anwendung von Lichtbildern und Filmen sowie der Bedienung der notwendigen Geräte.
Als wichtigste Aufgabe für die Zukunft der Institution sollte sich sehr bald aber der Aufbau einer Sammlung von Bildern und Filmen erweisen. Insbesondere durch ihr Negativarchiv wurde die Sächsische Landesbildstelle über ihre schulpädagogischen Aufgaben hinaus rasch zu einer Einrichtung, die aktiv fotografische Bildzeugnisse sammelte, aufbereitete und vor allem einer breiten Öffentlichkeit zur Verfügung stellte.
Bereits 1927 entwickelte Gründungsdirektor Schimmer die große Vision „eines Deutschen Bildermuseums, das nach Art der Deutschen Bücherei in Leipzig nichts zu tun hätte, als das ungeheure photographische Urkundenmaterial Deutschlands wissenschaftlich zu sammeln und systematisch zu katalogisieren.“ Dass er damit das 1956 für die Deutsche Fotothek als „Zentrales Institut für Bilddokumente der Wissenschaft, Forschung und Lehre“ festgelegte Aufgabenspektrum quasi vorwegnahm, konnte er kaum ahnen. Der beharrliche Ausbau des Bildarchivs – bis zum Ende von Schimmers Amtszeit 1951 war es auf rund 100.000 Negative und 35.000 Diapositive angewachsen – ist bis heute eine Handlungsmaxime.
Die für das Tagesgeschäft der Landesbildstelle zunächst wichtigste Sammlung war die Lichtbildsammlung, die schon 1928 mit 25.000 Diapositiven gegenüber 8.000 Negativen den deutlich größeren Bestand aufwies. Zunächst von Verlagen wie Dr. Franz Stoedtner (gegr. 1895) in Berlin oder E.A. Seemanns Lichtbildanstalt in Leipzig (gegr. 1911) erworben, wurde sie nach und nach durch eigene Aufnahmen ergänzt. Hierin lag der ursprüngliche Zweck für die Anlage einer Negativsammlung, wenngleich, wie Schimmer betonte, „für die Archivtätigkeit die Grenze des Unterrichtsbedürfnisses überschritten“ wird: Sie diente als Motiv-Reservoir für die Lichtbildreihen, deren Vertrieb und Ausleihe, wie auch der Verleih von Lehrfilmen einschließlich Projektionstechnik, in den Vorkriegsjahren zu den zentralen Aufgaben der Landesbildstelle zählte.
Anfangs wurde auch die Negativsammlung allein durch Erwerbungen erweitert, denn eine eigene fotografische Werkstatt existierte noch nicht. Doch schon bald hatte Fritz Schimmer für die Bildstelle das Konzept der „photographischen Landesaufnahme“ entwickelt, die „unter Erstreckung auf die gesamte Landeskunde sowie auf den Kunst- und Kulturbesitz ihres Landes“ mit eigenen Fotograf:innen systematisch durchgeführt werden sollte. Landschaften und Stadtansichten, Baudenkmäler und Museumsobjekte, Aufnahmen von Pflanzen und Tieren, Handwerk und Industrie – schon zu Beginn zeigt sich das breite thematische Spektrum des Negativarchivs.
Entwicklung in der NS-Zeit
Bis Anfang der 1930er Jahre hatte sich die Sächsische Landesbildstelle als maßgebliche Stelle für alle Belange des Lichtbildes in Unterricht und Bildung in Sachsen etabliert und war für ein weit verzweigtes Netz an Bezirks- und Kreisbildstellen koordinierend und beratend tätig. Auch nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 konnte sie ihre Arbeit mit wachsendem Erfolg fortsetzen.
1934 wurde das Bildstellenwesen mit der Gründung der Reichsstelle für den Unterrichtsfilm (RfdU), ab 1940 Reichsanstalt für Film und Bild in Wissenschaft und Unterricht (RWU), neu geordnet. Sie übernahm die zentrale Koordination schulischer Lichtbildarbeit und prüfte Diareihen und Schulfilme vorrangig unter pädagogischen Aspekten. Die Bildstellen übernahmen in ihrem Auftrag Produktion und Vertrieb dieser Lehrmittel. Im Gegenzug erhielten sie erhebliche finanzielle Beihilfen. Dass sich die RfdU, die nicht dem Propagandaministerium unterstellt war, als zentrale Einrichtung erstaunlich unabhängig von politisch-propagandistischen Einflussnahmen halten konnte, war für die Bildstellen ein Glücksfall. Dennoch waren auch sie vor Eingriffen des Staates nicht gefeit.
In der Sächsischen Landesbildstelle wurden 1936 die Mitarbeiter:innen einer Überprüfung auf „nationalsozialistische Zuverlässigkeit“ unterzogen. In der Folge kam es zu politisch motivierten Entlassungen. Auch Fritz Schimmer musste im November 1936 sein Amt niederlegen. Willy Passig, Mitglied der NSDAP und seit 1928 Schatzmeister der Landesbildstelle, übernahm das Amt und versuchte, es im Sinne Schimmers fortzuführen. Doch auch er konnte nicht verhindern, dass das Ministerium den linientreuen Amateurfotografen Richard Herold in die Landesbildstelle berief, der den politischen Einfluss auf die der RfdU unterstellten Sächsischen Landesbildstelle auszubauen versuchte. Dies gipfelte 1937 in der Einrichtung einer Zentralbildstelle des propagandistisch tätigen Heimatwerkes Sachsen. Untergebracht in den Räumen der Landesbildstelle sollte diese eine eigene Sammlung aufbauen und sich gleichzeitig den direkten Zugriff auf das Archiv der Landesbildstelle zunutze machen, die um 1938 von Sächsische Landesbildstelle in Landesbildstelle Sachsen umbenannt wurde und ab 1939 in der Pillnitzer Strasse 69 ansässig war.
1945 wurden alle nicht ausgelagerten Bestände, Bestandsunterlagen und Erschließungsmittel der Landesbildstelle - die nach den Negativen gefertigen Diareihen und vor allem die Kataloge - ebenso vernichtet wie die gesamte technische Ausrüstung. Erhalten geblieben sind die Negativsammlung und die Bildkartensammlung, die 1944 nach Dippoldiswalde und Gaußig ausgelagert worden waren.
Auf dem Weg zum Universalarchiv
Dass die Landesbildstelle Sachsen die Nachkriegszeit überstand und rasch wieder arbeitsfähig wurde, ist vor allem Fritz Schimmers beharrlichem Einsatz zu verdanken. Unmittelbar nach Kriegsende als Leiter wiedereingesetzt, begann er von seiner Privatwohnung in der Sickingenstraße 4 aus mit dem Wiederaufbau. Zwar konnten durch die Auslagerung die Mehrzahl der Negative und ein Teil der Bildkarten gerettet werden, doch Werkstatt, Kataloge, Diasammlung und das Inventar waren im Gebäude auf der Pillnitzer Landstraße verbrannt. Ersatz für das Zerstörte zu beschaffen, war daher die vordringlichste Aufgabe.
Aus enteigneten Beständen der Reichsanstalt für Film und Bild konnte Schimmer Gerätschaften für die Werkstatt sichern. Er kümmerte sich um Rückkehr und Neueinstellung der Mitarbeiter:innen und um neue Räume im Gebäude der Berufsschule, Ehrlichstraße 1. Vor allem aber bemühte er sich um eine gesicherte Finanzierung. Ein Verein als Träger wie bisher war unter den geänderten gesellschaftlichen Voraussetzungen in der neu gegründeten DDR keine dauerhafte Option. Zudem übernahm das 1950 eingerichtete Zentralinstitut für Film und Bild in Berlin Teile der bisherigen Aufgaben. Daher entschied sich Schimmer für den vielleicht wichtigsten Schritt für das Weiterbestehen der Einrichtung: Er trennte sich vom schulpädagogischen Bereich und der Filmsammlung und schlug – damit ganz offensichtlich an bereits in den 1930er Jahren verfolgte Ziele anknüpfend – die Ausgründung eines Landesbildarchivs als zentraler fotografischer Motivsammlung Sachsens vor. 1951 wurde sie unter dem Namen Landesfotothek dem Landesamt für Volkskunde und Denkmalpflege unterstellt.
In der alltäglichen Arbeit stand in der Nachkriegszeit vor allem die Rekonstruktion von Findmitteln im Zentrum, um die Nutzung der Sammlung wieder zu ermöglichen. Dabei kam es auch, gemäß des Potsdamer Abkommens, zur Durchsicht der Bestände auf Spuren nationalsozialistischer Propaganda. Symbole der NS-Zeit wurden retuschiert, Aufnahmen für die Nutzung gesperrt. Eine Aussonderung allerdings unterblieb in der Regel.
Gleichzeitig war diese Zeit durch die Erweiterung des Sammlungsprofils über Sachsen hinaus in Richtung eines universal angelegten kulturhistorischen Bildarchivs gekennzeichnet, das deutschland-, europa- und weltweit Bilddokumente erfassen sollte und eine völlig neue Erwerbungspolitik entwickelte. Man hatte das Landesbildstellenkonzept und die damit verbundene Einbindung in schulpädagogische Zwecke hinter sich gelassen: "Seit 1946 wurde in der Landesbildstelle Sachsen in Dresden aus etwa 40.000 geretteten Negativen ein Bildarchiv wieder zusammengestellt und eine Lichtbildsammlung neu geschaffen. Ursprünglich für schulische Aufgaben begonnen, gingen die Sammlungen bald über diesen Zweck allein hinaus. Zahlreiche neu erworbene Negative sowie das Anwachsen der Wissenschaftsgebiete, die nach dem Bild als Anschauungsmittel verlangten, ließen eine andere Form der Organisation geboten erscheinen. Die Bestandserschließung konnte nur nach den gleichen Prinzipien wie in einer großen Bibliothek erfolgen. So wurde aus dem Bildarchiv, der Lichtbildsammlung und den fotografischen Werkstätten der Landesbildstelle im Jahre 1951 die Fotothek. Durch den Namen des Instituts, in bewußter Anlehnung an Bibliothek gewählt, sind Charakter und Arbeitsweise festgelegt. Damit sind auch die Hauptaufgaben: Sammlung, Aufbewahrung, Pflege, Nutzbarmachung für wissenschaftliche Arbeit und Forschung und natürlich auch die Aufgabe der technischen Anfertigung klar gegeben" [Hans Heinrich Richter, in: "Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel", Jg. 133 (1966), Nr. 43].
Die Deutsche Fotothek entsteht
Unter neuer Leitung von Hans-Heinrich Richter folgte eine Zeit der Ruhe und Prosperität in den Räumen des notdürftig wiederhergerichteten Ständehauses direkt an der Brühlschen Terrasse, das man sich mit dem Landesamt für Denkmalpflege teilte. Die Auflösung der Länder hatte 1952 zwar zunächst eine erneute institutionelle Neuordnung zur Folge, die in einem kurzen Intermezzo als Staatliche Fotothek Dresden mit direkter Unterstellung unter das Ministerium für Kultur mündete. Doch gelang es Richter mit der organisatorischen Angliederung an die Deutsche Staatsbibliothek Berlin 1961 eine stabile Grundlage für die nächsten Jahrzehnte zu finden.
Der Maler Curt Querner notierte am 12.8.1963 in seinem Tagebuch: " Fotothek, Amt für Denkmalpflege. Flure kühl, dunkel. Gebäude des alten sächs. Landtages. Langsames Schreiten der Angestellten, gemessen, würdevoll, mit irgend etwas unter dem Arm. Türen öffnen, schließen sich. Ob alt, uralt oder so jung wie der Fotograf, der meine Aquarelle ansieht, die auf dem Steinfußboden auf Packpapier liegen, der sie bewundert, - egal. Es ist der ruhige, genau, anscheinend genauest bemessene Schritt, den man sich erarbeitet, erschritten hat, den es höchstwahrscheinlich so lange gibt, wie derartige Einrichtungen " [Curt Querner. Tag der starken Farben. Dresdner Hefte, Sonderausgabe 1996, Dresden 1996, S. 144].
Mit der Bibliothek verbanden die Fotothek ähnliche Aufgaben, was sich als Vorteil erweisen sollte. Ein dauerhafter Stellenplan und ausreichend finanzielle Mittel ermöglichten eine deutliche Ausweitung des Aufgabenspektrums der Deutschen Fotothek, wie ihr Name bereits seit 1956 offiziell lautete. Ihre Aufgabe war laut Statut seitdem das Sammeln „fotografischer Aufnahmen von dokumentarischem und kulturellem Wert aus allen Gebieten des anschaubaren Wissens, insbesondere aus dem Gesamtgebiet des deutschen Kultur-, Museums- und Kunstbesitzes und der deutschen Volkskultur.“ Damit war tatsächlich ganz Deutschland gemeint, nicht nur die DDR. Vor dem Mauerbau ist man daher noch fleißig durch Westdeutschland gereist und hat hier beispielsweise die neue Architektur in Köln und Stuttgart fotografiert.
1966 umfassen die Sammlungen der Fotothek mehr als 280.000 großformatige Negative, rund 150.000 Bildkarten und etwa 75.000 Diapositive zur Ausleihe.
Alte und neue Sammlungsprofile
Ende der 1970er Jahre war in der Kulturpolitik der DDR ein Interesse an der Tradition „des humanistischen und proletarisch-revolutionären fotografischen Erbes“ erwacht, dessen Pflege und Erschließung die Deutsche Fotothek übernehmen sollte. Walter May, seit 1975 Direktor, erkannte die Chancen und erarbeitete eine Konzeption für die 1980er Jahre, in der er einerseits den Ausbau dieser Schwerpunkte vorsah, andererseits einen Wandel hin zu einer stärker den spezifischen medialen Aspekten der Fotografie verpflichteten Sammlung skizzierte. Mit den vorgesehenen Veränderungen in Bestandsakquise, Erschließung und Bereitstellung wurde damit die Abkehr von einer strikten thematischen Ordnung und der Aufstellung nach laufender Nummer zugunsten des Provenienzprinzips vorbereitet, bei dem der ursprüngliche Entstehungszusammenhang der Fotografien gewahrt bleibt. Neu war auch, dass in diesem Zuge ab 1983 erstmals Positivabzüge als eigenständige Sammlungsobjekte Eingang in den Bestand fanden. Diese hatten zuvor nur als Vorlagen für die Herstellung von Negativen gedient.
Im Zuge der Debatte über das fotografische Kulturerbe der DDR war zum 1. Januar 1983 die Angliederung der Deutschen Fotothek an die Sächsische Landesbibliothek, die heutige SLUB Dresden erfolgt. Ausschlaggebend waren korrespondierende Sammelschwerpunkte und die zeitgleiche Bewerbung der Bibliothek um den Status als Zentralbibliothek der DDR für Kunst und Musik. Die neuen thematischen Vorgaben der Politik und eine damit auf lokaler Ebene verbundene Vervielfachung des Erwerbungsetats führten zu einem Entwicklungsschub für die Fotothek. Wurden bis 1982 jährlich etwa 16.000 bis 18.000 Fotografien erworben, waren es ab 1983 durchschnittlich rund 70.000. Umfangreiche Nachlässe etwa von Kurt Heine, Richard Peter sen., Richard Peter jun. oder Abraham Pisarek wurden für die Sammlung angekauft. Allerdings korrespondierte die neue Erwerbungspolitik nicht mit der weiterhin an der bildungsbürgerlich orientierten Überlieferung eines "humanistischen Erbes" orientierten Erschließungspraxis, sodass die Archive nur zu kleinen Teilen katalogisiert wurden. Insbesondere die aus dem Umfeld der Arbeiterfotografenbewegung des Erzgebirges angekauften Bestände, etwa von Kurt Beck, Hans Bresler und Erich Meinhold, wurden erst Jahrzehnte später zum Gegenstand wissenschaftlicher Aufmerksamkeit. Heute zählen einige dieser in den 1980er Jahren erworbenen Aufnahmen zu den bekanntesten Motiven der Sammlung, die 1985 rund 650.000 Negative, 12.000 Positive und 60.000 Leihdias umfasste.
Öffnung der Sammlung
Die Wende 1989/90 brachte auch der Deutschen Fotothek weitreichende Veränderungen, wenngleich der gesellschaftlich-politische Umbruch in Belegschaft und Ausstattung zunächst vergleichsweise wenige Einschnitte zur Folge hatte. Ab 1991 konnte sich die Fotothek an dem von Foto Marburg initiierten und vom Bundesministerium des Inneren geförderten Drittmittelprojekt zur Dokumentation der historischen Bausubstanz Ostdeutschlands beteiligen. Auf diesen letzten großen Aufnahmefahrten der Fotothek reisten hausinterne und externe Fotograf:innen bis 1999 durch die einstige DDR und fotografierten systematisch architektonische Denkmäler und ganze Straßenzüge. Rund 60.000 Aufnahmen mit heute historischem Wert entstanden bis Projektende.
Ab 1990 war die Deutsche Fotothek zudem als Mitherausgeberin an dem seit 1977 laufenden Publikationsprojekt Marburger Index beteiligt, in dem im großen Stil Aufnahmen von Kunst und Architektur mikroverfilmt, vervielfältigt und als sogenannte Microfiches publiziert wurden. Mit insgesamt rund 250.000 Fotografien, darunter der Großteil des Altbestands, wurde die Sammlung gleichsam geöffnet und erstmals über die Fototheksgrenzen hinaus dezentral verfügbar gemacht.
Wenngleich bis zum Ende in Dresden noch analog produziert, kann dieses Großprojekt methodisch durchaus als Vorläufer der späteren Digitalisierung angesehen werden. Ende der 1990er Jahre hielt die EDV tatsächlich in den Arbeitsräumen der Fotothek Einzug. Doch wurde dieser Einschnitt von den Mitarbeiter:innen nach deren Aussage als weniger tiefgreifend empfunden als der Auszug aus dem Ständehaus. Nach fast 50 Jahren wurde die Deutsche Fotothek nach der Zuweisung des Ständehauses an das Oberlandesgericht 1997 in ein Interim in der früheren Freimaurerloge Zu den Ehernen Säulen des Orient auf der Bautzener Straße 19 verlagert, bevor 2002 der Einzug in den Neubau der SLUB Dresden erfolgte, die zum 22. Januar 1996 aus der Fusion der Sächsischen Landesbibliothek und der Universitätsbibliothek der TU Dresden hervorgegangen war.
Digitalisierung und fotografisches Erbe
Nach der Jahrtausendwende fanden in der Deutschen Fotothek die tiefgreifendsten Veränderungen seit der Nachkriegszeit statt. Der Wandel stand einerseits ganz im Zeichen der Digitalisierung, andererseits bedeutete der Einzug in die neuen, einer fotografischen Sammlung erstmals konservatorisch angemessenen Räumlichkeiten am Zelleschen Weg einen Quantensprung in der Archivierung der historischen Bestände.
Wolfgang Hesse, ab 1999 Leiter der Deutsche Fotothek, hat die Ausstattung der Magazine maßgeblich konzipiert. Er legte den Fokus der Fotothek vermehrt auf konservatorische Aspekte und konzentrierte die Erschließungsarbeit und wissenschaftliche Auswertung stärker auf die medialen Eigenschaften der Fotografie. Insbesondere durch den Erwerb und die Erschließung des Nachlasses von Christian Borchert verschaffte er dem in den 1980er Jahren nur ansatzweise erfolgten Paradigmenwechsel von einer Motivsammlung hin zu einer fotografischen Sammlung neuen Schub. In dieser Umbruchphase nahm 2002 mit der Einführung der Datenbank Bidok auch die Umstellung auf EDV-gestützte Katalogisierung ihren Anfang.
Ab 2004 konnte Jens Bove, seit Ende 2003 Leiter der Deutschen Fotothek, mit der konsequenten Digitalisierung der Bestände und ihrer Erfassung mit der Software HiDA beginnen; seit 2008 ist das heute noch verwendete Katalog- und Publikationssystem APS (Art-Publishing-System) im Einsatz. Schon im April 2004 konnte die erste Website der Deutschen Fotothek freigeschaltet werden, im November 2009 waren bereits 1.000.000 Bilder online verfügbar. Damit änderten sich schlagartig die Zugriffsmöglichkeiten auf die Sammlung. Die Recherche war nun nicht mehr an den monothematischen Zugriff über Zettelkataloge gebunden, vielmehr eröffnete die Mehrdimensionalität der digitalen Präsentation deutlich komplexere und parallelisierte Suchanfragen nach Personen, Orten, Zeiten oder Themen. Auch durch eine konsequente Open Access-Strategie erreichten Nutzungsfrequenz und Reichweite der Deutschen Fotothek völlig neue Dimensionen. Ihre Bestände wurden weltweit zugänglich, die Deutsche Fotothek als Sammlung weithin sichtbar.
Die fortschreitende Digitalisierung hatte nach der Jahrtausendwende auch Auswirkungen auf den Bestandsaufbau der Deutschen Fotothek. Das Internet wurde immer mehr zum allgegenwärtigen, rasant wachsenden Bilderpool der Gegenwart, sodass die eigene, themenorientierte Aufnahmetätigkeit kritisch zu hinterfragen war und 2005 zugunsten der Arbeit mit dem Archiv und der Akquise fotografischer Vor- und Nachlässe eingestellt wurde. Die Fotothek hatte sich gleichsam neu zu erfinden, als historisch ausgerichtete Sammlung und als moderne Informationsanbieterin.
Archiv der Fotografen
Mit ihrem 2012 gemeinsam mit der Stiftung F.C. Gundlach eingerichteten Sammelschwerpunkt Archiv der Fotografen hat die Deutsche Fotothek als eines der bedeutendsten Bildarchive in Europa Verantwortung für den Erhalt und vor allem die Aktivierung fotografischer Werke übernommen. Dies geschieht im Rahmen eigener oder kooperativ durchgeführter Digitalisierungsprojekte wie „Exemplarische Sicherung deutscher Bildgeschichte“ (2008–2010), „Weltsichten“ (2015–2017) oder „Die gute Form“ (2018–2020) sowie in Form regelmäßiger Ausstellungen und Publikationen – vor allem aber über die Bilddatenbank. Sie trägt als Schaufenster auf die eigene, heute rund sieben Millionen Fotografien umfassende Sammlung wie auch auf die Sammlungen zahlreicher kooperierender Partner dazu bei, die Vielfalt und Bedeutung deutscher Fotografie anschaulich zu vermitteln.
Die Deutsche Fotothek sammelt, bewahrt und publiziert heute fotografische Bilddokumente, insbesondere Nachlässe und Archive von Fotografen als Quellen bildwissenschaftlicher Forschung. Inhaltliche Schwerpunkte sind neben der Geschichte der Fotografie als Hauptgegenstand die Kunst- und Architekturgeschichte sowie die Technikgeschichte. Mit einem autoren- und provenienzorientierten Sammlungskonzept wird dem mehrschichtigen Bildbegriff der Visual History Rechnung getragen: Im Mittelpunkt steht das fotografische Bild – nicht nur als bildlicher Beleg architektonischer, bildkünstlerischer oder technischer Artefakte und historischer Ereignisse, sondern auch und vor allem als eigenständiger Gegenstand eines interdisziplinär ausgerichteten Forschungsfelds, das Methoden und Fragestellungen der Kunstgeschichte, Geschichte, Soziologie und Ethnologie umfasst. Das Sammlungsinteresse richtet sich auf die Fotografie als Medium und auf die daran beteiligten Akteure.
Die zentrale Aufgabe der Deutschen Fotothek ist die langfristige exemplarische Sicherung des fotografischen Erbes als Grundlage der Dokumentation und Erforschung fotografischen Handelns. Kernprodukt ihres Online-Portals ist das Archiv der Fotografen, in dem Werke bedeutender deutscher oder in Deutschland arbeitender Fotografen — aus dem Bestand der Deutschen Fotothek und aus den Sammlungen ihrer Partner — in einem virtuellen Schaufenster präsentiert werden. Ziel der Sammlungs- und Erschließungstätigkeit der Deutschen Fotothek ist es, Forschung und Lehre, Presse und Verlagen – kurz: jedem Interessierten – fundiert aufbereitetes Bildmaterial bereitzustellen.
In gewisser Weise wurde damit, nach 100 Jahren, eine weitere große Vision Fritz Schimmers umgesetzt: Verstreute und kaum sichtbare fotografische Sammlungen werden ans Licht geholt und unter dem Dach der Sammlung zugänglich gemacht – komprimiert auf immer kleiner werdenden Datenträgern, die immer weniger Raum benötigen, aber weltweit online zugänglich und langfristig im digitalen Langzeitarchiv gesichert sind.